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Die Waisenkinder von Achenbruck

... und zwei weitere spannende Romane

von Anni Lechner (Autor:in)
©2017 0 Seiten

Zusammenfassung

Die Geschwister Hanni und Schorsch haben bei einem Verkehrsunfall beide Eltern verloren. Jetzt streitet die Familie sich um die Kinder, da der Vormund auch den großen Bauernhof übernehmen soll. Der habgierige Onkel, der selbst nur einen kleinen, schäbigen Hof besitzt, setzt sich schließlich durch. Statt sich um die beiden Waisen zu kümmern, schickt er sie in ein Kinderheim. Doch Hanni und Schorsch haben einen Verbündeten. Michael Hochberger, der beste Freund ihrer Eltern, setzt alles daran, die beiden zurück ins Dorf zu holen und ihnen den Hof als Erbe zu sichern. Doch welche Chance hat Michael gegen die geldgierige Verwandtschaft?

Dieser und die zwei weiteren spannenden Romane „Die Unzertrennlichen“ und „Die Tochter des Wilderers“ sind in diesem Buch enthalten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Waisenkinder von Achenbruck

Der Tag war so schön, wie man ihn sich eigentlich nur malen konnte. Weiß-blau spannte sich der Himmel im weiten Bogen über das Land, von einer goldenen Herbstsonne durchflutet, die den Nebel und den ersten Raureif in den letzten Tagen vergessen machen wollte. Die sanft gewellte Landschaft leuchtete im letzten Grün des Jahres und in der Erdfarbe frisch bestellter Felder. Auf den Weiden rupften gescheckte Kühe gemütlich das kurze Gras. Nur einmal hielten sie inne und schauten nach Achenbruck hinüber, als die Glocken vom Kirchturm in einem dumpfen, schweren Klang aufschollen, der so gar nicht zu dem herrlichen Sonnentag passen wollte.

Der Friedhof von Achenbruck war an diesem Vormittag von dunkel gekleideten Menschen übersät. Alte Weiblein mit Rosenkränzen in den steifen, abgearbeiteten Fingern waren ebenso anwesend wie die Frauen und Kinder. Genauso wie die Männer starrten sie leise betend auf das große, offene Grab in der Mitte. Dort senkten die Abordnungen der Dorfvereine ein letztes Mal ihre Fahnen und auf dem Platz vor dem Kirchhof schoss der Gemeindebote Ferdl mit beinahe grimmigem Gesicht seine Böllerkanone ab.

»Dieser Tag ist viel zu schön für eine Beerdigung, vor allem, wenn der Tod viel zu früh und durch ein Unglück zugeschlagen hat«, fuhr es dem Großbauern Michael Hochberger durch den Kopf. Obwohl mit dem Ehepaar, das heute begraben wurde, nicht direkt verwandt, hatte man ihm doch einen Platz in der vordersten Reihe der Trauergäste zugewiesen. Er hatte zeitlebens als bester Freund des verunglückten Bauern Georg Wenz gegolten und nicht wenige hier auf dem Friedhof erwarteten von ihm, dass er in Zukunft eine noch größere Rolle für dessen Kinder und den verwaisten Hof spielen würde.

Michael Hochberger drängte es nicht dazu, denn er konnte sich auf seinem eigenen Hof nicht gerade über zu wenig Arbeit beklagen. Dennoch suchte sein Blick die beiden Waisen, die nicht fern von ihm am Grab standen. Die zehnjährige Hanni wirkte in ihrem schwarzen Kleid wie ein bleicher Schatten, mit einem Gesicht, das viel zu ernst war für ihr Alter. Doch wie sollte sie fröhlich sein, da es doch ihre Eltern waren, die heute unter die Erde kamen? Hannis um drei Jahre jüngerer Bruder Schorschi stieg von einem Fuß auf den anderen und schien sich in der dicht gedrängten Menschenmenge äußerst unwohl zu fühlen.

Am Grab sprach nun der über siebzigjährige Hochwürden Kuhn die letzten Abschiedsworte für die beiden Toten. Er vergaß dabei nicht zu erwähnen, dass er während seiner langen Amtszeit hier in Achenbruck Georg Wenz’ Lebensweg von der Taufe über dessen Hochzeit bis zur jetzigen Beerdigung mit durchmessen hatte. Während der Pfarrer den Hinterbliebenen Trost zu spenden suchte, glitt Michael Hochbergers Blick wie grüßend zum Himmel empor. Ich pass schon auf euer Dirndl und euren Buben auf, versprach er den Toten. Er schämte sich der Tränen nicht, die ihm dabei über die Wangen rannen. Michael zählte etwas mehr als dreißig Jahre und war somit um sechs Jahre jünger als sein verstorbener Freund. Er war ein mittelgroßer, breitschultriger Mann mit kurz geschnittenem, dunklem Haar und einem mehr ausdrucksstarken als schönen Gesicht, in dem zwei hellgraue Augen leuchteten.

Nach einer Weile machte Hochwürden Kuhn in seiner Rede eine Pause und schwenkte seinen Weihwassersprengel segnend über das Grab und die Anwesenden, um Gottes Gnade für die Toten und seinen Segen für die Lebenden zu erflehen. Er kam dabei etwas ins Stolpern, doch Michael trat rasch einen Schritt vor und fasste den Pfarrer am Arm.

»Danke Michi, ich merk halt doch, dass ich alt werd!«, sagte der alte Mann seufzend und nannte dabei den Bauern bei dem Namen, mit dem er ihn vor fast zwei Dutzend Jahren als Ministrant gerufen hatte.

Bevor Michael antworten konnte, drängte sich ein Mann zwischen ihn und den Pfarrer. Sepp Hierneis war der nächste Verwandte des verunglückten Bauern, ein hagerer, leicht vornübergebeugter Mann um die vierzig. Als kleiner Nebenerwerbslandwirt hatte er weder vom Besitz noch vom Ansehen her mit Georg Wenz mithalten können. Jetzt aber berauschte er sich förmlich an seiner eingebildeten Wichtigkeit, die er sich als Vetter des Toten zumaß. Michael mochte Hierneis nicht besonders und sein jetziges Verhalten machte ihm den Mann nicht sympathischer. Da er aber am offenen Grab keinen Streit vom Zaun brechen wollte, trat er einen Schritt zurück und überließ dem anderen das Feld.

»Kommen S’, Hochwürden, und machen S’ ein End! Beim Stiftlwirt wartet schon der Schweinsbraten auf uns!«, drängte Hierneis den Pfarrer. Michael Hochberger zog die Stirn kraus, als er die Worte hörte. Aus der dicht gedrängten Menge auf dem Friedhof kamen jedoch einige zustimmende Rufe. Der Pfarrer wusste um seine Schwäche, Gottesdienst und Predigten über Gebühr in die Länge zu ziehen, und machte etwas überhastet Schluss.

»Amen!« Das Wort schien für die Anwesenden fast wie ein Startschuss zu sein. Innerhalb kurzer Zeit leerte sich der Friedhof. Nur die eigentlichen Trauergäste blieben noch einen Augenblick am Grab zurück. Sepp Hierneis warf rasch eine Schaufel Erde ins Grab und folgte Bürgermeister Moser zum Ausgang. Hierneis’ Ehefrau Barbara schlug nur das Kreuz, packte dann Hanni und Schorschi mit festen Griffen und zog sie vom Grab fort.

Michael Hochberger sah in den weit aufgerissenen Augen der Kinder ihre Hilflosigkeit und Angst und ballte die Fäuste. Gleichzeitig aber schämte er sich seiner zornigen Gedanken, die so gar nicht zu diesem traurigen Anlass passen wollten, und betete still, bis er seine aufgewühlten Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. Als er schließlich aufsah, waren nur noch er und eine junge Frau auf dem Friedhof zurückgeblieben. Die Frau hatte weiter hinten gestanden und kam jetzt zum Grab, um ein Gebet zu sprechen. Michael wandte sich schon zum Gehen, blieb aber dann auf seinem Platz und sah der Frau nachdenklich zu.

Sie mochte nicht ganz dreißig Jahre zählen und war von mittelgroßer, schlanker Gestalt. Sie war gewiss keine besondere Schönheit, dazu wirkte ihr schmales Gesicht zu energisch. Auch verhüllte ihr schwarzes Kopftuch ihre Frisur, nur eine einzelne Strähne lugte in Höhe des Kinns heraus und zeigte dem Betrachter, dass die Frau weich gelocktes Blondhaar besaß.

Sie bemerkte ihn jetzt und sah ihn einen Augenblick mit Augen an, denen das Blau der Gletscher die Farbe geschenkt hatte. Plötzlich wandte sie das Gesicht ab, ergriff hastig die kleine Schaufel auf dem Erdhaufen neben dem Grab und warf zwei Schaufeln voll Erde in das Grab, je eine für Georg Wenz und seine Frau Hildegard. Ohne sich noch einmal nach Michael Hochberger umzusehen, verließ sie den Friedhof und schlug den Weg zum Stiftlwirt ein.

Michael folgte ihr mit den Augen und kratzte sich dabei sinnend am Kinn. Jetzt glaubte er auch zu wissen, wer sie war. Wenn ihn seine Ahnung nicht trog, musste sie eine Verwandte von Hildegard Wenz sein, die schon mehrmals hier in Achenbruck zu Besuch gewesen war. Hieß sie nicht Karin? Nein, Kathrin, berichtigte sich Michael, Kathrin Denzer. Er war ihr vor zwei Jahren begegnet, als sie als Gast an Hannis Kommunion teilgenommen hatte. In der dunklen Trauerkleidung hatte er sie jetzt nicht sofort erkannt. Hoffentlich hält sie mich nicht für einen Stoffel, weil ich ihr nicht grüß Gott gesagt habe, sorgte er sich und machte sich ebenfalls auf den Weg.

Am Grab hielt er inne und schaute auf die beiden dunkelbraunen Eichensärge hinab. Seine Lippen flüsterten dem Freund und dessen Frau einen unhörbaren Abschiedsgruß zu. Dann nahm auch er das Schäufelchen und warf Erde ins Grab, für jeden der Toten eine, so wie es ihm Kathrin Denzer vorgemacht hatte. Dann überließ er dem Ferdl, der in Achenbruck auch als Totengräber arbeitete, das Feld.

* * *

Als Michael Hochberger in den Saal des Stiftlwirts trat, hatten die anderen Trauergäste längst Platz genommen. Er warf einen raschen Blick über die Menge und fand die meisten Tische besetzt. Am Haupttisch saßen neben Hochwürden Kuhn, Bürgermeister Moser und den beiden Kindern der Toten noch Sepp Hierneis und seine Frau sowie beider Nachwuchs. Die vier Hierneis-Kinder machten sich dabei so breit, dass kein weiterer Gast mehr auf die Bank passte.

Michael verzog das Gesicht zu einer verächtlichen Miene, die Hierneis bemerkte und die ihn sichtlich traf. Mit einem scharfen Wort rief der Kleinbauer seine Kinder zur Ordnung, doch da war Michael bereits weitergegangen und setzte sich an den letzten Tisch in der Reihe zu Kathrin Denzer. Die Leute um sie gehörten zum weiteren Bekanntenkreis von Georg und Hildegard Wenz und waren gerade noch bedeutend und wichtig genug, um zum Leichentrunk geladen zu werden. Michael erkannte Veronika Gstaßl und Ottilie Kreuzeder, die ihn freudig und ein wenig neugierig in ihrer Runde begrüßten. Die Übrigen waren ihm vom Hörensagen bekannt.

Man schien sich gerade über den Unfall des toten Paares zu unterhalten, denn die Gstaßl Vroni machte eine entsprechende Bemerkung, wohl als Antwort auf eine Frage, die Kathrin Denzer ihr gestellt hatte. »… es hat in der Nacht zwar ein bisserl Nebel gehabt, aber ned gereift und die Straß war pfeilgrad. Ein junger Bursch war’s halt, und besoffen war er. Er ist auf die verkehrte Straßenseite gekommen und hat das Auto vom Wenz frontal erwischt. Es hat keiner überlebt. Den Burschen haben’s gestern in Tyrling begraben. Es war der einzige Bub daheim, während beim Wenz halt doch noch die Kinder da sind.«

»Die armen Wutzerln!«, warf Ottilie Kreuzeder mitleidig ein. »Wenn ich daran denk, dass der Hierneis ihr Vormund werden soll, können’s einem nur leidtun.«

»Was, der Hierneis soll Vormund werden? Aber ich hab doch gehört, dass der Bürgermeister den Hochberger vorschlagen will?«, wunderte sich Veronika Gstaßl und sah dabei Michael forschend an. Dieser kam jedoch zu keiner Antwort, denn Hierneis hatte unterdessen seinen Ältesten am Kragen gepackt und schleppte ihn zu dem Tisch, an dem Michael saß.

»Da her hockst du dich jetzt, Seppl, und keine Mucken mehr!«, herrschte Hierneis den Jungen an und wandte sich anschließend mit sanfter, beinahe öliger Stimme an Michael Hochberger. »Aber Nachbar, warum hast du dich denn so weit von uns weggesetzt. Komm doch mit an meinen Tisch. Bist doch alleweil der beste Freund vom Schorsch gewesen. Und hast auch jetzt wieder geholfen, das Vieh auf dem Wenzhof zu versorgen, und hast die letzten Felder umgeackert. Vergelt’s dir der Herrgott tausendmal. Ich werd dir diese Hilf nie vergessen.«

»Das war doch selbstverständlich!«, antwortete Michael, dem die Lobhudelei des anderen zuwider war.

»Für dich vielleicht, Hochberger, weil du ja ein großer Bauer bist, der sich mehrere Knechte halten kann. Aber ich hätt’s ned gekonnt, obwohl ich mich wirklich angestrengt hab«, erklärte Sepp Hierneis eifrig. Seine honigsüße Stimme konnte nicht ganz den Neid verbergen, der in seinen Worten schwang.

