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Erich Fromm Gesamtausgabe

herausgegeben von Rainer Funk

©2016 0 Seiten

Zusammenfassung

Alle 250 Bücher und Artikel in deutscher Sprache: was bisher nur in einer zwölfbändigen Druckausgabe oder in 157 einzelnen E-Books zugänglich war, enthält diese Gesamtausgabe in einem einzigen E-Book. Leichter und direkter gibt es derzeit keinen Zugang zum Gesamtwerk des großen Psychoanalytikers, Sozialpsychologen und Humanisten Erich Fromm (1900-1980).
Sämtliche Titel sind mit Anmerkungen des Herausgebers versehen. Diese geben Auskunft über die Entstehung, den Inhalt und die Bedeutung, die eine Schrift innerhalb des Gesamtwerks und hinsichtlich ihrer Wirkungsgeschichte hat. Auch weisen sie auf wichtige Literatur hin, die von anderen zu Themen und Büchern Fromms verfasst wurde.
Die Vorteile einer elektronischen Gesamtausgabe werden umfassend genutzt: So ermöglichen zahlreiche Querverweise einen schnellen und direkten Zugang zu kontextrelevanten Stellen im Werk Fromms. Auch kann im gesamten Werk nach Namen und Begriffen gesucht werden. Um die E-Book-Gesamtausgabe auch wissenschaftlich nutzen zu können, wurden die Seitenwechsel der gedruckten, zwölfbändigen Gesamtausgabe im Text jeweils vermerkt. Damit lassen sich Texte und Zitate seitengenau nachweisen.
Rainer Funk, der Herausgeber dieser Gesamtausgabe hat als Erich Fromms Nachlass- und Rechteverwalter bereits 1980 und 1999 die gedruckte Gesamtausgabe herausgegeben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Erich Fromm Gesamtausgabe
  • Hinweise zur Nutzung der Erich Fromm Gesamtausgabe
  • Bücher (Monografien)
  • Artikel
  • Sammelbände
  • Titel der Erich Fromm Gesamtausgabe - alphabetisch sortiert
  • E-GA-Titel chronologisch
  • E-GA Titelfolge (Inhaltsverzeichnis)
  • Die Furcht vor der Freiheit
  • Vorwort
  • 1 Freiheit - ein psychologisches Problem?
  • 2 Das Auftauchen des Individuums und das Doppelgesicht der Freiheit
  • 3 Freiheit im Zeitalter der Reformation
  • 4 Die beiden Aspekte der Freiheit für den modernen Menschen
  • 5 Fluchtmechanismen
  • 6 Die Psychologie des Nazismus
  • 7 Freiheit und Demokratie
  • Anhang: Charakter und Gesellschaftsprozess
  • Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie
  • Vorwort
  • 1. Die Fragestellung
  • 2. Humanistische Ethik als angewandte Wissenschaft der Kunst des Lebens
  • 3. Die Natur des Menschen und sein Charakter
  • 4. Probleme der humanistischen Ethik
  • 5. Das ethische Problem der Gegenwart
  • Psychoanalyse und Religion
  • Vorwort
  • 1. Das Problem
  • 2. Freud und Jung
  • 3. Analyse einiger Typen religiöser Erfahrung
  • 4. Der Psychoanalytiker als „Seelenarzt“
  • 5. Ist die Psychoanalyse eine Bedrohung für die Religion?
  • Märchen, Mythen, Träume. Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 2. Das Wesen der symbolischen Sprache
  • 3. Das Wesen der Träume
  • 4. Der Traum bei Freud und bei Jung
  • 5. Die Geschichte der Traumdeutung
  • 6. Die Kunst der Traumdeutung
  • 7. Die symbolische Sprache in Mythos, Märchen, Ritual und Roman
  • Wege aus einer kranken Gesellschaft
  • Vorwort
  • 1. Sind wir gesund?
  • 2. Kann eine Gesellschaft krank sein? Die Pathologie der Normalität
  • 3. Die Situation des Menschen - der Schlüssel zur humanistischen Psychoanalyse
  • 4. Seelische Gesundheit und Gesellschaft
  • 5. Der Mensch in der kapitalistischen Gesellschaft
  • 6. Andere Auffassungen vom Menschen und der Gesellschaft im Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhundert
  • 7. Verschiedene Lösungsversuche
  • 8. Der kommunitäre Sozialismus als Weg zu einer gesunden Gesellschaft
  • 9. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
  • Die Kunst des Liebens
  • Vorwort
  • 1. Ist Lieben eine Kunst?
  • 2. Die Theorie der Liebe
  • 3. Die Liebe und ihr Verfall in der heutigen westlichen Gesellschaft
  • 4. Die Praxis der Liebe
  • Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung
  • 1. Freuds leidenschaftliche Suche nach Wahrheit und sein Mut
  • 2. Freuds Verhältnis zu seiner Mutter - sein Selbstvertrauen und seine Unsicherheit
  • 3. Freuds Beziehung zu Frauen: Freud und die Liebe
  • 4. Freuds Abhängigkeit von Männern
  • 5. Freuds Beziehung zu seinem Vater
  • 6. Freuds autoritäre Einstellung
  • 7. Freud als Weltverbesserer
  • 8. Der quasi-politische Charakter der psychoanalytischen Bewegung
  • 9. Freuds religiöse und politische Überzeugungen
  • 10. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
  • Psychoanalyse und Zen-Buddhismus
  • Vorwort
  • 1. Die geistige Krise der Gegenwart und die Rolle der Psychoanalyse
  • 2. Werte und Ziele in Freuds psychoanalytischen Auffassungen
  • 3. Das Wesen des Wohl-Seins. Die psychische Entwicklung des Menschen
  • 4. Bewusstsein, Verdrängung und Aufhebung der Verdrängung
  • 5. Prinzipien des Zen-Buddhismus
  • 6. Aufhebung der Verdrängung und Erleuchtung
  • Es geht um den Menschen! Eine Untersuchung der Tatsachen und Fiktionen in der Außenpolitik
  • Vorwort
  • 1. Allgemeine Voraussetzungen
  • 2. Grundlagen des Sowjetsystems
  • 3. Ist Weltherrschaft das Ziel der Sowjetunion?
  • 4. Bedeutung und Funktion der kommunistischen Ideologie
  • 5. Das Problem China
  • 6. Das Problem Deutschland
  • 7. Gedanken zum Frieden
  • Nachwort vom Februar 1963
  • Das Menschenbild bei Marx
  • Vorwort
  • 1. Die Verfälschung des Marxschen Denkens
  • 2. Marx’ Historischer Materialismus
  • 3. Das Problem von Bewusstsein, Gesellschaftsstruktur und Gebrauch von Gewalt
  • 4. Die Natur des Menschen
  • 5. Die Entfremdung
  • 6. Der Marxsche Sozialismus
  • 7. Die Kontinuität des Marxschen Denkens
  • 8. Marx als Mensch
  • Jenseits der Illusionen Die Bedeutung von Marx und Freud
  • 1. Einige persönliche Vorbemerkungen
  • 2. Der gemeinsame Boden der Theorien von Marx und Freud
  • 3. Die Auffassung vom Menschen und seiner Natur
  • 4. Die menschliche Evolution
  • 5. Die menschliche Motivation
  • 6. Das kranke Individuum und die kranke Gesellschaft
  • 7. Der Begriff der seelischen Gesundheit
  • 8. Individueller Charakter und Gesellschafts-Charakter
  • 9. Das gesellschaftliche Unbewusste
  • 10. Das weitere Schicksal der Theorien von Marx und Freud
  • 11. Verwandte Ideen
  • 12. Credo
  • Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen
  • Vorwort
  • 1 Der Mensch - Wolf oder Schaf?
  • 2 Verschiedene Formen der Gewalttätigkeit
  • 3 Die Liebe zum Toten und die Liebe zum Lebendigen
  • 4 Individueller und gesellschaftlicher Narzissmus
  • 5 Inzestuöse Bindungen
  • 6 Freiheit, Determinismus, Alternativismus
  • Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition
  • 1. Einleitung
  • 2. Das Gottesbild
  • 3. Das Menschenbild
  • 4. Das Geschichtsbild
  • 5. Die Vorstellungen über Sünde und Buße
  • 6. Der Weg: Halacha
  • 7. Die Psalmen
  • 8. Epilog
  • 9. Anhang: Der 22. Psalm und die Leidensgeschichte Jesu
  • Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik
  • Vorwort zur Originalausgabe
  • Vorwort zur deutschen Ausgabe
  • 1. Am Scheideweg
  • 2. Hoffnung
  • 3. Wo stehen wir heute und wohin führt unser Weg?
  • 4. Was heißt es, menschlich zu sein?
  • 5. Schritte zu einer Humanisierung der technologischen Gesellschaft
  • 6. Können wir es schaffen?
  • Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes. Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis
  • Vorwort
  • 1. Der Gesellschafts-Charakter der Bauern und Probleme der Methodologie
  • 2. Ein mexikanisches Bauerndorf
  • 3. Das sozio-ökonomische und kulturelle Bild des Dorfes
  • 4. Die Theorie der Charakter-Orientierungen
  • 5. Der Charakter der Dorfbewohner
  • 6. Der Charakter und die sozioökonomischen und kulturellen Variablen
  • 7. Der Charakter und das Geschlecht
  • 8. Der Alkoholismus
  • 9. Die Entwicklung des Charakters in der Kindheit
  • 10. Möglichkeiten zur Veränderung: Charakter und Kooperation
  • 11. Schlussfolgerungen
  • Anhang A: Der interpretative Fragebogen und Beispiele für die Auswertung
  • Anhang B: Die Auswertungen und ihre Überprüfung
  • Anatomie der menschlichen Destruktivität
  • Vorwort
  • Terminologie
  • Einleitung: Die Instinkte und die menschlichen Leidenschaften
  • Erster Teil: Instinkt- und Trieblehren, Behaviorismus, Psychoanalyse
  • 1. Vertreter der Instinkt- und Trieblehren
  • 2. Die Vertreter der Milieutheorie und die Behavioristen
  • 3. Triebtheorien und Behaviorismus - ihre Unterschiede und Ähnlichkeiten
  • 4. Der psychoanalytische Weg zum Verständnis der Aggression
  • Zweiter Teil: Befunde, die gegen die Thesen der Instinkt- und Triebforscher sprechen
  • 5. Neurophysiologie
  • 6. Das Verhalten der Tiere
  • 7. Paläontologie
  • 8. Anthropologie
  • Dritter Teil: Die verschiedenen Arten der Aggression und Destruktivität und ihre jeweiligen Voraussetzungen
  • 9. Die gutartige Aggression
  • 10. Die bösartige Aggression: Prämissen
  • 11. Die bösartige Aggression: Grausamkeit und Destruktivität
  • 12. Die bösartige Aggression: Die Nekrophilie
  • 13. Die Bösartige Aggression: Adolf Hitler - ein klinischer Fall von Nekrophilie
  • Epilog:Über die Zwiespältigkeit der Hoffnung
  • Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft
  • Vorwort
  • Einführung: Die große Verheißung, das Ausbleiben ihrer Erfüllung und neue Alternativen
  • Erster Teil: Zum Verständnis des Unterschieds zwischen Haben und Sein
  • 1. Auf den ersten Blick
  • 2. Haben und Sein in der alltäglichen Erfahrung
  • 3. Haben und Sein im Alten und Neuen Testament und in den Schriften Meister Eckharts
  • Zweiter Teil: Analyse der grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Existenzweisen
  • 4. Die Existenzweise des Habens
  • 5. Die Existenzweise des Seins
  • 6. Weitere Aspekte von Haben und Sein
  • Dritter Teil: Der neue Mensch und die neue Gesellschaft
  • 7. Religion, Charakter und Gesellschaft
  • 8. Voraussetzungen für den Wandel des Menschen und Wesensmerkmale des neuen Menschen
  • 9. Wesensmerkmale der neuen Gesellschaft
  • Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen
  • Einleitung
  • 1. Die Begrenztheit wissenschaftlicher Erkenntnis
  • 2. Größe und Grenzen der Entdeckungen Freuds
  • 3. Freuds Theorie der Traumdeutung
  • 4. Die Freudsche Triebtheorie und ihre Kritik
  • 5. Warum hat sich die Psychoanalyse von einer radikalen Theorie zu einer Theorie der Anpassung gewandelt?
  • Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung
  • Einleitung
  • 1. Ziele und Methoden
  • 2. Die soziale und politische Situation der Befragten
  • 3. Politische, soziale und kulturelle Haltungen
  • 4. Persönlichkeitstypen und politische Haltungen
  • ANHANG 1: Der Fragebogen
  • ANHANG 2: Liste der Tabellen
  • Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung
  • 1. Einleitung: Vom Sinn des Lebens
  • 2. Irrwege der Selbsterfahrung
  • 3. Wege der Selbsterfahrung. Einige Vorschläge
  • 4. Die Selbst-Analyse als Weg der Selbsterfahrung
  • 5. Gründe für die Entwicklung der Orientierung am Haben
  • 6. Zweierlei Haben
  • 7. Erfahrungen auf dem Weg vom Haben zum Sein
  • Das Jüdische Gesetz. Zur Soziologie des Diaspora-Judentums. Dissertation
  • Vorwort von Rainer Funk
  • 1. Die Bedeutung des Gesetzes im Judentum
  • Exkurs I: Arbeit und Beruf im rabbinischen Judentum
  • Exkurs II: Der christliche Offenbarungsbegriff und das Verständnis der „Göttlichkeit“ der Thora im Judentum
  • 2. Der Karäismus
  • 3. Das Reformjudentum
  • 4. Der Chassidismus
  • Zusammenfassung
  • Glossar
  • Analytische Sozialpsychologie
  • Psychoanalyse und Soziologie
  • Der Staat als Erzieher. Zur Psychologie der Strafjustiz
  • Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft
  • Politik und Psychoanalyse
  • Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus
  • Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie
  • Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie
  • Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil
  • Autorität und Familie. Geschichte und Methoden der Erhebungen
  • Die Arbeiter- und Angestellten-Erhebung
  • Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft. Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie
  • Fragen zum deutschen Charakter
  • Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur
  • Mann und Frau
  • Zum Problem Psychologie und historischer Materialismus
  • Die Pathologie der Normalität des heutigen Menschen
  • Bachofens Entdeckung des Mutterrechts
  • Psychische Bedürfnisse und Gesellschaft
  • Die autoritäre Persönlichkeit
  • Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart
  • Buchbesprechungen
  • Buchbesprechung von„Gabe“: Herrn Rabbiner Dr. Nobel zum 50. Geburtstag dargebracht
  • Buchbesprechung von Siegfried Bernfeld: „Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf“
  • Buchbesprechung von Fedor Vergin: „Das unbewusste Europa. Psychoanalyse der europäischen Politik“
  • Buchbesprechung von Sir Galahad: „Mütter und Amazonen. Umriss weiblicher Reiche“
  • Buchbesprechung von Otto Heller: „Der Untergang des Judentums“
  • Buchbesprechung von Maria Dorer: „Historische Grundlagen der Psychoanalyse“
  • Buchbesprechung von Wilhelm Reich: „Der Einbruch der Sexualmoral. Zur Geschichte der sexuellen Ökonomie“
  • Buchbesprechung von Fedor Vergin: „Das unbewusste Europa. Psychoanalyse der europäischen Politik“
  • Buchbesprechung von Lord Raglan: „Jocasta’s Crime. An Anthropological Study“
  • Buchbesprechung von Willy Hellpach: „Elementares Lehrbuch der Sozialpsychologie“
  • Buchbesprechung von Sandford Fleming: „Children and Puritanism“
  • Buchbesprechung von S. M. and B. C. Grünberg: „Parents, Children and Money“
  • Buchbesprechung von E. Heidbreder: „Seven Psychologies“
  • Buchbesprechung von Jeoffrey Gorer: „The Revolutionary Ideas of the Marquis de Sade”
  • Buchbesprechung von Louis Berg: „The Human Personality”
  • Buchbesprechung von E. J. H. Buytendyik: „Wesen und Sinn des Spiels“
  • Buchbesprechung von Alexander Kerensky: „The Crucified Liberty“
  • Buchbesprechungen von A. Forel: „Rückblick auf mein Leben“, V. P. Snowden: „An Autobiography“, R. H. P. Lockhart: „Retreat from Glory“
  • Buchbesprechung von I. S. Wile: „The Sex Life of the Unmarried Adult. An Inquiry into and an Interpretation of Current Sex Practice”
  • Buchbesprechung von Gerhard Adler: „Entdeckung der Seele“
  • Buchbesprechung von Carl Gustav Jung: „Wirklichkeit der Seele“
  • Buchbesprechung von Heinrich Meng: „Strafen und Erziehen“
  • Buchbesprechung von Peter Browe: „Beiträge zur Sexualethik des Mittelalters“
  • Buchbesprechung von John Dollard: „Criteria for the Life History”
  • Buchbesprechung von Margaret Mead: „Sex and Temperament in Three Primitive Societies”
  • Buchbesprechung von George Britt: „Forty Years - Forty Millions“
  • Buchbesprechung von Conrad Aiken: „King Coffin“
  • Buchbesprechung von Margaret Mead: „Cooperation and Competition Among Primitive Peoples”
  • Buchbesprechung von Harold D. Lasswell: „Politics: Who Gets What, When, How”
  • Buchbesprechung von R. Osborn: „Freud and Marx“
  • Buchbesprechung von F. Brown: „Psychology and the Social Order”
  • Buchbesprechung von Carl J. Warden: „The Emergence of Human Culture”
  • Buchbesprechung von Paul Thomas Young: „Motivation of Behavior. The Fundamental Determinants of Human and Animal Activity
  • Buchbesprechung von Roger W. Babson: „Actions and Reactions. An Autobiography“
  • Buchbesprechung von Wilhelm Stekel: „Die Technik der analytischen Psychotherapie“
  • Buchbesprechung von L. Ron Hubbard: „Dianetik“.Die Heilslehre der Scientology-Church
  • Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsentwürfe
  • Der gegenwärtige Zustand des Menschen
  • Freiheit in der Arbeitswelt
  • Vorwort in: Edward Bellamy „Looking Backward“
  • Nachwort in: George Orwell (Eric Blair) „1984“
  • Vorwort in: Karl Marx „Selected Writings in Sociology and Social Philosophy“
  • Die psychischen Folgen des Industrialismus
  • Einleitung in: Erich Fromm „Socialist Humanism“
  • Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie
  • Probleme der Marx-Interpretation
  • Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle
  • Marxismus, Psychoanalyse und „wirkliche Wirklichkeit“
  • Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse
  • Die Überlebenschancen der westlichen Gesellschaft
  • 1. Die Eigenart von Systemen
  • 2. Vom Zerfall gesellschaftlicher Systeme
  • 3. Die Zukunft der gegenwärtigen technologischen Gesellschaft – Zerfall oder Reintegration?
  • Humanistische Planung
  • Nachwort zum Buch „Analytische Sozialpsychologie“
  • Die psychologischen und geistigen Probleme des Überflusses
  • Einleitung in I. Illich „Almosen und Folter“
  • Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft
  • Meine Kritik an der Industriegesellschaft
  • Über Danilo Dolci
  • Die Vision unserer Zeit
  • Vorwort in: Raya Dunayevskaya „Philosophy and Revolution“
  • Interviews
  • Im Namen des Lebens. Ein Porträt im Gespräch mit Hans Jürgen Schultz
  • Hitler – wer war er und was heißt Widerstand gegen diesen Menschen? Interview mit Hans Jürgen Schultz
  • Die Zukunft des Menschen und die Frage der Destruktivität. Interview mit Robert Jungk
  • Aggression und Charakter. Interview mit Adelbert Reif
  • Das Undenkbare denken und das Mögliche tun. Interview mit Alfred A. Häsler
  • Interview mit Adelbert Reif über „Haben oder Sein“
  • Wir leiden an schleichender Schizophrenie. Interview mit Heinrich Jaenecke
  • „Die Kranken sind die Gesündesten.“ Interview mit Jürgen Lodemann und Micaela Lämmle
  • Interview mit Heiner Gautschy
  • Wir sitzen alle in einem Irrenhaus. Interview mit Heinrich Jaenecke
  • „Wer hat Interesse an der Wahrheit?“ Interview mit Robert Neun
  • „Ich habe die Hoffnung, dass die Menschen ihr Leiden erkennen: den Mangel an Liebe.“ Interview mit Heinrich Jaenecke
  • „Das Ziel ist die optimale Entfaltung des Menschen.“ Interview mit Jürgen Lodemann
  • Mut zum Sein. Interview mit Guido Ferrari
  • Interview mit Veio Zanolini
  • Menschenbild, Ethik und Pädagogik
  • Dauernde Nachwirkung eines Erziehungsfehlers
  • Humanistische Wissenschaft vom Menschen
  • Der Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf die Entwicklung des Kindes
  • Die moralische Verantwortung des modernen Menschen
  • Psychologie und Werte
  • Der kreative Mensch
  • Vorwort in A. S. Neill „Summerhill“
  • Der revolutionäre Charakter
  • Die Medizin und die ethische Frage des modernen Menschen
  • Der Ungehorsam als ein psychologisches und ethisches Problem
  • Psychologische Probleme des Alterns
  • Zum Problem einer umfassenden philosophischen Anthropologie
  • Einleitung in E. Fromm und R. Xirau „The Nature of Man“
  • Marx’ Beitrag zum Wissen vom Menschen
  • Pro und Contra Summerhill
  • Die Zwiespältigkeit des Fortschritts. Zum 100. Geburtstag von Albert Schweitzer
  • Father Wassons Prinzipien produktiver Erziehung
  • Ist der Mensch von Natur aus faul?
  • Von der Kunst des Lebens
  • Der Wille zum Leben
  • Vita activa
  • Mein eigenes psychoanalytisches Bild vom Menschen
  • Politik
  • Was soll mit Deutschland geschehen?
  • Für eine Kooperation zwischen Israelis und Palästinensern
  • Citizens for Reason
  • Den Vorrang hat der Mensch. Ein sozialistisches Manifest und Programm
  • Gründe für eine einseitige Abrüstung
  • Geistig gesundes Denken und Außenpolitik
  • Das neue kommunistische Programm
  • Kommunismus und Koexistenz. Das Wesen der totalitären Bedrohung heute. Eine Analyse des Manifests der 81 Kommunistischen Parteien
  • Russland, Deutschland, China - Bemerkungen zur Außenpolitik
  • Tatsachen und Fiktionen über Berlin
  • Anmerkungen zu einer realistischen Außenpolitik
  • Chruschtschow und der Kalte Krieg
  • Die Herausforderung durch Castro
  • Die Zukunft eines Neuen Europas
  • Alternativen zum Atomkrieg
  • Die Frage der Zivilverteidigung
  • Andere Stimmen aus Deutschland
  • Die Spiegelaffäre - ein altes Muster?
  • Die amerikanische Außenpolitik nach der Kuba-Krise
  • Kennedys Mörder
  • Außenpolitik nach dem Verbot von Atomwaffenversuchen
  • Entspannung durch Stärke
  • Sind wir geistig noch gesund?
  • China und der Krieg in Vietnam
  • Die deutsche Frage
  • Die globale Verantwortung der Vereinigten Staaten
  • Zum Problem der Menschenrechte aus der Sicht des Klinikers
  • Marschiert Deutschland bereits wieder?
  • Der Vietnamkrieg und die Brutalisierung des Menschen
  • Vorwort in H. Brandt „Ein Traum, der nicht entführbar ist“
  • Märtyrer und Helden
  • Der geistige Zustand Amerikas
  • Der politische Radikalismus in den Vereinigten Staaten und seine Kritik
  • Warum ich für McCarthy bin
  • Wahlkampfrede für Eugene McCarthy beim „Versöhnungsbund“
  • Zur Theorie und Strategie des Friedens
  • Anmerkungen zur Entspannungspolitik
  • Psychoanalyse
  • Ödipus in Innsbruck
  • Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht
  • Zum Gefühl der Ohnmacht
  • Die Sozialphilosophie der „Willenstherapie“ Otto Ranks
  • Selbstsucht und Selbstliebe
  • Geschlecht und Charakter
  • Individuelle und gesellschaftliche Ursprünge der Neurose
  • Einleitung in P. Mullahy „Oedipus. Myth and Complex“
  • Sexualität und Charakter. Psychoanalytische Bemerkungen zum Kinsey-Report
  • Die Auswirkungen eines triebtheoretischen „Radikalismus“ auf den Menschen. Eine Antwort auf Herbert Marcuse
  • Psychoanalyse als Wissenschaft
  • Eine Erwiderung auf Herbert Marcuse
  • Der Mensch ist kein Ding
  • Psychoanalyse - Wissenschaft oder Linientreue
  • Der moderne Mensch und seine Zukunft
  • Die philosophische Basis der Freudschen Psychoanalyse
  • C. G. Jung: Prophet des Unbewussten. Zu „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ von C. G. Jung
  • Die Grundpositionen der Psychoanalyse
  • Der Ödipuskomplex.Bemerkungen zum „Fall des kleinen Hans“
  • Die Faszination der Gewalt und die Liebe zum Leben
  • Quellen menschlicher Destruktivität
  • Über meinen psychoanalytischen Ansatz
  • Die Notwendigkeit der Revision der Psychoanalyse
  • Die dialektische Revision der Psychoanalyse
  • Die Krise der Psychoanalyse
  • Freuds Modell des Menschen und seine gesellschaftlichen Determinanten
  • Über die Ursprünge der Aggression
  • Kornrad Lorenz hat nicht Recht
  • Einführung in H. J. Schultz „Psychologie für Nichtpsychologen“
  • Rache des ungelebten Lebens. Erich Fromm über Katastrophenfilme
  • Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Zukunft
  • Aggression. Warum ist der Mensch destruktiv?
  • Der Terrorismus von Baader und Meinhof
  • Das Undenkbare, das Unsagbare, das Unaussprechliche
  • Psychotherapie und Lebenskunst
  • Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie
  • Das Wesen der Träume
  • Anmerkungen zum Problem der Freien Assoziation
  • Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis
  • Zum Verständnis von seelischer Gesundheit
  • Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung
  • Sexualität und sexuelle Perversionen
  • Der Traum ist die Sprache des universalen Menschen
  • Vorwort in B. Luban-Plozza „Praxis der Balint-Gruppen“
  • Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse
  • Religion und Humanismus
  • Zur Tagung der Agudas-Jisroel-Jugendorganisation
  • Nachruf auf Adolf Lissauer
  • Verbindung Jüdischer Studenten „Achduth”, Frankfurt am Main
  • Traditionelles Judentum und Zionismus
  • Die Amsterdamer Weltkonferenz des Misrachi
  • Zum Misrachi Delegiertentag
  • Ein prinzipielles Wort zur Erziehungsfrage
  • Rabbiner Nobel als Führer der Jugend
  • Wohin führt der Weg?
  • Brief an den außerordentlichen Kartell-Tag des Kartells Jüdischer Verbindungen (KJV)
  • Der Sabbat
  • Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studiezur sozialpsychologischen Funktion der Religion
  • Die männliche Schöpfung
  • Glaube als Charakterzug
  • Die prophetische Auffassung vom Frieden
  • Zum Geleit. Festgabe für Adolf Leschnitzer
  • Ein neuer Humanismus als Voraussetzung für die eine Welt
  • Humanismus und Psychoanalyse
  • Vorwort in: A. R. Arasteh „Rumi the Persian“
  • Credo eines Humanisten
  • Die Idee einer Weltkonferenz
  • Propheten und Priester
  • Auf der Suche nach der humanistischen Alternative
  • Einige post-marxsche und post-freudsche Gedankenüber Religion und Religiosität
  • Meister Eckhart und Karl Marx: Die reale Utopie der Orientierung am Sein
  • Die Aktualität der prophetischen Schriften
  • Aufruf zum gemeinsamen Kampf gegen den Götzendienst
  • Gibt es eine Ethik ohne Religiosität? Antworten Erich Fromms auf ein Referat von Alfons Auer
  • Die Bedeutung des Ehrwürdigen Nyanaponika Mahathera für die westliche Welt
  • Religion und Gesellschaft
  • Bemerkungen zu den Beziehungen zwischen Juden und Deutschen
  • Marx und die Religion
  • Wer ist der Mensch?
  • Hinweise zur Übersetzung
  • Literaturverzeichnis
  • Der Autor
  • Der Herausgeber
  • Impressum

Die Furcht vor der Freiheit

(Escape from Freedom)

(1941a)[1]

Übersetzung aus dem Amerikanischen Liselotte und Ernst Mickel
überarbeitet von Rainer Funk

Inhalt

Wenn nicht ich für mich bin, wer ist dann für mich?
Wenn ich nur für mich bin, was bin ich dann?
Wenn nicht jetzt - wann sonst?
Talmud

Nicht himmlisch, nicht irdisch, nicht sterblich und nicht unsterblich
haben wir dich erschaffen, auf dass du mögest frei sein,
deinem eigenen Willen und deiner Ehre gemäß,
auf dass du mögest dein eigner Schöpfer und Bildner sein.
Dir allein gab ich die Fähigkeit zu wachsen
und dich nach deinem eigenen freien Willen zu entfalten.
Du trägst in dir den Keim eines allumfassenden Lebens.
Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate

Nichts ist unveränderlich, nur die dem Menschen eigenen
und unveräußerlichen Rechte nicht.
Thomas Jefferson

Vorwort

Dieses Buch[2] ist Teil einer umfassenden Untersuchung, welche die Charakterstruktur des modernen Menschen und die Probleme der Wechselwirkung zwischen psychologischen und soziologischen Faktoren behandelt, mit der ich mich seit mehreren Jahren beschäftige und die noch lange nicht abgeschlossen ist. Die gegenwärtigen politischen Entwicklungen und die Gefahren, die sie für die größte Leistung der modernen Kultur - für die Individualität und Einmaligkeit des Menschen - mit sich bringen, haben mich jedoch bewogen, meine Arbeit an einer umfassenderen Untersuchung zu unterbrechen und mich auf einen bestimmten Aspekt zu konzentrieren, der mir für die kulturelle und gesellschaftliche Krise unserer Tage besonders wichtig ist: die Bedeutung der Freiheit für den modernen Menschen. Es würde mir die Arbeit erleichtern, könnte ich in diesem Buch den Leser auf eine abgeschlossene Untersuchung der menschlichen Charakterstruktur hinweisen, weil man die Bedeutung der Freiheit nur wirklich verstehen kann, wenn man die gesamte Charakterstruktur des modernen Menschen analysiert. So muss ich mich immer wieder auf bestimmte Begriffe und Schlussfolgerungen beziehen, ohne sie so ausführlich erläutern zu können, wie ich es getan hätte, wäre die ganze Weite des Problems bereits erfasst. Was andere, ebenfalls höchst wichtige Probleme betrifft, so konnte ich oft nur im Vorübergehen und manchmal überhaupt nicht auf sie eingehen. Aber ich habe das Gefühl, dass der Psychologe unverzüglich zum Verständnis der gegenwärtigen Krise alles beisteuern sollte, was er zu bieten hat, selbst unter Aufgabe seines Wunsches nach Vollständigkeit.

Wenn ich die Bedeutung psychologischer Erwägungen beim gegenwärtigen Stand der Dinge hervorhebe, so möchte ich damit die Psychologie nicht überbewerten. Die reale Grundlage des gesellschaftlichen Prozesses ist das Individuum, seine Wünsche und Ängste, seine Leidenschaften und seine Vernunft, seine Neigung zum Guten und zum Bösen. Um die Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses zu verstehen, müssen wir die Dynamik der psychologischen Prozesse begreifen, die sich im Individuum abspielen, genauso wie wir den Einzelnen im Kontext der ihn formenden Kultur sehen müssen, wenn wir ihn verstehen wollen. Die These dieses Buches lautet, dass der moderne Mensch, nachdem er sich von den Fesseln der vor-individualistischen [I-218] Gesellschaft befreite, die ihm gleichzeitig Sicherheit gab und ihm Grenzen setzte, sich noch nicht die Freiheit - verstanden als positive Verwirklichung seines individuellen Selbst - errungen hat; das heißt, dass er noch nicht gelernt hat, seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten voll zum Ausdruck zu bringen. Die Freiheit hat ihm zwar Unabhängigkeit und Rationalität ermöglicht, aber sie hat ihn isoliert und dabei ängstlich und ohnmächtig gemacht. Diese Isolierung kann der Mensch nicht ertragen, und er sieht sich daher vor die Alternative gestellt, entweder der Last seiner Freiheit zu entfliehen und sich aufs Neue in Abhängigkeit und Unterwerfung zu begeben oder voranzuschreiten zur vollen Verwirklichung jener positiven Freiheit, die sich auf die Einzigartigkeit und Individualität des Menschen gründet. Wenngleich dieses Buch eher eine Diagnose als eine Prognose - eher eine Analyse als eine Lösung - bietet, kommt es doch zu Ergebnissen, die unser Handeln beeinflussen könnten, denn nur wenn wir die Gründe für die totalitäre Flucht vor der Freiheit erkennen, können wir uns so verhalten, dass wir die totalitären Kräfte besiegen.