»So leicht war es für den Toni, den ich auf den Wenz-Hof geschickt hab, auch ned, das ganze Vieh zu betreuen. Mein Knecht hätt gewiss nix dagegen gehabt, wenn du ihm den Seppl oder den Thomas als Hilf geschickt hättest. Mit siebzehn und fünfzehn Jahren müssten die zwei Burschen doch alt genug sein, um mitarbeiten zu können!«, antwortete Michael kühl.

Hierneis schluckte bei dieser Zurechtweisung, fasste Michael aber dann am Ärmel und drängte ihn, mitzukommen. Michael wollte es nicht vor allen Leuten zum Streit kommen lassen. Also stand er seufzend auf und folgte Hierneis zu dessen Tisch. Hochwürden Kuhn und der Bürgermeister begrüßten ihn freudig, während Barbara Hierneis ihn mit eher lauernden Blicken musterte. Ihre drei am Tisch verbliebenen Kinder sahen ihm frech ins Gesicht. Der kleine Schorschi hob hingegen den Kopf ein wenig und sah ihn gleichermaßen treuherzig und hoffnungsvoll an. Seine Schwester Hanni wirkte hingegen, als würde ihr Geist in weiter Ferne weilen. Es tat Michael weh, ihr starres Gesicht zu sehen.

Hochwürden Kuhn sah Michaels Blick und legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm. »Gott wird den beiden schon beistehen, Hochberger, und ihnen seinen Schutzengel senden!«

»Freilich, Herr Pfarrer. Unser Herrgott wird schon auf die zwei Kinder aufpassen!«, stimmte Hierneis dem Priester eilfertig zu. »Mein Weib, die Barbara, und ich werden alles tun, um der Hanni und dem Schorschi ihren Verlust so leicht wie möglich zu machen. Es ist ja Christenpflicht für mich, wo ich doch der nächste Verwandte vom Wenz Schorsch bin!« Das lauernde Aufglühen von Hierneis’ Augen passte nicht so ganz zu seinen salbungsvollen Worten. Der Pfarrer achtete jedoch nur auf das, was Hierneis gesagt hatte, und nickte zufrieden.

»Das ist brav von dir, Hierneis. Nicht jeder würde so selbstlos handeln wie du. Ich habe schon erleben müssen, wie engere Verwandte als du ihre Verantwortung vor Gott und der Welt von sich gewiesen haben. Dabei hat schon unser Herr Christus gesagt: Der eine sei des anderen Halt!«

»Die Welt ist halt schlecht geworden, Hochwürden. Das können S’ ja jeden Tag in der Zeitung lesen. Aber bei uns in Achenbruck herrscht halt noch Gottesfurcht und Treue!«, salbaderte Hierneis weiter. Doch nur Michael schien den lauernden Unterton in seiner Stimme zu hören, denn auch der Bürgermeister stimmte Hierneis vorbehaltlos zu.

»Ned nur der Herrgott, auch die beiden Kinder werden es dir zu danken wissen, wenn du ihnen die Heimat erhältst!«, meinte er und prostete dabei Sepp Hierneis zu.

»Ich werd mein Möglichstes dazu tun, Herr Bürgermeister«, erklärte Hierneis, der dabei einen triumphierenden Blick nicht vermeiden konnte. »Wissen S’, ich hab mir gedacht, das Beste wär, wenn ich auf den Wenz-Hof einzieh und meine paar Tagwerkerl, die ich in Stadelmoos hab, von dort aus mitbewirtschaft! Die Hanni und der Schorschi müssten dann auch ned aus ihrer gewohnten Umgebung heraus und mein Weib, die Barbara, wird dort wie eine Mutter zu ihnen sein und meine Kinder wie ihre Geschwister!«

Fehlt nur noch das Amen, Hierneis, dann wäre deine Predigt fertig, dachte Michael grimmig. Er sah auf die beiden Kinder seines toten Freundes, die sich scheu aneinanderdrängten, so als wäre die Gegenwart des anderen für sie der einzige Halt auf der Welt, und von ihnen auf Hierneis’ Nachwuchs. Diese sahen nicht gerade aus, als würden sie vor Geschwisterliebe platzen. Die zwölfjährige Uli stibitzte eben Hanni die Nachspeise und warf ihr einen fast beleidigten Blick zu, weil die Jüngere nicht darauf reagierte.

Ihr ältester Bruder schwang an dem Tisch, den Michael vorhin verlassen hatte, das große Wort. Als der Bursche dabei zu laut wurde, schaute Michael kurz hinüber. Dabei streifte sein Blick Kathrin Denzer, die mit spöttisch verzogenem Gesicht neben dem jungen Hierneis saß und ihn nicht ernst zu nehmen schien. Sie sah jetzt zu Michaels Tisch herüber, wohl um den Erzeuger des jungen Angebers anzuschauen. Für einen Augenblick traf ihr Blick den von Michael und stieß dabei eine tief verborgene Saite im Wesen des Bauern an.

Er musterte die junge Frau jetzt genauer und revidierte sein Urteil von vorhin. Kathrin war durchaus eine Schönheit, mit vollen Lippen und herrlichem langem Haar in der Farbe reifen Weizens, das nun, wo sie ihr Kopftuch abgelegt hatte, in sanft geschwungenen Wellen auf den Rücken strömte.

Irgendetwas scheinbar Spaßiges musste der junge Hierneis zu ihr gesagt haben, denn sie lachte trotz ihres ernsten Gesichts kurz auf. Ihre Antwort konnte Michael nicht verstehen, er sah aber, wie die anderen an ihrem Tisch bis auf den Seppl darüber schmunzelten. Der junge Hierneis sah hingegen aus, als hätte er in eine besonders saure Zitrone gebissen.

Michael Hochberger merkte jetzt erst, dass während der Zeit, in der er auf Kathrin geachtet hatte, das Gespräch am Tisch weitergegangen war. Sepp Hierneis redete eifrig auf den Bürgermeister ein und seine Frau sekundierte ihm dabei.

»Wir könnten ja so viel für die Kinderl tun, sobald die Sach mit der Vormundschaft geklärt ist!«, sagte sie gerade seufzend zum Bürgermeister und hob ihm dabei wie bittend die Hände entgegen.

»Ich tu ja, was ich kann, Frau Hierneis. Aber der Amtsschimmel ist halt kein Rennpferd!«, antwortete Moser mit einer Miene, als müsste er sich persönlich bei Hierneis und seiner Frau für das Zögern der Behörden entschuldigen.

»Aber muss er denn gar so lahm sein, der Amtsschimmel mein ich«, versuchte Hierneis zu witzeln. »Herr Bürgermeister, vielleicht geht es doch ein bisserl schneller, wenn sie ein gutes Wörterl für uns einlegen könnten?«, setzte er mit angespannter Miene hinzu.

»Aber Hierneis, das hab ich doch schon längst gemacht«, antwortete Moser. Er war über den Eifer des Ehepaares, sich um die verwaisten Kinder kümmern zu wollen, sichtlich erfreut. »Ich hab die Sach ganz dringend gemacht. Es wird sicher nimmer mehr lang dauern, bis das Vormundschaftsgericht meinem Vorschlag zustimmt. Dann ist alles zum Besten für die zwei Kinderl geregelt!«

Bei diesen Worten streichelte Moser mitleidig über die Blondschöpfe Hannis und Schorschis, die still neben ihm saßen und mit großen Augen die Unterhaltung verfolgten. Für einen Augenblick streifte Mosers Blick das steinern wirkende Gesicht Michaels Hochbergers und fühlte, dass es ihm heiß wurde. Mit einer fahrigen Bewegung zog er seine Krawatte weiter und öffnete den obersten Hemdknopf.

»Es tut mir wirklich leid, Hochberger. Ich weiß, dass du der beste Freund vom Wenz Schorsch gewesen bist. Und ich hätt dich ja auch gern als Vormund der zwei Waiserln gesehen. Aber das Vormundschaftsgericht hätt niemals einen ledigen Mann akzeptiert, wo doch der Hierneis und seine Frau nahe Verwandte sind, die sich um die Kinder und ihren Hof kümmern können. Du hättest halt doch einmal ans Heiraten denken sollen!« Bürgermeister Moser versuchte, die schwierige Lage am Tisch mit einem Witz zu entschärfen. Sepp Hierneis lachte auch pflichtschuldig dazu, während das Lachen seiner Frau schon ein wenig gehässig klang. Michael blieb davon jedoch völlig unberührt.

»Ich kann dazu nur eines sagen, Herr Bürgermeister. Da ich mit dem toten Wenz-Bauern und seiner Frau weder verwandt noch verschwägert bin und auch kein öffentliches Amt in der Gemeinde ausüb, geht mich persönlich die ganze Sache nix an!« Michaels Stimme klang schärfer und ablehnender als gewollt. Sowohl der Bürgermeister wie auch der Pfarrer sahen ihn verwundert an. Hierneis biss sich nervös auf die Lippen und verlor seine angespannte Miene erst, als ihn Moser fragte, wann er denn auf den Wenz-Hof umziehen könnte.

»Schon morgen, wenn ich darf!«, rief Hierneis theatralisch.

»Freilich, Herr Bürgermeister. Wenn Sie’s uns erlauben, kommen wir schon morgen auf den Hof! Es muss ja dort auch weitergehen«, stimmte ihm seine Frau hastig zu.

»Also, ich hab nix dagegen, Hierneis«, erklärte der Bürgermeister, froh darüber, dass dieses Problem aus der Welt geschafft war. Dann erinnerte er sich daran, dass ja der Hochberger und seine Knechte in den letzten Tagen die Arbeit auf dem Wenz-Hof erledigt hatten und seine eifrige Zustimmung zu Hierneis’ Plan eventuell als Misstrauensvotum ansehen konnten.

»Das heißt, wenn du damit einverstanden bist, Hochberger?« Moser sah Michael etwas kleinlaut und doch voller Hoffnung, dass dieser ihm zustimmen würde, an. Der Bauer zuckte jedoch nur mit den Schultern.

»Wie ich zu dem Ganzen steh, hab ich vorhin schon gesagt. Meine Knecht und ich werden morgen früh noch die Stallarbeit machen, dann ist die weitere Bewirtschaftung des Wenz-Hofes dem Hierneis seine Sach. Extra abzurechnen brauchen wir ned, weil ich nix zuschießen hab müssen. Im Wohnhaus selber haben wir nix gemacht, außerdem haben S’ dort selber die Wertsachen im Namen der Gemeinde registriert!«, antwortete er mit einem derart kühlen Klang in der Stimme, dass es wie ein eisiger Finger über Hierneis Rücken strich.

»Dann komm ich halt morgen auf den Hof, Herr Bürgermeister. Sie müssen mir aber versprechen, dass die Sach mit dem Gericht bald geregelt wird«, sagte er zum Bürgermeister. Sein Blick lag dabei jedoch fast furchtsam auf Michael Gesicht. Dieser sah nämlich seinen Worten zum Trotz so aus, als ob ihn das Schicksal der Wenz-Kinder und des Hofes durchaus kümmern würde.

* * *

Es war der traurigste Besuch in Achenbruck, an den sich Kathrin Denzer erinnern konnte. Noch immer wollte es ein Teil von ihr nicht glauben, dass ihre Verwandte Hildegard Wenz für immer von dieser Welt gegangen war. Auch taten ihr die Kinder leid, die beinahe am anderen Ende des Saales an Hierneis’ Tisch saßen und so aussahen, als würden sie ihre Trauer und ihr Elend am liebsten in die Welt hinausschreien. Kathrin hätte Schorschi und Hanni gerne in die Arme genommen und sie getröstet.

Doch schon bei ihrer Ankunft heute Morgen hatte ihr Barbara Hierneis sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie auf dem Wenz-Hof nichts mehr verloren hatte. Kathrin war sich sicher, dass es pure Eifersucht auf ihr gutes Verhältnis zu den Kindern war, die die andere so hatte handeln lassen. Und sie neidete ihr auch die gute Freundschaft zu dem verunglückten Paar, das sich im Leben wenig aus Hierneis und seiner Familie gemacht hatte. Jetzt saß Georgs Vetter mit seiner Frau am selben Tisch wie der Bürgermeister und redete auf diesen ein, um nur rasch genug auf den großen Hof kommen zu können.

Auch der Hochberger saß jetzt dort und hatte wohl ein gewichtiges Wort dabei mitzureden. Kathrin zog die Nase kraus, als sie an den Großbauern dachte. Sie erinnerte sich unwillkürlich an Hannis Kommunion und daran, wie ihr Hildegard damals zugeredet hatte, sich Michael Hochberger genauer anzuschauen. »Weißt du, Kathrin, für den Michi wird’s auch langsam Zeit, dass er sich eine Frau nimmt. Und ich wüsst mir keine Bessere für ihn als dich. Du hättest einen guten Mann und wir zwei wären wieder Nachbarinnen wie in unserer Kindheit und könnten uns jeden Tag sehen und miteinander reden. Jetzt kommst du doch nur alle heilige Zeit zu Besuch!«

Kathrin schämte sich heute noch, auf Hildegards Vorschlag eingegangen zu sein. Doch der stattliche Bauer hatte ihr gefallen, und wenn sie ehrlich zu sich war, hatte ihr auch sein Besitz ein wenig ins Auge gestochen. Sie stammte nun einmal aus einer kleinen Nebenerwerbslandwirtschaft und wusste einen großen, gut geführten Hof durchaus zu würdigen. Aber auch der Gedanke, wieder mehr mit ihrer Freundin zusammen zu sein, hatte für sie eine nicht geringe Rolle gespielt.