Ich muss mir leider das Vergnügen versagen, allen meinen Freunden, Kollegen und Studenten zu danken, die mir durch Anregungen und konstruktive Kritik bei der Entwicklung meiner Ideen behilflich waren. Ich habe den Leser jeweils auf die Autoren hingewiesen, denen ich mich besonders verpflichtet fühle. Besonders möchte ich mich jedoch bei denen bedanken, die bei der Fertigstellung dieses Buches unmittelbar mitgeholfen haben. Das gilt vor allem für Elizabeth Brown, die mir durch ihre Vorschläge und ihre Kritik eine unschätzbare Hilfe war. Außerdem bedanke ich mich besonders bei T. Woodhouse für seine Arbeiten am Manuskript und bei Dr. A. Seidemann für seine Beratung bei philosophischen Problemen.[3]

E. F.

1 Freiheit - ein psychologisches Problem?

Im Mittelpunkt der modernen europäischen und amerikanischen Geschichte steht das Bemühen, sich von den politischen, wirtschaftlichen und geistigen Fesseln zu befreien, welche die Menschen gefangen hielten. Der Kampf um die Freiheit wurde von den Unterdrückten, die neue Freiheiten beanspruchten, gegen jene ausgefochten, die Privilegien zu verteidigen hatten. Immer wenn eine Klasse um ihre eigene Befreiung kämpfte, so tat sie das in dem Glauben, für die menschliche Freiheit als solche zu kämpfen, so dass sie an ein Ideal, an die Sehnsucht nach Freiheit bei allen Unterdrückten appellieren konnte. In diesem langen und praktisch noch immer andauernden Kampf um die Freiheit liefen jedoch Klassen, die gegen die Unterdrückung gekämpft hätten, in einem gewissen Stadium zu den Feinden der Freiheit über, nämlich dann, wenn der Sieg errungen war und es galt, neue Privilegien zu verteidigen.

Trotz vieler Rückschläge sind für die Freiheit manche Schlachten gewonnen worden. Viele sind in diesen Schlachten in der Überzeugung gestorben, es sei besser, im Kampf gegen die Unterdrückung zu sterben, als ohne Freiheit zu leben. Ein solcher Tod war für sie die höchste Bestätigung ihrer Individualität. Die Geschichte schien zu beweisen: Der Mensch kann sich selbst regieren, er kann selbst seine Entscheidungen treffen und denken und fühlen, was er für richtig hält. Die volle Entfaltung aller im Menschen schlummernden Möglichkeiten schien das Ziel zu sein, dem sich die gesellschaftliche Entwicklung mit raschen Schritten näherte. In den Grundsätzen des ökonomischen Liberalismus, der politischen Demokratie, der religiösen Autonomie und des Individualismus im persönlichen Leben kam die Sehnsucht nach Freiheit zum Ausdruck. Diese Prinzipien schienen die Menschheit der Verwirklichung dieser Sehnsucht näherzubringen. Eine Fessel nach der anderen wurde gesprengt. Der Mensch befreite sich aus seiner Beherrschung durch die Natur und machte sich zu ihrem Herrn; er beseitigte seine Beherrschung durch die Kirche und durch den absolutistischen Staat. Die Abschaffung der äußeren Botmäßigkeit schien die notwendige, aber auch hinreichende Vorbedingung für die Erreichung des ersehnten Ziels zu sein: der Freiheit des Individuums.

Viele sahen im Ersten Weltkrieg den Endkampf und in seinem Abschluss den endgültigen Sieg der Freiheit. Die bereits vorhandenen Demokratien schienen gestärkt [I-220] daraus hervorzugehen, und neue Demokratien traten an die Stelle früherer Monarchien. Aber bereits nach wenigen Jahren tauchten neue Systeme auf, die alles verleugneten, was die Menschen in Jahrhunderte langen Kämpfen errungen zu haben glaubten. Denn das Wesen dieser neuen Systeme, die sich des gesamten gesellschaftlichen und persönlichen Lebens der Bevölkerung bemächtigten, war die völlige Unterwerfung aller unter die Autorität einer Handvoll von Menschen, gegen die sie machtlos waren.

Zunächst trösteten sich viele mit dem Gedanken, der Sieg des autoritären Systems sei auf die Geistesverwirrung einiger weniger Einzelner zurückzuführen, die von ihrem Wahnsinn schon rechtzeitig wieder abgebracht werden könnten. Andere wiegten sich im Glauben, die Italiener und die Deutschen besäßen nur noch nicht genügend Übung in Demokratie, und man könne daher ruhig zuwarten, bis sie die politische Reife der westlichen Demokratien erreicht hätten. Eine andere weitverbreitete Illusion - vielleicht die allergefährlichste - war die, dass Menschen wie Hitler allein durch ihre List und Tücke die Macht über den großen Staatsapparat errungen hätten, dass sie und ihre Gefolgsleute allein durch nackte Gewalt regierten und dass die Bevölkerung nur das willenlose Objekt von Betrug und Terror sei.

Inzwischen haben sich diese Ansichten als Irrtum herausgestellt. Wir mussten erkennen, dass Millionen von Deutschen ebenso bereitwillig ihre Freiheit aufgaben, wie ihre Väter für sie gekämpft hatten; dass sie, anstatt sich nach Freiheit zu sehnen, sich nach Möglichkeiten umsahen, ihr zu entfliehen; dass weitere Millionen gleichgültig waren und nicht glaubten, dass die Verteidigung der Freiheit es wert sei, für sie zu kämpfen und für sie zu sterben. Wir haben weiterhin erkannt, dass die Krise der Demokratie kein spezifisch italienisches oder deutsches Problem ist, sondern dass jeder moderne Staat sich damit auseinanderzusetzen hat. Auch macht es keinen Unterschied, welche Symbole sich die Feinde der menschlichen Freiheit wählen: Die Freiheit ist nicht weniger gefährdet, ob sie im Namen des Antifaschismus oder im Namen des Faschismus selbst angegriffen wird. (Unter Faschismus oder Autoritarismus verstehe ich ein diktatorisches System vom deutschen oder italienischen Typ. Wenn ich mich speziell auf das deutsche System beziehe, bezeichne ich es als „Nazismus“.) John Dewey hat dies so eindrucksvoll formuliert, dass ich ihn wörtlich zitieren möchte: „Die ernste Gefahr für unsere Demokratie besteht nicht in der Existenz totalitärer fremder Staaten. Sie besteht darin, dass in unseren eigenen persönlichen Einstellungen und in unseren eigenen Institutionen Bedingungen herrschen, die der Autorität von außen, der Disziplin, der Uniformität und Abhängigkeit vom Führer in diesen Ländern zum Sieg verhelfen. Demnach befindet sich das Schlachtfeld hier - in uns selbst und in unseren Institutionen“ (J. Dewey, 1939a). Wenn wir den Faschismus bekämpfen wollen, müssen wir ihn verstehen. Wunschdenken hilft uns dabei nicht weiter. Auch die Wiederholung optimistischer Devisen nützt so wenig wie das Ritual eines indianischen Regentanzes.

Neben den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die zum Faschismus geführt haben, gibt es ein den Menschen selbst betreffendes Problem, das wir verstehen müssen. Zweck dieses Buches ist es, jene dynamischen Faktoren in der Charakterstruktur des modernen Menschen zu analysieren, die in den faschistischen Ländern [I-221] dazu geführt haben, die Freiheit aufzugeben, und die bei Millionen Menschen in unserem eigenen [amerikanischen] Volk ebenfalls stark verbreitet sind.

Wenn wir den menschlichen Aspekt der Freiheit, die Sehnsucht nach Unterwerfung und das Streben nach Macht ins Auge fassen, so stellen sich vor allem folgende Fragen: Was bedeutet Freiheit als menschliche Erfahrung? Ist das Verlangen nach Freiheit etwas, das der menschlichen Natur innewohnt? Handelt es sich bei Freiheit um die gleiche Erfahrung ohne Rücksicht auf die Art der Kultur, in der jemand lebt, oder ist sie jeweils etwas Verschiedenes entsprechend dem Grad des in einer bestimmten Gesellschaft bereits erreichten Individualismus? Bedeutet Freiheit nur die Abwesenheit äußeren Drucks, oder bedeutet Freiheit auch das Vorhandensein von etwas - und wenn ja, wovon? Welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren in der Gesellschaft fördern das Streben nach Freiheit? Kann Freiheit zu einer Last werden, die den Menschen so schwer bedrückt, dass er ihr zu entfliehen sucht? Woher kommt es dann, dass Freiheit für viele ein hochgeschätztes Ziel und für andere eine Bedrohung bedeutet?

Gibt es vielleicht außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung? Und wenn es diese nicht gibt, wie ist dann die Anziehungskraft zu erklären, welche die Unterwerfung unter einen Führer heute auf so viele ausübt? Unterwirft man sich nur einer offenen Autorität, oder gibt es auch eine Unterwerfung unter internalisierte Autoritäten, wie die Pflicht oder das Gewissen, unter innere Zwänge oder unter anonyme Autoritäten wie die öffentliche Meinung? Gewährt es eine geheime Befriedigung, sich zu unterwerfen, und was liegt ihr zugrunde?

Was erzeugt im Menschen eine unersättliche Gier nach Macht? Ist es die Stärke seiner Lebenskraft - oder ist es eine grundsätzliche Schwäche und Unfähigkeit, das Leben spontan und liebevoll zu erleben? Welches sind die psychologischen Bedingungen, die diese Strebungen so stark machen? Und welches sind die gesellschaftlichen Bedingungen, auf denen derartige psychologische Bedingungen ihrerseits beruhen?

Die Analyse des menschlichen Aspekts der Freiheit und des Autoritarismus zwingt uns, uns mit einem allgemeinen Problem zu beschäftigen - mit der Rolle nämlich, welche psychologische Faktoren als aktive Kräfte im gesellschaftlichen Prozess spielen; und dies führt uns schließlich zum Problem der Wechselwirkung von psychologischen, ökonomischen und ideologischen Faktoren im gesellschaftlichen Prozess. Jeder Versuch, die Anziehungskraft zu begreifen, welche der Faschismus auf große Nationen ausübt, zwingt uns, uns mit der Rolle der psychologischen Faktoren zu beschäftigen. Denn wir haben es hier mit einem politischen System zu tun, das seinem Wesen nach nicht an die rationalen Kräfte des Selbstinteresses appelliert, sondern das im Menschen diabolische Kräfte weckt und mobilisiert, von deren Existenz wir nichts wussten oder von denen wir zumindest annahmen, sie seien schon lange ausgestorben. In den letzten Jahrhunderten pflegte man sich den Menschen als ein vernünftiges Wesen vorzustellen, das in seinem Handeln von seinem Selbstinteresse bestimmt wird. Selbst Schriftsteller wie Hobbes, der die Machtgier und Feindseligkeit als die treibenden Kräfte im Menschen ansah, erklärten, sie seien die logische Konsequenz des Selbstinteresses: Da die Menschen alle gleich und daher vom gleichen Wunsch nach Glück [I-222] beseelt seien und da nicht genug Güter vorhanden seien, um sie alle gleichmäßig zufriedenzustellen, müssten sie notwendigerweise miteinander kämpfen und nach Macht streben, um sicherzustellen, dass sie auch in Zukunft genießen könnten, was sie gegenwärtig besäßen. Aber das Menschenbild von Hobbes traf bald nicht mehr zu. Je mehr es dem Bürgertum gelang, die Macht der früheren politischen und religiösen Herrscher zu brechen, je besser es den Menschen gelang, die Natur zu meistern, und je mehr Millionen Menschen wirtschaftlich unabhängig wurden, umso mehr glaubte man an eine rationale Welt und an den Menschen als Vernunftwesen. Die finsteren, diabolischen Kräfte in der menschlichen Natur wurden ins Mittelalter oder in noch frühere Epochen verwiesen, und man erklärte sie mit dem Mangel an Wissen oder mit dem Ränkespiel betrügerischer Könige und Priester.

Man blickte auf diese Epochen zurück wie auf einen Vulkan, der seit langem erloschen ist und von dem keine Gefahr mehr droht. Man fühlte sich sicher und vertraute darauf, dass die Errungenschaften der modernen Demokratie alle finsteren Mächte verscheucht hätten; die Welt erschien so hell und sicher wie die gut beleuchteten Straßen einer modernen Großstadt. In den Kriegen sah man die letzten Relikte vergangener Zeiten und war der Ansicht, dass man nur noch einen einzigen, letzten Krieg brauche, um Krieg ein für allemal abzuschaffen. Wirtschaftskrisen betrachtete man als Pannen, auch wenn sie sich weiterhin mit einer gewissen Regelmäßigkeit einstellten.

Als der Faschismus an die Macht kam, waren die meisten weder theoretisch noch praktisch darauf vorbereitet. Sie konnten einfach nicht glauben, dass der Mensch einen solchen Hang zum Bösen, eine solche Machtgier, eine solche Missachtung der Rechte der Schwachen und ein solches Verlangen nach Unterwerfung bekunden konnte. Nur wenige hatten das unterirdische Grollen vor dem Ausbruch des Vulkans bemerkt. Nietzsche hatte den selbstgefälligen Optimismus des Neunzehnten Jahrhunderts aufgestört; das gleiche hatte Marx, wenn auch auf andere Weise, getan. Eine weitere Warnung kam etwas später von Freud. Zwar hatten er und die meisten seiner Schüler nur eine sehr naive Auffassung davon, was in der Gesellschaft vor sich geht, und seine Versuche, die Psychologie auf gesellschaftliche Probleme anzuwenden, waren meist irreführende Konstruktionen. Aber dadurch, dass er sein Interesse den Erscheinungen individueller emotionaler und geistiger Störungen zuwandte, führte er uns auf den Gipfel des Vulkans und ließ uns in den kochenden Krater hinunterschauen.

Freud hat die Aufmerksamkeit mehr als jeder andere auf die Beobachtung und Analyse der irrationalen und unbewussten Kräfte gelenkt, die das Verhalten der Menschen mitbestimmen. Er und seine Schüler haben in der modernen Psychologie nicht nur den irrationalen und unbewussten Bereich der menschlichen Natur entdeckt, dessen Existenz der moderne Rationalismus übersehen hatte, Freud hat auch gezeigt, dass diese irrationalen Phänomene bestimmten Gesetzen folgen und daher rational zu verstehen sind. Er hat uns gelehrt, die Sprache der Träume und der somatischen Symptome ebenso wie die Irrationalitäten im menschlichen Verhalten zu verstehen. Er hat entdeckt, dass sowohl das irrationale Verhalten eines Menschen als auch seine gesamte Charakterstruktur die Reaktion auf Einflüsse ist, welche die Außenwelt insbesondere während seiner frühen Kindheit auf ihn ausübte. [I-223]

Aber Freud war so sehr vom Geist seiner Kultur durchtränkt, dass er über ihre Grenzen nicht hinwegkam. Eben diese Grenzen schränkten sein Verständnis für den kranken Menschen ein und sie waren ein Hindernis für sein Verständnis des normalen Menschen und der irrationalen Phänomene im Leben der Gesellschaft.

Da dieses Buch die Rolle, welche die psychologischen Faktoren im gesellschaftlichen Gesamtprozess spielen, in den Vordergrund stellt, und da sich diese Analyse auf einige der grundlegenden Entdeckungen Freuds gründet - besonders auf jene, welche das Wirken unbewusster Kräfte im Charakter des Menschen und ihre Abhängigkeit von äußeren Einflüssen betreffen - halte ich es für angebracht, den Leser schon jetzt auf die allgemeinen Grundsätze der hier vertretenen Auffassung und auf die Hauptunterschiede zwischen dieser Auffassung und den klassischen Freudschen Vorstellungen hinzuweisen.[4]

Freud übernahm die traditionelle Überzeugung von der grundsätzlichen Dichotomie zwischen Mensch und Gesellschaft und die Lehre, dass der Mensch von Natur aus böse sei. Für ihn ist der Mensch grundsätzlich antisozial. Die Gesellschaft muss ihn erst domestizieren. Sie muss zwar die direkte Befriedigung einiger biologischer und daher unausrottbarer Triebe zulassen, aber sie muss die meisten Basisimpulse im Menschen verfeinern und geschickt in Zaum halten. Infolge dieser Unterdrückung der natürlichen Impulse durch die Gesellschaft geschieht etwas Wunderbares: Die unterdrückten Triebe verwandeln sich in kulturell wertvolle Strebungen und werden so zur Grundlage der menschlichen Kultur. Freud hat diese merkwürdige Umwandlung des Unterdrückten in ein zivilisiertes Verhalten als Sublimierung bezeichnet. Wenn mehr unterdrückt werden muss als sublimiert werden kann, so wird der Betreffende neurotisch; dann muss man ihm erlauben, weniger zu unterdrücken. Im allgemeinen besteht jedoch ein umgekehrtes Verhältnis zwischen der Befriedigung der menschlichen Triebe und der Kultur: je größer die Unterdrückung, umso mehr Kultur (und umso größer ist die Gefahr, dass es zu neurotischen Störungen kommt). Die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft ist nach Freuds Theorie ihrem Wesen nach statisch: Der Einzelne bleibt sich praktisch immer gleich und ändert sich nur insoweit, als die Gesellschaft einen größeren Druck auf seine natürlichen Triebe ausübt (und so eine noch stärkere Sublimierung erzwingt) oder ihm mehr Befriedigung erlaubt (und dafür Kultur opfert).

Genau wie die früheren Psychologen die Existenz von Grundinstinkten annahmen, sah auch Freud die menschliche Natur im Wesentlichen als eine Widerspiegelung der wichtigsten beim modernen Menschen zu beobachtenden Triebregungen. Für ihn repräsentiert der einzelne Vertreter seiner Kultur „den Menschen“ schlechthin, und er sah in den für den Menschen der modernen Gesellschaft kennzeichnenden Leidenschaften und Ängsten ewige, in der biologischen Konstitution des Menschen wurzelnde Kräfte. [I-224]

Wir könnten für diese Sicht Freuds viele Beispiele anführen (etwa die gesellschaftliche Ursache der heute so weit verbreiteten Feindseligkeit, den Ödipuskomplex oder auch den sogenannten Kastrationskomplex der Frau[5]). Ich möchte mich jedoch auf ein Beispiel beschränken, das mir deshalb besonders wichtig erscheint, weil es die Gesamtauffassung vom Menschen als einem sozialen Wesen betrifft. Freud betrachtet den Einzelnen stets in seinen Beziehungen zu anderen. Diese Beziehungen sind jedoch nach Freuds Ansicht annähernd gleichbedeutend mit den wirtschaftlichen Beziehungen, welche für den Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft charakteristisch sind. Ein jeder arbeitet für sich selbst, individualistisch auf sein eigenes Risiko und nicht in erster Linie in Zusammenarbeit mit anderen. Aber er ist auch kein Robinson Crusoe; er ist auf die anderen angewiesen als Kunden, als Arbeitnehmer oder als Arbeitgeber. Er muss kaufen und verkaufen, geben und nehmen. Der Markt reguliert diese Beziehungen, ob es sich nun um den Gebrauchsgütermarkt oder um den Arbeitsmarkt handelt. Daher ist der Einzelne in erster Linie allein und selbstgenügsam. Knüpft er mit anderen wirtschaftliche Beziehungen an, so geschieht das nur zu dem einen Zweck: zu verkaufen und zu kaufen. Freuds Auffassung von den menschlichen Beziehungen entspricht im Wesentlichen dieser Auffassung: Der Einzelne ist mit biologischen Trieben ausgestattet, die unbedingt befriedigt werden müssen. Um sie zu befriedigen, tritt er mit anderen „Objekten“ in Beziehung. So sind ihm die anderen Menschen stets Mittel zum Zweck, zum Zweck der Befriedigung von Strebungen, die im Individuum bereits vorhanden sind, bevor es mit anderen in Kontakt kommt. Der Bereich menschlicher Beziehungen im Sinne Freuds gleicht dem Markt: Es handelt sich dabei um einen Austausch von Befriedigungen biologisch bedingter Bedürfnisse, wobei die Beziehung zu anderen Personen stets ein Mittel zum Zweck und niemals Selbstzweck ist.

Im Gegensatz zu Freuds Standpunkt gründet sich meine Analyse in diesem Buch auf die Überzeugung, dass das Schlüsselproblem der Psychologie die spezifische Art der Bezogenheit des Individuums zur Welt und nicht die Befriedigung oder Nicht-Befriedigung dieses oder jenes triebhaften Bedürfnisses an sich ist. Außerdem gehe ich von der Annahme aus, dass die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft keine statische ist. Es ist nicht so, als ob es da einerseits einen Einzelmenschen gäbe, der von der Natur mit bestimmten Trieben ausgestattet wurde, und andererseits die Gesellschaft als etwas, das außerhalb von ihm existiert und diese angeborenen Strebungen entweder befriedigt oder unbefriedigt lässt. Wenn es auch gewisse allen Menschen gemeinsame Bedürfnisse gibt, wie etwa Hunger, Durst und Sexualität, sind jene Triebe, welche die Unterschiede im Charakter der Menschen bedingen - etwa Liebe und Hass, das Streben nach Macht und das Verlangen, sich zu unterwerfen, die Freude an sinnlichem Genuss und die Angst davor -, sämtlich Produkte des gesellschaftlichen Prozesses. Die schönsten wie auch die abscheulichsten Neigungen des Menschen sind kein festgelegter, biologisch gegebener Bestandteil seiner Natur, sondern das Resultat des gesellschaftlichen Prozesses, der den Menschen erzeugt. Die Gesellschaft hat also nicht nur die Funktion, etwas zu unterdrücken - obwohl sie auch diese Funktion hat -, sondern auch eine kreative Funktion. Die Natur des Menschen, seine Leidenschaften und seine Ängste, sind ein Produkt der Kultur. Tatsächlich ist der Mensch [I-225] selbst die wichtigste Schöpfung und Errungenschaft des unaufhörlichen menschlichen Bemühens, die Dokumentation dessen, was wir Geschichte nennen.

Es ist die besondere Aufgabe des Sozialpsychologen, diesen Prozess der Selbsterzeugung des Menschen in der Geschichte verstehen zu lernen. Wieso kommt es beim Übergang von einer historischen Epoche zur anderen zu bestimmten Veränderungen im menschlichen Charakter? Weshalb ist der Geist der Renaissance so anders als der des Mittelalters? Weshalb ist die Charakterstruktur des Menschen im Zeitalter des Monopolkapitalismus anders als die im Neunzehnten Jahrhundert? Aufgabe der Sozialpsychologie ist es zu erklären, wieso neue Fähigkeiten und neue Leidenschaften - schlechte oder gute - entstehen. So finden wir zum Beispiel, dass seit der Renaissance bis in unsere Tage der Mensch von einem brennenden Ehrgeiz nach Ruhm erfüllt ist, während dieses uns heute so selbstverständlich erscheinende Streben in der mittelalterlichen Gesellschaft kaum vorhanden war (vgl. J. Burckhardt, 1928, 3. Kap., 2. und 4. Abschnitt). In der Renaissance entwickelten die Menschen auch ein Gefühl für die Schönheit der Natur, das sie zuvor nicht besaßen. Dann aber erwarb der Mensch in den Ländern des Nordens seit dem Sechszehnten Jahrhundert ein zwanghaftes Streben zu arbeiten, wie es bis dahin bei freien Menschen nicht zu beobachten war.

Der Mensch wird jedoch nicht nur von der Geschichte geschaffen. Die Geschichte wird auch ihrerseits vom Menschen geschaffen. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs bildet das Aufgabenfeld der Sozialpsychologie.[6] Die Aufgabe besteht darin, nicht nur zu zeigen, wie die Leidenschaften, Wünsche und Ängste sich als Resultat des gesellschaftlichen Prozesses ändern und entwickeln, sondern auch wie die so in bestimmte Formen geprägten Energien des Menschen ihrerseits zu Produktivkräften werden, welche den gesellschaftlichen Prozess formen. So sind zum Beispiel das Streben nach Ruhm und Erfolg und der Trieb zur Arbeit Kräfte, ohne die sich der moderne Kapitalismus nicht hätte entwickeln können. Ohne diese und eine Reihe anderer menschlicher Kräfte hätte dem Menschen der Antrieb gefehlt, sich den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfordernissen des modernen Wirtschafts- und Industriesystems entsprechend zu verhalten.

Hieraus folgt, dass der in diesem Buch vertretene Standpunkt sich von dem Freuds insofern unterscheidet, als ich seine Interpretation der Geschichte als Resultat psychologischer Kräfte, die ihrerseits nicht gesellschaftlich bedingt sind, nachdrücklich ablehne. Ebenso nachdrücklich lehne ich jene Theorien ab, die außer acht lassen, dass der Faktor „Mensch“ eines der dynamischen Elemente im gesellschaftlichen Prozess ist. Diese Kritik richtet sich nicht nur gegen soziologische Theorien, die - wie die von Durkheim und seiner Schule - psychologische Probleme ausdrücklich aus der Soziologie heraushalten möchten, sondern auch gegen Theorien, die mehr oder weniger an einer behavioristischen Psychologie orientiert sind. Allen diesen Theorien ist die Annahme gemeinsam, dass die menschliche Natur keine eigene Dynamik besitzt, so dass psychologische Veränderungen nur als Entwicklung neuer Gewohnheiten, als Anpassung an neue kulturelle Muster aufzufassen sind. Diese Theorien reden zwar [I-226] auch von dem psychologischen Faktor, doch reduzieren sie ihn zum bloßen Schatten kultureller Muster. Nur eine dynamische Psychologie, zu der Freud die Grundlagen gelegt hat, kann dem Faktor „Mensch“ wirklich gerecht werden. Wenn es auch keine von vornherein festgelegte menschliche Natur gibt, so darf man sie doch auch nicht als etwas unbegrenzt Formbares ansehen, das sich an Bedingungen jeder Art anpassen könnte, ohne eine eigene psychologische Dynamik zu entwickeln. Wenngleich die menschliche Natur das Produkt der historischen Entwicklung ist, so besitzt sie doch bestimmte ihr innewohnende Mechanismen und Gesetze, deren Aufdeckung die Aufgabe der Psychologie ist.

Hier scheint es mir zum vollen Verständnis des bereits Gesagten wie auch des noch Folgenden angebracht, auf den Begriff der Anpassung näher einzugehen. Diese Diskussion soll gleichzeitig veranschaulichen, was wir unter psychologischen Mechanismen und Gesetzen verstehen. Dabei scheint es mir angebracht, zwischen einer „statischen“ und einer „dynamischen“ Anpassung zu unterscheiden. Unter statischer Anpassung verstehe ich eine Anpassung an Verhaltensmuster, bei der die gesamte Charakterstruktur unverändert bleibt und bei der es nur darum geht, sich an eine neue Gewohnheit anzupassen. Ein Beispiel für diese Art der Anpassung ist ein Chinese, der sich an Stelle der eigenen Essgewohnheiten an die Benutzung von Messer und Gabel gewöhnt. Ein Chinese, der nach Amerika kommt, wird sich zwar an diese für ihn neue Gewohnheit anpassen, doch wird diese Anpassung kaum einen Einfluss auf seine Persönlichkeit haben; sie erzeugt bei ihm keine neuen Triebe oder Charakterzüge.

Unter dynamischer Anpassung verstehe ich dagegen die Art von Anpassung, zu der es beispielsweise kommt, wenn ein kleiner Junge sich den Geboten eines strengen, bedrohlichen Vaters unterwirft - weil er zu große Angst vor diesem hat, um sich anders zu verhalten - und so zu einem „braven“ Jungen wird. Während er sich den Notwendigkeiten der Situation anpasst, geschieht etwas mit ihm. Er entwickelt vielleicht eine intensive Feindseligkeit gegen seinen Vater, die er verdrängt, weil es zu gefährlich wäre, sie offen zu äußern oder sich ihrer auch nur bewusst zu werden. Diese verdrängte Feindseligkeit ist jedoch, obwohl sie nicht manifest ist, ein dynamischer Faktor in seiner Charakterstruktur. Sie kann neue Angst erzeugen und so zu einer noch stärkeren Unterwerfung führen; sie kann aber auch zu einer unbestimmten Trotzhaltung führen, die sich nicht gegen jemand besonderes, sondern vielmehr gegen das Leben im Allgemeinen richtet. Während sich hier - genau wie im ersten Fall - ein Mensch bestimmten äußeren Umständen anpasst, erzeugt diese Art der Anpassung in ihm etwas Neues, erregt in ihm neue Triebe und neue Ängste. Jede Neurose ist ein Beispiel für eine solche dynamische Anpassung; sie ist ihrem Wesen nach eine Anpassung an äußere Bedingungen (besonders in der frühen Kindheit), die in sich selbst irrational und ganz allgemein dem Wachstum und der Entwicklung des Kindes abträglich sind. Es gibt auch sozio-psychologische Phänomene, die neurotischen Phänomenen ähnlich sind. (Wir werden noch darauf zurückkommen, weshalb man sie nicht als neurotisch bezeichnen sollte.) Hierzu gehören etwa starke destruktive und sadistische Impulse in sozialen Gruppen, die ein Beispiel für die dynamische Anpassung an gesellschaftliche Bedingungen geben, welche für die Entwicklung der Menschen [I-227] irrational und schädlich sind. Neben der Frage, um welche Art von Anpassung es sich jeweils handelt, sind noch weitere Fragen zu beantworten: Was ist es, das den Menschen zwingt, sich fast jeder nur vorstellbaren Lebensbedingung anzupassen, und welche Grenzen sind einer solchen Anpassungsfähigkeit gesetzt?

Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir uns zunächst damit befassen, dass es gewisse Bereiche in der menschlichen Natur gibt, die flexibler und anpassungsfähiger sind als andere. All jene Strebungen und Charakterzüge, durch die sich die Menschen voneinander unterscheiden, sind bis zu einem gewissen Grad elastisch und formbar: z.B. Liebe, Destruktivität, Sadismus, die Neigung, sich anderen zu unterwerfen, Machtstreben, Absonderung von anderen, das Verlangen nach Selbstverherrlichung, übertriebene Sparsamkeit, die Freude an sinnlichem Genuss und die Angst vor der Sinnlichkeit. Diese und viele andere Strebungen und Ängste, die im Menschen zu finden sind, entwickeln sich als Reaktion auf bestimmte Lebensbedingungen. Sind diese Ängste und Bestrebungen erst einmal zu einem Bestandteil des Charakters eines bestimmten Menschen geworden, verlieren sie ihre Flexibilität, verschwinden nicht mehr so leicht und verwandeln sich auch nicht mehr in andere Triebe. Aber sie sind doch in dem Sinn flexibel, als einzelne Menschen - insbesondere in ihrer Kindheit - entsprechend ihrer jeweiligen Lebensumstände das eine oder andere Bedürfnis entwickeln. Keines dieser Bedürfnisse ist so definitiv festgelegt und starr, als wenn es ein angeborener Bestandteil der menschlichen Natur wäre, der sich entwickelt und unter allen Umständen befriedigt werden muss.

Im Gegensatz zu diesen Bedürfnissen gibt es noch andere, bei denen es sich um unentbehrliche Teile der menschlichen Natur handelt und die unbedingt befriedigt werden müssen, nämlich jene Bedürfnisse, die in der physiologischen Organisation des Menschen wurzeln, wie etwa Hunger, Durst, Schlafbedürfnis und dergleichen. Bei jedem dieser Bedürfnisse gibt es eine bestimmte Schwelle, jenseits derer eine fehlende Befriedigung unerträglich ist. Wird sie überschritten, so gewinnt das Bedürfnis nach Befriedigung die Qualität einer unwiderstehlichen Strebung. Alle diese physiologisch bedingten Bedürfnisse lassen sich in den Begriff des Bedürfnisses nach Selbsterhaltung zusammenfassen. Dieses Bedürfnis nach Selbsterhaltung ist der Teil der menschlichen Natur, der unter allen Umständen befriedigt werden muss, und stellt daher das primäre Motiv menschlichen Verhaltens dar.

Auf eine einfache Formel gebracht heißt das: Der Mensch muss essen, trinken, schlafen, sich gegen Feinde schützen usw. Um all das tun zu können, muss er arbeiten und produzieren. „Arbeit“ ist jedoch nichts Allgemeines oder Abstraktes. Bei der Arbeit handelt es sich stets um konkrete Arbeit, das heißt um eine spezifische Art der Arbeit in einem spezifischen Wirtschaftssystem. Jemand kann als Sklave in einem Feudalsystem, als Bauer in einem indianischen Pueblo, als selbständiger Geschäftsmann in einer kapitalistischen Gesellschaft, als Verkäuferin in einem modernen Warenhaus oder als Arbeiter am Fließband einer großen Fabrik arbeiten. Diese verschiedenen Arten der Arbeit erfordern völlig unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale und führen zu unterschiedlichen Arten der Bezogenheit zu anderen. Wenn ein Mensch geboren wird, ist der Schauplatz seines Lebens bereits festgelegt. Er muss essen und trinken, und deshalb muss er arbeiten; er muss also unter den spezifischen [I-228] Bedingungen und auf eben die Art arbeiten, die ihm durch die Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde, vorgeschrieben ist. Beide Faktoren, sein Bedürfnis zu leben und das Gesellschaftssystem, kann er als Individuum prinzipiell nicht ändern, und es sind diese Faktoren, die die Entwicklung jener anderen, flexibleren Charakterzüge bestimmen. So wird die Lebensweise, wie sie für den Einzelnen durch die Besonderheit eines Wirtschaftssystems gegeben ist, zu dem Faktor, der primär seine gesamte Charakterstruktur bestimmt, weil der gebieterische Selbsterhaltungstrieb ihn zwingt, die Bedingungen, unter denen er leben muss, zu akzeptieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass er nicht zusammen mit anderen versuchen könnte, gewisse ökonomische und politische Veränderungen herbeizuführen. Aber primär wird seine Persönlichkeit durch die besondere Lebensweise bestimmt, mit der er schon als Kind durch das Medium seiner Familie konfrontiert wurde und die alle Merkmale aufweist, die für eine bestimmte Gesellschaft oder Klasse typisch sind.[7] Die physiologisch bedingten Bedürfnisse sind nicht der einzige gebieterische Bestandteil der menschlichen Natur. Sie hat noch einen anderen ebenso zwingenden Aspekt, der nicht in körperlichen Prozessen wurzelt, sondern der im Wesen der menschlichen Lebensweise und Lebenspraxis begründet liegt: das Bedürfnis, auf die Welt außerhalb seiner selbst bezogen zu sein, und das Bedürfnis, Einsamkeit zu vermeiden. Wenn man sich völlig allein und isoliert fühlt, so führt das zur seelischen Desintegration, genau wie das Fehlen von Nahrung zum Tode führt. Diese Bezogenheit auf andere ist nicht dasselbe wie körperlicher Kontakt. Ein Mensch kann in physischer Beziehung viele Jahre lang für sich allein leben und trotzdem mit Ideen, Werten oder wenigstens mit gesellschaftlichen Verhaltensmustern verbunden sein, die ihm ein Gefühl der Gemeinsamkeit geben, das Gefühl „dazu zu gehören“. Andererseits kann man unter Menschen leben und trotzdem von einem Gefühl unbeschreiblicher Vereinsamung überwältigt werden, das - wenn es eine gewisse Grenze überschreitet - zu einer Geisteskrankheit mit schizophrener Symptomatik führt. Diese fehlende Beziehung zu Werten, Symbolen oder bestimmten Verhaltensmustern können wir als „seelische Vereinsamung“ bezeichnen. Diese ist ebenso unerträglich wie die körperliche Vereinsamung, oder - besser gesagt - die körperliche Vereinsamung wird erst unerträglich, wenn die seelische Vereinsamung hinzukommt. Die geistige Bezogenheit auf die Welt kann viele Formen annehmen. Der Mönch, der allein in seiner Zelle lebt, aber an Gott glaubt, und der politische Gefangene, der in Isolierhaft gehalten wird, sich aber mit seinen Mitkämpfern eins fühlt, sind seelisch nicht allein.

Auch der englische Gentleman, der [I-229] noch in der fremdesten Umgebung seinen Smoking trägt, ist es nicht, genauso wenig wie der Kleinbürger, der zwar von seinen Mitbürgern völlig isoliert lebt, sich aber mit seinem Volk oder dessen Symbolen eins fühlt. Die Bezogenheit auf die Welt kann von hohen Idealen getragen oder trivial sein, aber selbst wenn sie noch so trivialer Art ist, ist sie dennoch dem Alleinsein noch unendlich vorzuziehen. Die Religion und der Nationalismus oder auch irgendeine Sitte oder ein noch so absurder und menschenunwürdiger Glaube sind - wenn sie den Einzelnen nur mit anderen verbinden - eine Zuflucht vor dem, was der Mensch am meisten fürchtet: die Isolation.

Das zwingende Bedürfnis, die seelische Isolierung zu vermeiden, hat Balzac in den Leiden eines Erfinders besonders eindrucksvoll geschildert:

Aber merke dir eines und präge es deinem noch so formbaren Geist ein: Der Mensch hat eine panische Angst vor dem Alleinsein. Und von allen Arten des Alleinseins ist das seelische Alleinsein die schrecklichste. Die ersten Einsiedler lebten mit Gott, sie bewohnten die am dichtesten bevölkerte Welt, die Welt der Geister. Der erste Gedanke des Menschen, sei er ein Aussätziger oder ein Gefangener, ein Sünder oder ein Krüppel, ist stets der, einen Schicksalsgefährten zu finden. Um diesen Drang, der das Leben selber ist, zu stillen, nimmt er seine ganze Energie, seine ganze Kraft zusammen. Hätte wohl Satan jemals Gefährten gefunden ohne diesen übermächtigen Drang? Man könnte über dieses Thema ein ganzes Epos schreiben, das der Prolog zum Verlorenen Paradies wäre, weil das Verlorene Paradies nichts anderes ist als die Apologie der Rebellion. (H. de Balzac, 1965.)

Der Versuch, die Frage zu beantworten, weshalb die Angst vor der Isolation im Menschen so mächtig ist, würde uns vom Hauptziel dieses Buches zu weit abführen. Doch möchte ich immerhin andeuten, in welcher Richtung meiner Ansicht nach die Antwort zu suchen ist, um beim Lesen nicht den Eindruck zu erwecken, als ob an dem Bedürfnis, sich mit anderen eins zu fühlen, etwas Geheimnisvolles sei.

Eine wichtige Rolle spielt die Tatsache, dass der Mensch nicht leben kann, ohne irgendwie mit anderen zusammenzuarbeiten. In jeder nur vorstellbaren Kultur muss der Mensch, wenn er am Leben bleiben will, mit anderen zusammenarbeiten, entweder indem er sich mit ihnen gemeinsam gegen Feinde oder Naturgewalten verteidigt, oder um arbeiten und produzieren zu können. Selbst Robinson Crusoe hatte seinen Gefährten Freitag; ohne diesen wäre er vermutlich nicht nur wahnsinnig geworden, sondern tatsächlich umgekommen. Jeder erlebt die Hilfsbedürftigkeit besonders drastisch als Kind. Da das Kind tatsächlich noch nicht in der Lage ist, sich hinsichtlich der lebenserhaltenden Funktionen selbst zu versorgen, ist die Kommunikation mit anderen eine Frage auf Leben und Tod. Die Möglichkeit, allein gelassen zu werden, ist deshalb zweifellos die schwerste Bedrohung im Leben.

Aber noch etwas anderes macht das Bedürfnis „dazuzugehören“ so überwältigend stark, nämlich die Tatsache, dass der Mensch sich seiner selbst bewusst ist, dass er die Fähigkeit zu denken hat, wodurch er sich seiner selbst als einer individuellen Größe bewusst wird, von der Natur und von anderen Menschen unterschieden. Obwohl der Grad dieses Bewusstseins variiert, wie wir im nächsten Kapitel zeigen werden, sieht sich der Mensch hierdurch doch mit einem Problem konfrontiert, das seinem Wesen nach ein menschliches Problem ist: Dadurch, dass er sich als von der Natur und den [I-230] anderen Menschen unterschieden erfährt, und dadurch, dass er sich - wenn auch nur vage - bewusst ist, dass es Tod, Krankheit und Alter gibt, empfindet er unvermeidlich seine Bedeutungslosigkeit und Kleinheit im Vergleich zum All und zu allen anderen, die nicht „er“ sind. Wenn er nicht irgendwo dazugehörte, wenn sein Leben keinen Sinn und keine Richtung hätte, würde er sich wie ein Staubkörnchen vorkommen und von seiner individuellen Bedeutungslosigkeit überwältigt werden. Er wäre nicht fähig, zu einem anderen System in Beziehung zu treten, das seinem Leben Sinn und Richtung gibt. Er wäre voller Zweifel, und dieses Zweifeln würde schließlich seine Fähigkeit zu handeln - d.h. zu leben - lähmen.

Bevor wir jetzt weitergehen, möchte ich noch einmal zusammenfassen, was bisher über unsere allgemeine Methode gesagt wurde, die Probleme der Sozialpsychologie anzugehen. Die menschliche Natur ist weder eine biologisch von vornherein festgelegte, angeborene Summe von Trieben, noch ist sie der leblose Schatten kultureller Muster, dem sie sich reibungslos anpasst. Sie ist vielmehr das Produkt der menschlichen Entwicklung, doch besitzt sie auch ihre eigenen Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten. Es gibt in der menschlichen Natur gewisse Faktoren, die festgelegt und unveränderlich sind: die Notwendigkeit, die physiologisch bedingten Triebe zu befriedigen, und die Notwendigkeit, Isolierung und seelische Vereinsamung zu vermeiden. Wir sahen, dass der Einzelne die Lebensweise akzeptieren muss, die im besonderen Produktions- und Verteilungssystem seiner Gesellschaft verwurzelt ist. Im Prozess der dynamischen Anpassung an die Kultur entwickeln sich eine Anzahl mächtiger Triebe, welche die Handlungen und Gefühle des Einzelnen motivieren. Der Einzelne kann sich dieser Triebe bewusst sein oder auch nicht. Sie sind in jedem Fall mächtig in ihm und verlangen nach Befriedigung, wenn sie sich einmal entwickelt haben. Sie werden zu machtvollen Kräften, die ihrerseits den gesellschaftlichen Prozess mitgestalten. Wie die wirtschaftlichen, die psychologischen und ideologischen Faktoren sich wechselseitig beeinflussen und welche weiteren Schlüsse aus dieser Interaktion zu ziehen sind, wird Gegenstand unserer Analyse der Reformation und des Faschismus in einem späteren Kapitel sein. (Im Anhang werde ich die allgemeinen Aspekte der Wechselbeziehung zwischen psychologischen und sozio-ökonomischen Kräften eingehender erläutern.)

Im Mittelpunkt dieser Erörterung wird stets das Hauptthema dieses Buches stehen: die Freiheit. Der Mensch hat - je mehr er aus seinem ursprünglichen Einssein mit seinen Mitmenschen und der Natur heraustritt und „Individuum“ wird, keine andere Wahl, als sich entweder mit der Welt in spontaner Liebe und produktiver Arbeit zu vereinen oder aber auf irgendeine Weise dadurch Sicherheit zu finden, dass er Bindungen an die Welt eingeht, die seine Freiheit und die Integrität seines individuellen Selbst zerstören.[8]

2 Das Auftauchen des Individuums und das Doppelgesicht der Freiheit

Bevor wir uns nun unserem Hauptthema zuwenden - der Frage, was die Freiheit dem heutigen Menschen bedeutet und weshalb und auf welche Weise er ihr zu entrinnen trachtet - müssen wir zunächst noch eine bestimmte Auffassung erörtern, die uns vielleicht nicht eben aktuell vorkommen mag, ohne die wir jedoch nicht verstehen können, was Freiheit in der modernen Gesellschaft bedeutet. Ich meine die Auffassung, dass Freiheit ein charakteristisches Merkmal der menschlichen Existenz ist und dass ihre Bedeutung sich ändert, je nachdem in welchem Grad der Mensch sich seiner selbst als einem unabhängigen und separaten Wesen bewusst ist und sich als solches begreift.

Die Geschichte des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens begann damit, dass er aus einem Zustand des Einsseins mit der Natur heraustrat und sich seiner selbst als einer von der ihn umgebenden Natur und seinen Mitmenschen abgesonderten Größe bewusst wurde. Allerdings blieb dieses Bewusstsein während langer Geschichtsperioden sehr vage und unbestimmt. Noch immer blieb der Einzelne an die Welt der Natur und an die Gesellschaft, aus der er hervorgegangen war, gebunden, und wenn er sich auch bis zu einem gewissen Grad bewusst war, eine separate Größe zu sein, so fühlte er sich doch gleichzeitig als Teil der ihn umgebenden Welt. Der Prozess der immer stärkeren Loslösung des Individuums von seinen ursprünglichen Bindungen, den wir als „Individuation“ bezeichnen können, scheint in den Jahrhunderten zwischen der Reformation und der Gegenwart seinen Höhepunkt erreicht zu haben.

In der Lebensgeschichte des Einzelnen begegnen wir dem gleichen Prozess. Ein Kind wird geboren, wenn es mit seiner Mutter keine Einheit mehr bildet und zu einer von ihr getrennten biologischen Größe wird. Obwohl diese biologische Trennung den Anfang der individuellen menschlichen Existenz darstellt, bleibt das Kind doch, was seine Lebensfunktionen anbetrifft, noch ziemlich lange eine Einheit mit seiner Mutter.

In dem Maße wie der Einzelne - bildlich gesprochen - die Nabelschnur, die ihn mit der Außenwelt verbindet, nicht völlig durchtrennt hat, ist er noch nicht frei; andererseits verleihen ihm diese Bindungen Sicherheit und Verwurzelung. Ich möchte die [I-232] Bindungen, die bestehen, bevor der Prozess der Individuation zur völligen Loslösung des Individuums geführt hat, als „primäre Bindungen“ bezeichnen. Sie sind organisch in dem Sinne, als sie ein Bestandteil der normalen menschlichen Entwicklung sind; sie implizieren einen Mangel an Individualität, aber sie verleihen dem Betreffenden auch Sicherheit und ermöglichen ihm eine Orientierung. Es sind jene Bindungen, die das Kind mit der Mutter, den Angehörigen eines primitiven Stammes mit seiner Sippe und der Natur oder den mittelalterlichen Menschen mit der Kirche und seinem sozialen Stand verbinden. Ist einmal das Stadium der völligen Individuation erreicht und hat sich der Einzelne von diesen primären Bindungen gelöst, so sieht er sich vor eine neue Aufgabe gestellt: Er muss sich jetzt in der Welt orientieren, neu Wurzeln finden und zu einer neuen Sicherheit auf andere Weise gelangen, als dies für seine vorindividuelle Existenz charakteristisch war. Freiheit hat demnach jetzt eine andere Bedeutung als vor dieser Entwicklungsstufe. Wir müssen hier kurz innehalten, um diese Begriffe klarzustellen, indem wir sie anhand der Entwicklung der Einzelmenschen und der Gesellschaft konkreter erörtern.

Der verhältnismäßig plötzliche Übergang vom Fötus zur menschlichen Existenz und das Durchschneiden der Nabelschnur ist ein Zeichen dafür, dass das Kind vom Mutterleib unabhängig geworden ist. Aber diese Unabhängigkeit ist nur in dem Sinne wirklich eingetreten, als beide Körper jetzt voneinander getrennt sind. In Bezug auf seine Körperfunktionen bleibt das Kleinkind noch ein Teil der Mutter. Es wird von ihr gefüttert, getragen und sein Leben hängt von ihrer Fürsorge ab. Langsam nur gelangt das Kind dazu, die Mutter und Gegenstände als von ihm getrennte Größen zu erkennen. Bei diesem Prozess spielt die neurologische und die allgemeine körperliche Entwicklung des Kindes eine wichtige Rolle, dass es lernt, Gegenstände - körperlich und geistig - zu erfassen und mit ihnen umzugehen. Durch die eigene Aktivität lernt es die Welt außerhalb seiner selbst kennen. Der Individuationsprozess wird durch die Erziehung gefördert. Dieser Prozess bringt eine Reihe von Versagungen und Verboten mit sich, wodurch die Rolle der Mutter sich verändert. Sie wird zu einer Person, die nun Dinge vom Kind verlangt, welche seinen Wünschen entgegenstehen, und erscheint ihm jetzt oft als eine feindselige und gefährliche Person.[9] Dieser Antagonismus, der einen Teil des Erziehungsprozesses - wenn auch keineswegs die ganze Erziehung - ausmacht, spielt eine wichtige Rolle dabei, dass das Kind lernt, schärfer zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ zu unterscheiden.

Nach der Geburt vergehen einige Monate, bevor das Kind andere Personen auch nur als solche erkennt und fähig ist, mit einem Lächeln auf sie zu reagieren, und es dauert Jahre, bis es gelernt hat, sich nicht mehr mit dem All zu verwechseln. (Vgl. J. Piaget, 1932, S. 407; sowie H. S. Sullivan, 1940, S. 10 ff.) Bis dahin zeigt es die besondere Art von Ich-Bezogenheit, die für das Kind typisch ist, eine Ich-Bezogenheit, die eine zärtliche Liebe zu anderen und ein Interesse an ihnen nicht ausschließt, wobei es die [I-233] „anderen“ aber noch nicht als tatsächlich von ihm getrennt erlebt. Aus dem gleichen Grund bedeutet es auch etwas anderes, wenn das Kind sich in seinen ersten Lebensjahren an eine Autorität anlehnt, als wenn jemand das später tut. Die Eltern - oder wer immer sonst diese Autorität sein mag - werden vom Kind noch nicht als eine grundsätzlich von ihm getrennte Größe angesehen; sie sind Teil seiner Welt, und diese Welt ist noch ein Teil des Kindes; die Unterwerfung unter sie besitzt deshalb eine andere Qualität als jene Art der Unterwerfung, um die es sich dann handelt, wenn zwei Menschen wirklich zwei voneinander getrennte Persönlichkeiten sind.

Eine bemerkenswert scharfsinnige Schilderung, wie ein zehnjähriges Mädchen sich plötzlich der eigenen Individualität bewusst wird, gibt Richard Hughes in dem Roman A High Wind in Jamaica:

Und dann ereignete sich etwas, was für Emily sehr wichtig war. Sie merkte plötzlich, wer sie war. Es ist schwer zu sagen, weshalb sie es nicht schon fünf Jahre früher oder auch erst fünf Jahre später merkte; und es bleibt auch unklar, weshalb es gerade an diesem Nachmittag dazu kam. Sie hatte „Haus im Winkel“ gespielt, direkt am Bug hinterm Ankerspill (an das sie einen gespaltenen Haken als Türklopfer gehängt hatte); dann war sie des Spiels überdrüssig geworden und war ziemlich ziellos nach achtern geschlendert, wobei sie träumerisch über Bienen und die Feenkönigin nachdachte - als ihr plötzlich durch den Sinn fuhr, dass sie sie war. Sie blieb wie angewurzelt stehen und fing an, sich über alles Rechenschaft zu geben, was sie von sich sehen konnte. Viel war das gerade nicht, nur eine verkürzte Ansicht ihres Kleides und ihre Hände, als sie sie hochhielt, um sie zu betrachten. Aber das genügte, um ihr eine Vorstellung von ihrem kleinen Körper zu geben, von dem sie plötzlich merkte, dass es ihrer war.

Sie lachte ein bisschen spöttisch und dachte ungefähr Folgendes: „Stell dir bloß mal vor, dass von allen Leuten ausgerechnet dir so etwas passiert! - Jetzt kommst du da nicht mehr raus, wenigstens sehr lange nicht. Du musst es erst hinter dich bringen, dass du ein Kind bist und größer wirst und alt wirst, bevor du aus dem verrückten Kram wieder rauskommst!“

Fest entschlossen, sich auf keinen Fall bei diesem höchst wichtigen Ereignis stören zu lassen, kletterte sie an der Strickleiter zum Mastkorb, ihrem Lieblingsplatz, hoch. Aber jedesmal wenn sie bei dieser einfachen Tätigkeit einen Arm oder ein Bein bewegte, war sie immer wieder verwundert darüber, dass sie ihr so bereitwillig gehorchten. Natürlich sagte ihr ihr Gedächtnis, dass sie das früher auch getan hatten, aber sie hatte sich niemals klargemacht, wie erstaunlich das war. Als sie oben auf ihrem Sitz saß, fing sie an, die Haut ihrer Hände mit größter Sorgfalt zu untersuchen, denn sie gehörten ja ihr. Sie schlüpfte mit einer Schulter aus ihrem Kleid und guckte an sich herunter, um festzustellen, ob sie wirklich unter ihren Kleidern weiterging, und hob dann die Achsel, bis sie damit ihre Wange berührte. Die Berührung ihres Gesichts mit der warmen nackten Schulter ließ sie auf angenehme Weise erschauern, so als ob ein lieber Freund sie gestreichelt hätte. Aber sie hätte nicht sagen können, ob dieses Gefühl von ihrer Wange oder ihrer Schulter ausging - wer da gestreichelt hatte und wer die Gestreichelte war.

Nachdem sie endlich von der erstaunlichen Tatsache, jetzt Emily Bas-Thornton zu sein, ganz überzeugt war (warum sie das „jetzt“ einschob, hätte sie nicht sagen können [I-234] - denn ganz bestimmt dachte sie nicht an so einen Blödsinn wie Seelenwanderung und dass sie vielleicht früher jemand anders gewesen wäre), fing sie an, ernsthaft über die Folgen dieser Erkenntnis nachzudenken“ (R. Hughes, 1956).

Je mehr das Kind heranwächst und sich von den primären Bindungen löst, umso mehr entwickelt sich bei ihm ein Suchen nach Freiheit und Unabhängigkeit. Aber wir können das Schicksal dieses Suchens nur ganz verstehen, wenn wir uns die Dialektik im Prozess der zunehmenden Individuation klarmachen. Dieser Prozess hat zwei Aspekte. Der eine besteht darin, dass das Kind körperlich, seelisch und geistig kräftiger wird. In jedem dieser Bereiche nehmen Intensität und Aktivität zu. Gleichzeitig werden die Sphären immer mehr integriert. Es entwickelt sich eine organisierte Struktur, die vom Willen und von der Vernunft des Betreffenden gelenkt wird. Wenn wir dieses organisierte und integrierte Ganze der Persönlichkeit als das Selbst bezeichnen, so können wir auch sagen, dass die eine Seite des Wachstumsprozesses der Individuation das Wachstum der Stärke des Selbst ist. Dem Wachstum der Individuation und des Selbst sind Grenzen gesetzt, teils durch individuelle Bedingungen, aber im Wesentlichen durch die gesellschaftlichen Umstände. Denn wenn auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen in dieser Hinsicht groß erscheinen mögen, so kennzeichnet doch jede Gesellschaft ein gewisses Individuationsniveau, über das der normale Einzelne nicht hinausgelangen kann. Der andere Aspekt des Individuationsprozesses ist die zunehmende Vereinsamung. Die primären Bindungen bieten Sicherheit und eine ursprüngliche Einheit mit der Welt außerhalb. Je mehr das Kind aus dieser Welt herauswächst, desto mehr merkt es, dass es allein und eine von allen anderen getrennte Größe ist. Diese Lostrennung von einer Welt, die im Vergleich zur eigenen individuellen Existenz überwältigend stark und mächtig, oft auch bedrohlich und gefährlich ist, erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht und Angst. Solange man ein integrierter Teil jener Welt war und sich der Möglichkeiten und der Verantwortlichkeit individuellen Tuns noch nicht bewusst war, brauchte man auch keine Angst davor zu haben. Ist man erst zu einem Individuum geworden, so ist man allein und steht der Welt mit allen ihren gefährlichen und überwältigenden Aspekten gegenüber.

Es kommen Impulse auf, die eigene Individualität aufzugeben und das Gefühl der Einsamkeit und Ohnmacht dadurch zu überwinden, dass man völlig in der Außenwelt aufgeht. Diese Impulse und die neuen Bindungen, die sich daraus ergeben, sind jedoch mit den primären, im Wachstumsprozess gelösten Bindungen nicht identisch. Genau wie ein Kind physisch niemals in den Mutterleib zurückkehren kann, so kann es auch psychisch den Individuationsprozess niemals wieder rückgängig machen. Alle Versuche, es doch zu tun, nehmen daher zwangsläufig den Charakter einer Unterwerfung an, bei dem der grundsätzliche Widerspruch zwischen der Autorität und dem Kind, das sich unterwirft, nie beseitigt wird. Bewusst mag das Kind sich sicher und zufrieden fühlen, aber unbewusst merkt es, dass es dies mit dem Preis der Stärke und Integrität seines Selbst bezahlen muss. So hat die Unterwerfung genau das Gegenteil dessen zur Folge, was damit beabsichtigt war: Sie vergrößert die Unsicherheit des Kindes und erzeugt gleichzeitig Feindseligkeit und Aufbegehren, was umso Angst erregender ist, als es sich eben gegen die Personen richtet, von denen das Kind auch weiterhin - oder wieder erneut - abhängig ist. [I-235]

Aber die Unterwerfung ist nicht der einzige Weg, der Einsamkeit und der Angst zu entgehen. Der andere Weg - der einzige, der produktiv ist und nicht mit einem unlösbaren Konflikt endet - besteht darin, dass man mit seinen Mitmenschen und der Natur spontan in Beziehung tritt, und zwar in eine Beziehung, welche den Einzelnen mit der Welt verbindet, ohne seine Individualität auszulöschen. Diese Art der Beziehung - deren beste Äußerungsformen Liebe und produktive Arbeit sind - wurzelt in der Integration und Stärke der Gesamtpersönlichkeit, weshalb ihr dieselben Grenzen gesetzt sind wie dem Wachstum des Selbst.

Wir werden weiter unten noch ausführlicher auf das Problem der Unterwerfung und des spontanen Tätigseins als zwei möglichen Resultaten der zunehmenden Individuation eingehen; hier möchte ich nur auf das allgemeine Prinzip, den dialektischen Prozess, hinweisen, der aus der wachsenden Individuation und Freiheit des Individuums resultiert. Das Kind kann sich freier entfalten und sein individuelles Selbst zum Ausdruck bringen, ohne dass es dabei durch jene hemmenden Bindungen behindert wird. Aber das Kind wird auch stärker von jener Welt frei, die ihm Sicherheit und Geborgenheit gab. Der Individuationsprozess ist ein Prozess der wachsenden Stärke und Integration der Persönlichkeit, bei dem die ursprüngliche Identität mit anderen verlorengeht und bei dem das Kind stärker von ihnen abgesondert wird. Diese fortschreitende Loslösung kann zur Isolierung führen, die trostlos ist und intensive Angst und Unsicherheit hervorbringt. Sie kann aber auch zu einem neuartigen Gefühl von Nähe und Solidarität mit anderen führen, wenn es dem Kind gelingt, die innere Stärke und Produktivität zu entwickeln, welche die Vorbedingung für diese neue Art der Bezogenheit zur Welt ist.

Wenn jeder Schritt, der zur Loslösung und zur Individuation führt, mit einem entsprechenden Wachstum des Selbst Hand in Hand ginge, so würde dies zu einer harmonischen Entwicklung des Kindes führen. Leider ist das aber nicht der Fall. Während der Individuationsprozess automatisch vor sich geht, wird das Wachstum des Selbst aus einer Reihe von individuellen und gesellschaftlichen Gründen behindert. Die Kluft zwischen diesen beiden Tendenzen führt zu einem unerträglichen Gefühl der Isolierung und Ohnmacht; diese ihrerseits lösen psychische Mechanismen aus, auf die wir später unter dem Begriff der „Fluchtmechanismen“ näher eingehen werden.

Auch phylogenetisch kann man die Menschheitsgeschichte als einen Prozess wachsender Individuation und Freiheit verstehen. Der Mensch taucht aus seinem vormenschlichen Zustand empor, indem er die ersten Schritte unternimmt, von seinen zwangsmäßigen Instinkten freizukommen. Wenn wir unter Instinkt ein spezifisches Handlungsmuster verstehen, das durch eine ererbte neurologische Struktur bedingt ist, so kann man im Tierreich eine deutlich ausgeprägte Entwicklungstendenz beobachten. (Diesen Begriff des Instinkts darf man jedoch nicht mit den physiologisch bedingten Trieben - wie Hunger, Durst etc. - verwechseln, bei denen die Art der Befriedigung nicht festgelegt und durch Vererbung determiniert ist.) Je tiefer ein Tier auf der Entwicklungsleiter steht, umso mehr wird es in seinem gesamten Verhalten von instinktiven und reflexbedingten Mechanismen beherrscht. Die berühmten sozialen Organisationen gewisser Insektenarten sind völlig instinktbedingt. Andererseits ist die Flexibilität der Handlungsmuster umso größer und die strukturierte [I-236] Anpassung bei Geburt umso geringer, je höher ein Tier auf der Entwicklungsleiter steht. Diese Entwicklung erreicht beim Menschen ihren Höhepunkt. Er ist bei seiner Geburt das hilfloseste aller Lebewesen. Seine Anpassung an die Natur beruht im Wesentlichen auf einem Lernprozess und nicht auf instinktbedingter Determination. „Der Instinkt (...) ist eine ständig geringer werdende, wenn nicht ganz verschwindende Kategorie bei den höheren Formen der Lebewesen, besonders beim Menschen“ (L. L. Bernard, 1924, S. 509).

Die menschliche Existenz nimmt in dem Augenblick ihren Anfang, wo die Instinktbedingtheit des Handelns unter einen bestimmten Punkt abgesunken ist, wo die Anpassung an die Natur nicht mehr zwangsmäßig erfolgt, wo das Verhalten nicht länger durch erbmäßig gegebene Mechanismen festgelegt ist. Mit anderen Worten: Menschliche Existenz und Freiheit sind von Anfang an nicht zu trennen. Freiheit ist hier nicht in ihrem positiven Sinne als „Freiheit zu etwas“, sondern in ihrem negativen Sinne als „Freiheit von etwas“ zu verstehen, nämlich im Sinn der Determination des Verhaltens durch Instinkte.

Freiheit im eben besprochenen Sinne ist ein zwiespältiges Geschenk. Der Mensch wird ohne die für ein zweckmäßiges Handeln geeignete Ausrüstung, wie sie das Tier besitzt, geboren. (Vgl. R. Linton, 1936, Kap. IV.) Er ist länger als jedes Tier von seinen Eltern abhängig, und seine Reaktionen auf die Umgebung sind langsamer und weniger wirksam, als es bei automatisch ablaufenden instinktiven Handlungen der Fall ist. Er macht alle Gefahren und Ängste durch, die mit diesem Fehlen einer Instinktausrüstung verbunden sind. Aber gerade diese Hilflosigkeit des Menschen ist der Ursprung der menschlichen Entwicklung. Die biologische Schwäche des Menschen ist die Voraussetzung der menschlichen Kultur.

Vom Anfang seiner Existenz an ist der Mensch vor die Wahl gestellt zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten. Beim Tier finden wir eine ununterbrochene Kette von Reaktionen, die von einem bestimmten Reiz - etwa dem Hunger - ausgeht und zu einem mehr oder weniger genau festgelegten Handlungsablauf führt, der die durch den Reiz hervorgerufene Spannung abbaut. Beim Menschen wird diese Kette unterbrochen. Der Reiz ist vorhanden, aber die Art seiner Befriedigung bleibt „offen“, d.h. er muss zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Verhaltens seine Wahl treffen. An Stelle eines im Voraus determinierten instinkthaften Verhaltens muss der Mensch im Geist die verschiedenen möglichen Verhaltensweisen gegeneinander abwägen. Er beginnt zu denken. Er verändert seine Rolle der Natur gegenüber aus einer rein passiven Anpassung in eine aktive: Er erzeugt etwas. Er erfindet Werkzeuge, und indem er so die Natur meistert, sondert er sich immer mehr von ihr ab. Er wird sich vage seiner selbst - oder besser gesagt, seiner Gruppe - bewusst, als Größe, die nicht mit der Natur identisch ist. Es dämmert ihm, dass er das tragische Schicksal hat, ein Teil der Natur zu sein und sie trotzdem zu transzendieren. Er wird sich bewusst, dass sein Schicksal schließlich der Tod sein wird, auch wenn er dies mit vielfältigen Phantasien zu verleugnen sucht.

Eine besonders aufschlussreiche Darstellung der grundsätzlichen Beziehung, die zwischen dem Menschen und der Freiheit besteht, finden wir im biblischen Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies. [I-237]

Dieser Mythos setzt den Beginn der Menschheitsgeschichte mit einem Akt der Wahl gleich, doch betont er höchst nachdrücklich die Sündhaftigkeit dieses ersten Aktes der Freiheit und das sich daraus ergebende Leiden. Mann und Frau leben im Garten Eden in vollkommener Harmonie miteinander und mit der Natur. Es herrscht Friede, und es besteht keine Notwendigkeit zu arbeiten. Auch gibt es keine Entscheidungen zu fällen, keine Freiheit und auch kein Denken. Dem Menschen ist es verboten, vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Er missachtet Gottes Gebot und zerstört dadurch den Zustand der Harmonie mit der Natur, von der er zunächst ein Teil ist und die er nicht transzendiert. Vom Standpunkt der Kirche aus, welche die Autorität repräsentiert, ist diese Handlung ihrem Wesen nach eine Sünde. Vom Standpunkt des Menschen aus bedeutet sie dagegen den Anfang der menschlichen Freiheit. Gegen Gottes Gebot handeln, heißt sich vom Zwang befreien, aus der unbewussten Existenz des vormenschlichen Lebens zum Niveau des Menschen emportauchen. Gegen das Gebot der Autorität handeln, eine Sünde begehen, ist in seinem positiven menschlichen Aspekt der erste Akt der Freiheit, d.h. die erste menschliche Tat. Im Mythos besteht die Sünde in ihrem formalen Aspekt darin, dass der Mensch gegen Gottes Gebot handelt; in materialer Hinsicht besteht sie im Essen vom Baume der Erkenntnis. Der Akt des Ungehorsams als ein Akt der Freiheit ist der Anfang der Vernunft. Der Mythos spricht auch noch von weiteren Konsequenzen dieses ersten Aktes der Freiheit. Die ursprüngliche Harmonie zwischen Mensch und Natur ist zerbrochen. Gott erklärt den Krieg zwischen Mann und Frau, den Krieg zwischen der Natur und dem Menschen. Der Mensch wird von der Natur abgesondert, er hat den ersten Schritt getan, dadurch menschlich zu werden, dass er ein „Individuum“ wird. Er hat die erste Tat der Freiheit vollbracht. Der Mythos betont, dass diese Tat Leiden zur Folge hat. Der Mensch, der die Natur transzendiert, der sich von ihr und einem anderen menschlichen Wesen entfremdet, findet sich nackt und schämt sich. Er ist allein und frei, aber machtlos und voller Angst. Die neugewonnene Freiheit erscheint ihm als Fluch. Er ist frei von der süßen Knechtschaft des Paradieses, aber er besitzt noch nicht die Freiheit zur Selbstbestimmung, seine Individualität zu realisieren.