Hildegard hatte denn all ihre weiblichen Schliche angewandt, um Michael auf Kathrin aufmerksam zu machen. Doch sein Blick war nur kühl und abschätzend über sie hinweggeglitten und er hatte sie das ganze Fest über kein zweites Mal mehr angesehen. Kathrin war Frau genug, um sich noch heute über eine solche Missachtung zu ärgern. Noch immer juckte sie der Gedanke, diesem Arroganzling, wie sie Michael Hochberger insgeheim für sich nannte, einmal so richtig die Meinung zu geigen.

Stattdessen musste sie sich mit Seppl Hierneis herumschlagen, der mit einem flinken Blick ihre ringlose Hand entdeckt hatte und sie anscheinend als Freiwild für seine pubertären Fantasien ansah. Da er für den Augenblick der strengen Zucht seines Vaters entkommen war, trank er viel zu schnell und zu viel, als es ihm in seinem Alter guttat und schöpfte aus dem Alkohol einen Mut, der sich rasch zur Dreistigkeit auswuchs.

»Du gefällst mir fei gut!«, sagte er gerade und versuchte, seinen Arm um ihre Hüfte zu schlingen.

»Seppl, benimm dich, du bist auf einer Beerdigung!«, zischte ihm Veronika Gstaßl zu.

»Mir kommen gleich die Tränen, Vroni«, meinte Hierneis junior feixend und neigte seinen Kopf Kathrin zu.

»Bleibst du heut in Achenbruck über Nacht?«, fragte er mit schon unverschämter Direktheit.

»Willst du vielleicht zu mir Kammerfensterln kommen?«, spottete Kathrin, die den Burschen einfach nicht ernst nahm. Seppl merkte jedoch nicht, dass sie einen Spaß mit ihm machte, und nickte heftig.

»Freilich! Das wär doch eine Sach, meinst ned?«

»Für dich vielleicht, aber ned für mich!«, erklärte ihm Kathrin mit einem freundlichen Lächeln und entfernte dabei seine Hand von ihrer Hüfte.

»Aber, wie meinst du denn das?«, stotterte Seppl. Er hatte ihre Frage nach dem Kammerfensterln doch tatsächlich für eine Aufforderung gehalten, es auch zu tun, und war jetzt über ihre Reaktion doch arg enttäuscht.

»Ganz einfach, du bist mir noch viel zu grün hinter den Ohren, Bürscherl!«, beschied ihn Kathrin mit einem freundlichen Lächeln.

»Was heißt da zu grün …? Ich werd nächstes Jahr volljährig!«, fuhr der junge Hierneis auf.

»Vielleicht auf dem Papier! Aber so wie der Flaum auf deinen Wangen noch lang kein Bart ist, so bist du noch lang kein Mann, der Kathrin imponieren könnt, sondern noch immer ein dummer Bub, der sich in unserer Gesellschaft schlecht benimmt!« Da sich Veronika Gstaßl über den Burschen ärgerte, sah sie keinen Anlass, ihre Stimme zu dämpfen. Nicht nur an ihrem Tisch lachten die Leute auf und zeigten Seppl damit sehr deutlich, was sie von ihm als Möchtegerncasanova hielten.

Der junge Hierneis zog seinen Arm von Kathrin zurück, als hätte er auf eine heiße Tischplatte gefasst und übte sich im Schmollen. Es kümmerte jedoch niemanden, denn die Leute unterhielten sich weiter über das Unglück und über die Beerdigung. Veronika Gstaßl fragte Kathrin nach gemeinsamen Freunden und erzählte ihrerseits von den Ereignissen, die sich seit Kathrins letztem Besuch in Achenbruck ereignet hatten. Schließlich kam sie auch auf Kathrins Verhältnis zu Barbara Hierneis zu sprechen und fragte sie, wo sie in dieser Nacht schlafen würde.

»Da mich die Hierneisin ned auf dem Wenz-Hof sehen will, werd ich wohl den Stiftlwirt nach einem Gastzimmer fragen müssen«, antwortete Kathrin leise.

Veronika Gstaßl schüttelte nur fassungslos den Kopf. »Wenn das die Hildegard wüsst. Die tät noch aus dem Jenseits die Hierneis-Bagasch von ihrer Türschwelle jagen! Weißt du was, Kathrin, du schläfst heut Nacht bei uns. Schließlich sind wir zwei über die Hildegard miteinander verwandt, auch wenn die Verwandtschaft ein bisserl weitläufig ist.«

»Zu der Einladung sag ich ned Nein!«, antwortete Kathrin erleichtert. Mit einem verkniffenen Blick auf den alten Hierneis und seiner Frau beugte sie sich zu Veronika hin. »Es ist mir lieb, wenn ich noch unter vier Augen mit dir reden kann. Ich trau dem Geier dort vorn nämlich ned übern Weg. Du hältst mich doch auf dem Laufenden, wie es der Hanni und dem Schorschi gehen wird?«

* * *

Die Zeit bleibt niemals stehen. Auch in Achenbruck folgte ein Tag auf den anderen und der Herbst wich einem frühen Winter, der sein weißes Leintuch weit über das Land ausbreitete. Hierneis war samt seiner Familie längst auf den Wenz-Hof umgezogen und fühlte sich dort bereits so heimisch, als wenn er dort geboren worden wäre. Obwohl Michael Hochberger seinem Treiben mit wachsamen Augen zusah, konnte er ihm nichts vorwerfen. Hierneis und seine Barbara erledigten ihre Arbeit zuverlässig und bewirtschafteten den großen Hof fast genauso gut, wie Georg und Hildegard Wenz es vermocht hatten. Auch den beiden Kindern schien auf dem ersten Blick nichts zu fehlen. Sie waren immer sauber gekleidet und machten ihre Schulaufgaben, wie es sich gehörte. Die gewisse Traurigkeit in ihrem Wesen schrieben alle dem schweren Verlust zu, den sie erlitten hatten.

Michael konnte auch Hochwürden Kuhn und Bürgermeister Moser nichts Negatives nachsagen. Beide nahmen ihre Verantwortung für die Kinder sehr ernst und kamen mindestens einmal in der Woche auf den Wenz-Hof, um nach dem Rechten zu schauen. Sicher gab es Änderungen im Haus. Wo früher ein Ehepaar mit den beiden Kindern gemütlich Platz gefunden hatte, mussten nun zusätzlich zu Sepp und Barbara deren vier Kinder mit untergebracht werden. Sowohl der Pfarrer wie auch der Bürgermeister brachten Verständnis dafür auf, dass bei acht Menschen nun einmal der Platz etwas eng wurde und Hanni und Schorschi aus ihren großen Kinderzimmern, die sie früher besessen hatten, in ein kleineres Zimmer umquartiert wurden, das sie nun miteinander teilen mussten. Ihre alten Zimmer wurden an Seppl und Thomas, die beiden ältesten Hierneis-Söhne vergeben.

Keiner im Dorf machte sich Gedanken darüber, wie sehr es Hanni und Schorschi getroffen haben musste, aus von ihren Eltern beschützten und umsorgten Lieblingen zu eher geduldeten Anhängseln der Hierneis-Familie zu werden. Nur Michael ahnte ein bisschen etwas, doch auch er vermochte nicht in die Herzen der beiden Kinder zu schauen.

Hanni und Schorschi mochten die Verwandten nicht, die sich so dreist auf ihrem Hof eingenistet hatten. Zu selbstverständlich nahmen Sepp und Barbara Hierneis von den Sachen ihrer Eltern Besitz und ihr Nachwuchs hielt es nicht anders mit ihren eigenen Habseligkeiten. Immer wieder verschwanden Malhefte, Bundstifte und Spielsachen aus ihrem Zimmer und tauchten bei Uli und ihrem Bruder Wolfgang wieder auf. Als schließlich Uli Hannis neuen Schlitten aus der Remise holte, wurde diese wütend und protestierte bei Ulis Mutter vehement dagegen.

»Es sind doch genug Schlitten da! Die werdet ihr euch doch teilen können!«, antwortete Barbara Hierneis darauf bissig und fügte auf Hanni gemünzt hinzu: »Wie man mit zehn Jahren noch so kindisch sein kann. Du solltest eher im Haushalt mithelfen, als sinnlos herumzuspielen!« Und sie schickte Hanni in den Hühnerstall, um die Eier abzutragen, während ihre Tochter Uli feixend mit Hannis Schlitten abzog.

Da das Vormundschaftsgericht noch immer nicht zu Sepp Hierneis’ Gunsten entschieden hatte, wollte sich dieser nichts nachsagen lassen. Daher bestand er darauf, dass Hanni und Schorschi ebenfalls in Freie gingen, damit die Leute auch sie beim Schlittenfahren sehen sollten. Die Kinder gehorchten und zogen sich an. In der Remise fanden sie nur noch Hannis alten kleinen Schlitten vor, den diese in früheren Jahren benutzt hatte. Schorschi weinte, weil Thomas seinen schönen Bobschlitten genommen hatte.

»Glaubst du, dass mir das Christkindl einen neuen Schlitten bringt, wenn mir der Thomas den meinen nimmer zurückgibt?«, fragte er schließlich hoffnungsvoll. Hanni wischte die Tränenspuren von seinen Wangen und drückte ihn an sich. Im Gegensatz zum Schorschi wusste sie, dass nicht das Christkind, sondern die Eltern die Weihnachtsgeschenke besorgten. Und sie hatten doch keine Eltern mehr.

»Ich weiß es ned, Schorschi. Vielleicht, wenn wir zwei beide recht brav sind!«, antwortete sie ohne viel Hoffnung.

»Dann dürfen aber die Uli und der Wolfi, aber auch der Thomas und der Seppl heuer nix vom Christkindl kriegen. Die sind nämlich gar ned brav!«, antwortete der Bub mit kindlicher Logik. Hanni hatte ihre Zweifel, was den Gerechtigkeitssinn des Christkindes betraf, aber das konnte sie ihrem Bruder nicht sagen. Sie freute sich, dass er wieder lachen konnte und lief mit ihm zum Hang. Ihr Schlitten war zwar klein und bot kaum Platz für beide. Dennoch hätte es ein schöner Winternachmittag werden können. Hanni und Schorschi waren aber kaum zweimal den Hang herabgefahren, als Thomas den Bobschlitten abstellte und mit beiden Händen in den Schnee griff.

»Wir machen jetzt eine Schneeballschlacht!«, befahl er mit der Autorität seiner fünfzehn Jahre. Seine jüngeren Geschwister rodelten johlend zu ihm hin und pressten den Schnee ebenfalls zu Bällen zusammen. Hanni und Schorschi achteten erst auf die drei, als der erste Schneeball schmerzhaft in Hannis Gesicht klatschte.

»Was soll das?«, rief sie empört und wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. Doch sofort kamen die scharf und gezielt geschossenen Schneebälle Ulis und Thomas hinterher. Bevor Hanni und Schorschi sich versahen, waren sie weiß gepudert vom Schnee, der kalt und eklig in ihren Kragen rieselte und ihnen die Augen verklebte.

»Drei gegen zwei! Ihr seid feig«, rief Hanni empört und bekam als Antwort einen besonders festen Schneeball ans Ohr, sodass ihr vor Schmerz die Tränen kamen. Schorschi sah es und fauchte wie eine wütende Katze auf. Ungeachtet der Schneebälle, die ihn trafen, raffte er jetzt ebenfalls Schnee zusammen, knetete ihm zu einem Ball und schleuderte ihn zurück. Mehr durch Zufall traf er Uli im Gesicht. Obwohl der Schneeball wirklich nicht besonders fest gepresst war, kreischte das Mädchen wie am Spieß auf.

»Du Krüppel, das machst du kein zweites Mal!«, brüllte ihr Bruder Thomas und stürmte auf Schorschi zu. Dieser hob abwehrend die Arme, doch gegen den mehr als doppelt so alten Jungen war er chancenlos. Thomas packte ihn wie ein Kaninchen beim Genick und stieß ihn mit dem Kopf voraus in die nächste Schneewehe und hielt ihn mit eisernem Griff dort fest.

»Lass meinen Bruder in Ruh!«, zischte Hanni den Burschen an und packte ihn am Ärmel. Doch da waren schon Uli und Wolfgang heran und schubsten auch sie in den Schnee. Hanni versuchte, sich zu wehren. Doch Wolfgang kniete auf ihrem Oberkörper und hielt ihre Arme nieder, während Uli ihr den Schnee mit beiden Händen auf das Gesicht schaufelte und ihn so heftig einrieb, dass Hanni kaum mehr Luft bekam.

Die Qual schien unendlich zu dauern. Doch plötzlich hörte Hanni durch den Schnee, der in ihre Ohren geraten war, hindurch einen zornigen Schrei. Ihre Peiniger ließen sie mit einem Mal los und rannten davon. Auch Thomas gab jetzt Fersengeld. Hanni blickte überrascht auf und sah unweit Toni, den Jungknecht des Hochbergers stehen, der den Hierneis-Kindern mit Wut geknetete und gezielte Schneebälle nachwarf und damit auch ausgezeichnet traf. Erst als die drei um die Scheune des Wenz-Hofes bogen und außer Sicht waren, hörte er damit auf.

Toni warf den Schneeball, den er noch in der Hand hielt, weg und eilte zu Hanni und Schorschi hin. Der Bub heulte hemmungslos, während ihm das Blut von den aufgeschürften Lippen rann. Hanni nahm ihn in den Arm und tröstete ihn, während auch ihr die Tränen über die Wangen liefen. Der junge Knecht stand etwas hilflos da und kniete sich schließlich neben den Kindern hin.

»So eine gscherte Saubande!«, schimpfte er los. »Sind zu dritt und alle drei älter als ihr, und dann führen sie sich so auf. Das werd ich meinem Bauern sagen, damit er dem Hierneis einmal richtig Bescheid stößt!«

»Das wird auch nix helfen. Der Onkel und die Tant helfen doch eh zu den anderen«, antwortete Hanni mutlos.

»Probieren kann’s der Bauer ja. Und wenn’s nix hilft, dann kommt ihr zu mir. Ich werd den Hierneis-Früchterln schon richtig einheizen, wenn’s frech zu euch werden. Ausgemacht?«

»Ausgemacht!« Hanni reichte dem Knecht die Hand und er schlug ein. Dann half er ihr, Schorschi zu beruhigen, und trug den Buben bis zum Hof.

»Also, wenn wieder was sein sollt mit den Hierneis-Rangen, dann sagt ihr’s mir.« Toni verabschiedete sich mit einem aufmunternden Klaps von den Kindern und stiefelte wieder zum Hochberger-Hof zurück.

* * *

Hanni und Schorschi gingen den Hierneis-Kindern während des restlichen Tages aus dem Weg. Nach dem Abendessen, das mit Wolfgangs, Thomas’ und Ulis gehässigen Blicken reichlich gewürzt war, zogen sie sich in ihr Zimmer zurück und verbarrikadierten die Tür, da sie diese nicht verschließen konnten. Es dauerte einige Zeit, bis die zwei einschliefen. Doch mitten in der Nacht wurden sie geweckt. Der alte Hierneis war vom Stammtisch zurückgekommen und brüllte jetzt in der Küche seine Familie zusammen.

Da er nur nach seiner Frau und seinem eigenen Nachwuchs rief, nicht jedoch auch nach ihnen, blieben Hanni und Schorschi aneinandergekauert in ihrem Bett sitzen und lauschten dem Strafgericht, das unten über die drei jüngeren Hierneis-Kinder niederging.

»… muss ich mir vor allen Leuten von Hochberger sagen lassen, dass ihr drei die Wenz-Waisen verprügelt habt! Was sagst du, Uli, es stimmt ned? Du, gleich fängst du eine Watschen ein, die sich gewaschen hat. Die alt Rumederin hat’s nämlich auch gesehen und nix Besseres zu tun gehabt, als es dem Hochwürden unter die Nase zu reiben!«

Das klatschende Geräusch einer Ohrfeige, auf das Hanni und Schorschi warteten, unterblieb jedoch. Trotzdem warf Schorschi seiner Schwester einen hoffenden Blick zu. »Vielleicht sind die Uli und ihre Brüder jetzt nimmer so hässlich zu uns, weil der Onkel sie deswegen geschimpft hat?« Hanni hörte, wie der Hierneis weitersprach, und hielt ihrem Bruder den Mund zu.

»Sei ruhig, damit wir was hören können!« Sie lauschte weiter und hörte den Onkel, der eigentlich kein richtiger Onkel war, sondern nur ein Vetter ihrer Vaters, weiter schreien.

»Hundsbande, vermaledeite! Ich hab euch hundertmal gesagt, dass ihr die zwei Bälger dort oben in Ruh lassen sollt! Ihr wisst doch, dass das Vormundschaftsgericht noch nix entschieden hat. Ich will ned durch eure Dummheit auf den schönen Hof da verzichten müssen! Wenn die Paragrafenhengst nämlich glauben, dass es dem Schorsch seiner Brut bei uns schlecht geht, sind die in der Lage und machen doch noch den Hochberger zum Vormund und ich kann mit dem Ofenrohr ins Gebirg schauen! Aber das eine sag ich euch! Wenn das passiert und wir wieder auf unsere Klitschen ins Stadelmoos zurückmüssen, habt ihr keine gute Stund mehr bei mir. Das gilt auch für dich, Seppl, da brauchst du ned so frech zu schauen. Dir hau ich immer noch eine rein, wenn du es brauchst. Da magst du in drei Monat volljährig werden, wie du willst!«

Hanni und ihr Bruder hörten jetzt die Tante sprechen, leiser zwar als ihr Mann, aber genauso drängend. Leider konnten die beiden nur Satzfesten und einzelne Wörter verstehen. »… ist es aus mit den schönen großen Zimmern …, kannst du wieder mit Klorollen spielen …, selber wieder Eier abtragen …, seid … deppert …, der schöne Hof …« Hanni und Schorschi hörten Barbara Hierneis noch eine ganze Weile hastig auf ihre Kinder einreden. Schließlich wurde sie von ihrem Mann barsch unterbrochen.

»Ein End jetzt, ich will ins Bett! Und ihr müsst morgen auch in die Schul!«

»Ich ned! Die Berufsschule hat schon letzte Woch aufgehört«, drang Seppls zufriedene Stimme zu den beiden lauschenden Kindern hoch.

»Dann kannst du mir bei der Stallarbeit helfen, bevor du zur Arbeit gehst. Und für euch anderen gilt, dass ihr die zwei Bankerte dort oben in Ruh lasst! Sonst schüttel ich über euch den Watschenbaum aus, dass es seine Früchte nur so hagelt!«, antwortete der alte Hierneis grob.

Hanni und Schorschi hörten kurz darauf seine schweren Schritte die Treppe heraufkommen. Barbara Hierneis und ihre Kinder folgten ihm noch immer heftig miteinander diskutierend.

»Weißt Mama, den schönen Schlitten geb ich aber fei nimmer her!«, erklärte Uli patzig.

»Und ich den Fußball auch ned!«

»Uli, Thomas, das verlangt ja auch keiner von euch. Aber den Leut gegenüber müsst ihr halt so tun, als wenn die Hanni und der Schorschi eure besten Freund wären.«

Was Barbara Hierneis noch weiter sagte, konnten Hanni und Schorschi nicht mehr verstehen, da die Tante in eines der Zimmer getreten war. Doch es reichte beiden auch so. Schorschi klammerte sich wie ein kleines Äffchen an die Schwester und kämpfte gegen die Tränen an, die in ihm hochsteigen wollte. Hanni lag mit offenen Augen da und starrte gegen die Zimmerdecke.

»Hast du ein Taschentuch?«, fragte Schorschi nach einer Weile. Hanni kramte in ihrem Nachtkästchen, bis sie eines fand, und reichte es ihm. Schorschi schnäuzte sich und zupfte dann seine Schwester am Ärmel ihres Nachthemdes.

»Du Hanni, vielleicht wird doch der Onkel Michael unser Vormund und ned der Onkel Sepp?« Der Bub wollte sich an diesen Gedanken festklammern. Hanni verspürte einen Augenblick lang ebenfalls neue Hoffnung, doch dann erinnerte sie sich an die Beerdigung ihrer Eltern und schüttelte traurig den Kopf.

»Das geht ned, Schorschi. Du hast doch gehört, was der Herr Bürgermeister zu Onkel Michael gesagt hat. Er kann ned unser Vormund werden, weil er keine Frau hat.« Die Hoffnung des Jungen zerstob so schnell, wie sie gekommen war.

»Der Onkel Michael hat uns auch nimmer lieb! Sonst hätt er noch schnell geheiratet, damit der Onkel Sepp und die Tant ned auf den Hof gekommen wären!«, schniefte er unter Tränen.

»So schnell hat doch der Onkel Michael ned heiraten können. Da braucht er auch eine Frau dazu!«, verteidigte Hanni den Hochberger.

»Wenn er wollen hätt, hätt er auch eine gefunden. Er hätt ja bloß die Tante Kathrin nehmen brauchen. Die ist doch auch noch ledig. Die tät’s ned zulassen, dass man uns verhaut und unsere Spielsachen wegnimmt!«, beharrte Schorschi auf seiner Meinung.

»Nein, die Tante Kathrin tät’s ned zulassen«, stimmte ihm Hanni zu. Sie seufzte und lächelte Schorschi unter Tränen an. »So, jetzt müssen wir zwei auch schlafen. Morgen ist der letzte Schultag vor Weihnachten. Da gibt’s gewiss die Platzerln, die wir mit der Frau Handarbeitslehrerin gebacken haben!« Hanni hoffte, Schorschi mit dieser Aussicht Mut zu machen. Doch er kaute noch immer auf dem vorhin Gehörten herum.

»Der Onkel Sepp will unbedingt unser Vormund werden, um bei uns Bauer zu werden. Aber es ist doch unser Hof, Hanni! Sobald ich groß bin, bin ich der Bauer. Aber dann jag ich den Onkel davon, damit uns die Uli und die anderen nimmer länger tratzen können!« Schorschi sagte es mit einer solchen Überzeugung, als wenn es schon in ein paar Tagen so weit sein würde. Hanni kicherte ein wenig, als sie sich diese Situation vorstellte. Sie wurde aber sofort wieder ernst, als sie an die Zeit dachte, die bis Schorschis Volljährigkeit noch vergehen würde.

»Bis dahin muss aber noch elfmal das Christkindl kommen, Schorschi!«, antwortete sie traurig.

»Elfmal?«, staunte Schorschi, dem diese Zeitspanne beinahe wie eine Ewigkeit vorkam. »Elfmal, an denen das Christkindl ned zu uns kommen wird, weil es den Onkel ned mag!« Der Bub fing wieder zu weinen an. Hanni trocknete ihm die Tränen und merkte erst später, dass auch ihr das Wasser über die Wangen lief.

* * *

In einem aber hatten sich Hanni und Schorschi wirklich getäuscht. Das Christkind hatte sie nicht vergessen. Es legte die Geschenke zwar nicht wie in früheren Jahren unter den Weihnachtsbaum, sondern nahm das Postauto des Briefträgers Meßner dafür in Anspruch. Hanni und Schorschi kamen gerade aus der Schule, als der gelbe Wagen die Straße heraufkam und neben ihnen hielt. Der Postbote kurbelte das Seitenfenster herunter und rief die beiden freundlich an.

»Grüß Gott, ihr zwei. Ich hab da vom Christkindl ein Päckchen für euch!«

»Ein Packerl? Für uns?« Hanni blieb stehen und schaute Meßner ungläubig an. Doch da streckte er schon ein in buntes Weihnachtspapier gehülltes Päckchen heraus und reichte es dem Mädchen.

»Das ist aber ned vom Christkindl, sondern von der Tante Kathrin!«, rief Hanni, als sie den Adressaufkleber gelesen hatte.

»Da wird das Christkind die Sachen halt der Tante Kathrin zum Schicken gegeben haben!«, antwortete der Postbote lachend und fuhr zum nächsten Hof weiter. Hanni und Schorschi staunten das Päckchen einen Moment lang an und liefen dann nach Hause. Barbara Hierneis hatte durch das Küchenfenster den Postboten gesehen und wartete schon an der Haustür auf die zwei.

»Gibt’s Post?«, fragte sie und starrte dabei auf das Päckchen in Hannis Hand.

»Nein, nur ein Packerl für den Schorschi und mich von der Tante Kathrin!«, antwortete Hanni, die genau wusste, dass Barbara Hierneis wie auf heißen Kohlen sitzend auf das ersehnte Schreiben vom Jugendamt wartete.

»So, ein Packerl von der Denzer Kathrin? Gib’s her«, sagte Barbara Hierneis und streckte die Hand danach aus. Hanni umklammerte das Päckchen mit beiden Armen und drehte sich weg.

»Das Packerl gehört uns und ned dir, Tante Barbara!« Schorschi stellte erst einmal die Besitzverhältnisse klar und zupfte dann an einer Ecke des Päckchens.

»Was mag uns die Tante Kathrin geschickt haben?«, fragte er mit heimlicher Sehnsucht. Hanni aber schüttelte den Kopf.

»Das ist ein Weihnachtsgeschenk, Schorschi. Das machen wir erst am Heiligen Abend auf.«

»Aber bis dorthin sind’s ja noch drei Tag!«

»Die wirst du wohl noch warten können!«

»Papperlapp!« Barbara Hierneis unterbrach den Disput mit einer gehässigen Bemerkung und riss Hanni das Päckchen aus den Händen. Ohne sich um die Proteste der Kinder zu kümmern, zerriss sie die weihnachtliche Umhüllung und öffnete es. Ein kleines Kuvert mit einem aufgeklebten Engelchen und zwei schöne Bücher, die genau auf das Alter der beiden Kinder abgestimmt waren, kamen zum Vorschein. Barbara Hierneis reichte die Bücher mit sichtlicher Enttäuschung an Hanni zurück und schaute in das Kuvert. Ein Zettelchen mit der Aufschrift »Alles Liebe von Tante Kathrin!« und ein gefalteter Zwanzigeuroschein lagen darin. Barbara Hierneis starrte einen Moment auf den Geldschein, dann steckte sie ihn in die Tasche ihrer Kittelschürze.

»Das heb ich für euch auf«, erklärte sie den Kindern. Sie warf Hanni noch den Weihnachtsgruß Kathrin Denzers hin und kehrte wieder in die Küche zurück. Schorschi sah ihr empört nach, während Hanni das Zettelchen genauer ansah und auf der Rückseite die Notiz fand, dass die zwanzig Euro dafür gedacht waren, damit sie sich Schokolade und Bonbons davon kaufen sollten.

»Die Tant muss uns das Geld zurückgeben! Da steht, dass wir es ned aufzuheben brauchen, sondern uns was dafür kaufen können!«, rief Schorschi zornig und wollte in die Küche. Hanni hielt ihn zurück.

»Du weiß doch, dass es keinen Zweck hat. Was die Tant einmal in ihren Händen hat, gibt sie nimmer her!«

»Dann darf uns die Tante Kathrin kein Geld mehr schicken, sondern muss es uns selber geben, aber so, dass es die Hierneis-Tant ned sieht. Wir verstecken das Geld dann bei uns in der Kammer«, erklärte ihr Bruder.