„Freiheit von“ ist nicht das gleiche wie positive Freiheit, nämlich „Freiheit zu“. Das Auftauchen des Menschen aus der Natur ist ein sich lange hinziehender Prozess. Der Mensch bleibt großenteils an jene Welt gebunden, aus der er auftauchte; er bleibt ein Teil der Natur: von der Erde, auf der er lebt, von Sonne, Mond und Sternen, von Bäumen, Blumen und Tieren und von der Gruppe von Menschen, mit der er durch die Blutsbande verbunden ist. Die primitiven Religionen bezeugen dieses menschliche Gefühl des Einsseins mit der Natur. Die belebte und die unbelebte Natur sind Teil der Welt des Menschen, oder - wie man auch sagen könnte - er ist noch immer ein Teil der Welt der Natur.

Die primären Bindungen des Menschen blockieren seine volle Entfaltung. Sie stehen der Entwicklung seiner Vernunft und seinen kritischen Fähigkeiten im Wege; sie machen, dass er sich und die anderen nur durch das Medium seiner bzw. ihrer Zugehörigkeit zu einer Sippe, einer sozialen oder religiösen Gemeinschaft, und nicht als menschliches Wesen erlebt; mit anderen Worten: Sie blockieren seine Entwicklung [I-238] zu einem freien, über sich selbst bestimmenden, produktiven Individuum. Das ist der eine Aspekt, aber es gibt noch einen anderen. Diese Identität mit der Natur, der Sippe, der Religion gibt dem Einzelnen auch Sicherheit. Er gehört zu einem strukturierten Ganzen, er ist darin verwurzelt und hat darin seinen Platz, den ihm niemand streitig macht. Er kann durch Hunger oder Unterdrückung leiden, aber er leidet nicht an dem Allerschmerzlichsten - an völliger Einsamkeit und Zweifel.

Wir sehen, dass der Prozess wachsender menschlicher Freiheit den gleichen dialektischen Charakter besitzt, den wir beim Prozess des individuellen Wachstums beobachten konnten. Auf der einen Seite handelt es sich um einen Prozess der zunehmenden Stärke und Integration, der Meisterung der Natur und der zunehmenden Beherrschung der menschlichen Vernunft, der wachsenden Solidarität mit anderen Menschen. Zum anderen aber bedeutet diese wachsende Individuation auch zunehmende Isolierung, Unsicherheit und, hierdurch bedingt, zunehmenden Zweifel an der eigenen Rolle im Universum, am Sinn des eigenen Lebens und, durch das alles bedingt, ein wachsendes Gefühl der eigenen Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit als Individuum.

Wenn der Prozess der Entwicklung der Menschheit harmonisch verlaufen wäre, wenn er nach einem bestimmten Plan abgelaufen wäre, so wären beide Seiten der Entwicklung - die wachsende Stärke und die wachsende Individuation - genau gegeneinander abgewogen. So aber ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Konflikte und Kämpfe. Jeder Schritt in Richtung einer wachsenden Individuation hat die Menschheit mit neuen Unsicherheiten bedroht. Einmal gelöste primäre Bindungen können nicht mehr geflickt werden; in ein einmal verlassenes Paradies kann der Mensch nicht zurückkehren. Es gibt nur eine einzige produktive Lösung für die Beziehung des Menschen zur Welt: seine aktive Solidarität mit allen Mitmenschen und sein spontanes Tätigsein, Liebe und Arbeit, die ihn wieder mit der Welt einen, nicht durch primäre Bindungen, sondern als freies, unabhängiges Individuum.

Wenn jedoch die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, von denen der gesamte Prozess der menschlichen Individuation abhängt, keine Grundlage für die Verwirklichung der Individualität im oben beschriebenen Sinn bieten, während die Menschen gleichzeitig die Bindungen verloren haben, die ihnen Sicherheit boten, dann macht dieser leere Raum die Freiheit zu einer unerträglichen Last. Sie wird dann gleichbedeutend mit Zweifel, mit einem Leben ohne Sinn und Richtung. Es entstehen dann machtvolle Tendenzen, vor dieser Art von Freiheit in die Unterwerfung oder in irgendeine Beziehung zu anderen Menschen und der Welt zu fliehen, die eine Milderung der Unsicherheit verspricht, selbst wenn sie den Menschen seiner Freiheit beraubt.

Die europäische und die amerikanische Geschichte seit dem Ende des Mittelalters ist die Geschichte des vollen Auftauchens des Individuums. Es handelt sich um einen Prozess, der in Italien während der Renaissance begonnen hat und der erst jetzt seinen Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Mehr als vierhundert Jahre waren nötig, um die mittelalterliche Welt niederzureißen und die Menschen von den offenkundigsten Beschränkungen ihrer Freiheit zu erlösen. Aber während das Individuum sich in vieler Hinsicht geistig und emotional weiterentwickelt hat und in einem bisher [I-239] unerhörten Rahmen kulturelle Leistungen vollbringt, ist die Kluft zwischen der „Freiheit von“ und der „Freiheit zu“ ebenfalls noch größer geworden. Dieses Missverhältnis zwischen Freiheit von jeder Bindung und dem Mangel an Möglichkeiten zu einer positiven Verwirklichung der Freiheit und Individualität hat in Europa zu einer panikartigen Flucht vor der Freiheit in neue Bindungen oder zum mindesten in eine völlige Gleichgültigkeit geführt.

Wir wollen unsere Untersuchung der Bedeutung der Freiheit für den modernen Menschen mit einer Analyse der kulturellen Szene in Europa während des Spätmittelalters und dem Anfang der Neuzeit beginnen. In dieser Periode machte die wirtschaftliche Grundlage der Gesellschaft des Westens radikale Veränderungen durch, die von einer ebenso radikalen Veränderung der Persönlichkeitsstruktur der Menschen begleitet waren. Damals entwickelte sich ein neuer Freiheitsbegriff, der seinen bedeutsamsten ideologischen Ausdruck in den neuen religiösen Lehren der Reformation fand. Eine jede Deutung der Freiheit in der modernen Gesellschaft muss von der Epoche ausgehen, in der die Grundlagen der modernen Kultur gelegt wurden, denn dieses Stadium, das den heutigen Menschen geformt hat, gestattet uns deutlicher als jede spätere Periode das Doppelgesicht der Freiheit zu erkennen, das sich in der gesamten modernen Kultur bemerkbar machen sollte: die wachsende Unabhängigkeit des Menschen von äußeren Autoritäten einerseits und andererseits seine zunehmende Isolierung und das daraus entspringende Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Einzelnen. Es verbessert unser Verständnis der neuen Elemente in der Persönlichkeitsstruktur des Menschen, wenn wir deren Ursprüngen auf den Grund gehen, denn wenn man die wesentlichen Merkmale des Kapitalismus und des Individualismus an ihren Wurzeln untersucht, kann man sie einem Wirtschaftssystem und einem Persönlichkeitstyp gegenüberstellen, die sich von den unseren grundsätzlich unterscheiden. Gerade dieser Unterschied lässt uns die Besonderheiten unseres modernen Gesellschaftssystems besser verstehen, die Art, wie es die Charakterstruktur der darin lebenden Menschen und den neuen Geist geformt hat, der die Folge dieser Veränderung der Persönlichkeit war.

Das nächste Kapitel wird außerdem zeigen, dass die Epoche der Reformation der gegenwärtigen Szene ähnlicher ist als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Tatsächlich dürfte es trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen den beiden Perioden vermutlich seit dem sechzehnten Jahrhundert keine Epoche gegeben haben, die der unseren in Bezug auf die zwiespältige Bedeutung der Freiheit so ähnlich ist. Die Reformation ist die eine Wurzel der Idee der menschlichen Freiheit und Autonomie, wie die moderne Demokratie sie repräsentiert. Aber während man - besonders in den nichtkatholischen Ländern - diesen Aspekt der Reformation besonders hervorhebt, übersieht man ihren anderen Aspekt, nämlich die Betonung der Verderbtheit der menschlichen Natur, der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Einzelnen und der Notwendigkeit, dass er sich einer Macht außerhalb seiner selbst unterordnet. Die Idee der Wertlosigkeit des Einzelnen, der grundsätzlichen Unfähigkeit, sich auf sich selbst zu verlassen sowie die Behauptung, der Mensch habe ein Bedürfnis, sich zu unterwerfen, gibt es auch in Hitlers Ideologie, in der jedoch die Betonung der Freiheit und der moralischen Grundsätze fehlt, die den Protestantismus kennzeichnen. [I-240]

Nicht nur wegen dieser ideologischen Ähnlichkeit ist die Epoche des fünfzehnten und des sechzehnten Jahrhunderts ein besonders fruchtbarer Ausgangspunkt für den Versuch, unsere heutige Szene zu verstehen. Es besteht auch eine grundsätzliche Ähnlichkeit in Bezug auf die gesellschaftliche Situation. Ich werde zu zeigen versuchen, inwiefern diese Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Situation die Ursache für Übereinstimmungen im ideologischen und psychologischen Bereich ist. Damals wie heute sah sich ein großer Teil der Bevölkerung durch revolutionäre Umwälzungen in der ökonomischen und gesellschaftlichen Struktur in seiner überkommenen Lebensweise bedroht. Dies galt - genau wie heute - besonders für die mittleren Schichten, die sich durch die Macht von privilegierten Institutionen und die Überlegenheit des Kapitals bedroht sahen. Diese Bedrohung beeinflusste den Geist und die Weltanschauung des bedrohten Teils der Gesellschaft insofern beträchtlich, als sie das Gefühl der Vereinsamung und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen noch verstärkte.

3 Freiheit im Zeitalter der Reformation

a) Mittelalterlicher Hintergrund und Renaissance

Das Bild des Mittelalters[10] ist auf zweierlei Weise entstellt worden. Der moderne Rationalismus sieht im Mittelalter im Wesentlichen das dunkle Zeitalter. Er begründet das mit dem allgemeinen Mangel an persönlicher Freiheit, mit der Ausbeutung der Masse der Bevölkerung durch eine kleine Minderheit, mit der Engstirnigkeit der Stadtbewohner, die bereits im Bauern der nächsten Umgebung einen gefährlichen und verdächtigen Fremdling sahen - vom Bewohner eines anderen Landes ganz zu schweigen -, und mit dem Aberglauben und der Unwissenheit des mittelalterlichen Menschen. Andererseits hat man das Mittelalter idealisiert, wozu besonders reaktionäre Philosophen, aber gelegentlich auch progressive Kritiker des modernen Kapitalismus beigetragen haben. Diese weisen auf das Solidaritätsgefühl, auf die Unterordnung wirtschaftlicher Dinge unter menschliche Bedürfnisse, auf die [I-242] Unmittelbarkeit und Konkretheit der menschlichen Beziehungen, auf die übernationale Einstellung der katholischen Kirche und auf das Gefühl der Sicherheit hin, das den damaligen Menschen kennzeichnete. Beide Bilder sind richtig; nicht richtig ist, wenn man eines davon entwirft und vor dem anderen die Augen verschließt.

Was die mittelalterliche Gesellschaft von der modernen unterscheidet, ist ihr Mangel an individueller Freiheit. In jener früheren Periode war ein jeder an seine Rolle in der Gesellschaftsordnung gefesselt. Man hatte kaum eine Chance, von einer Gesellschaftsklasse in eine andere aufzusteigen, ja man hatte kaum die Möglichkeit, auch nur von einer Stadt in eine andere überzusiedeln. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, musste jeder da bleiben, wo er geboren war. Oft durfte er sich noch nicht einmal nach eigenem Belieben kleiden, noch durfte er essen, was er wollte. Der Handwerker musste seine Ware zu einem bestimmten Preis feilbieten, und der Bauer musste seine Erzeugnisse an einem bestimmten Ort, nämlich auf dem Marktplatz der Stadt, verkaufen. Dem Angehörigen einer Zunft war es verboten, technische Handwerksgeheimnisse an jemanden weiterzugeben, der nicht zur Zunft gehörte, und er war gezwungen, seinen Zunftgenossen alle günstigen Beschaffungsmöglichkeiten für Rohstoffe mitzuteilen. Das persönliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben wurde von Regeln und Verpflichtungen beherrscht, von denen praktisch kein Lebensbereich ausgenommen war.

Aber wenn auch der Einzelne in unserem modernen Sinne nicht frei war, so war er doch weder allein noch isoliert. Da der Mensch vom Augenblick seiner Geburt an seinen bestimmten, unverrückbaren Platz besaß, den ihm keiner streitig machte, war er in einem strukturierten Ganzen verwurzelt. Das Leben besaß für ihn einen Sinn, der keine Zweifel aufkommen ließ. Jeder war mit seiner Rolle in der Gesellschaft identisch. Er war ein Bauer, ein Handwerker oder ein Ritter - und nicht ein Individuum, welches zufällig gerade dieser Beschäftigung nachging. Die Gesellschaftsordnung betrachtete man als naturgegeben, und dass man ein bestimmter Teil davon war, verlieh einem ein Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit. Wettbewerb gab es relativ wenig. Man wurde in eine bestimmte wirtschaftliche Position hineingeboren, die jedem seinen durch die Tradition festgelegten Lebensunterhalt garantierte, genauso wie sie wirtschaftliche Verpflichtungen denen gegenüber mit sich brachte, die in der sozialen Hierarchie höher standen. Aber innerhalb der Grenzen seiner gesellschaftlichen Sphäre besaß der Einzelne tatsächlich ein beträchtliches Maß an Freiheit, sein Selbst in seiner Arbeit und in seinem Gefühlsleben zum Ausdruck zu bringen. Wenn es auch insofern keinen Individualismus im heutigen Sinn gab, dass man die uneingeschränkte Wahl zwischen vielen möglichen Lebensweisen gehabt hätte (eine Freiheit der Wahl, die im Übrigen auch heute weitgehend abstrakt ist), gab es doch im realen Leben ein beträchtliches Maß an konkretem Individualismus.

Es gab zwar viel Leid und Schmerzen, aber da war auch die Kirche, die das Leben dadurch erträglich machte, dass sie es als Folge der Sünde Adams und der Sündhaftigkeit jedes Einzelnen deutete. Die Kirche nährte ein Schuldgefühl, versicherte aber gleichzeitig uneingeschränkte Liebe zu allen ihren Kindern und zeigte ihnen den Weg, wie man zu der Überzeugung gelangen konnte, dass einem vergeben ist und man von Gott geliebt wird. Die Beziehung zu Gott war mehr von Vertrauen und Liebe [I-243] getragen als von Furcht und Zweifel. Genauso wie der Bauer und der Stadtbewohner nur selten über die Grenzen ihres Wohnbezirks hinauskamen, so hatte auch das Universum seine Grenze und war leicht zu begreifen. Erde und Menschen waren sein Mittelpunkt, der Himmel und die Hölle waren der zukünftige Aufenthaltsort, und von der Geburt bis zum Tod war alles Tun transparent in Bezug auf Ursache und Wirkung.

Obwohl die Gesellschaft derart strukturiert war und dem Menschen Sicherheit bot, hielt sie ihn andererseits in Knechtschaft gebunden. Es war eine andere Art von Knechtschaft als die, welche autoritäre Regime und Unterdrücker in späteren Jahrhunderten eingeführt haben. Die mittelalterliche Gesellschaft nahm dem Individuum seine Freiheit nicht weg, denn es gab das „Individuum“ damals überhaupt noch nicht. Der Mensch war immer noch durch seine primären Bindungen zur Welt bezogen. Er empfand sich selbst noch nicht als Individuum, außer durch das Medium seiner Rolle in der Gesellschaft (einer Rolle, die damals von ihm noch als naturgegeben erlebt wurde). Auch die anderen Menschen empfand er nicht als „Individuen“. Der Bauer, der in die Stadt kam, war ein Fremder, und sogar innerhalb der Stadt betrachteten sich die Angehörigen unterschiedlicher sozialer Gruppen gegenseitig als Fremde. Das Gewahrwerden des eigenen individuellen Selbst, der Individualität anderer und der Welt als separater Größen war noch nicht voll entwickelt.

Der Tatsache, dass der Einzelne in der mittelalterlichen Gesellschaft sich seiner selbst noch nicht voll bewusst war, hat Jacob Burckhardt in seiner Beschreibung der mittelalterlichen Kultur klassischen Ausdruck verliehen:

„Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstseins - nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst - wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des allgemeinen“ (J. Burckhardt, 1928, S. 131). Im ausgehenden Mittelalter änderten sich die Gesellschaftsstruktur und die Persönlichkeit des Menschen. Die Einheit und Zentralisierung der mittelalterlichen Gesellschaft lockerte sich. Das Kapital, die individuelle wirtschaftliche Initiative und der Wettbewerb gewannen an Bedeutung; eine neue Klasse, die Geld besaß, kam auf. Ein zunehmender Individualismus wurde in allen Gesellschaftsschichten bemerkbar und machte seinen Einfluss in allen Bereichen menschlicher Tätigkeit, in Geschmack und Mode, in Kunst, Philosophie und Theologie geltend. Ich möchte hierbei jedoch betonen, dass dieser ganze Prozess für die kleine Gruppe der reichen und wohlhabenden Kapitalisten einerseits und für die breiten Massen der Bauern und besonders des städtischen Bürgertums andererseits unterschiedliche Bedeutung hatte. Für Letzteres bedeutete diese neue Entwicklung bis zu einem gewissen Grade Reichtum und neue Chancen für eine persönliche Initiative, aber auch eine Bedrohung der herkömmlichen Lebensweise. Man sollte sich diesen Unterschied unbedingt von Anfang an vor Augen halten, weil in ihm die Ursache für die unterschiedlichen psychologischen und ideologischen Reaktionen dieser verschiedenen Gruppen zu suchen ist.

Die neue wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung vollzog sich in Italien intensiver als in West- und Mitteleuropa und hatte dort auch deutlichere Rückwirkungen auf [I-244] die Philosophie und Kunst sowie auf den gesamten Lebensstil. In Italien tauchte zum ersten Mal das Individuum aus der feudalen Gesellschaft auf und löste die Bindungen, die ihm einerseits Sicherheit gegeben und es andererseits eingeengt hatten. Der Italiener der Renaissance wurde - um mit Jacob Burckhardt (1928, S. 131) zu sprechen - „der Erstgeborene unter den Söhnen des jetzigen Europas“, das erste Individuum.

Eine Reihe von wirtschaftlichen und politischen Faktoren war schuld daran, dass die mittelalterliche Gesellschaft hier schneller als in Mittel- und Westeuropa zusammenbrach. Unter anderem lag es an der geographischen Lage Italiens und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Vorteilen zu einer Zeit, wo das Mittelmeer der große Handelsweg Europas war; außerdem führte der Kampf zwischen Kaiser und Papst zum Entstehen einer großen Anzahl unabhängiger Einzelstaaten. Die Nähe des Orients bewirkte, dass bestimmte Fertigkeiten, die zur Entwicklung wichtiger Industrien wie zum Beispiel der Seidenmanufaktur führten, nach Italien kamen, lange bevor sie in anderen Teilen Europas bekannt wurden.

Aus diesen und anderen Gründen entstand in Italien eine mächtige besitzende Klasse, deren Angehörige voller Initiative, Machtstreben und Ehrgeiz waren. Das feudale Ständesystem begann weniger wichtig zu werden. Vom Zwölften Jahrhundert an lebten Adlige und Bürger miteinander innerhalb der Stadtmauern. Im gesellschaftlichen Verkehr begannen sich die Standesunterschiede zu verwischen. Geburt und Abstammung waren weniger wichtig als Besitz. Außerdem geriet auch die traditionelle gesellschaftliche Schichtung des Volkes ins Wanken. In den Städten gab es nun die breite Masse ausgebeuteter und politisch unterdrückter Arbeiter. Burckhardt weist darauf hin, dass bereits 1231 die politischen Maßnahmen Friedrichs II. „auf die völlige Zernichtung des Lehnsstaates, auf die Verwandlung des Volkes in eine willenlose, unbewaffnete, im höchsten Grade steuerfähige Masse“ hinausliefen (1928, S. 3). Die Folge dieser Zerstörung der mittelalterlichen Gesellschaftsstruktur war das Auftauchen des Individuums in unserem modernen Sinne. Hierzu bemerkt Burckhardt (1928, S. 131 f.): „In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. So hatte sich einst erhoben der Grieche gegenüber den Barbaren, der individuelle Araber gegenüber den anderen Asiaten als Rassenmenschen.“

Burckhardts Beschreibung des Geistes dieses neuen Individuums illustriert, was wir im vorigen Kapitel über die Loslösung des Individuums von seinen primären Bindungen sagten. Der Mensch entdeckt sich selbst und andere als Individuen, als separate Größen. Er entdeckt die Natur als etwas in zweierlei Hinsicht von ihm Abgesondertes: als Objekt, das es theoretisch und praktisch zu meistern gilt, und in ihrer Schönheit, als Gegenstand des Genusses. Er entdeckt die Welt, praktisch indem er neue Kontinente entdeckt, und geistig indem er einen kosmopolitischen Geist entwickelt, aus dem heraus Dante sagen kann: „Meine Heimat ist die ganze Welt.“[11] [I-245]

Die Renaissance war die Kultur einer reichen, mächtigen Oberschicht, die auf dem Kamm der Welle schwamm, welche der Sturm neuer ökonomischer Kräfte aufbranden ließ. Das Volk, das am Reichtum und an der Macht der herrschenden Gruppe keinen Anteil hatte, hatte die Sicherheit seines früheren Status verloren und war zu einer gestaltlosen Masse geworden, der man schmeichelte oder die man mit Drohungen einschüchterte, die aber stets von denen, die an der Macht waren, manipuliert und ausgebeutet wurde. Ein neuer Despotismus entstand Hand in Hand mit dem neuen Individualismus. Freiheit und Tyrannei, Individualität und Orientierungslosigkeit waren unentwirrbar miteinander verwoben. Die Renaissance war keine Kultur von kleinen Geschäftsleuten und Kleinbürgern, sondern eine Kultur reicher Adliger und Großbürger. Diesen gab ihre wirtschaftliche Tätigkeit ein Gefühl der Freiheit [I-246] und Individualität. Aber auch sie hatten zugleich etwas eingebüßt, nämlich die Sicherheit und das Zugehörigkeitsgefühl, das ihnen die mittelalterliche Gesellschaftsstruktur geboten hatte. Sie waren frei, aber sie waren auch einsamer. Sie benutzten ihre Macht und ihren Reichtum dazu, dem Leben das letzte an Lust abzugewinnen; aber dabei mussten sie sich, um die Massen zu beherrschen und den Konkurrenten in der eigenen Klasse gewachsen zu sein, skrupelloser Mittel bedienen - von der körperlichen Folter bis zur psychologischen Manipulation. Dieser wilde Kampf auf Leben und Tod um die Erhaltung von Macht und Besitz vergiftete alle menschlichen Beziehungen. An die Stelle der Solidarität mit den Mitmenschen - oder wenigstens mit den Angehörigen der eigenen Klasse - trat eine zynisch reservierte Einstellung; man sah im anderen ein „Objekt“, dessen man sich bediente und das man manipulierte oder das man auch bedenkenlos vernichtete, wenn es dem eigenen Vorteil diente. Der Einzelne war von einer leidenschaftlichen Egozentrik, von einer unersättlichen Gier nach Macht und Besitz erfüllt. Die Folge war, dass auch die Beziehung des Erfolgreichen zu seinem eigenen Selbst, sein Gefühl der Sicherheit und sein Selbstvertrauen vergiftet wurden. Das eigene Selbst wurde für ihn ebenso zum Objekt der Manipulation wie andere Menschen. Es steht zu bezweifeln, ob die mächtigen Herren des Kapitalismus der Renaissance sich wirklich so glücklich und sicher fühlten, wie sie oft hingestellt werden. Die Freiheit scheint ihnen zweierlei eingebracht zu haben: ein wachsendes Gefühl der Stärke und zugleich größere Vereinsamung, Zweifel und Skepsis (vgl. J. Huizinga, 1930, S. 159) und als Folge von all dem - Angst. Denselben Widerspruch finden wir auch in den philosophischen Schriften der Humanisten. Neben der Betonung der Würde des Menschen, seiner Individualität und seiner Stärke zeigen sie in ihrer Philosophie auch Unsicherheit und Verzweiflung. (Vgl. hierzu Diltheys Analyse Petrarcas (W. Dilthey, 1914, S. 19 ff.); ebenso Ch. E. Trinkhaus, 1940.)

Die grundsätzliche Unsicherheit, die aus der Stellung eines isolierten Individuums in einer feindlichen Welt resultierte, könnte die Entstehung eines Charakterzuges erklären, der - wie Burckhardt darlegt - für den Renaissancemenschen kennzeichnend und wenigstens in der gleichen Intensität bei einem Angehörigen der mittelalterlichen Gesellschaft nicht zu finden war: das leidenschaftliche Streben nach Ruhm. Wenn der Sinn des Lebens zweifelhaft geworden ist, wenn die Beziehung zu anderen Menschen und zur eigenen Person keine Sicherheit mehr bietet, dann ist der Ruhm ein Mittel, die Zweifel verstummen zu lassen. Er hat etwa die Funktion der ägyptischen Pyramiden oder des christlichen Glaubens an die Unsterblichkeit: Er befreit das Leben des Einzelnen von seiner Begrenztheit und mangelnden Stabilität und hebt es auf die Ebene der Unzerstörbarkeit empor. Wenn unser Name den Zeitgenossen bekannt ist und wir hoffen können, dass er Jahrhunderte überdauern wird, dann gewinnt unser Leben eben dadurch, dass es sich im Urteil anderer Menschen widerspiegelt, Bedeutung. Natürlich war diese Lösung für die Beseitigung der individuellen Unsicherheit nur in einer sozialen Gruppe möglich, deren Angehörige über die Mittel verfügten, sich Ruhm zu erwerben. Es war keine Lösung für die machtlosen Massen, die der gleichen Kultur angehörten, und sie kam auch für die städtische Mittelschicht nicht in Betracht, die das Rückgrat der Reformation bildete.

Wir sind von der Renaissance ausgegangen, weil diese Epoche der Anfang des [I-247] modernen Individualismus ist und weil außerdem die von den Historikern dieser Periode bereits geleistete Arbeit einiges Licht auf eben die Faktoren wirft, die für den Prozess von Bedeutung sind, welcher im Mittelpunkt unserer Untersuchung steht - das Auftauchen des Menschen aus einer vorindividualistischen Existenz in eine solche, in der er sich als separate Größe ganz gewahr wird. Aber wenn auch die Ideen der Renaissance auf die weitere Entwicklung des europäischen Denkens nicht ohne Einfluss blieben, so sind doch die wesentlichen Wurzeln des modernen Kapitalismus, seine wirtschaftliche Struktur und der Geist, der ihn erfüllt, nicht in der italienischen Kultur des ausgehenden Mittelalters zu suchen, sondern in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation Mittel- und Westeuropas und in den Lehren Luthers und Calvins.

Der Hauptunterschied zwischen den beiden Kulturen ist folgender: Die Renaissance stellte eine relativ hohe Entwicklungsstufe des Handels- und Industrie-Kapitalismus dar; es handelte sich um eine Gesellschaft, in der eine kleine Gruppe von reichen und mächtigen Einzelnen das Regiment führte und die gesellschaftliche Grundlage für die Philosophen und Künstler schuf, die dann dem Geist dieser Kultur Ausdruck verliehen. Die Reformation dagegen war im Wesentlichen eine Religion der städtischen Mittel- und Unterschichten und der Bauern. Auch Deutschland hatte seine reichen Geschäftsleute - wie etwa die Fugger - aber diese fühlten sich nicht von den neuen religiösen Lehren angesprochen, und sie repräsentierten auch nicht die Hauptbasis, auf der sich der moderne Kapitalismus aufbaute. Wie Max Weber gezeigt hat, war es das städtische Bürgertum, das zum Rückgrat der modernen kapitalistischen Entwicklung in der westlichen Welt wurde. (Vgl. M. Weber, 1920.) Entsprechend dem völlig anderen gesellschaftlichen Hintergrund der beiden Bewegungen ist anzunehmen, dass auch der Geist der Renaissance und der der Reformation verschieden waren. (Vgl. E. Troeltsch, 1923.) Wenn wir auf die Theologie Luthers und Calvins zu sprechen kommen, werden wir dabei auch einige dieser Unterschiede deutlich erkennen. Wir wollen dabei der Frage besondere Aufmerksamkeit schenken, wie sich die Befreiung von individuellen Fesseln auf die Charakterstruktur des städtischen Mittelstandes ausgewirkt hat. Wir wollen zu zeigen versuchen, dass im Luthertum und Calvinismus zwar ein neues Freiheitsgefühl zum Ausdruck kam, dass sie aber gleichzeitig eine Flucht vor der Last der Freiheit begründeten. Wir wollen uns zunächst mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation in Europa, insbesondere in Mitteleuropa zu Beginn des Sechszehnten Jahrhunderts beschäftigen und anschließend untersuchen, welche Rückwirkungen diese Situation auf die Persönlichkeit der damals Lebenden hatte, in welcher Beziehung die Lehren Luthers und Calvins zu diesen psychologischen Faktoren standen und welche Beziehung sich zwischen diesen neuen religiösen Lehren und dem Geist des Kapitalismus feststellen lässt.[12]

In der mittelalterlichen Gesellschaft war die wirtschaftliche Organisation in den [I-248] Städten relativ statisch. Seit dem späteren Mittelalter waren die Handwerker in ihren Zünften zusammengeschlossen. Jeder Meister hatte einen oder zwei Lehrlinge, und die Anzahl der Meister stand in einem bestimmten Verhältnis zu den Bedürfnissen des Gemeinwesens. Wenn es auch immer einige gab, die hart um ihren Lebensunterhalt kämpfen mussten, konnte ein Zunftmitglied sich doch im Großen und Ganzen darauf verlassen, dass es von seiner Hände Arbeit leben konnte. Wenn er etwa gute Stühle, Schuhe, Sättel oder gutes Brot herstellte, so tat er damit alles, was nötig war, um auf dem Niveau gesichert zu leben, das herkömmlicherweise seiner Stellung in der Gesellschaft entsprach. Er konnte sich auf seine „guten Werke“ verlassen, wenn wir diesen Begriff hier einmal nicht in seiner theologischen Bedeutung, sondern in seinem schlichten wirtschaftlichen Sinn gebrauchen. Die Zünfte verhinderten auch jeden heftigen Konkurrenzkampf unter ihren Mitgliedern und zwangen sie hinsichtlich der Materialbeschaffung und Produktionstechnik sowie der Preise ihrer Erzeugnisse zur Kooperation. Im Gegensatz zu der Tendenz, das Zunftsystem zusammen mit dem gesamten mittelalterlichen Leben zu idealisieren, weisen einige Historiker darauf hin, dass die Zünfte stets von einem gewissen monopolistischen Geist erfüllt gewesen seien und dass sie versucht hätten, eine kleine Gruppe zu schützen und Neuankömmlinge auszuschließen. Die meisten Autoren stimmen jedoch darin überein, man müsse auch bei Vermeidung jeder Idealisierung zugeben, dass die Zünfte sich auf gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit gründeten und dass sie ihren Mitgliedern eine relative Sicherheit boten. (Vgl. J. Kulischer, 1928, S. 192 ff. und die dort angeführte Literatur.)

Wie Werner Sombart gezeigt hat, wurde der Handel im Mittelalter im Wesentlichen von einer großen Anzahl kleiner Geschäftsleute abgewickelt. Groß- und Kleinhandel waren noch nicht voneinander getrennt, und selbst Kaufleute, die in fremde Länder gingen, wie etwa die Mitglieder der norddeutschen Hansa, verschmähten nicht den Kleinhandel. Auch zur Anhäufung von Kapital kam es bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts nur sehr langsam. So erfreute sich der kleine Geschäftsmann einer beträchtlichen Sicherheit im Vergleich zur wirtschaftlichen Lage im ausgehenden Mittelalter, wo Großkapital und Monopolhandel zunehmende Bedeutung erlangten. „Vieles, was heute auf mechanischem Weg verrichtet wird“, sagt Professor Tawney in Bezug auf das Leben in einer mittelalterlichen Stadt, „wurde damals persönlich, intim und direkt erledigt, und es war kaum Raum vorhanden für eine Organisation von einem Ausmaß, das die dem Menschen entsprechenden Maßstäbe überschreitet, und für die Einstellung, die mit dem Hinweis auf die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit alle Skrupel zum Schweigen bringt und jede Rechnung endgültig abschließt“ (R. H. Tawney, 1926, S. 28).