»Aber Schorschi, du weißt doch, dass die Tante Kathrin weit weg wohnt und uns auch früher ned oft besuchen hat können. Und da hat S’ noch bei uns schlafen dürfen. Aber die Tante Barbara lässt S’ ja nimmer auf den Hof!«

»Wenn ich groß bin, darf die Tante Kathrin aber wieder kommen!«, rief Schorschi.

Hanni stieß einen Seufzer aus. »Bis es so weit ist, wird uns die Tante Kathrin längst vergessen haben!«, antwortete sie leise.

»Die Tante Kathrin wird uns nie vergessen!«

* * *

Beim Abendessen hatten die jüngeren Hierneis-Kinder bereits von dem Päckchen erfahren. Sie begrüßten Hanni und Schorschi voller Neid am Tisch. Uli sah man es direkt an der Nasenspitze an, dass sie am liebsten Hannis Buch aus deren Zimmer geholt hätte, um es als Erste zu lesen.

»Für uns war nix in dem Packerl?«, fragte Thomas schließlich mit ziemlicher Direktheit.

»Nein, es war bloß etwas für die zwei da dabei! Unsereins ist ja der feinen Dame ned gut genug«, entgegnete Barbara Hierneis säuerlich.

»Hättest du die Denzerin bei der Beerdigung ned so schwach angeredet, hätt S’ dir vielleicht auch was mitgeschickt«, warf ihr Mann bissig ein. Er ärgerte sich darüber, dass er noch immer nicht zum amtlichen Vormund der beiden Waisen ernannt worden war. Heute war er wieder einmal bei Bürgermeister Moser gewesen, um ihn zu drängen, damit die ganze Sache möglichst rasch über die Bühne lief. Er hatte jedoch erleben müssen, dass die Begeisterung des Mannes, sich für ihn einzusetzen, seit der Beerdigung des Wenz-Bauern und seiner Frau arg nachgelassen hatte.

»Bagasch, dreckige!«, fauchte Hierneis wütend vor sich hin und meinte damit Jugendamt, Bürgermeister, Pfarrer und Nachbarschaft zusammen. Seine Frau und seine Kinder wurden sofort still und zogen die Köpfe ein. In dieser Stimmung war mit dem Vater nicht gut Kirschen essen. Barbara Hierneis nahm sich vor, ihren Mann im Ehebett über das, was ihn bewegte, auszufragen. Jetzt aber war sie beinahe froh darüber, dass die Haustürklingel anschlug.

»Ich geh schon und schau nach, wer heut noch zu uns will, Vater!«, rief sie ihrem Mann zu und stand auf. Als sie die Haustür öffnete, sah sie zu ihrer Verwunderung Michael Hochberger mit einem großen Karton in der Hand davorstehen. Der Karton war mit dem Geschenkpapier eines bedeutenden Spielwarengeschäftes aus der Kreisstadt eingeschlagen. Barbara Hierneis schaute vom Nachbarn auf den Karton und wieder zurück.

»Ja grüß dich, Hochberger. Was führt denn dich heut noch zu uns?« Obwohl sie den Mann als möglichen Konkurrenten um die Vormundschaft der beiden Waisen hasste, versuchte sich Barbara Hierneis ihm gegenüber doch freundlich zu geben. Michael Hochberger schien aber ihre wahren Gefühle zu erkennen, denn sein Gesicht verdüsterte sich für einen Augenblick. Als er antwortete, klang seine Stimme jedoch ruhig und gelassen.

»Eigentlich wollt ich ja erst am Heiligen Abend kommen. Aber dann hab ich mir überlegt, dass ihr an dem Tag wohl selber genug zu tun habt und da wollt ich ned stören. Darum bin ich heut gekommen, um mein Geschenkerl für die Kinder vom Schorsch zu bringen!«

»So, du bringst was für die Hanni und den Schorschi? Gib’s her. Ich werd’s unter den Christbaum legen«, sagte Barbara Hierneis ohne besondere Begeisterung. Sie nahm Michael Hochberger das Paket ab und kehrte, ohne sich weiter um den Nachbarn zu kümmern, ins Haus zurück.

Ihr Nachwuchs hatte etwas von Paket und Weihnachten verstanden und wartete bereits voller Neugier auf ihre Rückkehr.

»Ist das für uns?«, fragte Uli.

»Nein, für die zwei dort!«, erwiderte ihre Mutter und deutete mit dem Kinn auf Hanni und Schorschi.

»Das ist aber ned schön, dass die an einem Tag gleich zwei Packerl kriegen und wir keines!«, sagte Thomas schnappig und starrte das Paket feindselig an.

»Was wird denn drinnen sein?«, fragte Uli neugierig.

»Machen wir’s doch auf!«, schlug Thomas vor.

»Das Packerl gehört uns und ned dir!«, protestierte Hanni gegen dieses Ansinnen.

Wenigstens dieses Paket wollte sie bis zum Heiligen Abend retten. Doch gegen die johlende Schar, die sich wie ein Schwarm Krähen auf den Karton stürzte, hatte sie keine Chance. Uli, Thomas und Wolfgang rissen ihrer Mutter das Paket förmlich aus den Händen und zerfetzten die Umhüllung in Rekordzeit. Schließlich hielt Uli einen länglichen Karton in der Hand. Als sie ihn öffnete, war eine wunderschöne Puppe zu sehen.

Uli starrte die Puppe zuerst fasziniert an und stieß dann, als sie sich daran erinnerte, dass diese ja für Hanni und nicht für sie bestimmt war, einen Wutschrei aus. Thomas und Wolfgang hatten unterdessen einen großen Spielzeugtraktor mit Fernsteuerung ausgepackt. Schorschi war vielleicht noch ein wenig zu jung für dieses Geschenk, doch es machte den anderen sehr deutlich klar, dass der Bub für Michael Hochberger als Hoferbe seines verunglückten Vaters galt. Barbara Hierneis verzog auch dementsprechend den Mund.

»Die Puppe hat mindestens einhundert Euro gekostet und der Bulldog wird ned billiger gewesen sein. Der Hochberger kann sich’s halt leisten!«, sagte sie gehässig.

»Der Onkel Michael hat uns die Sachen geschenkt?«, fragte Hanni ganz überrascht.

»Es gibt keinen Onkel Michael! Der Hochberger ist ned verwandt mit uns!«, bellte Barbara Hierneis das Mädchen an.

»Aber wir haben doch alleweil Onkel Michael zu ihm gesagt?« Schorschi war über den barschen Ton seiner Tante ganz verwundert. Doch bevor Barbara Hierneis zu einer Antwort kam, dröhnte das zornige Organ ihres Mannes auf.

»Schaut zu, dass ihr das Glump da wegschafft! Und dann setzt euch wieder hin und esst, wie es einem Christenmenschen zukommt.« Der erste Satz galt Hanni und Schorschi, während der zweite an seine eigenen Kinder gerichtet war. Hanni und Schorschi rafften schnell Puppe und Traktor an sich und rannten in ihr Zimmer hoch. Gerade als sie ihre Tür öffneten, hörten sie hinter sich noch Ulis Stimme erklingen.

»Gelt Mama, sobald der Papa der Vormund von der Hanni ist, gehört die Puppe aber mir!«

* * *

Die letzten Tage vor Weihnachten flogen an den Kindern förmlich vorbei. Die Geschenke, die Hanni und Schorschi von Kathrin Denzer und Michael Hochberger erhalten hatten, ließen sie zumindest für eine gewisse Zeit ihre Trauer um die Eltern vergessen. Nicht vergessen wollte Hanni jedoch, sich bei beiden Spendern für ihre Gaben zu bedanken. Bei Michael Hochberger war dies einfach. Hanni musste nur gut einhundert Meter weit gehen, dann stand sie im Hof des Nachbarn und konnte an seiner Haustür läuten. Kathrin Denzer war hingegen weitaus schwerer zu erreichen. Hanni beschloss, ihr in den Weihnachtsferien auf alle Fälle einen langen Brief zu schreiben. Vorher aber wollte sie die Tante anrufen und ihr Danke sagen. Ihre Telefonnummer kannte sie und so nutzte sie den Tag vor Heiligabend aus, als sie und Schorschi durch Zufall allein im Haus waren.

»Hier Denzer!«, meldete sich Kathrin nach einer Weile, als Hanni fast schon wieder auflegen wollte.

»Tante Kathrin, ich bin’s, die Hanni. Ich wollt dir Dank’ schön sagen für die zwei schönen Bücher!«, rief sie erleichtert in den Hörer. Kathrin Denzer schwieg einen Moment überrascht und lachte dann amüsiert auf.

»Ja grüß dich, Hanni. Das ist aber eine Freud, dass du anrufst! Ihr zwei habt wohl ned bis zur Bescherung warten können, weil ihr jetzt schon wisst, was in meinem Packerl war?«

»Die Hierneis-Tant hat’s aufgemacht«, krähte Schorschi, der seinen Kopf ganz eng an den von Hanni gepresst hielt, um mithören zu können, ins Telefon.

»So, die Barbara hat das Packerl aufgemacht?«, klang es etwas verwundert und leicht befremdet zurück.

»Ja, und dein Geld hat sie uns auch weggenommen!«, setzte Schorschi hinzu.

»Das war aber ned schön von ihr!« Da Kathrin Denzer den Zorn und die Hilflosigkeit der beiden Kinder durch das Telefon hindurch spüren konnte, war sie über Barbara Hierneis’ Verhalten ziemlich aufgebracht. Sie zwang sich jedoch zu einem munteren Ton, um die Kinder nicht noch trauriger zu machen.

»Wisst ihr was, ihr zwei? Wenn euch die Barbara das Geld wegnimmt, dann schick ich halt keines mehr an eure Adresse.« Kathrin hörte Schorschis enttäuschtes Aufseufzen und musste darüber lachen.

»Aber Kinder, ihr braucht doch ned gleich zu weinen. Ich schick das Geld nämlich an die Gstaßl Vroni und die gibt es euch dann«, erklärte sie und erntete einen doppelten Jubelruf dafür.

»Du Tante Kathrin. Beim Onkel Michael hat das Christkindl auch etwas ganz was Schönes für uns abgegeben. Nämlich einen Bulldog mit Fernlenkung für den Schorschi und eine ganz große Puppe für mich!«, berichtete Hanni weiter.

»Ja, aber die Uli will der Hanni die Puppe wegnehmen, sobald ihr Vater unser Vormund geworden ist. Warum kannst denn du ned unser Vormund sein?«, beklagte sich Schorschi. Hanni wollte ein paar klärende Worte hinzusetzen. Doch da hörte sie, wie draußen die Tür geöffnet wurde.

»Servus, Tante Kathrin, wir müssen jetzt aufhören, es kommt jemand herein!«, raunte sie ins Telefon.

In dem Moment platzte auch schon Uli ins Zimmer. Sie sagte jedoch nichts, sondern sah Hanni und Schorschi nur mit einem giftigen Blick an und verschwand sofort wieder. Doch als ihre Mutter aus dem Dorf zurückkehrte, berichtete ihr Uli brühwarm von Hannis Telefonat.

»Was sagst du, die Hanni hat vorhin telefoniert? Ausgerechnet am helllichten Tag, wo das Telefon doch so teuer ist!« Barbara Hierneis fuhr wie von einer Hornisse gestochen auf. Ihre Tochter setzte jedoch sofort noch einen weiteren Trumpf hinzu.

»Die Denzer-Hex hat’s angerufen. Und wie’s dabei gelogen hat! Gesagt hat’s ihr, dass sie Vormund werden soll, weil ich ihr ihre Puppen wegnehmen tät!« Uli sagte es im Tonfall eines empörten Engelchens, der aber nicht so ganz zu ihrem schadenfrohen Grinsen passen wollte. Ihre Mutter trat weiß wie die Wand auf Hanni zu.

»Dir werd ich die Lügen schon austreiben!«, zischte sie und holte mit der Hand aus. Es machte Klatsch und dann hatte Hanni die Abdrücke von Barbaras fünf Fingern im Gesicht. Uli kicherte zufrieden und streckte Hanni, die vor Schreck wie erstarrt dastand, die Zunge heraus. Barbara Hierneis stemmte ihre Hände in die Seiten und sah streng auf Schorschi und Hanni herab.

»Wenn es sein muss, kann ich auch andere Seiten aufziehen! Ihr zwei habt am Telefon nix verloren, merkt euch das! Außerdem bekommt ihr für die Weihnachtsferien Hausarrest, damit ihr eure Lügen ned auch noch ins Dorf tragen könnt. In der Zeit werdet ihr mit keinen anderen Menschen reden, sonst setzt es wirklich was. Habt ihr mich verstanden?«

Schorschi funkelte die Tante wütend an und ballte die Fäuste. Hanni kniff hingegen die Lippen zusammen und fasste ihren Bruder an der Hand.

»Komm, Schorschi, wir zwei gehen jetzt in unsere Kammer«, sagte sie leise und drehte ihrer Tante den Rücken zu.

»Was ist? Krieg ich keine Antwort von euch?«, schrie Barbara Hierneis den beiden nach. Hanni drehte sich mit erstaunten Augen zu ihr um.

»Du hast doch eben selber gesagt, dass wir mit keinen Menschen mehr reden dürfen!«

Es klang so verwundert, dass Barbara Hierneis vor Wut rot anlief. Sie sagte jedoch nichts mehr, sondern ließ die Kinder nach oben gehen.

* * *

Es war ein trauriges Weihnachtsfest auf dem Wenz-Hof. Daran konnten auch der protzig aufgeputzte Christbaum und das Singen der althergebrachten Weihnachtslieder nichts ändern. Es war nur gut, dass das Christkind schon bei Kathrin Denzer und Michael Hochberger ein paar Geschenke für Hanni und Schorschi abgegeben hatte. Unter den Christbaum hatte es für die beiden nämlich nur zwei schmale Päckchen mit ein paar Socken und etwas Unterwäsche gelegt. Bei den Hierneis-Kindern war das Christkind dafür etwas freigebiger gewesen. So hatte Uli die große Puppe bekommen, die sich schon lange gewünscht hatte. Doch als sie diese in Händen hielt, musste sie zu ihrem Ärger erkennen, dass die Puppe, die Michael Hochberger Hanni geschenkt hatte, doch noch um einiges schöner war.