Dies führt uns zu einem Punkt, der für das Verständnis der Situation des Einzelnen in der mittelalterlichen Gesellschaft wesentlich ist - zu den ethischen Ansichten über ökonomisches Handeln, wie sie nicht nur in den Lehren der katholischen Kirche, sondern auch in den weltlichen Gesetzen zum Ausdruck kamen. Wir schließen uns hier der Darstellung Tawneys an, da man ihn gewiss nicht in Verdacht haben kann, er sähe die mittelalterliche Welt zu ideal oder romantisch. Danach war die Grundeinstellung zum Wirtschaftsleben, „dass die wirtschaftlichen Interessen dem wirklichen Ziel des [I-249] Lebens, nämlich dem ewigen Heil, unterzuordnen sind und dass das wirtschaftliche Verhalten nur eine Seite des allgemeinen menschlichen Verhaltens darstellt, dass auch dafür wie für alles übrige Verhalten des Menschen die Gebote der Moral verbindlich sind.“

Tawney geht dann auf die mittelalterliche Auffassung vom ökonomischen Handeln noch näher ein:

Materieller Besitz ist notwendig; er hat eine sekundäre Bedeutung, denn der Mensch kann sich ohne ihn nicht selbst erhalten und andere nicht unterstützen.(...) Aber wirtschaftliche Motive sind verdächtig. Da es sich dabei um machtvolle Begierden handelt, fürchten sich die Menschen davor, doch erniedrigen sie sich nicht so weit, dass sie ihnen Beifall zollen. (...) In der mittelalterlichen Theorie ist kein Platz für eine wirtschaftliche Betätigung ohne moralisches Endziel, und wenn man eine Wissenschaft von der Gesellschaft auf die Annahme gegründet hätte, dass die Begierde nach wirtschaftlichem Gewinn eine konstante und messbare Macht sei, die man wie jede andere naturgegebene Kraft als eine unvermeidliche und selbstverständliche Gegebenheit hinnehmen müsse, so wäre das dem mittelalterlichen Denker kaum weniger irrational und unmoralisch erschienen, als wenn man das hemmungslose Austoben so unentbehrlicher Attribute wie der Streitsucht oder des Sexualtriebes zur Grundlage der Sozialphilosophie gemacht hätte. (...) Besitz ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Besitz, sagt der Heilige Antonius. (...) Daher finden wir allenthalben Schranken, Einschränkungen, Warnungen davor, es zuzulassen, dass wirtschaftliche Interessen in ernsthafte Angelegenheiten hineinspielen. Es ist richtig, wenn der Mensch gerade soviel zu erwerben trachtet, wie er zu einem standesgemäßen Lebensunterhalt braucht. Nach mehr zu streben, ist nicht Unternehmungsgeist, sondern Habsucht, und die Habsucht zählt unter die Todsünden. Handel ist legitim; der unterschiedliche Reichtum an Bodenschätzen in den verschiedenen Ländern beweist, dass der Handel von der Vorsehung beabsichtigt ist. Aber er ist ein gefährliches Geschäft. Man muss sicher sein, dass man ihn zum öffentlichen Wohle betreibt und dass man keinen größeren Profit dabei erzielt, als den Lohn für die geleistete Arbeit. Privatbesitz ist eine notwendige Einrichtung, wenigstens in der Welt nach dem Sündenfall. Die Menschen arbeiten mehr und streiten weniger, wenn es sich um Privatbesitz handelt, als wenn es um Gemeinbesitz geht; jedoch sollte man das als eine Konzession an die menschliche Schwachheit hingehen lassen und ihm keinen Beifall zollen, so als ob es an sich wünschenswert wäre. Das Ideal wäre der Kommunismus - wenn nur der Mensch seiner Natur nach in der Lage wäre, sich zu ihm aufzuschwingen. Communis enim, steht im Decretum Gratianum, usus omnium, quae sunt in hoc mundo, omnibus hominibus esse debuit (Gemeinsam soll allen Menschen der Gebrauch von allem, was es auf dieser Erde gibt, sein.). Am besten wäre es, wenn der Grundbesitz etwas eingeschränkt würde. Er muss auf legitime Weise erworben sein. Er muss sich in möglichst vielen Händen befinden. Er muss für den Unterhalt der Armen sorgen. Er muss, soweit irgend möglich, Gemeinbesitz sein. Seine Eigentümer müssen bereit sein, ihn mit den Bedürftigen zu teilen, selbst wenn diese sich nicht in wirklicher Not befinden. (R. H. Tawney, 1926, S. 31-33; vgl. dt. S. 44-46.)

Wenn auch in dieser Auffassung Normen zum Ausdruck kommen und sie kein genaues Bild von der Wirklichkeit des wirtschaftlichen Lebens geben, so spiegelt sich [I-250] doch darin bis zu einem gewissen Grade tatsächlich der Geist der mittelalterlichen Gesellschaft.

Die relative Stabilität der Lage der Handwerker und Kaufleute, die für die mittelalterliche Stadt kennzeichnend war, wurde im ausgehenden Mittelalter langsam untergraben, bis sie im Sechszehnten Jahrhundert völlig zusammenbrach. Bereits im Vierzehnten Jahrhundert - oder sogar schon früher - machten sich mehr und mehr Unterschiede innerhalb der einzelnen Zünfte geltend, und alle Bemühungen, ihnen Einhalt zu gebieten, konnten nichts ausrichten. Manche Zunftgenossen besaßen mehr als die anderen und beschäftigten fünf oder sechs Gesellen an Stelle von einem oder zweien. Bald nahmen die Zünfte nur noch Personen auf, die ein gewisses Kapital besaßen. Andere wurden zu mächtigen Monopolgesellschaften, die aus ihrer Monopolstellung jeden Vorteil zu ziehen und ihre Kundschaft nach Kräften auszubeuten versuchten. Auf der anderen Seite verarmten viele Zunftgenossen und sahen sich gezwungen, außerhalb ihres traditionellen Berufes zusätzlich etwas Geld zu verdienen. Oft betrieben sie nebenher einen kleinen Handel. Viele von ihnen verloren ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und Sicherheit, während sie sich immer weiter verzweifelt an das traditionelle Ideal wirtschaftlicher Unabhängigkeit klammerten. (Vgl. K. Lamprecht, 1893, S. 207; W. Andreas, 1932, S. 303.)

Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung des Zunftsystems verschlechterte sich die Lage der Gesellen immer mehr. Während es in den Gewerbebetrieben Italiens und Flanderns bereits im Dreizehnten Jahrhundert oder noch früher eine Klasse unzufriedener Arbeiter gab, war die Lage der Gesellen in den Handwerkszünften noch relativ sicher.

Obwohl es nicht zutraf, dass jeder Geselle Meister werden konnte, wurden es doch viele von ihnen. Aber je mehr sich die Zahl der Gesellen unter einem Meister vergrößerte, umso mehr Kapital brauchte man, um Meister zu werden, und je mehr die Zünfte einen exklusiven Monopolcharakter annahmen, umso schlechter wurden die Aussichten für die Gesellen. Die Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung kam in wachsender Unzufriedenheit, in der Gründung eigener Verbände, in Streiks und sogar in gewalttätigen Aufständen zum Ausdruck.

Das über die wachsende kapitalistische Entwicklung der Handwerkergilden Gesagte gilt in noch stärkerem Maße für den Handel: Während es sich beim mittelalterlichen Handel in der Hauptsache um kleine Geschäfte innerhalb der Städte gehandelt hatte, nahm im Vierzehnten und Fünfzehnten Jahrhundert der nationale und internationale Handel rasch zu. Wenn sich auch die Historiker nicht einig sind, wann genau die großen Handelsgesellschaften sich zu entwickeln begannen, so sind sie doch übereinstimmend der Ansicht, dass sie im Fünfzehnten Jahrhundert immer mächtiger wurden und sich zu Monopolunternehmen entwickelten, welche durch ihre überlegene Kapitalkraft zu einer Gefahr für die kleinen Geschäftsleute wie auch für die Verbraucher wurden. Kaiser Sigismund versuchte im Fünfzehnten Jahrhundert durch eine Reformgesetzgebung die Macht der Monopole zu brechen. Aber die Lage des kleinen Geschäftsmannes wurde immer unsicherer. Er hatte gerade genügend Einfluss, um seinen Beschwerden Gehör zu verschaffen, jedoch nicht genug, um ein wirksames Einschreiten durchzusetzen. (Vgl. J. S. Schapiro, 1909, S. 59.)

Der Erbitterung des kleinen Kaufmannes gegen die Monopolgesellschaften hat [I-251] Luther in seinem 1524 gedruckten Pamphlet Von Kaufshandlung und Wucher beredten Ausdruck verliehen: „(...) sie haben alle Ware unter ihren Händen und machens damit, wie sie wollen, und treiben ohn alle Scheu die obberührten Stücke; dass sie (die Preise) steigern oder erniedrigen nach ihrem Gefallen und drücken und verderben alle geringen Kaufleute gleichwie der Hecht die kleinen Fische im Wasser, gerade als wären sie Herren über Gottes Kreaturen und frei von allen Gesetzen des Glaubens und der Liebe.“ (M. Luther, 1967, S. 281.)

Diese Worte Luthers könnten heute geschrieben sein. Die Angst und Wut, welche der Mittelstand im Fünfzehnten und Sechszehnten Jahrhundert gegen die reichen Monopolherren empfand, ist in vieler Hinsicht den Gefühlen ähnlich, die der Mittelstand in unseren Tagen gegen Monopolbetriebe und mächtige Kapitalisten empfindet.

Auch im Gewerbe (industry) spielte das Kapital eine ständig wachsende Rolle. Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist der Bergbau. Ursprünglich besaß jedes Mitglied der Bergmannszunft den „Kux“, welcher dem Anteil der von ihm geleisteten Arbeit entsprach. Aber im Fünfzehnten Jahrhundert war es oft so, dass die Anteile sich im Besitz von Reichen befanden, die selbst nicht arbeiteten, und die Arbeit wurde immer häufiger von Lohnarbeitern verrichtet, die selbst an dem Unternehmen nicht beteiligt waren. Wie in anderen Gewerbezweigen, so war auch im Handel diese Entwicklung zum Kapitalismus hin zu beobachten, wodurch die Kluft zwischen Armen und Reichen immer tiefer wurde und die Unzufriedenheit der Besitzlosen wuchs.

Bezüglich der Lage des Bauernstandes sind die Historiker unterschiedlicher Meinung, doch scheint die nachfolgende Ansicht Schapiros von den meisten Historikern geteilt zu werden:

Trotz dieser Anzeichen von Wohlstand verschlechterte sich die Lage der Bauern rapide. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts waren nur noch sehr wenige unabhängige Eigentümer des Landes, das sie bebauten, und hatten Sitz und Stimme im Gemeinderat, was im Mittelalter stets das Zeichen bäuerlicher Unabhängigkeit und Gleichberechtigung war. Die allermeisten waren Hörige, die zwar persönlich frei waren, aber Abgaben zu entrichten und Frondienste nach bestimmten Vorschriften zu leisten hatten. Diese Hörigen bildeten das Rückgrat aller Bauernaufstände. Dieser bäuerliche Mittelstand, der in einer dem Grundbesitzer dienstbaren Dorfgemeinschaft in der Nähe von dessen Landsitz lebte, erkannte bald, dass die ständig wachsenden Abgaben und Dienstleistungen ihn praktisch zu Sklaven und die Dorfgemeinschaft zu einem Bestandteil des herrschaftlichen Gutes werden ließ. (J. S. Schapiro, 1909, S. 54 f.)

Die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaft brachte auch bedeutsame Veränderungen in der psychologischen Atmosphäre mit sich. Gegen Ende des Mittelalters begann ein Geist der Unrast um sich zu greifen. Unser moderner Zeitbegriff begann sich zu entwickeln. Die Minuten wurden kostbar. Es war symptomatisch für dieses neue Zeitgefühl, dass die Turmuhren in Nürnberg seit dem Sechszehnten Jahrhundert die Viertelstunden schlugen. (Vgl. K. Lamprecht, 1893, S. 200.) Man begann, die allzu vielen Feiertage als ein Unglück zu betrachten. Die Zeit wurde jetzt so wertvoll, dass man das Gefühl hatte, man dürfe sie nicht für nutzlose Dinge vergeuden. Mehr und mehr wurde die Arbeit zu einem höchsten Wert. Die neue Einstellung zur Arbeit gewann solches Gewicht, dass das Bürgertum sich gegen die wirtschaftliche Unproduktivität [I-252] der kirchlichen Einrichtungen aufzulehnen begann. Die Bettelorden gerieten wegen ihrer Unproduktivität als unmoralisch in Verruf.

Die Tüchtigkeit wurde zu einer der höchsten sittlichen Tugenden. Gleichzeitig wurde das Streben nach Reichtum und materiellem Erfolg zur allverzehrenden Leidenschaft. Jedermann laufe hinter jenen Geschäften und Beschäftigungen her, schalt der Prediger Martin Bucer, die den höchsten Gewinn versprächen. Das Studium der Künste und Wissenschaften gebe man auf und gehe lieber den gewöhnlichsten Beschäftigungen nach. Alle klugen Köpfe, die Gott mit der Fähigkeit zu edleren Studien begabt habe, widmeten sich nur noch der Geschäftemacherei, die heute so voller Unehrlichkeit sei, dass es die allerletzte Art sei, mit der sich ein ehrenwerter Mann abgeben sollte. (Vgl. die Zitate bei J. S. Schapiro, 1909, S. 21 f.)

Eine wichtige Konsequenz der beschriebenen wirtschaftlichen Veränderungen betraf jeden. Das mittelalterliche Gesellschaftssystem ging zugrunde und mit ihm die Stabilität und relative Sicherheit, die es dem Einzelnen geboten hatte. Jetzt, mit dem Beginn des Kapitalismus, gerieten alle Gesellschaftsschichten in Bewegung. Es gab in der Wirtschaftsordnung keinen festen Platz mehr, den man als naturgegeben und unantastbar ansehen konnte. Der Einzelne war sich selbst überlassen; alles hing nurmehr von seinen eigenen Anstrengungen ab, nicht von der Sicherheit seines traditionellen Standes.

Allerdings wurde jeder Stand auf seine Weise von dieser Entwicklung betroffen. Für die Armen in den Städten, die Arbeiter und Lehrburschen, bedeutete es wachsende Ausbeutung und Verarmung; auch für die Bauern verstärkte sich der wirtschaftliche und persönliche Druck; und dem niederen Adel drohte - wenn auch auf andere Weise - der Ruin. Während für diese Schichten die neue Entwicklung im Wesentlichen eine Veränderung zum Schlechteren bedeutete, war die Situation für das städtische Bürgertum weit verwickelter. Wir erwähnten bereits die zunehmenden Unterschiede, die sich innerhalb desselben herausbildeten. Weite Schichten gerieten in eine sich ständig verschlechternde Lage. Viele Handwerker und kleine Händler sahen sich kapitalkräftigeren Konkurrenten oder Monopolbesitzern gegenüber, und es fiel ihnen immer schwerer, sich ihre Selbständigkeit zu erhalten. Oft kämpften sie gegen überwältigende Mächte an, und für viele war es ein verzweifelter und hoffnungsloser Kampf. Anderen Teilen des Bürgertums ging es jedoch besser, und sie hatten teil an der allgemeinen Aufwärtsbewegung des entstehenden Kapitalismus. Aber selbst diese mehr vom Glück Begünstigten gerieten durch die zunehmende Bedeutung des Kapitals, des Marktes und des Wettbewerbs persönlich in eine Situation der Unsicherheit, Isolation und Angst.

Dass das Kapital entscheidende Bedeutung gewann, besagte, dass eine überpersönliche Macht jetzt über ihr wirtschaftliches und damit auch ihr persönliches Schicksal bestimmte. Das Kapital „hatte aufgehört, Diener zu sein, und war zum Herrn geworden. Nachdem es ein eigenes, unabhängiges Leben gewonnen hatte, nahm es das Recht für sich in Anspruch, der dominierende Partner zu sein und die seinen eigenen anspruchsvollen Bedürfnissen entsprechende Wirtschaftsordnung zu diktieren.“ (R. H. Tawney, 1926, S. 86.)

Die neue Funktion des Marktes wirkte sich ähnlich aus. Der mittelalterliche Markt [I-253] war verhältnismäßig bescheiden, und es war leicht zu verstehen, wie er funktionierte. Er brachte Nachfrage und Angebot in eine direkte, konkrete Beziehung zueinander. Der Erzeuger wusste ungefähr, wie viel er erzeugen musste, und konnte verhältnismäßig sicher sein, seine Produkte auch zu einem angemessenen Preis zu verkaufen. Jetzt aber musste man für einen sich ständig erweiternden Markt produzieren, und man konnte die Verkaufsmöglichkeiten nicht mehr im Voraus abschätzen. Daher genügte es nicht mehr, brauchbare Waren zu produzieren. Wenn das auch weiterhin eine Vorbedingung dafür war, dass man sie auch verkaufen konnte, so entschieden doch die nicht vorauszusagenden Gesetze des Marktes darüber, ob man seine Erzeugnisse überhaupt absetzen und welchen Gewinn man dabei erzielen konnte. Der Mechanismus des neuen Marktes schien der Calvin’schen Prädestinationslehre zu gleichen, wonach jedermann sich zwar nach Kräften bemühen musste, ein guter Mensch zu sein, wo jedoch bereits vor seiner Geburt darüber bestimmt war, ob er der Erlösung teilhaftig werden würde oder nicht. Der Markttag wurde gleichsam zum Tag des Jüngsten Gerichts für die Erzeugnisse menschlicher Arbeit.

Von wesentlicher Bedeutung in diesem Zusammenhang war auch die immer wichtiger werdende Rolle, die der Wettbewerb jetzt spielte. Natürlich hatte dieser in der mittelalterlichen Welt nicht völlig gefehlt, aber das Feudalsystem gründete sich auf das Prinzip der Kooperation und wurde durch Normen reguliert - oder reglementiert -, die den Wettbewerb stark einschränkten. Mit dem Aufstieg des Kapitalismus machte dieses Prinzip immer mehr dem individualistischen Unternehmergeist Platz. Ein jeder musste auf eigene Faust sein Glück versuchen. Es hieß jetzt schwimmen oder untergehen. Andere waren ihm nicht durch Gemeinschaftsarbeit verbunden, sie wurden zu seinen Konkurrenten, und er sah sich oft vor die Wahl gestellt, sie entweder zugrunde zu richten oder selbst ruiniert zu werden. (Vgl. zum Problem des Wettbewerbs M. Mead, 1961, sowie L. K. Frank, 1940.)

Gewiss spielten Kapital, Markt und individueller Konkurrenzkampf im Sechszehnten Jahrhundert noch nicht die wichtige Rolle, die ihnen später zufallen sollte; doch waren schon damals alle entscheidenden Elemente des modernen Kapitalismus wie auch dessen psychologische Auswirkungen auf den Einzelnen vorhanden.

Wir haben allerdings bisher nur die eine Seite des Kapitalismus beschrieben; er hatte auch noch eine andere: Er hat den Einzelnen frei gemacht. Er hat ihn befreit von der Bevormundung durch das korporative System; er hat es ihm ermöglicht, auf eigenen Füßen zu stehen und sein Glück zu versuchen. Der Einzelne wurde zum Herrn seines Schicksals, er selbst trug das Risiko, und der Gewinn gehörte ihm. Seine persönlichen Anstrengungen konnten ihn zum Erfolg und zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit führen. Das Geld wurde zum großen Gleichmacher der Menschen, es erwies sich als mächtiger als Geburt und Stand. Diese Seite begann sich in der Anfangszeit des Kapitalismus erst langsam zu entwickeln. Sie spielte bei der kleinen Gruppe der Reichen eine größere Rolle als beim städtischen Bürgertum. Aber selbst mit dieser Einschränkung trug sie wesentlich zur Umformung der Persönlichkeit bei.

Wenn wir jetzt versuchen, unsere Erörterungen über den Einfluss der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen auf den Einzelnen im Fünfzehnten und Sechszehnten Jahrhundert noch einmal zusammenzufassen, so gelangen wir zu folgendem Bild: [I-254]

Wir treffen auf das Doppelgesicht der Freiheit, wie wir es schon zuvor diskutiert haben. Der Einzelne wird von wirtschaftlichen und politischen Fesseln frei. Er gewinnt auch etwas an positiver Freiheit durch die aktive, unabhängige Rolle, die er im neuen System spielen muss. Aber gleichzeitig wird er auch von all jenen Bindungen frei, die ihm zuvor Sicherheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit gaben. Das Leben läuft nicht mehr in einer in sich geschlossenen Welt ab, deren Mittelpunkt der Mensch war, die Welt ist grenzenlos und zugleich bedrohlich geworden. Dadurch, dass er seinen festen Platz in einer in sich geschlossenen Welt verliert, geht dem Menschen auch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens verloren. Er fühlt sich von mächtigen, überpersönlichen Kräften, dem Kapital und dem Markt, bedroht. Die Beziehung zu seinen Mitmenschen, von denen jeder ein potenzieller Konkurrent ist, wird feindlich und entfremdet. Er ist frei - das heißt, er ist allein, isoliert, bedroht von allen Seiten. Da er weder den Reichtum noch die Macht besitzt, über welche die Renaissance-Kapitalisten verfügten, und da er überdies das Gefühl des Einsseins mit seinen Mitmenschen und dem Universum verloren hat, überwältigt ihn ein Gefühl persönlicher Nichtigkeit und Hilflosigkeit. Er hat das Paradies auf immer verloren. Der Einzelne steht allein der Welt gegenüber - ein Fremder, hineingeworfen in eine grenzenlose, bedrohliche Welt. Die neue Freiheit musste in ihm ein tiefes Gefühl der Unsicherheit und Ohnmacht, des Zweifels, der Verlassenheit und Angst wecken. Wenn der Mensch sich in der Welt behaupten sollte, musste er wenigstens teilweise von diesen Gefühlen erleichtert werden.

b) Das Zeitalter der Reformation

An diesem Punkt der Entwicklung traten Luthertum und Calvinismus in Erscheinung. Die neuen Glaubenslehren waren keine Religion für die Reichen, sondern für den städtischen Mittelstand[13], für die Armen in den Städten und für die Bauern. Sie sprachen diese Gruppen an, weil sie einem neuen Freiheits- und Unabhängigkeitsgefühl ebenso Ausdruck verliehen wie dem Gefühl der Ohnmacht und Angst, das ihre Anhänger erfüllte. Aber die neuen Lehren verliehen nicht nur den Gefühlen Ausdruck, die durch die veränderte Wirtschaftsordnung erzeugt worden waren. Sie verstärkten diese Gefühle noch, boten aber zugleich Lösungen an, welche die Einzelnen in die Lage versetzten, mit einer sonst unerträglichen Unsicherheit fertig zu werden.

Bevor wir mit der Analyse der gesellschaftlichen und psychologischen Bedeutung der neuen religiösen Lehren beginnen, dürften einige Bemerkungen über die hier angewandte Methode das Verständnis unserer Untersuchungen erleichtern.

Wenn man die psychologische Signifikanz einer religiösen oder politischen Doktrin untersucht, sollte man sich vor allem darüber klar sein, dass die psychologische Analyse kein Urteil über den Wahrheitsgehalt der analysierten Doktrin impliziert. Letztere Frage ist nur in Bezug auf die logische Struktur des Problems selbst zu entscheiden. Die Analyse der psychologischen Motivationen, die einer bestimmten Doktrin oder Idee zugrunde liegen, kann nie die rationale Beurteilung der Gültigkeit dieser Doktrin und der darin enthaltenen Werte ersetzen, wenn eine solche Analyse auch [I-255] zu einem besseren Verständnis der wirklichen Bedeutung dieser Lehre verhelfen und hierdurch unser Werturteil mit beeinflussen kann. Was die psychologische Analyse von Doktrinen aufzeigen kann, sind die subjektiven Motivationen, aus denen heraus jemand sich bestimmter Probleme bewusst wird und sich veranlasst sieht, in einer bestimmten Richtung nach Antworten zu suchen. Jedes Denken, sei es richtig oder falsch, ist - sofern es sich nicht lediglich um eine oberflächliche Anpassung an konventionelle Ideen handelt - von subjektiven Bedürfnissen und Interessen dessen motiviert, der denkt. Das Auffinden der Wahrheit kann dann bestimmten Interessen förderlich oder auch abträglich sein. Aber in beiden Fällen spielen die psychologischen Motivationen eine wichtige Rolle bei den Schlussfolgerungen des Betreffenden. Wir können sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass Ideen, die nicht in mächtigen Bedürfnissen des Menschen wurzeln, nur einen geringen Einfluss auf sein Handeln und überhaupt auf sein ganzes Leben haben werden.

Wenn wir religiöse oder politische Doktrinen in Hinblick auf ihre psychologische Bedeutung analysieren, müssen wir zwischen zwei Problemen unterscheiden. Einmal können wir die Charakterstruktur des Betreffenden untersuchen, der die neue Lehre aufstellt, und können herauszufinden suchen, welche Züge seiner Persönlichkeit für die spezielle Richtung seines Denkens maßgebend sind. Im konkreten Fall heißt das, dass wir zum Beispiel die Charakterstruktur Martin Luthers und Johannes Calvins analysieren müssen, um herauszufinden, auf Grund welcher Züge ihrer Persönlichkeit sie zu bestimmten Schlüssen gelangten und gerade diese Lehren aufstellten. Das andere Problem besteht darin, die psychologischen Motive nicht des Schöpfers der neuen Lehre, sondern der gesellschaftlichen Gruppe zu analysieren, welche sich von dieser Lehre angesprochen fühlt. Der Einfluss einer jeden Lehre oder Idee hängt davon ab, in welchem Ausmaß sie den psychologischen Bedürfnissen in der Charakterstruktur jener Menschen entspricht, an die sie sich wendet. Nur wenn die Idee machtvollen psychologischen Bedürfnissen bestimmter Gesellschaftsgruppen entspricht, wird sie zu einer wirklichen Macht in der Geschichte.

Beide Probleme, die Psychologie des Führers und die seiner Anhänger, stehen natürlich miteinander in enger Verbindung. Wenn letztere sich von den gleichen Ideen angesprochen fühlen, müssen wichtige Aspekte ihrer Charakterstruktur ähnlich beschaffen sein. Abgesehen von speziellen Begabungen des Führers auf dem Gebiet des Denkens und Handelns wird seine Charakterstruktur der Persönlichkeitsstruktur derer, die sich von seiner Lehre angesprochen fühlen, entsprechen, und zwar in einer extremeren und eindeutigeren Form. Er wird möglicherweise nur zu klareren und treffenderen Formulierungen gewisser Ideen gelangen, auf die seine Anhänger psychologisch bereits vorbereitet waren. Dass die Charakterstruktur des Führers in ausgeprägterer Form gewisse Merkmale aufweist, die auch bei seinen Anhängern zu finden sind, kann auf zwei verschiedene Gründe - oder auch auf eine Kombination beider - zurückgehen: Einmal kann seine soziale Situation typisch für jene Lebensumstände sein, welche die ganze Gruppe geformt haben; oder aber eben jene Charakterzüge, welche bei der Gruppe die Folge ihrer sozialen Lage sind, können sich bei ihm durch zufällige Umstände - etwa durch seine Erziehung oder durch sonstige individuelle Erfahrungen - in auffälliger Weise herausgebildet haben. [I-256]

Wir wollen in der folgenden Untersuchung der psychologischen Bedeutung der Lehren des Protestantismus und des Calvinismus nicht so sehr Luthers und Calvins Persönlichkeit analysieren, sondern die psychologische Situation der Gesellschaftsklassen, die sich von ihren Ideen angesprochen fühlten. Bevor ich mich der Untersuchung von Luthers Theologie zuwende, möchte ich jedoch im Vorübergehen erwähnen, dass Luther als Persönlichkeit ein typischer Vertreter des „autoritären Charakters“ war, auf den ich an späterer Stelle näher eingehen werde. Er war von einem ungewöhnlich strengen Vater erzogen worden und hatte als Kind wenig Liebe und Sicherheit erfahren; die Folge war, dass er der Autorität gegenüber stets eine ambivalente Haltung einnahm. Einerseits hasste er sie und begehrte gegen sie auf, andererseits bewunderte er sie und war geneigt, sich ihr zu unterwerfen. Sein ganzes Leben lang gab es stets eine Autorität, gegen die er rebellierte, und eine andere, die er bewunderte - in seiner Jugend waren es sein Vater und seine Oberen im Kloster, in seinen späteren Jahren waren es der Papst und die Fürsten. Er war erfüllt von einem heftigen Gefühl der Einsamkeit, Ohnmacht und Sündhaftigkeit, gleichzeitig aber auch von dem leidenschaftlichen Willen, die Oberhand zu behalten. Er war von Zweifeln gepeinigt, wie es nur ein zwanghafter Charakter sein kann, und er war immer auf der Suche nach etwas, das ihm innere Sicherheit geben und ihn von der Qual der Ungewissheit erlösen könnte. Er hasste andere - besonders den „Pöbel“ -, er hasste sich selbst, er hasste das Leben; und aus all diesem Hass heraus erwuchs sein leidenschaftliches, verzweifeltes Verlangen, geliebt zu werden. Sein ganzes Wesen war von Angst und Zweifel durchdrungen, und er fühlte sich völlig isoliert. Das war die persönliche Basis, von der aus er zum Vorkämpfer gesellschaftlicher Gruppen werden sollte, die sich psychologisch in einer sehr ähnlichen Lage befanden.

Zur Methode der folgenden Analyse scheint noch eine weitere Bemerkung angebracht. Jede psychologische Analyse der Gedanken eines Menschen oder einer bestimmten Ideologie zielt darauf ab, die psychologischen Ursprünge dieser Gedanken und Ideen zu erfassen. Die erste Voraussetzung für eine derartige Analyse ist ein volles Verständnis des logischen Kontexts einer Idee. Man muss herauszufinden suchen, was der Autor bewusst sagen will. Bekanntlich jedoch wird der Mensch, auch wenn er subjektiv ehrlich ist, häufig unbewusst von völlig anderen Motiven bestimmt, als er selber glaubt. So kann es vorkommen, dass er einen Begriff seiner semantischen Bedeutung entsprechend gebraucht, bewusst aber etwas ganz anderes damit meint. Außerdem kommt es bekanntlich auch vor, dass jemand gewisse Widersprüche in seinem Fühlen durch ein ideologisches Konstrukt miteinander in Einklang zu bringen versucht oder dass er eine Idee, die er verdrängt hat, hinter einer Rationalisierung versteckt, die das genaue Gegenteil ausdrückt. Unsere Beschäftigung mit dem Unbewussten hat uns misstrauisch gemacht gegen die scheinbar offen zutage liegende Bedeutung von Worten.

Die Analyse von Ideen beschäftigt sich hauptsächlich mit zwei Aufgaben: Die eine besteht darin, das Gewicht festzustellen, das eine bestimmte Idee im Ganzen eines ideologischen Systems besitzt, die andere besteht darin, festzustellen, ob wir es mit einer Rationalisierung zu tun haben, die sich von der realen Bedeutung der Gedanken unterscheidet. Ein Beispiel für die erste Art wäre etwa, dass in Hitlers Ideologie die [I-257] Betonung der Ungerechtigkeit des Versailler Vertrages eine ungeheure Rolle spielt, und Hitler war auch tatsächlich empört über diesen Friedensvertrag. Wenn wir jedoch seine gesamte politische Ideologie analysieren, so sehen wir, dass ihr ein intensives Verlangen nach Macht und Eroberung zugrunde liegt. Obwohl er bewusst das Deutschland widerfahrene Unrecht in den Vordergrund stellt, so besitzt diese Überlegung doch in seinem gesamten Denken nur geringes Gewicht. Ein Beispiel für den Unterschied zwischen der bewusst beabsichtigten Bedeutung eines Gedankens und ihrer realen psychologischen Bedeutung ergibt die Analyse der Lehren Luthers, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen wollen.

Ich behaupte, dass Luthers Beziehung zu Gott dadurch gekennzeichnet ist, dass er sich ihm auf Grund der menschlichen Ohnmacht unterwirft. Er selbst spricht von seiner Unterwerfung unter Gottes Willen als einem freiwilligen Akt, der nicht der Furcht, sondern der Liebe entspringe. Logisch könnte man argumentieren, dass das keine Unterwerfung sei. Psychologisch ergibt sich jedoch aus der Gesamtstruktur von Luthers Denken, dass es sich bei seiner Auffassung von Liebe und Glauben tatsächlich um Unterwerfung handelt: Er ist zwar bewusst der Meinung, seine „Unterwerfung“ unter Gottes Willen sei freiwillig und durch Liebe gekennzeichnet, aber er ist so sehr von dem Gefühl seiner eigenen Ohnmacht und Verderbtheit durchdrungen, dass seine Beziehung zu Gott tatsächlich den Charakter einer Unterwerfung hat. (Genauso empfinden zwei Menschen, die sich in einer masochistischen Abhängigkeit voneinander befinden, diese Abhängigkeit häufig bewusst als „Liebe“.) Vom Standpunkt einer psychologischen Analyse aus hat der Einwand, Luther sage etwas anderes, als was er unserer Ansicht nach (wenn auch unbewusst) meine, nur wenig Gewicht. Meiner Überzeugung nach sind gewisse Widersprüche in seinem System überhaupt nur mit Hilfe einer Analyse der psychologischen Bedeutung seiner Begriffe zu verstehen. Ich habe in der nachstehenden Analyse des Protestantismus die religiösen Lehrsätze der Bedeutung entsprechend interpretiert, die sie im Kontext des gesamten Systems besitzen. Ich habe keine Sätze zitiert, die im Widerspruch zu einigen Lehrsätzen Luthers und Calvins stehen, wenn ich die Überzeugung gewonnen habe, dass sie in ihrem Gewicht und ihrer Bedeutung nach keine wirklichen Widersprüche darstellen. Ich habe aber auch nicht nur jene Sätze herausgegriffen, die in meine Interpretation besonders gut hineinpassen. Meine Analyse gründet sich vielmehr auf eine Untersuchung der psychologischen Grundlage des Gesamtsystems Luthers und Calvins, worauf ich anschließend einzelne Elemente ihrer Lehre im Hinblick auf die psychologische Struktur des Gesamtsystems interpretieren werde.