Auch die beiden jüngeren Buben freuten sich weniger über das, was sie selber erhielten, sondern neideten Hanni und Schorschi deren Geschenke. Da es mit der Laune ihres Vaters auch nicht zum Besten stand, waren alle froh, als es Zeit wurde, zur Christmette zu gehen. In den meisten anderen Haushalten im Ort wurden danach Weißwürste aufgetischt und es wurde Glühwein getrunken. Auf dem Wenz-Hof sagte man sich ohne Freude gute Nacht und wenig später waren die Lichter in den Fenstern erloschen.

Das Wetter in den nächsten Wochen entsprach Sepp Hierneis’ Stimmung. Es war so düster und stürmisch, dass man keinen Hund vor die Türe jagte. Für Hanni und Schorschi brachte auch das Ende der Ferien keine Erleichterung. Denn Uli und Thomas bespitzelten sie in der Schule und achteten im Auftrag ihrer Eltern darauf, dass die beiden so wenig wie möglich mit ihren Mitschülern, Lehrern oder anderen Leuten redeten.

Anfang April, als Sepp Hierneis schon große Zweifel kamen, ob der erhoffte Brief je eintreffen würde, fuhr ein fremdes Auto auf den Hof. Ein junger, bärtiger Mann in Jeans und dickem Rollkragenpullover stieg aus und sah sich interessiert um. Hierneis war gerade dabei, Maissilage in den Bullenstall zu fahren. Als er den Fremden sah, hielt er an und musterte ihn misstrauisch. Der andere entdeckte ihn und kam mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zu.

»Grüß Gott! Mein Name ist Kurt Steinbrecher. Ich komme vom Jugendamt und suche Herrn Josef Hierneis, um mit ihm über die Waisen des Ehepaares Wenz zu sprechen«, erklärte der Fremde und streckte Hierneis die Hand entgegen. Dieser ergriff sie und drückte sie so fest, dass der andere das Gesicht verzog.

»Der Hierneis bin ich! Was kann ich für Sie tun?«, antwortete Hierneis ganz im Stil eines Großbauern.

»Da habe ich ja gleich auf Anhieb Erfolg«, meinte Steinbrecher erleichtert und rieb sich dabei die noch immer schmerzende Hand.

»Ich muss sagen, dieser Wenz-Hof ist wirklich ein imposantes Anwesen!«, sagte er schließlich nach einem kurzen Rundblick.

»Es ist der größte Hof im Ort und weit drüber hinaus«, erwiderte Hierneis und vergaß dabei ganz, dass der Hochberger-Hof drüben auf der Anhöhe noch um fünfzehn Tagwerk größer war.

»Wenn das so ist, dann haben wir wirklich die richtige Entscheidung für die beiden Waisenkinder getroffen!«, bemerkte Steinbrecher mit selbstzufriedener Miene. Hierneis zuckte zusammen und starrte den anderen abschätzend an.

»Ist es endlich zu einem Spruch gekommen?«, fragte er mit einer gewissen Vorfreude, aber auch voll heimlicher Angst. »Aber kommen S’ doch ins Haus!«, setzte er mit einem künstlichen Auflachen hinzu. Bevor Steinbrecher reagieren konnte, hatte ihn Hierneis schon am Pulloverärmel gepackt und zog ihn auf die Haustür zu.

»Barbara, komm her! Ein Herr von Jugendamt ist da!«, brüllte Hierneis in den Flur. Sekunden später schoss seine Frau mit noch feuchten Händen und einem Wischtuch in der Hand aus der Küche.

»Jesses Maria, was sagst du? Das Jugendamt ist da?«

»Doch ned das ganze Jugendamt, Barbara. Der Herr …, wie heißen S’ jetzt wieder?«, wandte sich Hierneis an den anderen.

»Steinbrecher«, half dieser freundlich aus.

»Also, der Herr Steinbrecher vom Jugendamt ist da, Barbara. Es geht um die Vormundschaft!«

»Und? Wie ist’s ausgegangen?« Barbara Hierneis zitterte förmlich vor Erregung. Ihr Mann konnte ihr jedoch keine Auskunft geben, da er selber Steinbrecher voll Neugier und Erwartung ansah. Dieser lächelte Barbara Hierneis freundlich zu und fragte.

»Bevor wir das Ganze besprechen, würde ich mich gerne noch etwas im Haus umsehen? Es ist ja nur der Vorschriften halber.«

»Freilich, kommen S’ ruhig herein!«, antwortete Barbara Hierneis und führte den Mann als Erstes im Erdgeschoss herum. Steinbrecher bewunderte die große, bestens gefüllte Speisekammer und das mit geschmackvollen Bauernmöbeln ausgestattete Wohnzimmer, bat aber dann, auch in das Bad und die Zimmer der Kinder geführt zu werden. Barbara Hierneis erfüllte ihm den Gefallen, wobei sie Steinbrecher allerdings in die beiden Zimmer führte, die jetzt ihre Tochter Uli und ihr jüngster Sohn Thomas bewohnten. Steinbrecher sah die vielen Spielsachen, die auf dem Boden und den kindergerechten Schreibtischen herumlagen und die hellen, festen Betten sowie die ausladenden Schränke und nickte zufrieden.

»Ich glaube, es reicht jetzt, Frau Hierneis. Ich habe genug gesehen. Wenn Sie und ihr Herr Gemahl jetzt vielleicht eine halbe Stunde Zeit für mich hätten?«

»Aber selbstverständlich, Herr Steinbrecher.« Barbara Hierneis überschlug sich beinahe mit ihrer Zustimmung.

»Danke sehr, ich hole nur noch rasch meine Aktenmappe aus dem Auto!«, erwiderte der Mann und verließ das Haus. Kurze Zeit später saßen sie zu dritt im Wohnzimmer. Steinbrecher schlug seine Mappe auf, holte ein paar Papiere heraus und kritzelte darin herum.

»Sie können mir glauben, dass wir uns die Sache gewiss nicht leicht gemacht haben. Aber ich glaube, wir haben uns für die beste aller Lösungen entschieden. Wir hatten ja nicht nur den Vorschlag vorliegen, Sie, Herrn Hierneis zum Vormund der beiden Waisen und zu ihrem Vermögensverwalter zu berufen. Es wurde von anderer Seite der Wunsch an uns angetragen, Frau Veronika Gstaßl, eine Cousine der verunglückten Hildegard Wenz als Vormund einzusetzen. Sie hätte die Kinder gern zu sich genommen und diesen Hof hier durch einen Nachbarn, einen gewissen Herrn …«, Steinbrecher blätterte in seinen Papieren, doch jetzt konnte ihm Hierneis weiterhelfen.

»Sie meinen wohl den Hochberger?«, fragte er und erntete ein dankbares Nicken.

»Ja, ganz genau, Michael Hochberger, so heißt der Mann. Sie kennen ihn?«

»Er ist der Nachbar auf dem Hof da drüben«, erklärte Hierneis und zeigte durch das Fenster auf den Hochberger-Hof.

»Ihre Stimme klingt nicht so, als wenn sie Herrn Hochberger gerne als Verwalter hier sehen würden?«, fragte Steinbrecher und beugte sich interessiert vor.

»Persönlich hab ich ja nix gegen den Hochberger. Aber Sie wissen ja selber, wie es ist, wenn die Felder nebeneinanderliegen. Da wandern leicht zwei, drei Pflugbreiten von einem zum anderen hinüber!«, entgegnete Hierneis.

»Auf alle Fälle haben wir entschieden, dass es das Beste ist, Sie mit der Vormundschaft der beiden Waisen zu betrauen und Sie auch als Vermögensverwalter auf deren ererbtem Hof einzusetzen!« Mit diesen Worten beendete Steinbrecher die lang währende Ungewissheit. Hierneis musste an sich halten, um nicht vor Freude aufzuschreien. Seine Frau Barbara senkte den Kopf, um den Triumph in ihren Augen zu verbergen.

»Sie haben selbst einen eigenen Hof?«, fragte Steinbrecher, der seine Notizen weiter durchgegangen war.

»Ja, zwei Kilometer weiter in Stadelmoos. Es ist aber nur ein kleines Anwesen, das ich leicht von hier aus mitbewirtschaften kann. Ich habe aber keine gemeinsamen Grundstücksgrenzen mit dem Wenz-Hof!« Den letzten Satz setzte Hierneis als Trumpf hinzu, um sich noch besser vom Hochberger abzuheben.

»Sehr schön. Wissen Sie, wir haben uns nicht zuletzt deswegen für Sie entschieden, weil wir glauben, dass Sie diesen Hof am gewissenhaftesten führen können. Außerdem sind ihre eigenen Kinder den beiden Waisen im Alter am nächsten, während die Söhne der Familie Gstaßl doch schon erwachsen sind.«

»Da haben S’ recht, Herr Steinbrecher. Unsere Uli und der Thomas sind etwa so alt wie die Hanni. Und es ist immer besser, wenn ein richtiger Bauer auf dem Hof ist, als wenn nur ein Nachbar die Arbeit so nebenbei mitmacht. Dafür ist der Wenz-Hof doch schon ein bisserl zu groß!« Hierneis klang sehr selbstbewusst und dies schien Steinbrecher durchaus zu imponieren.

»Es freut mich, Herr Hierneis, dass Sie den beiden Waisen nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihren Besitz erhalten wollen. Ich wünsche Ihnen viel Glück und Erfolg dafür. Aber jetzt muss ich mich leider verabschieden. Können Sie vielleicht morgen in die Stadt kommen, damit wir alles schriftlich festhalten können?«

»Sagen S’ mir eine Zeit und ich bin da!«, erwiderte Hierneis mit sichtlicher Erleichterung. Steinbrecher packte seine Unterlagen zusammen und reichte ihm die Hand.

»Also, bis morgen, Herr Hierneis! Auf Wiedersehen!« Letzteres sagte er in Richtung der vor Freude beinahe platzenden Barbara. Diese führte ihn zur Haustür und sah ihm nach, bis er in sein Auto gestiegen und weggefahren war. Ihr Mann trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Endlich ist es so weit!«, erklärte er mit einem zufriedenen Schnaufen.

»Endlich!«, echote seine Frau. Dann rötete sich aber ihr Gesicht und sie stieß eine Verwünschung aus. »Hast du’s gehört, Sepp? Die Gstaßl Vroni hat auch Vormund werden wollen. Das kann ihr nur die Denzer Kathrin eingeredet haben, dieses Miststück, dieses elende.

»Aber genützt hat’s ihnen nix«, antwortete Sepp Hierneis mit hochflammendem Selbstbewusstsein. »Jetzt kriegen wir’s schriftlich, dass wir auf den Hof gehören! Jetzt bin ich einer der größten Bauern im ganzen Landkreis!«

»Ja, jetzt schon, aber für wie lange? Aber sobald der Schorschi erwachsen ist, werden wir doch wieder abziehen müssen. Das hat der Bub unserer Uli schon ins Gesicht gesagt. Es ist zum Haareausraufen. Jetzt sitzen wir auf dem schönen Hof und opfern die besten Jahr unseres Lebens dafür, dass der Reichtum vom Schorschi und der Hanni zunimmt, während wir und unsere Kinder arm wir Kirchenmäus bleiben werden!«

»Hältst du mich für so deppert, dass ich dabei ned auch auf das Meine schau?«, fragte Sepp Hierneis seine Frau spöttisch.

»Ja, schon! Aber was sind ein paar lumpige Euros gegen den schönen Hof?«, hetzte Barbara weiter.

»Vielleicht will der Schorschi ja gar kein Bauer werden? Dann bleib ich’s, bis ich sterb!«

»Solang der Bub auf dem Hof ist, wird er nix anderes lernen wollen! Dafür wird schon der Hochberger sorgen«, warf Barbara Hierneis giftig ein.

»Du hast also deinen Plan noch ned vergessen?«, fragte ihr Mann lauernd.

Barbara Hierneis fuhr herum und funkelte ihren Mann zornig an. »Willst du vielleicht aufgeben? Jetzt, wo wir endlich hier auf dem Hof das Sagen haben?«

»Ich doch ned! Ich hab erst letzte Woch noch einmal mit der Hörnlein telefoniert. Wegen ihr kann ich die Kinder jederzeit nach Markt Tressheim bringen. In vierzehn Tag ist Ostern. Da bring ich die Kinder weg.«

»So schnell schon? Aber was sagen wir den Leuten?«, fragte Barbara leicht besorgt.

»Da hab ich mir schon was überlegt!«, antwortete ihr Mann grinsend.

* * *

Zu Weihnachten und zu Ostern wurde es Michael Hochberger und seinen drei Knechten am schmerzlichsten bewusst, dass eine Frau im Haus fehlte. Über das Jahr hinweg reichte es ihnen, wenn Anna Märtl, eine Frau aus dem Dorf, jeden Tag für ein paar Stunden auf den Hof kam und dort kochte und putzte. Den Rest der Hausarbeit teilten Toni, Stefan und Max unter sich auf. Aber so, wie zu Weihnachten die gekauften Plätzchen und Stollen nun einmal nicht so gut schmeckten wie selbst gemachtes Gebäck, so fehlte ihnen auch zu Ostern der Duft von frisch gebackenen Osterfladen im Haus.

Die drei Knechte machten ihrem Bauern keinen Vorwurf daraus, schließlich war er alt genug, um selbst zu wissen, was für ihn gut war. Michael Hochberger hörte aber doch, wie sie sich hinter seinem Rücken über die heiratsfähigen Bauerntöchter der Umgebung unterhielten und diskutierten, welche von ihnen am besten auf den großen Hof passen würde.