Wenn wir verstehen wollen, was an den Lehren der Reformation neu war, müssen wir uns zuvor klarmachen, was das Wesen der Theologie der mittelalterlichen Kirche ausmachte. (Ich halte mich hierbei hauptsächlich an R. Seeberg, 1920 und 1930, sowie an B. Bartmann, 1918.) Wir stoßen hier auf dieselbe methodologische Schwierigkeit, die wir bereits im Zusammenhang mit Begriffen wie „mittelalterliche Gesellschaft“ und „kapitalistische Gesellschaft“ erörtert haben. Ebenso wie es im wirtschaftlichen Bereich keinen plötzlichen Übergang von einer Struktur in die andere gibt, gibt es auch in der theologischen Sphäre keine plötzlichen Veränderungen. Gewisse Lehrmeinungen Luthers und Calvins sind denen der mittelalterlichen Kirche so ähnlich, [I-258] dass es manchmal schwerfällt, überhaupt einen wesentlichen Unterschied festzustellen. Genau wie Luthertum und Calvinismus hat die katholische Kirche stets verneint, dass der Mensch allein kraft seiner Tugenden und Verdienste das Heil erringen und auf die Gnade Gottes als dem unentbehrlichen Mittel zur Erlangung der ewigen Seligkeit verzichten könne. Aber unbeschadet aller Gemeinsamkeiten der alten und der neuen Theologie unterscheidet sich doch der Geist der katholischen Kirche wesentlich von dem der Reformation, insbesondere im Hinblick auf das Problem der menschlichen Würde und Freiheit und auf die Auswirkungen der Taten eines Menschen auf sein Schicksal.

Besonders kennzeichnend für die katholische Kirche in der langen Periode vor der Reformation waren Lehren wie die, dass der Natur des Menschen trotz des Sündenfalls ein Streben nach dem Guten eigen sei, dass es dem Willen des Menschen freistehe, das Gute zu wollen, dass er durch sein Bemühen zur Erlangung des Heils beitragen könne und dass der Sünder mit Hilfe der Sakramente der Kirche durch Christi Opfertod errettet werden könne.

Einige der maßgebenden Kirchenlehrer wie Augustinus und Thomas von Aquin haben zwar an den oben erwähnten Lehrmeinungen festgehalten, aber gleichzeitig Lehrsätze aufgestellt, die von einem völlig anderen Geist erfüllt waren. Wenn Thomas von Aquin auch eine Prädestinationslehre vertritt, bleibt doch die Lehre von der Willensfreiheit stets eine seiner Grunddoktrinen. Um den Widerspruch zwischen der Lehre von der Willensfreiheit und der Prädestinationslehre zu überbrücken, muss er sich der verzwicktesten Konstruktionen bedienen. Obwohl diese Konstruktionen auch die Widersprüche kaum befriedigend zu lösen vermögen, nimmt er doch die Lehre von der Willensfreiheit ebenso wenig zurück wie die, dass der Mensch selbst zur Erlangung seines Heils beitragen könne, auch wenn der menschliche Wille dabei des Beistandes der göttlichen Gnade bedürfe. So heißt es etwa in der Summa Theologica (I, q.23, a.8): „Daher sollen die Vorherbestimmten alle Kraft aufbieten, um gut zu arbeiten und gut zu beten, weil durch derartige Werke die Wirkung der Vorherbestimmung mit Sicherheit eintritt. (...) Darum kann die Vorherbestimmung durch die Geschöpfe unterstützt, nicht aber gehindert werden“ (Thomas von Aquin, 1934, S. 264 f.).

Über die Willensfreiheit sagt Thomas von Aquin in der Summa contra gentiles, es widerspreche dem Wesen Gottes und der Natur des Menschen, annehmen zu wollen, dass der Mensch sich nicht frei entscheiden könne, ja, es stehe ihm sogar frei, die ihm von Gott angebotene Gnade zurückzuweisen. (Vgl. Thomas von Aquin, 1937, Buch III, 1, Kap. 73 (S. 279-281); Buch III, 2, Kap. 85 (S. 23-31) und Kap. 159 (S. 322-324).)

Andere Theologen betonen noch mehr als Thomas von Aquin, dass der Mensch sich um sein Heil bemühen müsse. Nach Bonaventura ist es Gottes Beschluss, dem Menschen Gnade zuteil werden zu lassen, doch werden ihrer nur die teilhaftig, die sich durch gute Werke darauf vorbereiten. Diese Feststellung wurde im Verlauf des Dreizehnten, Vierzehnten und Fünfzehnten Jahrhunderts von Duns Scotus, William von Ockham und Gabriel Biel immer stärker betont - eine für das Verständnis des neuen Geistes der Reformation besonders wichtige Entwicklung, denn Luthers Angriffe richteten sich insbesondere gegen [I-259] die Scholastiker des ausgehenden Mittelalters, die er als „Sau-Theologen“ apostrophierte.

Duns Scotus unterstreicht die Bedeutung des Willens: Der Wille ist frei. Dadurch, dass der Mensch seinen Willen in die Wirklichkeit umsetzt, verwirklicht er sein individuelles Selbst, und diese Selbstverwirklichung gewährt dem Menschen höchste Befriedigung. Da der Wille nach Gottes Gebot ein Akt des individuellen Selbst ist, hat selbst Gott keinen direkten Einfluss auf die Willensentscheidung des Menschen.

Gabriel Biel und William von Ockham unterstreichen, dass die eigenen Verdienste eine Vorbedingung für die Erlösung des Menschen sind, und wenn sie dabei auch Gottes Hilfe erwähnen, so hat diese doch bei ihnen die grundsätzliche Bedeutung verloren, die sie bei den älteren Kirchenlehrern besaß. (Vgl. R. Seeberg, 1930, S. 766 f.) Gabriel Biel nimmt an, dass es dem Menschen freisteht, sich jederzeit Gott zuzuwenden, dessen Gnade ihm zu Hilfe kommt. Ockham lehrt, die Natur des Menschen sei durch den Sündenfall nicht wirklich verderbt; für ihn ist die Sünde nur ein einzelner Akt, der an der Substanz des Menschen nichts ändert. Das Trienter Konzil stellte eindeutig fest, dass der freie Wille des Menschen mit Gottes Gnade zusammenwirke, dass er sich aber auch diesem Zusammenwirken entziehen könne. (Vgl. B. Bartmann, 1918, S. 468; R. Seeberg, 1920, S. 767.) Das Bild des Menschen, wie es William von Ockham und andere Spätscholastiker zeichnen, zeigt den Menschen nicht als armen Sünder, sondern als ein freies Wesen, das von Natur aus zu allem Guten fähig ist und dessen Wille frei von natürlichen oder anderen äußeren Zwängen ist.

Der Ablasshandel, der im Spätmittelalter seine zunehmende Rolle spielte und gegen den sich Luthers Hauptangriffe richteten, hing mit dieser stärkeren Betonung des freien Willens und der Nützlichkeit der eigenen Anstrengungen eng zusammen. Wenn man sich beim päpstlichen Abgesandten einen Ablassbrief erwarb, kaufte man sich damit von zeitlichen Sündenstrafen frei, von denen man annahm, sie seien ein Substitut der ewigen Sündenstrafe. Wie R. Seeberg (1930, S. 624) betont, hatte der Sünder allen Grund zur Annahme, mit dem Ablassbrief ein Recht „auf eine jede Sünde umfassende Absolution“ erworben zu haben.

Auf den ersten Blick könnte man den Eindruck gewinnen, als widerspräche es der Idee von der Wirksamkeit menschlichen Bemühens um das Seelenheil, wenn man sich vom Papst einen Ablass von der Strafe des Fegefeuers käuflich erwirbt, da dies ja eine Abhängigkeit von der Autorität der Kirche und ihrer Sakramente impliziert. Bis zu einem gewissen Grad trifft das auch zu, aber es trifft ebenfalls zu, dass diese Praxis einen Geist der Hoffnung und Sicherheit enthielt. Wenn der Mensch sich auf so einfache Weise von der Bestrafung loskaufen konnte, so erleichterte ihm das die Last seiner Schuld beträchtlich. Er konnte sich verhältnismäßig leicht von der Bürde seiner Vergangenheit und von der Angst, die ihn verfolgte, befreien. Außerdem ist nicht zu vergessen, dass nach der ausdrücklichen oder stillschweigend vorausgesetzten Lehre der Kirche ein solcher Ablassbrief nur wirksam war, wenn der Käufer seine Sünden beichtete und bereute.[14] [I-260]

Wir finden diese vom Geist der Reformation stark abweichenden Ideen auch in den Schriften der Mystiker, in den Predigtbüchern und in den Beichtregeln. Überall treffen wir hier auf eine Geisteshaltung, die die Würde des Menschen bestätigt und die den Menschen berechtigt sieht, sein Selbst voll zum Ausdruck zu bringen. Daneben finden wir den Gedanken der Nachfolge Christi bereits im Zwölften Jahrhundert weitverbreitet sowie den Glauben, der Mensch könne danach streben, Gott gleich zu werden. Die Beichtregeln zeigten großes Verständnis für die konkrete Situation des Einzelnen und erkannten an, dass es subjektive, individuelle Unterschiede gibt. Die Sünde behandelten sie nicht als Last, durch die der Mensch sich niedergedrückt und gedemütigt fühlen muss, sondern als menschliche Schwäche, für die man Verständnis aufbringen und vor der man Achtung haben sollte.[15]

Um zusammenzufassen: Die mittelalterliche Kirche betonte die Würde des Menschen, seine Willensfreiheit und die Tatsache, dass seine Bemühungen um ein Gott wohlgefälliges Leben nützlich wären und dass der Mensch Gott ähnlich sei und mit Recht auf Gottes Liebe vertraue. Man empfand die Menschen als gleich, als Brüder in ihrer Gottähnlichkeit. Im Spätmittelalter gerieten dann die Menschen im Zusammenhang mit dem Beginn des Kapitalismus in Verwirrung und Unsicherheit, gleichzeitig jedoch verstärkten sich Tendenzen, welche die Bedeutung des Willens und der Anstrengung des Einzelnen immer stärker betonten. Es ist anzunehmen, dass sich sowohl in der Philosophie der Renaissance als auch in den Lehren der katholischen Kirche im Spätmittelalter der in jenen gesellschaftlichen Gruppen herrschende Geist widerspiegelte, deren wirtschaftliche Lage ihnen ein Gefühl der Macht und Unabhängigkeit gab. Auf der anderen Seite kamen in Luthers Theologie die Gefühle des Mittelstandes zum Ausdruck, der gegen die Autorität der Kirche aufbegehrte und einen Groll gegen die neue Schicht der Reichen hegte, der sich vom emporkommenden Kapitalismus bedroht fühlte und von einem niederdrückenden Gefühl der Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen erfüllt war.

Das Lutherische System entfernt sich von der katholischen Tradition in zwei wesentlichen Punkten, von denen der eine in dem Bild, das gewöhnlich in den protestantischen Ländern von seiner Lehre entworfen wird, stärker betont wird. Es ist der Aspekt, dass die neue Lehre den Menschen in religiösen Dingen unabhängig gemacht hat; dass sie der Kirche ihre Autorität genommen hat, um sie auf den einzelnen Menschen zu übertragen; dass diese Auffassung vom Glauben und der Erlösung ein subjektives, individuelles Erlebnis darstellt, an dem allein der Einzelne verantwortlich beteiligt ist und keinerlei Autorität, die ihm das geben könnte, was er nicht selbst erlangen kann. Wir haben allen Grund, diese Seite von Luthers und Calvins Lehre zu [I-261] begrüßen, ist sie doch mit ein Ausgangspunkt für die Entwicklung der politischen und geistigen Freiheit in der modernen Gesellschaft, für eine Entwicklung, die besonders in den angelsächsischen Ländern untrennbar mit den Ideen des Puritanismus verbunden ist.

Die andere Seite der modernen Freiheit ist die Isolierung und das Gefühl der Ohnmacht, die mit dieser Freiheit beim Einzelnen einhergehen. Isolierung und Ohnmacht haben ihre Wurzeln ebenso sehr im Protestantismus wie die Unabhängigkeit. Da sich dieses Buch hauptsächlich mit der Freiheit als einer Bürde und Gefahr beschäftigt, wird die nachfolgende Analyse bewusst einseitig den Aspekt von Luthers und Calvins Lehre in den Vordergrund stellen, in dem diese negative Seite der Freiheit ihre Wurzeln hat, nämlich ihre nachdrückliche Betonung der grundsätzlichen Schlechtigkeit und Machtlosigkeit des Menschen.

Luther nimmt an, dass der Mensch von Natur aus verderbt ist und dass dies seinen Willen zum Bösen hinlenke, so dass es ihm völlig unmöglich ist, eine gute Tat allein auf Grund seiner Natur zu vollbringen. Der Mensch hat von Grund auf und unausweichlich eine schlechte und lasterhafte Natur (naturaliter et inevitabiliter mala et vitiata natura). Die Verderbtheit der menschlichen Natur und das totale Fehlen der Freiheit, das Rechte zu wählen, sind für Luthers gesamtes Denken grundlegend. Von diesem Geist ist der Anfang seiner Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516 (M. Luther, 1957) erfüllt:

Die Summe dieses Briefes ist: zu zerstören, auszurotten und zu vernichten alle Weisheit und Gerechtigkeit des Fleisches (mag sie in den Augen der Menschen, auch bei uns selbst, noch so groß sein), wie sehr sie auch von Herzen und aufrichtigen Sinnes geübt werden mag. (...) Nicht so sehr darauf, sage ich, ist man (...) bedacht (...), sondern darum geht es, dass unsere Gerechtigkeit und Weisheit vernichtet und ausgerottet werde aus unserem Herzen und dem inwendigen Gefallen an uns selbst vor unseren eigenen Augen.“ (M. Luther, 1957, S. 10 f.)

Diese Überzeugung von der Verderbtheit des Menschen und von seiner Unfähigkeit, aus sich heraus etwas Gutes zu tun, ist eine wesentliche Voraussetzung für Gottes Gnade. Nur wenn der Mensch sich demütigt und seinen eigenen Willen und Stolz völlig vernichtet, senkt sich Gottes Gnade auf ihn herab:

(...). denn Gott will uns nicht durch unsere eigene, sondern durch fremde Gerechtigkeit und Weisheit selig machen, durch eine Gerechtigkeit, die nicht aus uns kommt und aus uns erwächst, sondern von anderswoher zu uns kommt. (...) So muss man also eine Gerechtigkeit lehren, die ganz und gar von außen kommt und eine fremde Gerechtigkeit ist. (M. Luther, 1957, S. 10.)

Sieben Jahre später verlieh Luther in seiner Kampfschrift De servo arbitrio, die sich gegen die Verteidigung der Willensfreiheit durch Erasmus von Rotterdam richtet, der Ohnmacht des Menschen noch radikaleren Ausdruck:

So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will, wie der Psalm (73,22 f.) sagt: „Ich bin wie ein Tier geworden, und ich bin immer bei dir.“ Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, [I-262] sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen. (M. Luther, 1961, S. 196.)

Etwas später erklärt er (M. Luther, 1961, S. 200):

Wenn wir nun überhaupt dieses Wort (freier Wille) nicht aufgeben wollen, was am sichersten und frömmsten wäre, sollten wir lehren, es doch bis dahin gewissenhaft zu gebrauchen: dass dem Menschen ein freier Wille nicht in Bezug auf die Dinge eingeräumt sei, die höher sind als er, sondern nur in Bezug auf das, was so viel niedriger ist als er. (...) Im übrigen hat er gegenüber Gott oder den Dingen, welche Seligkeit oder Verdammnis angehen, keinen freien Willen, sondern ist gefangen, unterworfen, verknechtet - entweder dem Willen Gottes oder dem Willen des Satans.

(Diese Dichotomie von Unterwerfung unter die Mächte über und Beherrschung der unter einem Stehenden ist - wie wir später sehen werden - für die Einstellung des autoritären Charakters charakteristisch.) Die Lehren, dass der Mensch ein machtloses Werkzeug in Gottes Hand und von Grund auf böse sei, dass seine einzige Aufgabe sei, sich in Gottes Willen zu fügen, damit ihn Gott auf Grund eines unfassbaren Aktes der Gerechtigkeit erretten könne - diese Lehren konnten für Luther, diesen so sehr von Angst und Zweifeln getriebenen und gleichzeitig von einem so glühenden Verlangen nach Gewissheit erfüllten Menschen, nicht die endgültige Antwort sein. Schließlich hat er eine Antwort auf seine Zweifel gefunden. 1518 hatte er eine plötzliche Erleuchtung. Der Mensch kann nicht auf Grund seiner Tugenden Erlösung finden; er sollte nicht einmal darüber nachdenken, ob seine Werke Gott wohlgefällig sind; aber er kann seiner Erlösung sicher sein, wenn er glaubt. Der Glaube wird dem Menschen von Gott geschenkt; wenn er das zweifelsfreie subjektive Erlebnis des Glaubens gehabt hat, kann er seiner Erlösung sicher sein. Der Mensch ist in seiner Beziehung zu Gott im Wesentlichen der Rezeptive. Wird ihm Gottes Gnade im Erlebnis des Glaubens zuteil, so verwandelt dies seine Natur, da er sich im Akt des Glaubens mit Christus vereint und die Gerechtigkeit Christi an die Stelle seiner eigenen, durch Adams Fall verlorenen Gerechtigkeit tritt. Allerdings kann der Mensch in diesem Leben nie ganz tugendhaft werden, weil seine natürliche Verderbtheit niemals ganz verschwinden kann. (Vgl. M. Luther, 1969.)

Luthers Lehre vom zweifelsfreien subjektiven Erlebnis der eigenen Erlösung könnte auf den ersten Blick als äußerster Widerspruch zu dem intensiven Gefühl des Zweifels erscheinen, das bis 1518 für seine Persönlichkeit und seine Lehren charakteristisch war. Psychologisch jedoch stellt dieses Hinüberwechseln vom Zweifel zur Gewissheit durchaus keinen Widerspruch dar, sondern beides steht in einer kausalen Beziehung zueinander. Wir müssen uns daran erinnern, was über die Natur dieses Zweifels gesagt wurde: Es handelte sich nicht um den rationalen Zweifel, der sich auf die Freiheit des Denkens gründet und etablierte Ansichten in Frage zu stellen wagt. Es war der irrationale Zweifel, welcher der Isolierung und Ohnmacht des Menschen entspringt, der der Welt voller Angst und Hass gegenübersteht. Dieser irrationale Zweifel kann niemals durch rationale Antworten behoben werden; er kann nur verschwinden, wenn der Betreffende zu einem integralen Bestandteil einer sinnvollen Welt wird. Geschieht dies nicht, wie es bei Luther und dem Bürgertum, das er repräsentierte, der Fall war, so kann der Zweifel nur zum Schweigen gebracht und sozusagen unter die Oberfläche getrieben werden, was durch irgendeine Formel geschehen kann, [I-263] welche absolute Sicherheit verspricht. Das zwanghafte Suchen nach Gewissheit, wie wir es bei Luther finden, ist kein Ausdruck echten Glaubens, sondern wurzelt in dem Bedürfnis, den unerträglichen Zweifel zu überwinden. Luthers Lösung finden wir heute auch bei vielen Menschen, die nicht in theologischen Begriffen denken: Sie suchen Sicherheit, indem sie ihr isoliertes Selbst ausschalten und zu einem Werkzeug in den Händen einer überwältigend starken Macht außerhalb ihrer selbst werden. Für Luther war diese Macht Gott, und er suchte Sicherheit, indem er sich ihm uneingeschränkt unterwarf. Aber wenn es ihm auch gelang, auf diese Weise seine Zweifel bis zu einem gewissen Grade zum Schweigen zu bringen, so verschwanden diese doch in Wirklichkeit nie. Bis zu seinem Tode fielen ihn immer wieder neue Zweifel an, die er durch erneute Unterwerfung bekämpfen musste. Psychologisch hat der Glaube zwei völlig unterschiedliche Bedeutungen. Er kann Ausdruck einer inneren Weltverbundenheit und eine Bejahung des Lebens sein; oder er kann eine Reaktionsbildung gegen ein fundamentales Gefühl des Zweifelns sein, das der Isolierung des Betreffenden und seiner negativen Einstellung zum Leben entspringt. Luthers Glaube war von dieser kompensatorischen Art.

Es ist deshalb besonders wichtig, dass wir die Bedeutung des Zweifels und der Versuche, ihn zum Schweigen zu bringen, verstehen. Hier handelt es sich nicht nur um ein Problem, das Luther und - wie wir sogleich sehen werden - auch Calvins Theologie betrifft, sondern auch um ein grundlegendes Problem des modernen Menschen. Der Zweifel ist der Ausgangspunkt der modernen Philosophie; das Bedürfnis, ihn zum Schweigen zu bringen, war ein mächtiger Ansporn für die Entwicklung der modernen Philosophie und Naturwissenschaft. Aber wenn auch viele rationale Zweifel durch rationale Antworten gelöst wurden, so ist doch der irrationale Zweifel nicht verstummt und kann nicht verstummen, solange dem Menschen nicht der Schritt von der negativen zur positiven Freiheit gelungen ist. Die heutigen Versuche, diesen Zweifel zum Schweigen zu bringen - ob es sich nun um das zwanghafte Streben nach Erfolg oder um den Wahn handelt, aufgehäuftes Wissen von Tatsachen könne dem Streben nach Gewissheit Genüge tun, oder ob man sich einem Führer unterwirft, der die Verantwortung für die „Gewissheit“ auf sich nimmt - alle diese Lösungen können nur bewirken, dass man sich seines Zweifels nicht mehr bewusst ist. Der Zweifel selbst wird nicht verschwinden, solange der Mensch seine innere Vereinsamung nicht überwindet und solange sein Platz in der Welt den menschlichen Bedürfnissen nicht in sinnvoller Weise entspricht.

Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen Luthers Lehren und der psychologischen Situation aller Menschen im ausgehenden Mittelalter mit Ausnahme der Reichen und Mächtigen? Wir sahen, dass die alte Ordnung am Zusammenbrechen war. Der einzelne Mensch hatte die Sicherheit der Gewissheit verloren und fühlte sich von den neuen Kräften im Wirtschaftsleben, von den Kapitalisten und Monopolbesitzern bedroht. Die alte Zunftordnung musste dem freien Wettbewerb weichen. Die unteren Bevölkerungsschichten wurden zunehmend ausgebeutet. Sie fühlten sich vom Luthertum auf andere Weise angesprochen als die Mittelschicht. Die Stadtarmen und vor allem die Bauern befanden sich in einer verzweifelten Lage. Sie wurden skrupellos ausgebeutet und ihrer herkömmlichen Rechte und Privilegien beraubt. [I-264] Bauernaufstände und Unruhen in den Städten zeugten von der revolutionären Stimmung der Massen. Das Evangelium verlieh ihren Hoffnungen und Erwartungen Stimme, wie es das auch für die Sklaven und Arbeiter im frühen Christentum getan hatte, und es veranlasste die Armen, nach Freiheit und Gerechtigkeit zu verlangen. Insoweit wie Luther die Obrigkeit angriff und das Wort des Evangeliums zum Mittelpunkt seiner Lehren machte, sprach er damit diese unruhigen Massen an, wie das auch schon vor ihm andere religiöse Bewegungen, die sich auf das Evangelium beriefen, getan hatten.

Obgleich Luther sich die Gefolgschaft dieser unruhigen Massen gefallen ließ und ihnen zu helfen suchte, konnte er damit doch über einen bestimmten Punkt nicht hinausgehen; er musste das Bündnis mit den Bauern aufkündigen, als sie nicht nur die Autorität der Kirche angriffen und bescheidene Bitten um Verbesserung ihres Loses vorbrachten, sondern zu einer revolutionären Klasse wurden, welche alle Autorität über den Haufen zu werfen und die Grundlage einer Gesellschaftsordnung zu zerstören drohte, an deren Erhaltung das Bürgertum ein vitales Interesse hatte. Denn ungeachtet aller oben erwähnten Schwierigkeiten besaß dieses Bürgertum - selbst in seiner untersten Schicht - Privilegien, die es gegen die Forderungen der Armen zu verteidigen hatte. Aus diesem Grunde war es der erbitterte Feind aller revolutionären Bewegungen, die nicht nur die Privilegien des Adels, der Kirche und der Besitzer von Monopolen, sondern auch die des Mittelstandes abschaffen wollten.

Die Stellung des Mittelstandes zwischen den ganz Reichen und den ganz Armen ist der Grund, dass es auf komplexe und vielfach auch auf widerspruchsvolle Weise reagierte. Es wollte Gesetz und Ordnung aufrechterhalten wissen und war doch selbst vom aufkommenden Kapitalismus in seiner Existenz bedroht. Selbst die Erfolgreicheren dieser Schicht waren nicht so reich und mächtig wie die kleine Gruppe der Großkapitalisten. Sie hatten schwer zu kämpfen, wenn sie vorankommen wollten. Der Luxus der Reichen machte, dass sie sich klein fühlten, und erfüllte sie mit Neid und Erbitterung. Alles in allem war der Mittelstand durch den Zusammenbruch der Feudalordnung und das Emporkommen des Kapitalismus mehr gefährdet, als dass ihm Vorteile daraus erwuchsen.

In Luthers Bild vom Menschen spiegelt sich dieser Zwiespalt. Der Mensch ist frei von allen Bindungen an die geistliche Autorität, aber eben diese Freiheit macht ihn einsam und angsterfüllt. Sie gibt ihm das überwältigende Gefühl seiner persönlichen Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht. Dieser freie, auf sich allein gestellte Mensch fühlt sich zerschmettert durch das Erlebnis seiner individuellen Bedeutungslosigkeit. Luthers Theologie verleiht diesem Gefühl der Hilflosigkeit und des Zweifels Ausdruck. Das Bild vom Menschen, das er entwirft, beschreibt mit religiösen Begriffen die Situation des Einzelnen, wie sie durch die damalige gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung entstanden war. Der Angehörige des Mittelstandes war den neuen Wirtschaftsmächten gegenüber ebenso hilflos, wie es nach Luthers Wort der Mensch gegenüber Gott war.

Aber Luther fasste nicht nur das bereits vorhandene Gefühl der Bedeutungslosigkeit bei den Menschen, für die er predigte, in Worte - er bot ihnen auch eine Lösung an. Indem der Mensch die eigene Bedeutungslosigkeit nicht nur hinnahm, sondern sich [I-265] bis zum äußersten demütigte, indem er jede Spur eines eigenen Willens aufgab und völlig auf die eigene Kraft verzichtete und sie verächtlich abtat, konnte er hoffen, von Gott angenommen zu werden. Luthers Beziehung zu Gott bestand in einer völligen Unterwerfung. Psychologisch bedeutet seine Glaubensauffassung: Wenn du dich ganz unterwirfst, wenn du dich mit deiner Bedeutungslosigkeit abfindest, dann ist der allmächtige Gott vielleicht bereit, dich zu lieben und zu erretten. Wenn du dein individuelles Selbst mit allen seinen Mängeln und Zweifeln in letzter Selbstentäußerung abwirfst, dann befreist du dich von dem Gefühl deiner Nichtigkeit und kannst teilhaben an Gottes Herrlichkeit. So hat Luther die Menschen zwar von der Autorität der Kirche befreit, doch veranlasste er sie gleichzeitig, sich einer weit tyrannischeren Autorität zu unterwerfen, einem Gott, der auf der völligen Unterwerfung des Menschen und auf der Auslöschung des individuellen Selbst als wesentlicher Vorbedingung zur Erlösung bestand. Luthers „Glaube“ war die Überzeugung, man werde unter der Bedingung der völligen Unterwerfung geliebt, eine Lösung, die mit dem Prinzip der völligen Unterwerfung des Einzelnen unter Staat und „Führer“ vieles gemein hat.

Luthers Ehrfurcht vor der Autorität und seine Liebe zu ihr kommt auch in seinen politischen Überzeugungen zum Ausdruck. Obschon er gegen die Autorität der Kirche kämpfte und über die neue Klasse von Kapitalisten empört war (zu der auch die Oberschicht der geistlichen Hierarchie gehörte), und obschon er die revolutionären Bestrebungen der Bauern bis zu einem gewissen Punkt unterstützte, forderte er doch in drastischer Weise, dass man sich der weltlichen Obrigkeit, den Fürsten, zu unterwerfen habe:

Auch wenn die Machthaber böse und ungläubig sind, so ist doch die Ordnung und ihre Gewalt gut und von Gott. (...) Darum, wo es Gewalten gibt und sie in Kraft sind, da sind sie und sind sie in Kraft, weil Gott sie verordnet hat. (M. Luther, 1957, S. 405)

In seiner Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern stellt er sich deutlich gegen die Bauern auf die Seite der Obrigkeit:

So soll nun die Obrigkeit hier getrost fortfahren und mit gutem Gewissen dreinschlagen, solange sie einen Arm regen kann (...) Solche wunderlichen Zeiten sind jetzt, dass ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann, besser als andere mit Beten. (M. Luther, 1967a, S. 195 f.)

Die andere Seite seiner Gebundenheit an die Obrigkeit und seiner Ehrfurcht vor ihr kommt in seinem Hass und seiner Verachtung für die machtlosen Massen des „Pöbels“ zum Ausdruck, besonders wenn diese bei ihren revolutionären Unternehmungen gewisse Grenzen überschritten. In der eben genannten Streitschrift finden wir die berühmte Stelle:

Drum soll hier erschlagen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch; (es ist mit ihm) so wie man einen tollen Hund totschlagen muss: schlägst du (ihn) nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir. (M. Luther, 1967a, S. 192; vgl. auch H. Marcuse, 1936, S. 140-160.)

Wir treffen in Luthers Persönlichkeit wie auch in seinen Lehren auf eine ambivalente Einstellung zur Autorität. Einerseits hat er eine übertriebene Ehrfurcht vor ihr - vor der weltlichen Obrigkeit wie auch vor einem tyrannischen Gott - und andererseits [I-266] rebelliert er gegen die Autorität - nämlich die der Kirche. Die gleiche ambivalente Haltung nimmt er der Masse des Volkes gegenüber ein. Soweit es nur innerhalb der Grenzen, die er ihm gesetzt hat, rebelliert, steht er auf seiner Seite. Aber wenn es gegen die von ihm anerkannte Obrigkeit aufbegehrt, kommen bei ihm ein heftiger Hass und eine tiefe Verachtung der Massen zum Durchbruch.

In dem Kapitel, das sich mit den psychologischen Mechanismen der Flucht befasst [siehe S. 297], werden wir sehen, dass eine gleichzeitige Liebe zur Autorität und ein Hass gegen die Machtlosen typische Merkmale des „autoritären Charakters“ sind.

An diesem Punkt unserer Untersuchung müssen wir uns darüber klar sein, dass Luthers Einstellung zur weltlichen Obrigkeit in enger Beziehung zu seinen religiösen Lehren stand. Dadurch, dass er dem einzelnen Menschen das Gefühl der Wertlosigkeit und Bedeutungslosigkeit in Bezug auf seine persönlichen Verdienste gab, so dass er sich wie ein machtloses Werkzeug in Gottes Hand vorkam, nahm er ihm sein Selbstvertrauen und das Gefühl seiner Menschenwürde, das die Voraussetzung für jeden Widerstand gegen weltliche Unterdrückung ist. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung hatten Luthers Lehren noch weiterreichende Folgen. Nachdem der einzelne Mensch seinen Stolz und das Gefühl seiner Würde einmal verloren hatte, war er psychologisch so weit, auch das für das mittelalterliche Denken so bezeichnende Gefühl zu verlieren, dass der Mensch, sein ewiges Heil und seine spirituellen Ziele der Zweck des Lebens seien; er war jetzt bereit, eine Rolle zu übernehmen, bei der sein Leben ein Mittel zu Zwecken wurde, die außerhalb seiner selbst lagen, zu den Zwecken der wirtschaftlichen Produktivität und der Anhäufung von Kapital. Luthers Ansichten über wirtschaftliche Probleme waren noch mehr als die Calvins typisch mittelalterlich. Er hätte den Gedanken, dass das Leben des Menschen zu einem Mittel für wirtschaftliche Zwecke werden sollte, mit Abscheu von sich gewiesen. Aber während er in Bezug auf die ökonomischen Belange noch im traditionellen Denken verhaftet war, stand doch seine Betonung der Nichtigkeit des Einzelnen im Gegensatz hierzu und bahnte einer Entwicklung den Weg, bei der der Mensch nicht nur der weltlichen Obrigkeit zu gehorchen hatte, sondern wo er sein ganzes Leben wirtschaftlichen Leistungen unterzuordnen hatte. In unseren Tagen erreichte diese Entwicklung einen Höhepunkt in der Behauptung der Faschisten, es sei das Ziel des Lebens, dass es „höheren“ Mächten, dem Führer oder der Rassengemeinschaft, geopfert werde.