Bis jetzt war Michael mit seinem einschichtigen Leben durchaus zufrieden gewesen. Doch irgendwie hallten die Worte, die der Bürgermeister bei der Beerdigung der Nachbarn gesagt hatte, in seinen Gedanken nach. Mit einer Frau an seiner Seite hätte er Hanni und Schorschi auf seinen Hof nehmen und ihnen dadurch Sepp Hierneis und seine Familie vom Hals halten können. Doch jetzt hatte sich Georgs Vetter auf dem Nachbarhof eingenistet und unterband beinahe jeden Kontakt zwischen ihm und den Kindern. Michael Hochberger konnte nur noch aus der Ferne auf die Waisen seines Freundes achtgeben. Dabei hatte es früher eine überaus herzliche Nachbarschaft zwischen den beiden Höfen gegeben.

Am Tag vor dem Palmsonntag putzte Michael Hochberger gerade die Kühe, als er durch ein Stallfenster Hanni und Schorschi mit einem Strauß Weidenkätzchen zum Friedhof gehen sah. Sie waren allein, und da es den Bauern drängte, einmal in Ruhe mit ihnen reden zu können, warf er Toni seinen Striegel zu und verließ mit einem kurzen Gruß den Stall.

Am Friedhof angekommen sah er die Kinder vor dem Grab ihrer Eltern knien. Es fuhr Michael bis ins Mark, als er die traurigen, abgehärmten Gesichter der beiden erkannte. Beim Nähertreten knirschte der Kies des Weges unter seinen Füßen. Die Kinder fuhren erschrocken herum. Doch ihre Augen leuchteten sofort auf, als sie Michael erkannten und sie flogen ihm förmlich entgegen.

»Onkel Michael!«, jubelte Schorschi und klammerte sich an den Bauern. Hanni fasste nach Michaels Fingern und hielt sie fest in ihrer Hand.

»Sieht man euch zwei auch einmal wieder!«, versuchte Michael zu witzeln. Die Gesichter der beiden Kinder verdüsterten sich sofort.

»Sie lassen uns ja nimmer hinüber zu dir!«, antwortete Schorschi mürrisch.

»Was?« Der Bauer starrte die zwei verwundert an.

»Ja, das stimmt. Es wundert mich eh, dass die Uli oder der Thomas noch ned hinter uns herschleichen!«, bekräftigte Hanni die Aussage ihres Bruders.

»Die Uli und der Thomas sind nämlich ganz gemein zu uns, Onkel Michael«, setzte Schorschi hinzu.

»Verprügeln sie euch?«, fragte Michael die beiden. Hanni schüttelte den Kopf.

»Seit damals, wo uns der Toni geholfen hat, haben sie’s nimmer gemacht.«

»Aber in den Arm zwicken tun’s uns. Das tut auch weh! Und unser Spielzeug nehmen sie uns weg! Die schöne Puppe, die das Christkindl bei dir für die Hanni abgegeben hat, will ihr die Uli wegnehmen, sobald der Onkel Sepp unser Vormund geworden ist!«, ergänzte Schorschi den Bericht seiner Schwester.

»Soviel ich weiß, ist der Hierneis doch schon zu eurem Vormund bestimmt worden!«, erklärte Michael nachdenklich.

»Was? Dann muss die Hanni die Puppe gleich verstecken, damit die Uli sie ned findet! Sonst ist sie genauso weg wie das Geld, das uns die Tante Kathrin zu Weihnachten geschenkt hat. Dabei hat die Tante Kathrin extra geschrieben, dass wir uns Schokolad dafür kaufen dürfen. Aber die Hierneis-Tant hat uns das Geld einfach weggenommen. Die Tante Kathrin hat uns zwar anderes Geld schicken wollen, aber ned an uns selber, sondern an die Tante Vroni. Aber die können wir ja ned fragen, ob S’ schon was bekommen hat, weil wir ja auch mit ihr nimmer reden dürfen!«, erklärte Schorschi empört.

»So eine Bagasch!«, murmelte Michael in den Bart. Wie von einer plötzlichen Eingebung getrieben zog er seinen Geldbeutel aus der Tasche und reichte Hanni einen Schein. »Pass gut darauf auf, damit man es dir ned wegnehmen kann!«

»Danke, Onkel Michael«, antwortete das Mädchen und barg den Schatz nach einem bangen Rundblick nach ihren Quälgeistern in der Tasche. Michael strich sanft über die beiden Kinderköpfe und sah dann zu, wie die beiden Hand in Hand den Friedhof verließen. Nach einem kurzen Gebet am Grab der Nachbarn wollte er ihnen folgen. Doch gerade, als er das schmiedeeiserne Friedhofstor erreichte, fuhr ein Kleinwagen mit einer auswärtigen Autonummer auf den Parkplatz und blieb unter der großen Linde neben dem Friedhof stehen.

Michaels Augen weiteten sich vor Überraschung, als er Kathrin Denzer erkannte. Er wollte den beiden Kindern schon nachrufen, dass sie zurückkommen sollten. Doch da tauchten schon die jüngeren Hierneis-Kinder auf und wieselten um Hanni und Schorschi herum wie Hütehunde um zwei verirrte Schäflein.

Kathrin Denzer kam mit einem schön gebundenen Blumenstrauß die Treppe zum Friedhof herauf und entdeckte Michael erst im letzten Augenblick. »Grüß Gott, Hochberger!«, sagte sie beinahe feindselig und wollte an ihm vorbei. Doch mitten in der Bewegung besann sie sich anders und drehte sich zu dem Bauern um.

Dieser beantwortete etwas ungehalten den Gruß. Die Dame scheint ja ihre Nase recht hoch zu tragen, schoss es ihm durch den Kopf. Dennoch gefiel Michael, was er da vor sich sah. Kathrins Gestalt wirkte schlank und geschmeidig und ihr Gesicht trotz ihrer abwehrenden Miene sanft. Die nach außen hin gezeigte Ablehnung erreichte jedoch nicht ihre Augen, denn sie sah Michael eher besorgt und sogar ein wenig hoffnungsfroh an.

»Es freut mich, dass ich dich treff!«, erklärte Kathrin für Michael überraschend. »Ich mach mir nämlich Sorgen um die Kinder von der Hildegard. Die Gstaßl Vroni hätt mich auf dem Laufenden halten sollen. Doch der Hierneis hat es der Hanni und dem Schorschi verboten, mit ihr zu reden. Gestern hab ich dann selber einmal auf dem Wenz-Hof angerufen, um zu fragen, ob ich die beiden ned einmal zu einem kleinen Ausflug abholen könnt. Aber die alte Hierneisin ist mir fast noch durchs Telefon ins Gesicht gesprungen. Jetzt wär’s mir halt lieb, wenn du mir sagen könntest, wie es den Kindern geht?« Kathrins Stimme klang so besorgt, dass Michael seinen Ärger über ihre vorhin gezeigte Unfreundlichkeit sofort wieder vergaß.

»Ich kann dir leider auch ned viel helfen, denn der Hierneis lässt die Kinder auch nimmer auf meinen Hof. Irgendjemand hat ihm nämlich zugetragen, dass ich ihn angeblich vom Wenz-Hof vertreiben hab wollen.« Kathrin Denzer wurde mit einem Mal blutrot im Gesicht und senkte den Kopf.

»An dem Gered bin wahrscheinlich ich schuld, Hochberger. Ich hoff, du trägst es mir ned nach, dass ich, ohne dich zu fragen, deinen Namen beim Vormundschaftsgericht angegeben hab. Die Vroni und ich hatten uns das so ausgedacht, dass die Vroni die Kinder zu sich nimmt, während du für sie den Hof führen solltest!«

»Nein, ich bin dir natürlich ned bös. Es wäre auf alle Fälle besser gewesen als der jetzige Zustand«, versicherte ihr Michael eilig.

»Leider hat’s ned so sein sollen. Das Jugendamt hat der Vroni abgesagt und den Hierneis als Vormund eingesetzt. Mir tut’s in der Seele weh, wenn ich nur daran denk!«, antwortete Kathrin leise. Ihre Stimme klang dabei so verzweifelt, dass sich Michael gegen das Gefühl stemmen musste, sie in die Arme zu nehmen und wie ein kleines Kind zu trösten.

»Na ja, ich bleib über Ostern zu Besuch bei der Vroni. Vielleicht kann ich die zwei doch für einen Augenblick sehen!«, meinte Kathrin seufzend. Sie verabschiedete sich weitaus freundlicher, als sie ihn gegrüßt hatte, von Michael und ging zum Grab. Michael bewunderte ihre fließenden Bewegungen und glaubte, noch immer den feinen, aromatischen Duft ihres Haares in seiner Nase zu spüren. Als er schließlich in seinen Kuhstall zurückkehrte, fanden seine Knechte, dass ihr Bauer plötzlich sehr still und sehr nachdenklich geworden war.

* * *

»Die zwei haben mit dem Hochberger geredet! Ich hab’s ganz genau gesehen!«, platzte Uli sofort heraus, als die Kinder nach Hause kamen.

»Ja, und mit der Denzer-Hex haben sie sich auch treffen wollen. Ich hab grad eben ihr Auto am Friedhof gesehen!«, trompetete Thomas hinterher. Hanni fuhr bei diesen Worten herum.

»Was? Die Tante Kathrin ist am Friedhof?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern wollte auf die Haustür zulaufen. Doch da schob sich Barbara Hierneis wie ein Rammbock dazwischen und hielt sie auf. Der Blick der Frau traf jedoch nicht das Mädchen, sondern suchte ihren Mann. Dieser überlegte kurz und räusperte sich dann laut.

»Hanni, Schorschi, geht in eure Kammer hoch und packt euer Zeug zusammen. Wir fahren heut noch weg! Ihr kommt über Ostern in ein Ferienheim«, erklärte er mit rauer Stimme.

»Aber warum sollen wir denn wegfahren?« Hanni glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Sepp Hierneis und seine Frau ließen sich jedoch auf keine Diskussionen ein. Barbara packte die beiden Kinder bei den Händen und schleifte sie nach oben in ihr Zimmer. Uli sah ihnen neidisch nach und begann zu maulen.

»Warum dürfen die zwei in ein Ferienheim fahren und wir ned, Papa?«

»Halt deinen Mund!«, antwortete ihr Vater grob und holte den großen Koffer, den seine Frau bereits gepackt hatte, aus der Abstellkammer und brachte ihn zum Auto. Eigentlich hatte er die Kinder ja erst am nächsten Tag wegbringen wollen. Doch jetzt überkam ihn eine derartige Eile, dass ihm alles zu lange dauerte.

»Wann kommt ihr denn endlich herunter?«, brüllte er vom Hof zu dem Fenster, hinter dem das Zimmer der beiden Kinder lag, hoch.

Dort raffte Barbara Hierneis hektisch noch einige Sachen zusammen und stopfte sie in einen Koffer. Hanni und Schorschi standen derweil starr vor Entsetzen neben ihr und brachten kein Wort heraus.

»So, das Gewand wird euch wohl langen. Aber jetzt kommt, der Onkel wartet schon!« In Barbara Hierneis Stimme schwang ein schriller Ton. Ihr Gesicht wirkte fleckig und sie so war angespannt wie eine Stahlfeder. Mit der einen Hand nahm sie den Koffer und schob mit der anderen die Kinder auf den Ausgang zu.

Während Schorschi das Zimmer mit hängenden Schultern verließ, raffte Hanni rasch die beiden Bücher, die ihnen Kathrin Denzer geschenkt hatte und die Puppe vom Hochberger an sich und wollte folgen. Doch da nahm ihr Barbara Hierneis die Puppe mit einem harten Griff wieder ab.

»Die Puppe brauchst du in den Ferien ned!«, fauchte sie das Mädchen an. Hanni umklammerte die beiden Bücher und rannte hinter Schorschi her, bevor ihr die Tante diesen Schatz auch noch wegnehmen konnte.

Sepp Hierneis warf den Koffer ins Auto und steckte die beiden Kinder hinterher. Sekunden später heulte der Motor seines Autos gequält auf und der Wagen schoss, eine Staubfontäne hinter sich herziehend, den Feldweg zur Hauptstraße hoch.

Uli reckte dem abfahrenden Wagen die Faust hinterher und stampfte wütend mit den Füßen auf dem Boden. Ihr Bruder Thomas hänselte sie deswegen, doch Uli gab ihm nur eine patzige Antwort. Sie wollte sich rasch verdrücken, bevor ihre Mutter sie mit den Arbeiten beauftragen konnte, die bisher Hanni erledigt hatte. Doch da rief Barbara Hierneis ihre Kinder zu sich und Uli musste gemeinsam mit ihren Brüdern ins Haus.

»Macht kein so deppertes Gesicht, sondern hört mir jetzt gut zu«, befahl Barbara Hierneis ihren Kindern. »Also, die beiden Wenz-Bankerte sind jetzt weg und werden auch so schnell nimmer zurückkommen! Aber das braucht vorerst keiner im Ort zu wissen, habt ihr mich verstanden? Wenn euch also in den nächsten Tagen jemand nach den zweien fragt, dann sagt ihr ihm bloß, dass sie die Masern haben und krank im Bett liegen!«

»Aber die zwei haben die Masern doch schon im letzten Jahr gehabt, Mama!«, meldete sich Uli.

»Dann haben’s halt Mumps!«, schnappte ihre Mutter zurück.

* * *

Die Fahrt schien endlos zu dauern. Da der Onkel selbst nichts sagte und auch auf ihre Fragen keine Antwort gab, konnten Hanni und Schorschi nur Vermutungen über das Ziel ihrer Reise anstellen. Eine Zeit lang beschäftigten sich die Kinder damit, die Wegweiser an der Straße zu lesen. Hanni war eine der besten Schülerinnen im Fach Heimatkunde und konnte Schorschi einiges über die Gegend, durch die sie zuerst fuhren, erzählen. Doch bald hatten sie ihre nähere Heimat verlassen und die Anzeigen auf den Wegweisern wurden zu bloßen Namen, die keinerlei Aufschluss auf Hierneis’ Pläne mehr zuließen. Nur der Begriff München stellte noch eine bekannte Größe dar. Hanni erklärte Schorschi flüsternd, was sie über die Landeshauptstadt wusste und füllte damit die nächsten Minuten des sich immer weiter hinziehenden Wartens aus.

Kurz vor München erreichte Hierneis die Autobahn und reihte sich in den dichten Ausflugsverkehr ein, der nach Norden rollte. Eine knappe Stunde später lag München hinter ihnen und auf den blauen Schildern tauchte Nürnberg als nächste größere Stadt auf. Doch auch dort fuhr Hierneis ohne anzuhalten vorbei. Erst zwei Ausfahrten weiter verließ er die Autobahn und bog auf eine schmale Landstraße ab. Im letzten Dämmerschein des Tages erreichte er den Ort Markt Tressheim. Dort hielt er vor einer Gaststätte und stellte den Motor ab.

»Ich frag bloß schnell, wo wir hinmüssen. Ihr zwei bleibt derweil im Auto hocken!« Es waren die ersten Worte, die Hierneis auf dieser langen Fahrt an die Kinder richtete.

»Onkel, ich muss einmal!«, jammerte Schorschi.

»Die paar Minuten wirst du wohl noch aushalten können!«, antwortete Hierneis ungehalten und stieg aus. Schorschi weinte und klammerte sich an seine Schwester.

»Ich muss aber wirklich dringend!«, flüsterte er und strampelte mit den Beinen. Hanni schaute sich rasch um und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Doch da kam Hierneis schon wieder zurück und fuhr weiter, ohne sich um die Kinder zu kümmern. Am Ortsende bog er in einen einspurigen Weg ein, der sich zwischen hoch aufragenden Felswänden hindurchschlängelte und nach einem guten Kilometer in einem länglichen Tal mündete. Den Beginn des Tales bildete eine größere Lichtung, auf der mehrere große Gebäude standen. Ein gemauerter Zaun mit einem verschlossenen Eisentor umgab das Anwesen und zwang Hierneis zum Anhalten.

Er stieg aus und drückte den Klingelknopf. Kurze Zeit später wurde der Weg, der von den Häusern zum Tor führte, erleuchtet und eine junge Frau in einem streng wirkenden grauen Kostüm kam heran. Sie schaute Hierneis zunächst etwas verwundert an, doch dann riefen sein etwas abgetragener Trachtenanzug und die Nummer seines Autos eine Erinnerung in ihr wach.

»Grüß Gott, sie sind wohl Herr Hierneis aus Stadelmoos. Ich habe sie eigentlich erst für morgen erwartet?«

»Grüß Gott, Frau Hörnlein. Es hat sich leider ned anders machen lassen«, antwortete Hierneis, der an ihrer Stimme die Frau erkannte, mit der er in den letzten Wochen mehrmals telefoniert hatte.

»Das macht doch nichts!«, beruhigte ihn Frau Hörnlein und spähte durch die Autoscheiben auf den Rücksitz. »Das sind wohl die zwei armen Waislein, die wir bei uns aufnehmen sollen?«, fragte sie leise.

»Ich hab ihnen noch ned gesagt, dass sie ganz dableiben müssen, sondern bloß von einem Aufenthalt über die Ferien erzählt. Ich hab den zweien den Abschiedsschmerz ersparen wollen. Sie wissen ja selber, wie Kinder sind. In vierzehn Tagen haben sie sich hier schon eingelebt und dann wird es für sie nimmer so schwer sein, wenn sie die Wahrheit erfahren. Ich hätt die Kinder ja gern selber behalten. Aber wir sind schon zu sechst auf unserem kleinen Anwesen. Und so gut, dass wir noch zwei Mäuler zusätzlich stopfen könnten, geht’s uns leider Gottes auch ned.« Hierneis log, dass sich die Balken bogen. Frau Hörnlein glaubte ihm jedoch jedes Wort und sah Hanni und Schorschi mit mitleidigen Blicken an.

»Grüß Gott, ihr zwei. Ich bin Frau Hörnlein, die Leiterin dieses Heims, und freue mich, dass ihr über die Ferien bei uns bleiben wollt!«

»Wir wollen ja gar ned da bleiben! Daheim ist’s viel schöner!«, antwortete Schorschi. »Außerdem muss ich dringend aufs Klo!«

»Dann komm!«, lachte die Frau, ohne ihm seine offenen Worte übel zu nehmen. Während Hierneis die Koffer aus dem Auto holte, nahm Frau Hörnlein die Kinder an der Hand und führte sie ins Haus.

* * *

In Achenbruck fiel Hannis und Schorschis Verschwinden zunächst gar nicht auf. Kathrin Denzer war wohl ein wenig traurig darüber, weil sie während der Osterfeiertage nicht mit ihnen zusammentreffen und mit ihnen sprechen konnte. Da aber gerade an den Festtagen einige andere Kinder im Ort wirklich an Masern erkrankten, wurde Hierneis Aussage ohne Weiteres geglaubt. Erst als die Ferien zu Ende waren und Hanni und Schorschi nicht mehr in der Schule erschienen, tauchten die ersten Fragen auf. Hierneis speiste Hochwürden Kuhn, der als Erster zu ihm kam, mit der Information ab, dass er die Kinder wegen ihrer angegriffenen Gesundheit für ein paar Wochen zur Erholung geschickt habe. Der Pfarrer gab sich vorerst damit zufrieden und auch die meisten Achenbrucker dachten sich nichts dabei.

An einem Sonntagmorgen im Mai saß Michael Hochberger mit seinen Knechten Toni, Stefan und Max zusammen beim Frühstück. Die Stallarbeit war erledigt und sie genossen die Zeit der Ruhe, die ihnen bis zum Kirchgang blieb. Toni, der Jüngste unter den Knechten saß dabei so am Tisch, dass er den Nachbarhof genau im Auge hatte.

»Jetzt sind’s drei Wochen her, seit der Hierneis die Hanni und den Schorschi zur Erholung geschickt hat, Bauer. Meinst du ned auch, dass es für die zwei langsam wieder Zeit wird, heimzukommen?«, wandte er sich an Michael Hochberger.

Doch bevor dieser antworten konnte, grollte der tiefe Bass des Großknechtes Max auf. »Wenn’s nach dem Hierneis ging, würden die Kinder nie mehr heimkommen! Es ist eine Schand, was sich der Kerl da auf dem Wenz-Hof erlaubt!«

»Da hast du recht, Max. Es ist wirklich eine Schand!«, meldete sich Stefan zu Wort. Er saß mit dem Rücken zum Fenster und musste sich erst umdrehen, um zum Wenz-Hof hinübersehen zu können. »Da kommt der Hierneis grad aus dem Haus. Schaut ihn nur an, wie fesch er aussieht! Vor einem halben Jahr hat er einen einzigen, schon ein wengerl speckigen Anzug gehabt. Und jetzt kommt er daher, als wenn er der Vorsitzende vom bayerischen Trachtenverband persönlich wär!«

»Seine Alte ist ned anders! Habt ihr den Lodenmantel und das Trachtenkleid gesehen, die sie letzte Woch in der Kirch angehabt hat? Die größte Bäuerin könnt ned feiner angezogen sein!«, gab der Großknecht zum Besten.

»Von den paar Notscherln, die er auf seiner Klitsche in Stadelmoos herauswirtschaftet, könnten s’ sich das Gewand ned leisten. Vor allem, weil jetzt ja auch der Nachwuchs wie geschleckt daherkommt. Da wird so mancher Euro, der eigentlich zum Wenz-Hof gehört, in die Taschen vom Hierneis gewandert sein!«

»Jetzt hört endlich auf, euch das Maul über die Nachbarschaft zu zerreißen. Der Hierneis kann ned so einfach in die Kass vom Wenz-Hof greifen. Er muss doch seine Abrechnung beim Vormundschaftsgericht vorlegen!« Michael Hochberger wollte das Gespräch unterbinden, kam damit aber bei seinen drei Knechten an die Richtigen.

»Papier ist geduldig, Bauer!«, erklärte Max mit einer verächtlichen Handbewegung. »Außerdem kann man sehr leicht vergessen, ein paar verkaufte Stier einzutragen. Du brauchst deswegen ned bös werden, Bauer. Ich werf dem Hierneis nix vor. Aber es wird halt geredet im Ort!«

»Das sind bloße Verdächtigungen, Max. Ich kann mir ned vorstellen, dass der Hierneis so dumm wär, seine Vormundschaft mit Unterschlagungen zu beginnen!«

»Ob du dich da ned täuschst, Bauer. Ich hab vom Soier Hansl gehört, dass der Viehhändler letzte Woch in Stadelmoos mehr Jungvieh auf seinen Lastwagen aufgeladen hat, als der Hierneis dort halten kann. Ich kann mir ned helfen, aber ich trau dem Heimtücker ned über den Weg. Wenn du nix dagegen hast, Bauer, dann behalt ich den Hierneis in der nächsten Zeit ein wenig im Aug?«

»Wenn es dir damit leichter ist, meinetwegen!«, antwortete Michael Hochberger ungehalten. »Ich für meinen Teil will doch hoffen, dass der Hierneis sein Amt auch ehrlich ausübt.«

»Und wenn ned, werd ich das schon herauskriegen, Bauer! Ihr zwei werdet mir doch sicher dabei helfen?« Max grinste den beiden anderen Knechten zu. Toni und Stefan nickten mit ernsten Gesichtern.

»Wär’s bloß das neue Gewand allein, tät ja keiner was sagen, Bauer. Aber du hast doch letzte Woch selber vom Schick gehört, was für einen Schlitten der Hierneis bei ihm bestellt hat. Wenn er mit dem Auto nach München kommt, werden ihn alle für ein großes Tier oder gar einen Minister halten«, brachte Stefan vor. Doch auch Toni wusste etwas zu berichten.

»Aber das ist ja noch gar ned alles, Bauer. Der Schick Helmut hat gestern beim Stammtisch erzählt, dass der Hierneis auch für den Seppl ein neues Auto bestellt hat. Als wenn die Chaise von seinem Vater ned gut genug wär für ihn!«

»Das ist eh eine komische Sach mit dem Seppl. Der hat doch zwei Monat vor seiner Prüfung die Lehre abgebrochen und spielt jetzt den Jungbauer auf dem Wenz-Hof. Wie ich gehört hab, soll der Bachmeier von Kainrading ja recht froh gewesen sein, dass er den Burschen los ist!«

»Da hast du recht, Stefan, sowohl mit dem Bachmeier wie auch mit dem Jungbauernspielen vom Hierneis Seppl. Was anderes als eine Spielerei ist’s doch ned. Er hat doch ned die geringste Ahnung von Ackerbau und Viehzucht! Aber ein Gehalt kriegt er, als wenn er der Verwalter von einem Grafen wär!«

»Was ihr ned alles wisst!« Michael Hochberger schüttelte den Kopf über das Gerede seiner Knechte.

An und für sich hatte er wenig Grund, Hierneis zu verteidigen. Doch er wollte nicht, dass sein Hof als die Quelle der üblen Nachreden über den Nachbarn galt.

»Also, Leut, der Hierneis braucht auf dem Hof nun einmal ein neues Auto. Dafür muss er ned so viel Geld vom Hofkonto nehmen, weil ja die Versicherung ganz gut für das Unfallfahrzeug vom Wenz gezahlt hat. Und was mit Hierneis’ altem Kasten los ist, weiß auch keiner von euch, weil ihr nämlich ned hineinschauen könnt! Außerdem kann der Seppl schon länger für ein eigenes Auto gespart haben!«

»Wenn’s ned der Hierneis wär, um den’s geht, könnt ich dir ja fast glauben, Bauer! Aber er führt sich halt so auf, dass er einfach ins Gered kommen muss. Und sein Filius steht ihm in nix nach. Angeben tut er, als wenn er wer weiß was wär! Außerdem spielt er den Dorfcasanova und ist hinter jedem Madl her, das ned schnell genug davonlaufen kann!«, berichtete Stefan.

Toni lachte zornig auf und schlug mit den Knöcheln seiner Faust gegen die Tischkante. »Wenn der Seppl so weitermacht, wird er sich bald ein paar saubere Binkerln einfangen. Lang schauen wir ihm nämlich nimmer zu. Der Stiglitz Hans hat ihm schon angedroht, dass er ihm sämtliche Knochen bricht, wenn er der Graßl Irmi noch einmal lästig wird!«

Details

Seiten
Erscheinungsform
überarbeitete Neuauflage
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783959122382
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
Familie Tragödie Erbschaft Bauernhof Schicksal

Autor

  • Anni Lechner (Autor:in)

Anni Lechner wurde auf einem Bauernhof geboren und blieb der Landwirtschaft bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr treu. Acht Jahre lang bewirtschaftete sie den heimatlichen Hof, bis sie sich beruflich anders entschied und nach München zog. 1995 fing sie an, Geschichten aus dem bäuerlichen Umfeld zu schreiben und veröffentliche bis zum Jahr 2015 über 90 Heimat- und Bergromane. Sie ist dem bäuerlichen Umfeld noch immer verbunden und besucht regelmäßig ihre Schwester und deren Tochter, die mit ihrem Ehemann zusammen ihren früheren Hof bewirtschaftet.
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Titel: Die Waisenkinder von Achenbruck