Calvins Theologie, die für die angelsächsischen Länder die gleiche Bedeutung gewinnen sollte wie die Luthers für Deutschland, ist im Wesentlichen sowohl theologisch als auch psychologisch vom gleichen Geist erfüllt. Obwohl auch er sich gegen die Autorität der Kirche und die blinde Anerkennung ihrer Lehrmeinungen auflehnt, wurzelt die Religion für ihn in der Ohnmacht des Menschen. Die Selbsterniedrigung und die Ausrottung des menschlichen Stolzes sind die Leitmotive seines gesamten Denkens. Nur wer diese Welt verachtet, kann sich auf die zukünftige Welt vorbereiten:

Unser Herz wird sich nie und nimmer ernstlich zum Verlangen und zum Trachten nach dem zukünftigen Leben erheben, wenn es nicht zuvor mit der Verachtung des gegenwärtigen erfüllt ist. (J. Calvin, 1955, S. 462 [III,9,1].)

Calvin lehrt, dass wir uns demütigen sollen und dass wir uns eben durch diese Selbsterniedrigung auf Gottes Macht verlassen können.

Denn nichts kann uns so sehr dazu [I-267] treiben, das Vertrauen und die Gewissheit unseres Herzens auf den Herrn zu werfen, als das Misstrauen gegen uns selber und die Angst, die aus dem Bewusstsein unserer Not in uns aufkommt.“ (J. Calvin, 1955, S. 359 [III,2,23].)

Er predigt, der Mensch solle nicht das Gefühl haben, sein eigener Herr zu sein:

Wir sind nicht unsere eigenen Herren - also darf bei unseren Plänen und Taten weder unsere Vernunft noch unser Wille die Herrschaft führen. Wir sind nicht unsere eigenen Herren - also dürfen wir uns nicht das Ziel setzen, danach zu suchen, was uns nach dem Fleische nütze! Wir sind nicht unsere eigenen Herren - also sollen wir uns und alles, was wir haben, soweit irgend möglich, vergessen! Auf der anderen Seite: Wir sind Gottes Eigentum - also sollen wir ihm leben und ihm sterben. (...) Denn die schädlichste Pestilenz, die die Menschen nur zugrunde richten kann, herrscht da, wo der Mensch sich selbst gehorcht - und der einzige Hafen des Heils liegt entsprechend darin, dass wir von uns aus nichts denken, von uns aus nichts wollen, sondern einzig dem Herrn folgen, wie er uns vorangeht. (J. Calvin, 1955, S. 446 [III,7,1].)[16]

Der Mensch sollte nie nach Tugend um ihrer selbst willen streben. Das führt nach Calvin nur zur Eitelkeit:

Es ist wahr, was man einst gesagt hat: in der Menschenseele sei eine Welt von Lastern verborgen. Da lässt sich kein anderes Heilmittel finden als dies, dass du dich selbst verleugnest, die Rücksicht auf dich selber beiseite schiebst und deinen Sinn einzig danach streben lässt, das zu suchen, was der Herr von dir fordert, und allein darum danach zu suchen, weil es ihm wohlgefällt. (J. Calvin, 1955, S. 447 [III,7,2].)

Auch Calvin bestreitet, dass man durch gute Werke das Heil erlangen könne. Wir seien völlig unfähig dazu. Nie hat es „ein Werk eines frommen Menschen gegeben, das, wenn es nach Gottes strengem Urteil geprüft wurde, nicht verdammenswert gewesen wäre“ (J. Calvin, 1955, S. 509 [III,14,11]).

Versuchen wir, die psychologische Bedeutung von Calvins System zu verstehen, so gilt im Prinzip das gleiche wie für Luthers Lehre. Auch Calvin predigte für die konservative Mittelschicht, für Leute, die sich grenzenlos verlassen fühlten und von Angst erfüllt waren und deren Gefühle in seiner Lehre von der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Individuums und der Vergeblichkeit seiner Bemühungen zum Ausdruck kamen. Trotzdem besteht ein gewisser Unterschied, denn während sich Deutschland zu Luthers Zeit in einem Zustand allgemeiner Umwälzungen befand, bei denen nicht nur der Mittelstand, sondern auch die Bauern und die Armen in den Städten bedroht waren, war Genf ein verhältnismäßig blühendes Gemeinwesen. Hier fand in der ersten Hälfte des Fünfzehnten Jahrhunderts eine der wichtigsten Warenmessen Europas statt, und wenn es auch bereits zu Calvins Zeit in dieser Beziehung von Lyon in den Schatten gestellt wurde, so hatte es sich doch seine wirtschaftliche Stabilität zum größten Teil bewahrt. (Vgl. J. Kulischer, 1928, S. 249.)

Man kann wohl mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass Calvins Anhänger hauptsächlich der konservativen Mittelschicht angehörten (vgl. G. Harkness, 1931, S. 151 ff.), und dass auch in Frankreich, Holland und England seine wichtigsten Anhänger nicht bei den neuen Kapitalisten, sondern unter den Handwerkern und kleinen Geschäftsleuten zu suchen waren, von denen es einigen schon besser ging als den anderen, die aber als Gesellschaftsklasse vom aufkommenden Kapitalismus bedroht [I-268] waren. (Vgl. F. Borkenau, 1934, S. 156 ff.) Auf diese Gesellschaftsschicht übte der Calvinismus den gleichen psychologischen Anreiz aus, den wir bereits im Zusammenhang mit dem Luthertum erörtert haben. In ihm drückte sich einerseits das Freiheitsgefühl, zum anderen aber auch das Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des einzelnen Menschen aus. Der Calvinismus bot eine Lösung mit seiner Lehre, dass das Individuum durch völlige Unterwerfung und Selbsterniedrigung auf eine neue Gewissheit hoffen könne.

Es gibt noch eine Reihe subtiler Unterschiede zwischen Calvins und Luthers Lehre, die jedoch für das Hauptthema unseres Buches nicht wichtig sind. Nur auf zwei Unterschiede ist besonders hinzuweisen. Zunächst auf Calvins Prädestinationslehre: Diese wird im Gegensatz zur Prädestinationslehre Augustins, Thomas von Aquins und Luthers zu einem der Ecksteine, ja vielleicht zur zentralen Lehraussage des gesamten Systems. Er gibt ihr dadurch eine neue Wendung, dass er behauptet, Gott habe nicht nur einige für die Erlösung ausersehen, sondern auch andere für die ewige Verdammnis vorherbestimmt. (Vgl. J. Calvin, 1955, S. 619 f. [III,21,5].)

Ewiges Heil oder ewige Verdammnis sind nicht die Folge von guten oder schlechten Taten im Leben eines Menschen, sondern sie sind schon vor seiner Geburt von Gott vorherbestimmt. Weshalb Gott die einen auserwählte und die anderen zur ewigen Verdammnis bestimmte, bleibt ein Geheimnis, dem der Mensch nicht nachforschen sollte. Er hat es getan, weil es ihm gefiel, auf diese Weise seine grenzenlose Macht zu bekunden. Trotz aller Versuche Calvins, die Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit und Liebe beizubehalten, weist sein Gott doch alle Merkmale eines Tyrannen auf, dem jede Spur von Liebe oder auch nur von Gerechtigkeit abgeht. In schroffem Widerspruch zum Neuen Testament leugnet Calvin die übergeordnete Rolle der Liebe: „Wenn nämlich die Scholastiker lehren, die Liebe habe den Vorrang vor Glauben und Hoffnung, so ist das reiner Wahn.“ (J. Calvin, 1955, S. 374 [III,2,41].)

Die Prädestinationslehre hat eine zweifache psychologische Bedeutung. Einmal bringt sie das Gefühl der Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschen zum Ausdruck und unterstreicht es noch. Man kann sich keine Lehre vorstellen, die die Nutzlosigkeit menschlichen Wollens und Bemühens noch stärker zum Ausdruck brächte. Dem Menschen wird die Entscheidung über sein Schicksal völlig aus der Hand genommen, und er kann nichts tun, um die einmal gefallene Entscheidung zu ändern. Andererseits dient bei Luther diese Lehre dazu, den irrationalen Zweifel zum Schweigen zu bringen. Dieser Zweifel erfüllte Calvins Anhänger genauso wie die Anhänger Luthers. Auf den ersten Blick scheint die Prädestinationslehre den Zweifel eher noch zu verstärken, als ihn zum Schweigen zu bringen. Muss denn der Mensch nicht noch mehr von Zweifeln gemartert werden als zuvor, wenn er erfährt, dass er bereits vor seiner Geburt zur ewigen Verdammnis oder zum ewigen Heil vorausbestimmt war? Wenngleich Calvin nicht gelehrt hat, dass es irgendeinen konkreten Beweis für eine solche Sicherheit gäbe, so waren er und seine Anhänger doch tatsächlich fest überzeugt, zu den Auserwählten zu gehören. Sie gelangten zu dieser Überzeugung durch denselben Mechanismus der Selbsterniedrigung, den wir bereits im Zusammenhang mit Luthers Lehre analysiert haben. Dem, der diese Überzeugung besaß, gab die Prädestinationslehre letzte Gewissheit. Man konnte nichts tun, was den [I-269] Zustand des Heils hätte gefährden können, da ja das Heil des Menschen nicht von seinen eigenen Taten abhing, sondern schon vor seiner Geburt beschlossen war. Wie bei Luther führte der fundamentale Zweifel auch hier zum Streben nach absoluter Gewissheit; aber wenn die Prädestinationslehre auch diese Gewissheit gab, so blieb doch der Zweifel im Hintergrund bestehen und musste je neu durch den immer fanatischeren Glauben zum Schweigen gebracht werden, dass die religiöse Gemeinschaft, der man angehörte, den Teil der Menschheit ausmachte, den Gott auserwählt hatte.

Calvins Prädestinationslehre hat noch einen weiteren Aspekt, auf den man hier ausdrücklich hinweisen sollte, weil er in der Nazi-Ideologie aufs heftigste wiederauflebte - ich meine das Prinzip von der grundsätzlichen Ungleichheit der Menschen. Für Calvin gibt es zwei Arten von Menschen: die Auserwählten und die zur ewigen Verdammnis Bestimmten. Da bereits vor ihrer Geburt über ihr Schicksal entschieden ist und sie selbst durch nichts, was sie in ihrem Leben tun, etwas daran ändern können, bestreitet er damit grundsätzlich die Gleichheit der Menschen. Die Menschen sind ungleich erschaffen. Dieses Prinzip bringt es mit sich, dass es auch keine Solidarität zwischen den Menschen gibt, da jener Faktor, der die stärkste Grundlage für die menschliche Solidarität bildet, bestritten wird: die Gleichheit menschlichen Schicksals. Die Calvinisten nahmen naiverweise an, dass sie die Auserwählten und alle anderen die von Gott zur ewigen Verdammnis Verurteilten wären. Unverkennbar kommt in diesem Glauben psychologisch gesehen eine tiefe Verachtung und ein tiefer Hass gegen die anderen menschlichen Wesen zum Ausdruck - wobei es sich tatsächlich um den gleichen Hass handelt, mit dem sie ihren Gott ausstatteten. Wenn uns auch das moderne Denken mehr und mehr zur Überzeugung von der Gleichheit der Menschen hingeführt hat, ist doch der calvinistische Standpunkt nie ganz verschwunden. Die Lehre, dass die Menschen je nach ihrer rassischen Abstammung grundsätzlich verschieden sind, ist eine Bestätigung dieses Prinzips mit anderer Begründung. Psychologisch läuft es auf das gleiche hinaus.

Ein weiterer, sehr bedeutsamer Unterschied zu Luthers Lehre ist der stärkere Nachdruck, der auf die Wichtigkeit sittlichen Strebens und eines tugendhaften Lebens gelegt wird. Nicht, dass der Mensch etwa durch irgendwelche guten Werke, sein Schicksal ändern könnte, aber schon die Tatsache, dass er sich um ein gottgefälliges Leben bemühen kann, ist ein Zeichen dafür, dass er zu den Auserwählten gehört. Die Tugenden, um die sich der Mensch bemühen sollte, sind: „Züchtigkeit, Gerechtigkeit“ in dem Sinne, dass jeder das erhält, was ihm zukommt, „und Gottseligkeit, die uns von den Befleckungen der Welt absondert und in wahrer Heiligkeit mit Gott eint“ (J. Calvin, 1955, S. 448 [III,7,3]). In der weiteren Entwicklung des Calvinismus wird die Bedeutung eines tugendsamen Lebens und eines unermüdlichen Strebens immer stärker betont, insbesondere die Vorstellung, dass der Erfolg in diesem Leben als Ergebnis solchen Strebens ein Zeichen der Erlösung sei. (Auf diese Idee geht besonders Max Weber in seinem Werk ein. Er vertritt die Ansicht, dass sie ein wichtiges Bindeglied zwischen Calvins Lehre und dem Geist des Kapitalismus sei. (Vgl. M. Weber, 1920.)

Aber das besondere Gewicht, das der Calvinismus auf ein tugendhaftes Leben legte (und das für ihn charakteristisch war), besaß auch eine spezielle psychologische [I-270] Bedeutung. Der Calvinismus betonte, dass der Mensch sich unausgesetzt anstrengen müsse. Der Mensch müsse immerzu versuchen, nach Gottes Wort zu leben, und dürfe nie dabei erlahmen. Diese Lehre scheint im Widerspruch zu der anderen Lehre zu stehen, wonach der Mensch aus eigener Anstrengung nichts für sein ewiges Heil tun könne. Eine weit näherliegende Reaktion wäre doch wohl die fatalistische Einstellung, sich überhaupt nicht anzustrengen. Einige psychologische Überlegungen zeigen jedoch, dass dies nicht so ist. Die Angst, das Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht und insbesondere der Zweifel über das Schicksal nach dem Tode stellen einen Seelenzustand dar, der praktisch für jedermann unerträglich ist. Kaum einer, der von dieser Angst befallen ist, dürfte in der Lage sein, sich zu entspannen, sich seines Lebens zu freuen und gleichgültig dem, was später kommen wird, entgegenzusehen. Das drängende Bedürfnis, dieser unerträglichen Ungewissheit und dem lähmenden Gefühl der persönlichen Bedeutungslosigkeit zu entrinnen, führte zur Herausbildung eines Charakterzuges, der für den Calvinismus außerordentlich typisch ist: zu einem Überaktivismus und zum Streben, immer irgendetwas zu tun. Aktivität in diesem Sinne gewinnt Zwangscharakter: Der Betreffende muss mit irgendetwas beschäftigt sein, um das Gefühl des Zweifels und der Ohnmacht zu überwinden. Diese Art von Anstrengung und Aktivität entspringt nicht innerer Kraft und Selbstvertrauen, sondern sie ist ein verzweifelter Versuch, der Angst zu entkommen.

Dieser Mechanismus ist leicht zu beobachten, wenn Menschen von panischer Angst ergriffen werden. Jemand, der in wenigen Stunden die Diagnose seines Arztes über seine Krankheit erwartet - die vielleicht einem Todesurteil gleichkommt - gerät natürlich in einen Zustand der Angst. Gewöhnlich wird er nicht ruhig sitzen bleiben und abwarten. Meist veranlasst ihn die Angst - sofern sie ihn nicht völlig lähmt - zu einer mehr oder weniger krampfhaften Aktivität. Er wird vielleicht im Zimmer auf und ab gehen, wird anfangen, Fragen zu stellen und mit jedem, dessen er habhaft werden kann, ein Gespräch anknüpfen, er wird seinen Schreibtisch aufräumen oder Briefe schreiben. Vielleicht wird er auch seine gewohnte Tätigkeit fortsetzen, jedoch eifriger und aufgeregter als sonst. Was auch immer er tut, von seiner Angst angetrieben wird er versuchen, durch hektische Aktivität das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden.

Das angestrengte Bemühen hat in der calvinistischen Lehre noch eine andere Bedeutung. Die Tatsache, dass jemand dabei nie erlahmt und dass er es sowohl zu einem sittlichen Lebenswandel als auch zu Erfolgen in seinem Beruf bringt, galt mehr oder weniger als deutliches Zeichen dafür, dass man zu den Auserwählten gehörte. Das Irrationale an derartigen zwanghaften Anstrengungen ist, dass damit nicht ein schöpferisches Ziel angestrebt wird, sondern dass sie nur ein Zeichen dafür sein sollen, dass etwas eintreffen wird, was schon zuvor beschlossen war, und zwar von der eigenen Tätigkeit unabhängig und der eigenen Kontrolle völlig entzogen. Dieser Mechanismus ist ein bekanntes Merkmal bei Zwangsneurotikern. Wenn ein solcher Mensch angstvoll darauf wartet, wie ein wichtiges Unternehmen wohl ausgehen wird, zählt er - während er auf das Ergebnis wartet - die Fenster an den Häusern oder die Bäume auf der Straße. Ist es eine gerade Zahl, so wird alles gut ausgehen, ist die Zahl ungerade, so ist das ein Zeichen, dass es schiefgehen wird. Häufig betreffen derartige Zweifel nicht nur einen speziellen Fall, sondern das gesamte Leben eines solchen [I-271] Menschen, der dann ständig nach „Zeichen“ Ausschau halten muss. Oft besteht kein bewusster Zusammenhang zwischen dem Zählen von Steinen, dem Patiencelegen oder Hazardspielen einerseits und der Angst und dem Zweifel des Betreffenden andererseits. Jemand kann aus einem unbestimmten Gefühl der Angst heraus Solitaire spielen und erst bei einer Analyse stellt sich dann die verborgene Funktion dieser Tätigkeit heraus: das Bestreben, Zukünftiges zu enthüllen.

Im Calvinismus war die Bedeutung der Leistung ein Bestandteil der religiösen Lehre. Ursprünglich war sie im Wesentlichen eine sittliche Leistung, später jedoch ging es hauptsächlich um berufliche Tüchtigkeit und deren Ergebnis, d.h. um den geschäftlichen Erfolg oder Misserfolg. Erfolg wurde zum Zeichen von Gottes Gnade, Misserfolg deutete auf ewige Verdammnis. Diese Überlegungen zeigen, dass der Zwang zu unablässigem Streben und Schaffen keineswegs im Widerspruch zur Grundüberzeugung von der Ohnmacht des Menschen stand; vielmehr war er deren psychologische Folge. In diesem Sinne gewinnen Leistung und Arbeit einen völlig irrationalen Charakter. Sie sollten das Schicksal nicht ändern, da dieses von Gott vorausbestimmt war ohne Rücksicht darauf, welche Mühe man sich persönlich gab. Sie dienten nur dazu, das vorausbestimmte Schicksal zu erkennen; gleichzeitig war die hektische Anstrengung ein Beruhigungsmittel gegen das sonst unerträgliche Gefühl der Ohnmacht.

Man darf wohl in dieser neuen Einstellung zu Leistung und Arbeit als Selbstzweck die wichtigste psychologische Veränderung sehen, die sich beim Menschen seit dem Ausgang des Mittelalters feststellen lässt. In jeder Gesellschaft muss man arbeiten, um zu leben. Viele Gesellschaften haben das Problem so gelöst, dass sie die Arbeit von Sklaven verrichten ließen, so dass der Freie sich „edleren“ Beschäftigungen widmen konnte. In solchen Gesellschaften war das Arbeiten eines freien Mannes unwürdig. Auch in der mittelalterlichen Gesellschaft war die Last der Arbeit unter den verschiedenen Klassen der sozialen Hierarchie ungleich verteilt, und es gab auch da ein gut Teil rücksichtslose Ausbeutung. Aber die Einstellung zur Arbeit war eine andere als die, welche sich dann in der Neuzeit entwickelte. Die Arbeit besaß damals noch keinen abstrakten Charakter, sie diente noch nicht der Herstellung von Waren, die man dann mit Profit auf dem Markt abzusetzen hoffte. Man arbeitete zur Befriedigung des konkreten Bedarfs mit dem konkreten Ziel, sich seinen Lebensunterhalt zu sichern. Wie besonders Max Weber zeigt, hatte man nicht das Bedürfnis, mehr zu arbeiten, als zur Aufrechterhaltung des herkömmlichen Lebensstandards erforderlich war. Sicher dürfte es auch in der mittelalterlichen Gesellschaft gewisse Gruppen gegeben haben, für die ihre Arbeit eine Freude war, weil sie ihnen die Möglichkeit gab, ihre produktiven Kräfte zu entfalten. Aber viele andere dürften damals gearbeitet haben, weil ihnen nichts anderes übrigblieb, und sie dürften diese Notwendigkeit als Zwang empfunden haben, der von außen auf sie ausgeübt wurde. Das Neue in der modernen Gesellschaft war, dass die Menschen jetzt nicht mehr so sehr durch äußeren Druck zur Arbeit getrieben wurden, sondern durch einen inneren Zwang, der sie derart antrieb, wie das in anderen Gesellschaften nur ein sehr strenger Fronmeister vermocht hätte.

Der innere Zwang spannte alle Energien wirksamer ein, als das ein Zwang von außen [I-272] jemals erreicht hätte. Gegen äußeren Zwang lehnt sich der Mensch stets bis zu einem gewissen Grad auf, was seine Leistung beeinträchtigt oder ihn für eine differenzierte Aufgabe unfähig macht, die Intelligenz, Initiative und Verantwortungsbewusstsein erfordert. Der innere Zwang zur Arbeit, durch den der Mensch zu seinem eigenen Sklaventreiber wurde, tat jenen Eigenschaften keinen Abbruch. Zweifellos hätte sich der Kapitalismus nicht entwickeln können, wenn nicht der größte Teil der menschlichen Energie immer mehr in die Arbeit gesteckt worden wäre. Es gibt in der Geschichte keine andere Epoche, in welcher freie Menschen ihre ganze Energie so ausschließlich auf diesen einen Zweck, nämlich die Arbeit, verwandt hätten. Der unwiderstehliche Drang zu harter Arbeit wurde zu einer der grundlegenden Produktivkräfte und war von nicht geringerer Bedeutung für die Entwicklung unseres Industriesystems als Dampfkraft und Elektrizität.

Wir haben bisher hauptsächlich von der Angst und dem Gefühl der Ohnmacht gesprochen, welche für die Persönlichkeit des Mittelstandes typisch ist. Wir müssen uns jetzt aber auch noch mit einem anderen Charakterzug beschäftigen, den wir bisher nur flüchtig gestreift haben, mit Feindseligkeit und Ressentiment. Dass sich in der Mittelschicht intensive Feindseligkeit entwickelte, ist nicht weiter verwunderlich. Jeder, der in Bezug auf sein Gefühl und Sinnenleben frustriert ist und sich noch dazu in seiner Existenz bedroht fühlt, wird normalerweise feindselig reagieren. Wie wir sahen, waren der Mittelstand und besonders jene Bürger, die sich noch nicht der Vorteile des emporkommenden Kapitalismus erfreuen konnten, benachteiligt und schwer in ihrer Existenz bedroht. Und noch etwas anderes verstärkte ihre Feindseligkeit: der Luxus und die Macht, welche die kleine Gruppe der Kapitalisten - einschließlich der hohen Würdenträger der Kirche - zur Schau stellen konnten. Ein intensiver Neid gegen sie war die natürliche Folge. Aber die Angehörigen des Mittelstandes hatten - im Gegensatz zu den unteren Bevölkerungsschichten - keine Möglichkeit, diese Feindseligkeit und diesen Neid offen zu äußern. Die Mittellosen hassten die Reichen, von denen sie ausgebeutet wurden, sie versuchten, ihnen ihre Machtstellung zu nehmen und konnten es sich leisten, ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Auch die Oberschicht konnte es sich erlauben, ihrer Aggressivität in ihrem Machtstreben direkten Ausdruck zu verleihen. Dagegen war die Mittelschicht im Wesentlichen konservativ. Wer dazu gehörte, wollte die Gesellschaftsordnung festigen und nicht umstürzen. Jeder hoffte, voranzukommen und an dem allgemeinen Aufschwung teilzuhaben. Daher durfte man seine feindseligen Gefühle nicht offen äußern, ja man durfte sie sich nicht einmal bewusstmachen; man musste sie verdrängen. Wenn man aber seine Feindseligkeit verdrängt, dann entfernt man sie lediglich aus dem Bewusstsein, ohne sie aus der Welt zu schaffen. Ja, die angestaute Feindseligkeit, die sich nicht direkt äußern kann, verstärkt sich immer mehr, bis sie schließlich die ganze Persönlichkeit, die Beziehungen zu anderen Menschen und zu sich selbst - allerdings in rationalisierten und verhüllten Formen - durchsetzt.

Luther und Calvin sind Musterbeispiele für diesen Menschentyp, der ganz von Feindseligkeit durchdrungen ist, und das nicht nur im dem Sinne, dass beide als Persönlichkeit zu den stärksten Hassern unter den Führergestalten der Geschichte - ganz gewiss aber unter den religiösen Führern - gehören. Noch bedeutsamer ist, dass diese [I-273] Feindseligkeit auch in ihre Lehren eindrang und unausweichlich eine Gruppe ansprechen musste, die selbst von einer intensiven, ebenfalls verdrängten Feindseligkeit erfüllt war. Den auffälligsten Ausdruck fand diese Feindseligkeit in ihrer Gottesvorstellung, besonders in Calvins Lehre. Wenn wir auch alle mit diesem Gottesbegriff vertraut sind, machen wir uns oft nicht klar, was es bedeutet, sich Gott so unbarmherzig und willkürlich vorzustellen, wie der Gott Calvins, der einen Teil der Menschheit zur ewigen Verdammnis bestimmt, ohne eine andere Rechtfertigung oder einen anderen Grund dafür zu haben, als dass er damit seine Macht beweist. Natürlich beschäftigte sich Calvin selbst mit den Einwänden, die gegen seine Gottesvorstellung auf der Hand lagen. Aber die mehr oder weniger scharfsinnigen Konstruktionen, mit denen er das Bild eines gerechten und liebenden Gottes zu erhalten suchte, sind nicht im geringsten einleuchtend. Dieses Bild eines despotischen Gottes, der die unumschränkte Gewalt über die Menschen und deren Unterwerfung und Demütigung verlangt, war eine Projektion der Feindseligkeit und des Neides der Mittelschicht.

Feindseligkeit und Ressentiment kamen auch in den Beziehungen zu anderen Menschen zum Ausdruck. Meist äußerten sie sich in der Form moralischer Entrüstung, die von Luthers Zeiten bis zu Hitler für die untere Schicht des Mittelstandes stets kennzeichnend war. Während diese Schicht im Grunde auf alle neidisch war, die über Reichtum und Macht verfügten und sich ihres Lebens freuen konnten, rationalisierten sie dieses Ressentiment und den Neid auf deren Lebensweise mit moralischer Entrüstung und mit der Überzeugung, dass die Höhergestellten mit ewigen Höllenqualen bestraft würden. (Vgl. S. Ranulf, 1964, - eine Untersuchung, die einen wichtigen Beitrag zu der These bildet, dass die moralische Entrüstung ein charakteristischer Zug des Bürgertums, besonders der unteren Mittelschicht ist.) Aber die feindliche Einstellung gegen andere machte sich auch noch auf andere Weise Luft. Calvins Herrschaft in Genf war durch Argwohn und Feindseligkeit aller gegen alle gekennzeichnet, und ganz gewiss war in seinem despotischen Regime nur wenig vom Geist der Liebe und Brüderlichkeit zu spüren. Calvin misstraute dem Reichtum und hatte gleichzeitig wenig Mitleid mit der Armut. Später kam es im Calvinismus oft zu Warnungen vor einer freundlichen Haltung Fremden gegenüber; es entwickelte sich eine grausame Haltung gegenüber den Armen und eine allgemeine Atmosphäre des Misstrauens. (Vgl. M. Weber, 1920, S. 102; R. H. Tawney, 1926, S. 190, und S. Ranulf, 1964, S. 66 ff.)

Man projizierte Feindseligkeit und Eifersucht nicht nur auf Gott, und sie fand nicht nur einen indirekten Ausdruck in der moralischen Entrüstung; sie richtete sich auch gegen die eigene Person. Wir sahen, wie leidenschaftlich sowohl Luther als auch Calvin die Schlechtigkeit des Menschen betonte und wie beide lehrten, dass Selbstdemütigung und Selbsterniedrigung die Grundlage aller Tugend seien. Ganz sicher hatten sie dabei bewusst nur ein höchstes Maß an Demut im Sinn. Aber für jeden, der mit den psychologischen Mechanismen der Selbstbeschuldigung und Selbstdemütigung vertraut ist, kann kein Zweifel bestehen, dass diese Art „Demut“ in einem heftigen Hass wurzelt, der sich - aus welchem Grund auch immer - nicht unmittelbar gegen die Außenwelt äußern kann und sich daher gegen die eigene Person richtet. Um dieses Phänomen ganz zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass die Einstellung [I-274] anderen und sich selbst gegenüber keineswegs im Widerspruch zueinander steht, sondern prinzipiell parallel läuft.[17] Aber während die Feindseligkeit gegen die anderen Menschen oft bewusst ist und offen zum Ausdruck gebracht werden kann, ist die Feindseligkeit gegen sich selbst (außer in pathologischen Fällen) im Allgemeinen unbewusst und kommt in indirekter und rationalisierter Form zum Ausdruck. Eine dieser Formen besteht darin, dass jemand nachdrücklich seine eigene Sündhaftigkeit und Bedeutungslosigkeit betont, wie wir bereits oben erwähnten. Eine andere Form erscheint in der Verkleidung von Gewissen oder Pflicht. Genauso wie es eine Demut gibt, die mit Selbsthass nichts zu tun hat, so gibt es auch eine echte Gewissenhaftigkeit und ein echtes Pflichtgefühl, die sich nicht auf Feindseligkeit gründen. Diese echte Gewissenhaftigkeit ist Teil einer integrierten Persönlichkeit, und wer sich in seinem Verhalten davon bestimmen lässt, bestätigt damit seine Gesamtpersönlichkeit. Das sogenannte Pflichtgefühl jedoch, wie es von der Reformation bis heute in seinen religiösen und weltlichen Rationalisierungen das gesamte Leben der Menschen durchdringt, ist stark von Feindseligkeit gegen die eigene Person gefärbt. Das „Gewissen“ ist ein Sklaventreiber, den der Mensch in sich selbst hineingenommen hat. Es stachelt ihn an zu Wünschen und Zielen, von denen der Betreffende glaubt, es seien seine eigenen, während es sich tatsächlich um die Internalisierung äußerer, gesellschaftlicher Anforderungen handelt. Es treibt ihn barsch und grausam voran, verbietet ihm jedes Vergnügen und alles Glück und macht sein ganzes Leben zu einer Bußübung für irgendeine mysteriöse Sünde.[18] Auf dieses Gewissen gründet sich auch die für den frühen Calvinismus und den späteren Puritanismus so charakteristische „innerweltliche Askese“. Die Feindseligkeit, in der diese moderne Art der Demut und des Pflichtgefühls wurzelt, erklärt auch einen sonst ziemlich unerklärlichen Widerspruch, dass nämlich eine derartige Demut mit der Verachtung anderer Menschen Hand in Hand geht und dass die Selbstgerechtigkeit tatsächlich die Liebe und das Erbarmen verdrängt hat. Bei echter Demut und echtem Pflichtgefühl seinen Mitmenschen gegenüber wäre das unmöglich. Aber diese Selbstdemütigung und dieses das Selbst negierende „Gewissen“ bildet nur die eine Seite einer Feindseligkeit, deren andere Seite die Verachtung der anderen und der Hass gegen sie sind.

Nach dieser kurzen Analyse der Bedeutung des Freiheitsbegriffs in der Reformationszeit scheint es mir angebracht, noch einmal zusammenzufassen, zu welchen Schlussfolgerungen wir bezüglich unseres spezifischen Problems der Freiheit und der allgemeinen Frage nach der Wechselwirkung zwischen wirtschaftlichen, psychologischen und ideologischen Faktoren im gesellschaftlichen Prozess gelangt sind.

Der Zusammenbruch des mittelalterlichen Systems der Feudalgesellschaft hatte für alle Schichten der Gesellschaft hauptsächlich die Bedeutung, dass der Einzelne allein [I-275] gelassen und von den anderen abgesondert wurde. Er war frei. Diese Freiheit hatte zweierlei zur Folge: Dem Menschen wurde die Sicherheit, deren er sich erfreut hatte, und das unzweifelhafte Gefühl der Zugehörigkeit genommen, und er wurde von der Welt losgerissen, die sein Streben nach Sicherheit auf wirtschaftlichem wie auf geistigem Gebiet befriedigt hatte. Er fühlte sich nun allein und war voller Angst. Aber es stand ihm jetzt auch frei, unabhängig zu handeln und zu denken und sein eigener Herr zu werden, um mit seinem Leben zu tun, was in seinen Kräften stand, und nicht das, was ihm von anderen vorgeschrieben wurde.

Aber diese beiden Arten der Freiheit besaßen je nach der realen Lebenssituation der Angehörigen der verschiedenen sozialen Klassen unterschiedliches Gewicht. Nur die erfolgreichste Gesellschaftsschicht profitierte so stark vom aufkommenden Kapitalismus, dass sie zu wirklichem Reichtum und zu wirklicher Macht gelangte. Sie konnte sich ausdehnen, sie konnte erobern und herrschen und Reichtümer ansammeln als Ergebnis der eigenen Tätigkeit und vernünftiger Berechnungen. Die neue Geldaristokratie konnte ebenso wie der Adel die Früchte der neuen Freiheit genießen, was ihr nun ein Gefühl gab, die Welt durch individuelle Initiative meistern zu können. Andererseits musste aber auch sie ihre Herrschaft über die Masse des Volkes behaupten und den Kampf untereinander aufnehmen, so dass auch diese Schicht im Grunde verunsichert und voller Angst war. Im Ganzen gesehen hatte jedoch die Freiheit für diese neuen Kapitalisten eine vorwiegend positive Bedeutung. Dies kam in der neuen Kultur zum Ausdruck, die auf dem Boden der neuen Aristokratie erwuchs: in der Kultur der Renaissance. In ihrer Kunst und Philosophie drückt sich der neue Geist menschlicher Würde, menschlichen Wollens und menschlicher Überlegenheit aus, wenn auch häufig genug Verzweiflung und Skepsis nicht fehlen. Die gleiche Betonung der Macht, individuellen Strebens und Wollens findet sich in den theologischen Lehren der katholischen Kirche des ausgehenden Mittelalters. Die Scholastiker jener Zeit lehnten sich nicht gegen die Autorität auf, sie akzeptierten deren führende Stellung. Aber sie betonten die positive Bedeutung der Freiheit, dass der Mensch sein Schicksal mitbestimme und dass er Kraft, Würde und Willensfreiheit besitze.

Andererseits waren die Armen in den Städten, insbesondere aber die Bauern von einem neuen Streben nach Freiheit und einer glühenden Hoffnung erfüllt, der ständig wachsenden wirtschaftlichen und persönlichen Unterdrückung ein Ende machen zu können. Sie hatten wenig zu verlieren und viel zu gewinnen. Sie waren nicht so sehr an den dogmatischen Spitzfindigkeiten als an den Grundlehren der Bibel interessiert: an Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Ihren Hoffnungen verliehen sie in einer Reihe von religiösen Bewegungen und politischen Aufständen aktiven Ausdruck, die von dem kompromisslosen Geist erfüllt waren, der auch für das Urchristentum typisch war.

Unser Hauptinteresse galt jedoch der Reaktion des Mittelstandes. Der aufkommende Kapitalismus förderte zwar dessen Unabhängigkeit und Initiative, war jedoch auch eine starke Bedrohung seiner Existenz. Zu Beginn des Sechszehnten Jahrhunderts war ein Mitglied dieser Schicht noch nicht in der Lage, große Stärke und Sicherheit aus der neuen Freiheit zu gewinnen. Die neue Freiheit bescherte ihm eher ein Gefühl der Isolation und Bedeutungslosigkeit als ein Gefühl der Stärke und des Selbstvertrauens. [I-276] Außerdem erfüllte ihn ein leidenschaftliches Ressentiment gegen den Luxus und die Machtentfaltung der Reichen einschließlich der hohen Würdenträger der Römischen Kirche. Der Protestantismus verlieh dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit und des Ressentiments Ausdruck. Er zerstörte das Vertrauen des Menschen auf Gottes bedingungslose Liebe. Er lehrte ihn die Verachtung und das Misstrauen gegen sich selbst und die anderen. Er machte ihn zum Mittel statt zum Zweck. Er kapitulierte vor der weltlichen Obrigkeit und gab den Grundsatz auf, dass die weltliche Macht, wenn sie sittlichen Grundsätzen zuwiderhandelt, nicht durch ihre bloße Existenz gerechtfertigt ist, und mit alldem gab er auch wesentliche Dinge auf, welche die Grundlage der jüdisch-christlichen Tradition gewesen waren. Seine Lehren enthielten ein Bild von Mensch, Gott und Welt, das den Glauben an die Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Menschen damit rechtfertigte, dass dies eben der menschlichen Natur entspräche und dass diese Gefühle deshalb durchaus berechtigt wären.

Hierdurch verliehen diese neuen Lehren nicht nur dem Ausdruck, was das durchschnittliche Mitglied des Mittelstandes fühlte, sie verstärkten seine Gefühle noch, indem sie sie rationalisierten und in ein System brachten. Aber sie bewirkten noch mehr als das; sie zeigten dem Einzelnen auch einen Weg, mit seiner Angst fertig zu werden. Sie lehrten ihn, dass er, wenn er seine Ohnmacht und die Boshaftigkeit seiner Natur voll akzeptiere und sein ganzes Leben als Buße für seine Sünden betrachte, durch diese äußerste Selbstdemütigung und durch ein unablässiges Bemühen seinen Zweifel und seine Angst überwinden könne; dass er sich durch seine vollkommene Unterwürfigkeit bei Gott beliebt machen und wenigstens hoffen könne, zu denen zu gehören, deren Heil Gott beschlossen hatte. Der Protestantismus war die Reaktion auf die Bedürfnisse angsterfüllter, entwurzelter und isolierter Menschen, die sich in einer neuen Welt orientieren und eine Beziehung zu ihr finden mussten. Die neue Charakterstruktur, die sich aus den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen ergab und die durch die religiösen Doktrinen noch intensiviert wurde, spielte dann bei der weiteren gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung eine wichtige Rolle. Die in dieser Charakterstruktur begründeten Eigenschaften waren ein Zwang zur Arbeit, ein leidenschaftlicher Sparsinn, die Bereitschaft, sein ganzes Leben einer außerpersönlichen Macht zu weihen, Askese und ein zwanghaftes Pflichtgefühl - Charakterzüge, welche in der kapitalistischen Gesellschaft zu Produktivkräften wurden und ohne die die moderne wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung undenkbar wäre. Es waren dies die spezifischen Formen, in welche die menschliche Energie gegossen wurde und in denen sie zu einer der Produktivkräfte im gesellschaftlichen Prozess wurde. Wenn man sich diesen neuentstandenen Charakterzügen entsprechend verhielt, so war das von den wirtschaftlichen Notwendigkeiten aus gesehen von Vorteil. Außerdem war es psychologisch befriedigend, weil es den Bedürfnissen und den Ängsten dieser neuen Art von Persönlichkeit entsprach. Allgemeiner gesagt bedeutet das, dass der gesellschaftliche Prozess, dadurch dass er die Lebensweise des Einzelnen - d.h. seine Beziehung zu anderen und zur Arbeit - bestimmt, seine Charakterstruktur formt; dieser veränderten Charakterstruktur entsprechen neue Ideologien - religiöse, philosophische und politische - die sie ihrerseits intensivieren, befriedigen und stabilisieren. Die neugebildeten Charakterzüge werden dann zu wichtigen Faktoren [I-277] in der weiteren ökonomischen Entwicklung und beeinflussen ihrerseits den gesellschaftlichen Prozess. Während sie sich ursprünglich als Reaktion auf die Bedrohung durch die neuen ökonomischen Kräfte entwickelt haben, werden sie im Laufe der Zeit selbst zu Produktivkräften, welche die neue wirtschaftliche Entwicklung fördern und intensivieren. (Im „Charakter und Gesellschaftsprozess“ betitelten Anhang zu diesem Buch (1941a, GA I, S. 379-392) findet sich eine ausführlichere Behandlung der Wechselwirkung zwischen sozio-ökonomischen, ideologischen und psychologischen Faktoren.)

4 Die beiden Aspekte der Freiheit für den modernen Menschen

Das vorige Kapitel war der Analyse der psychologischen Bedeutung der Hauptlehren des Protestantismus gewidmet. Es zeigte, dass die neuen religiösen Lehren eine Antwort auf die psychischen Bedürfnisse darstellten, die durch den Zusammenbruch des mittelalterlichen Gesellschaftssystems und durch den Beginn des Kapitalismus entstanden waren. Im Mittelpunkt der Analyse stand das Problem der Freiheit in ihrer zweifachen Bedeutung: Sie beschäftigte sich mit der Freiheit von den traditionellen Bindungen der mittelalterlichen Gesellschaft, die dem Einzelnen ein neues Gefühl der Unabhängigkeit gegeben hatte, während sie ihm aber gleichzeitig das Gefühl der Vereinsamung und Isolation gab und ihn mit Zweifel und Angst erfüllte. Dadurch geriet er in eine neue Unterwürfigkeit und in eine zwanghafte, irrationale Geschäftigkeit.

In diesem Kapitel möchte ich nun zeigen, dass die weitere Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft die Persönlichkeit in der gleichen Richtung beeinflusste, die sie in der Reformationszeit eingeschlagen hatte.

Durch die Lehren des Protestantismus war der Mensch psychologisch auf die Rolle vorbereitet, die er unter dem modernen Industriesystem zu spielen hatte. Dieses System, sein Vollzug und der Geist, der aus ihm erwuchs und der jeden Bereich des Lebens traf, prägte die gesamte Persönlichkeit der Menschen und ließ die im vorigen Kapitel besprochenen Widersprüche noch stärker hervortreten: Es diente der Weiterentwicklung des Individuums - und machte es hilfloser; es gab ihm größere Freiheit - und erzeugte Abhängigkeiten neuer Art. Wir wollen nicht versuchen, die Auswirkungen des Kapitalismus auf die gesamte Charakterstruktur des Menschen zu beschreiben, weil wir uns nur auf einen Aspekt des allgemeinen Problems konzentrieren möchten: auf den dialektischen Charakter des Prozesses der zunehmenden Freiheit. Unser Ziel ist, zu zeigen, dass die Struktur der modernen Gesellschaft den Menschen gleichzeitig auf zweierlei Weise beeinflusst: Er wird unabhängiger, er verlässt sich mehr auf sich selbst und wird kritischer; er wird aber andererseits auch isolierter, einsamer und stärker von Angst erfüllt. Wir können das Gesamtproblem der Freiheit nur verstehen, wenn wir beide Aspekte des Prozesses erkennen und nicht die eine Seite aus den Augen verlieren, während wir die andere verfolgen. [I-279]

Das ist schwierig, weil wir herkömmlicherweise in nicht-dialektischen Begriffen denken und dazu neigen, zu bezweifeln, dass zwei einander widersprechende Tendenzen aus ein und derselben Ursache entspringen können. Außerdem ist die negative Seite der Freiheit, die Last, die sie dem Menschen aufbürdet, nur schwer zu erkennen, besonders für die, deren Herz an der Freiheit hängt. Weil sich in der modernen Geschichte die Aufmerksamkeit im Kampf um die Freiheit immer auf die alten Formen der Autorität und des Zwanges konzentrierte, hatte man natürlich das Gefühl, umso mehr an Freiheit zu gewinnen, je mehr man diese traditionellen Zwänge beseitigte. Dadurch erkennen wir nicht genügend, dass der Mensch sich zwar die alten Feinde seiner Freiheit vom Hals geschafft hat, dass ihm dafür aber neue Feinde erwachsen sind - Feinde, bei denen es sich im Wesentlichen nicht um äußere Beschränkungen handelt, sondern um innere Faktoren, welche die volle Verwirklichung der Freiheit der Persönlichkeit blockieren. Wir glauben beispielsweise, die freie Glaubensausübung stelle einen der endgültigen Siege im Kampf um die Freiheit dar. Dabei machen wir uns nicht klar, dass es sich hierbei zwar um einen Sieg über jene Mächte von Kirche und Staat handelt, die dem Menschen nicht erlaubten, sich in seiner Glaubensausübung nach dem eigenen Gewissen zu richten, dass aber der moderne Mensch weitgehend die innere Fähigkeit verloren hat, überhaupt etwas zu glauben, was nicht naturwissenschaftlich nachweisbar ist. Oder um ein anderes Beispiel anzuführen: Wir haben das Gefühl, die Freiheit der Meinungsäußerung sei der letzte Schritt auf dem Siegesmarsch zur Freiheit. Dabei vergessen wir, dass die freie Meinungsäußerung zwar einen wichtigen Sieg im Kampf gegen alte Zwänge darstellt, dass der moderne Mensch sich aber in einer Lage befindet, wo vieles, was „er“ denkt oder sagt, genau dasselbe ist, was auch alle anderen denken oder sagen; dass er sich nicht die Fähigkeit erworben hat, auf originelle Weise (d.h. selbständig) zu denken - was allein seinem Anspruch einen Sinn gibt, dass niemand das Recht hat, ihm die Äußerung seiner Meinung zu verbieten. Außerdem sind wir stolz darauf, dass sich der Mensch in Bezug auf seine Lebensführung nicht mehr von äußeren Autoritäten sagen zu lassen braucht, was er zu tun und zu lassen hat. Wir übersehen, welch große Rolle die anonymen Autoritäten wie die öffentliche Meinung und der „gesunde Menschenverstand“ spielen, die eine solche Macht über uns haben, weil wir so durchaus bereit sind, uns den Erwartungen entsprechend zu verhalten, die die anderen an uns stellen, und weil wir eine so tief sitzende Angst davor haben, uns von ihnen zu unterscheiden. Mit anderen Worten: Wir sind von der Zunahme unserer Freiheit von Mächten außerhalb unserer selbst begeistert und sind blind für die inneren Zwänge und Ängste, die die Bedeutung der Siege, welche die Freiheit gegen ihre traditionellen Feinde gewonnen hat, zu unterminieren drohen. Daher neigen wir zu der Meinung, es gehe bei dem Problem der Freiheit ausschließlich darum, noch mehr von jener Freiheit zu erwerben, die wir bereits im Verlauf der neueren Geschichte gewonnen haben, und wir hätten weiter nichts zu tun, als die Freiheit gegen all jene Mächte zu verteidigen, welche uns diese Art der Freiheit versagen wollen. Wir vergessen, dass zwar jede Freiheit, die bereits errungen wurde, mit äußerster Energie verteidigt werden muss, dass aber das Problem der Freiheit nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives ist; dass wir nicht nur die traditionelle Freiheit zu bewahren und zu erweitern haben, [I-280] sondern dass wir uns auch eine neue Art von Freiheit erringen müssen, die uns in die Lage versetzt, unser individuelles Selbst zu verwirklichen und zu diesem Selbst und zum Leben Vertrauen zu haben.

Jede kritische Auseinandersetzung mit der Wirkung, die das Industriesystem auf diese Art der inneren Freiheit hatte, muss zunächst deutlich machen, welch ungeheuren Fortschritt der Kapitalismus für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit bedeutete. Jede kritische Bewertung der modernen Gesellschaft, die diese Seite des Bildes vernachlässigt, wurzelt zweifellos in irrationalen, romantischen Vorstellungen und muss in Verdacht geraten, den Kapitalismus nicht um der Sache des Fortschritts willen zu kritisieren, sondern um auf diese Weise die wichtigsten Errungenschaften des Menschen in der neueren Geschichte in Frage zu stellen.

Was der Protestantismus auf spirituellem Gebiet zur Befreiung des Menschen begann, hat der Kapitalismus auf geistig-seelischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet fortgeführt. Die wirtschaftliche Freiheit war die Grundlage für diese Entwicklung, und das mittelständische Bürgertum war ihr Vorkämpfer. Der Einzelne war nicht länger durch ein genau festgelegtes Gesellschaftssystem gebunden, das sich auf die Tradition gründete und in dem es nur verhältnismäßig wenig Spielraum für ein persönliches Vorankommen über die herkömmlichen Grenzen hinaus gab. Jetzt erlaubte man jedem - und erwartete von ihm -, dass er es persönlich so weit brachte, wie es ihm sein Fleiß, seine Intelligenz, sein Mut, seine Sparsamkeit oder auch sein Glück erlaubte. Die Erfolgschancen lagen bei ihm, und es war auch sein eigenes Risiko, unter Umständen in dem wilden Wirtschaftskampf, in dem jeder gegen jeden focht, tot oder verwundet auf der Strecke zu bleiben. Unter dem Feudalsystem waren einem jeden bereits vor seiner Geburt die Grenzen gesteckt, wie weit er es in seinem Leben bringen konnte. Unter dem kapitalistischen System dagegen hatte der Einzelne, besonders wenn er dem Bürgertum angehörte - trotz vieler Einschränkungen - doch eine Chance, seinen eigenen Leistungen und Verdiensten entsprechend zum Erfolg zu gelangen. Er hatte ein Ziel vor Augen, dem er zustreben konnte, und oft besaß er auch gute Chancen, es zu erreichen. Er lernte, sich auf sich selbst zu verlassen, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen und abergläubische Vorstellungen, die zugleich beruhigten und Angst einjagten, aufzugeben. Der Mensch befreite sich immer mehr von der Knechtschaft der Natur; er beherrschte die Naturkräfte in einem Ausmaß, wie man es sich früher nicht hätte träumen lassen. Die Menschen wurden einander gleich; Unterschiede in Bezug auf Klasse und Religion, die früher natürliche Schranken gewesen waren, welche die Einheit der menschlichen Rasse blockiert hatten, verschwanden, und Menschen lernten sich gegenseitig als menschliche Wesen anzuerkennen. Irreführende Elemente verschwanden mehr und mehr aus der Welt. Der Mensch fing an, sich objektiv und mit immer weniger Illusionen zu sehen. Auch die politische Freiheit nahm zu. Kraft seiner wirtschaftlichen Position konnte sich das aufstrebende Bürgertum auch politisch Macht erkämpfen, und die neuerworbene politische Macht erschloss ihm ihrerseits dann wieder neue Möglichkeiten zum wirtschaftlichen Aufstieg. Die großen Revolutionen in England und Frankreich und der Kampf der Amerikaner um ihre Unabhängigkeit sind die Meilensteine, welche diese Entwicklung markieren. Der Höhepunkt der Entwicklung der [I-281] Freiheit im politischen Bereich war der moderne demokratische Staat, der sich auf den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen und des gleichen Rechts aller gründet, sich durch Repräsentanten ihrer eigenen Wahl an der Regierung zu beteiligen. Man erwartete jetzt von jedem, dass er sein eigenes Interesse verfolgte und dabei gleichzeitig das Gemeinwohl seines Volkes im Auge behielt.

Kurz, der Kapitalismus hat den Menschen nicht nur von seinen traditionellen Fesseln befreit, er hat auch in einem enormen Maß zur Vergrößerung der positiven Freiheit und zur Entwicklung eines tätigen, kritischen und verantwortungsbewussten Selbst beigetragen.

Dies war jedoch nur die eine Wirkung, die der Kapitalismus auf den Prozess der zunehmenden Freiheit ausübte; gleichzeitig trug er zur wachsenden Vereinsamung und Isolierung des Einzelnen bei und erfüllte ihn mit dem Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht.

Hier ist zunächst ein Faktor zu erwähnen, der zu den allgemeinen Merkmalen der kapitalistischen Wirtschaft gehört: das Prinzip der individuellen Initiative. Im Gegensatz zum Feudalsystem des Mittelalters, wo ein jeder seinen bestimmten Platz in einem geordneten, durchsichtigen Gesellschaftssystem hatte, stellte das kapitalistische Wirtschaftssystem den Einzelnen völlig auf eigene Füße. Was er tat, wie er es tat und ob er dabei Erfolg hatte oder nicht, war ausschließlich seine Sache. Dass dieser Grundsatz den Prozess der Individualisierung förderte, liegt auf der Hand und wird stets als wichtiger Faktor auf der positiven Seite der modernen Kultur verbucht. Aber während dieses Prinzip die „Freiheit von“ vergrößerte, trug es andererseits dazu bei, sämtliche Bindungen der Menschen untereinander zu durchtrennen, wodurch es den Einzelnen von seinen Mitmenschen isolierte. Die Lehren der Reformation hatten diese Entwicklung vorbereitet. In der katholischen Kirche hatte die Beziehung des Einzelnen zu Gott auf seiner Zugehörigkeit zur Kirche beruht. Die Kirche war das Bindeglied zwischen ihm und Gott, wodurch sie einerseits seine Individualität einschränkte, ihn aber andererseits als den integralen Bestandteil einer Gruppe Gott gegenüberstellte. Der Protestantismus dagegen konfrontierte ihn, allein auf sich gestellt, mit Gott. Der Glaube in Luthers Sinn war eine völlig subjektive Erfahrung, und auch für Calvin war die Überzeugung zu den Auserwählten zu gehören etwas rein Subjektives. Der Mensch, der Gottes Macht ganz allein gegenüberstand, musste sich ja zerschmettert fühlen und sein Heil in der völligen Unterwerfung suchen. Psychologisch unterscheidet sich dieser spirituelle Individualismus nicht allzu sehr vom ökonomischen Individualismus. In beiden Fällen ist der Einzelne völlig auf sich gestellt und steht in dieser Isolation einer überlegenen Macht gegenüber, ob es sich dabei um Gott, um seine Konkurrenten oder um unpersönliche Wirtschaftsmächte handelt. Die individuelle Beziehung zu Gott war die psychologische Vorbereitung für den individuellen Charakter der weltlichen Betätigung des Menschen.

Während der individuelle Charakter des Wirtschaftssystems eine unbestrittene Tatsache ist und nur seine Auswirkung auf die Vereinsamung des Einzelnen manchem zweifelhaft erscheinen mag, widerspricht der nunmehr zu diskutierende Punkt einigen besonders verbreiteten herkömmlichen Anschauungen über den Kapitalismus. Diese laufen darauf hinaus, dass der Mensch in der modernen Gesellschaft zum [I-282] Mittelpunkt und alleinigen Zweck aller Tätigkeit geworden sei, dass er alles, was er tue, für sich selber tue und dass der Egoismus und das Selbstinteresse[19] die allmächtigen Triebfedern aller menschlichen Tätigkeit seien. Aus dem am Anfang dieses Kapitels Gesagten ergibt sich, dass auch wir das bis zu einem gewissen Grad für richtig halten. Der Mensch hat in den letzten vier Jahrhunderten viel für sich selbst, für seine eigenen Zwecke getan. Aber vieles von dem, was er für seinen Zweck und sein Ziel hielt, war nicht sein, wenn wir unter „ihm“ nicht „den Arbeiter“ oder „den Fabrikanten“ verstehen, sondern das konkrete menschliche Wesen mit all seinen emotionalen, intellektuellen und sinnlichen Möglichkeiten. Der Kapitalismus hat nicht nur dem Individuum seine Daseinsberechtigung bestätigt, er hat auch zur Selbstverleugnung und zu einer asketischen Einstellung geführt, die eine direkte Fortsetzung des protestantischen Geistes ist.

Zur Erklärung dieser These müssen wir zunächst auf eine bereits im letzten Kapitel erwähnte Tatsache eingehen. Im Mittelalter war das Kapital der Diener des Menschen, in dem neuzeitlichen System ist es zu seinem Herrn geworden. In der mittelalterlichen Welt war die wirtschaftliche Betätigung ein Mittel zum Zweck; dieser Zweck war das Leben selbst, oder - nach der Lehre der katholischen Kirche - das spirituelle Heil des Menschen. Eine wirtschaftliche Betätigung war notwendig, auch der Reichtum kann Gottes Zwecken dienen, aber alles weltliche Tun und Treiben hatte nur insoweit Bedeutung und Rang, als es diesen übergeordneten Zielen des Lebens diente. Die wirtschaftliche Betätigung und das Streben nach Gewinn um seiner selbst willen wären dem mittelalterlichen Denken ebenso unvernünftig erschienen, wie es uns heute unvernünftig vorkäme, wenn sie nicht vorhanden wären.

Im Kapitalismus wurden die wirtschaftliche Betätigung, der Erfolg und der materielle Gewinn Selbstzweck. Es wurde zum Schicksal des Menschen, dass er zum Gedeihen des Wirtschaftssystems beitragen musste, dass er Kapital anhäufen musste, und dies nicht zum eigenen Glück oder Heil, sondern als Selbstzweck. Der Mensch wurde zu einem Zahnrad im riesigen Wirtschaftsapparat - zu einem wichtigen Zahnrad, falls er über viel Kapital verfügte, und zu einem unwichtigen, wenn er kein Geld hatte -, aber er war stets ein Zahnrad, das einem Zweck diente, der außerhalb seiner selbst lag. Die Bereitschaft, die eigene Person außermenschlichen Zwecken unterzuordnen, hatte der Protestantismus bereits vorbereitet, wenngleich Luther oder Calvin nichts ferner gelegen hätte, als ein solches Übergewicht der wirtschaftlichen Betätigung gutzuheißen. Aber sie hatten in ihrer theologischen Lehre immerhin dieser Entwicklung den Boden bereitet, indem sie dem Menschen sein geistiges Rückgrat brachen, ihm das Gefühl für seine Würde und seinen Stolz nahmen und ihn lehrten, er habe mit seiner Tätigkeit Zwecken zu dienen, die außerhalb seiner selbst liegen.

Wie wir im vorigen Kapitel feststellten, war ein Hauptpunkt in Luthers Lehre die Betonung der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur und der Vergeblichkeit allen guten Willens und allen Bemühens. Calvin betonte die Sündhaftigkeit des Menschen nicht weniger als Luther und stellte den Gedanken, dass der Mensch seinen Hochmut bis zum Äußersten demütigen müsse, in den Mittelpunkt seines gesamten Systems.

Außerdem betonte er, dass der Zweck des Lebens ausschließlich Gottes und nicht des Menschen Ruhm und Ehre sei. So bereiteten Luther und Calvin den Menschen [I-283] psychologisch auf die Rolle vor, die er in der modernen Gesellschaft zu übernehmen hatte: sich selbst als völlig unbedeutend zu empfinden und bereit zu sein, sein Leben ausschließlich Zwecken unterzuordnen, die nicht seine eigenen waren. Nachdem er erst einmal bereit war, nichts anderes sein zu wollen, als ein Mittel zur Verherrlichung eines Gottes, der weder Gerechtigkeit noch Liebe repräsentierte, war er genügend darauf vorbereitet, die Rolle des Dieners einer Wirtschaftsmaschinerie zu akzeptieren - und schließlich auch einen „Führer“.

Die Unterordnung des Einzelnen unter wirtschaftliche Zielsetzungen gründet sich auf die Besonderheiten der kapitalistischen Produktionsweise, welche die Anhäufung von Kapital zum Zweck und Ziel des Wirtschaftens macht. Man arbeitet für den Profit, aber der erzielte Gewinn ist nicht dazu da, ausgegeben zu werden, sondern er dient neuen Kapitalinvestitionen. Dieses vergrößerte Kapital bringt neuen Profit, der wiederum investiert wird, und so weiter im Kreislauf. Natürlich hat es immer auch Kapitalisten gegeben, die ihr Geld für Luxusgegenstände oder für einen aufwendigen Lebenswandel „vergeudeten“; aber die klassischen Vertreter des Kapitalismus fanden ihren Genuss in der Arbeit, und nicht im Geldausgeben. Dieser Grundsatz, Kapital anzuhäufen, anstatt es für den Konsum auszugeben, ist die Voraussetzung für die grandiosen Leistungen unseres modernen Industriesystems. Ohne diese asketische Einstellung und den Wunsch, die Früchte seiner Arbeit wieder zu investieren, um die Produktionskapazität des Wirtschaftssystems weiter zu steigern, wären die Fortschritte in der Beherrschung der Natur niemals möglich gewesen. Das Anwachsen der Produktivkräfte der Gesellschaft erlaubt uns zum ersten Mal in der Geschichte die Vision einer Zukunft, in welcher der ständige Kampf um die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse aufhören wird. Aber während der Grundsatz, um der Anhäufung von Kapital willen zu arbeiten, objektiv für den Fortschritt der Menschheit von ungeheurem Wert war, hat er subjektiv gesehen den Menschen veranlasst, für Ziele zu arbeiten, die außerhalb seiner selbst liegen, hat er ihn zum Diener eben des Apparates gemacht, den er selbst gebaut hat, und ihm hierdurch ein Gefühl seiner persönlichen Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht gegeben.

Bisher haben wir uns mit denen befasst, die in der modernen Gesellschaft über Kapital verfügten und in der Lage waren, ihre Gewinne für neue Kapitalinvestitionen zu verwerten. Ganz gleich, ob es sich bei ihnen um große oder um kleine Kapitalisten handelte, widmeten sie ihr Leben der Erfüllung ihrer Funktion innerhalb der Wirtschaft, der Anhäufung von Kapital. Was aber war mit jenen, die kein Kapital besaßen und ihren Lebensunterhalt damit verdienen mussten, dass sie ihre Arbeitskraft verkauften? Psychologisch wirkte sich ihre wirtschaftliche Situation kaum anders aus als die der Kapitalisten. Die Tatsache, dass sie von einem anderen beschäftigt wurden, machte auch sie von der Prosperität oder der Depression des Arbeitsmarktes und von den Auswirkungen technischer Verbesserungen abhängig, die in Händen der Unternehmer lagen. Der Unternehmer machte mit ihnen, was er wollte, und war für sie der Vertreter einer höheren Macht, der sie sich unterordnen mussten. Dies galt besonders für die Arbeiter bis zum Ende des Neunzehnten Jahrhunderts. Später hat dann die Gewerkschaftsbewegung dem Arbeiter eine gewisse eigene Macht in die Hände gegeben, so dass sich seine Lage änderte und er heute nicht mehr nur Objekt der Manipulation ist. [I-284] Aber abgesehen von dieser unmittelbaren persönlichen Abhängigkeit des Arbeiters vom Arbeitgeber war auch er wie die gesamte Gesellschaft von jenem asketischen Geist erfüllt, und auch er ordnete sich jenen außerpersönlichen Zielen unter, die für den Kapitalisten kennzeichnend waren. Das ist auch nicht weiter erstaunlich. In einer jeden Gesellschaft bestimmt der Geist, der in den mächtigsten Gruppen dieser Gesellschaft herrscht, den Gesamtgeist. Das kommt zum Teil daher, dass diese Gruppen das gesamte Bildungssystem unter ihrer Kontrolle haben - die Schulen, die Kirche, die Presse und das Theater -, wodurch sie die ganze Bevölkerung mit ihren eigenen Ideen durchtränken. Außerdem genießen diese mächtigen Gruppen ein solches Ansehen, dass die unteren Schichten nur allzu bereit sind, ihre Wertbegriffe zu übernehmen, sie nachzuahmen und sich mit ihnen psychologisch zu identifizieren.

Wir haben bisher die Ansicht vertreten, dass die kapitalistische Produktionsweise den Menschen zu einem Werkzeug für überpersönliche wirtschaftliche Zwecke gemacht habe und dass sie den Geist der Askese und das Gefühl der Bedeutungslosigkeit beim Einzelnen, wofür der Protestantismus die psychologische Vorbereitung bildete, noch verstärkt habe. Diese These steht jedoch im Widerstreit mit der Tatsache, dass der moderne Mensch in seinem Tun nicht von Opferbereitschaft und Askese, sondern ganz im Gegenteil von einem extremen Egoismus motiviert scheint und offenbar nur die eigenen Ziele verfolgt. Wie kann man es miteinander in Einklang bringen, dass er objektiv gesehen sich in den Dienst von Zielen stellt, die nicht die seinen sind, und trotzdem subjektiv der Meinung ist, er diene seinem Selbstinteresse? Wie kann man den Geist des Protestantismus und dessen Forderung der Selbstlosigkeit mit der modernen Doktrin des Egoismus vereinbaren, der nach Machiavelli der stärkste Antrieb für den Menschen ist, stärker als alle moralischen Erwägungen, so dass der Mensch lieber seinen eigenen Vater sterben sähe, als sein Vermögen zu verlieren? Lässt sich dieser Widerspruch damit erklären, dass die Betonung der Selbstlosigkeit lediglich eine Ideologie war, hinter der sich der Egoismus verbarg? Wenn das auch bis zu einem gewissen Grad der Fall sein könnte, so glaube ich doch nicht, dass damit alles erklärt ist. Wir müssen uns zunächst mit den komplizierten psychologischen Zusammenhängen des Problems der Selbstsucht befassen, wenn wir erkennen wollen, in welcher Richtung die Antwort auf diese Frage zu suchen ist. (Vgl. hierzu Selbstsucht und Selbstliebe, 1939b, GA X, S. 99-123.)

Die den Gedanken von Luther und Calvin wie auch von Kant und Freud zugrunde liegende Annahme ist die, dass die Selbstsucht mit der Selbstliebe identisch sei. Andere zu lieben ist eine Tugend, sich selbst lieben ist eine Sünde. Außerdem schließen sich die Liebe zu anderen und die Liebe zu sich selbst gegenseitig aus.

Wir begegnen hier einem theoretischen Trugschluss in Bezug auf das Wesen der Liebe. Die Liebe wird nicht primär durch ein bestimmtes Objekt „hervorgerufen“, sondern es handelt sich dabei um eine im Menschen bereitliegende Eigenschaft, die durch ein bestimmtes „Objekt“ aktualisiert wird. Hass ist der leidenschaftliche Wunsch zu zerstören; Liebe ist eine leidenschaftliche Bejahung eines „Objektes“. Sie ist kein „Affekt“, sondern ein tätiges Streben und eine innere Bezogenheit, deren Ziel das Glück, das Wachstum und die Freiheit ihres Objektes ist.[20] Sie ist eine Bereitschaft, die sich [I-285] grundsätzlich jeder Person und jedem Objekt einschließlich unserer selbst zuwenden kann. Ausschließliche Liebe zu einer bestimmten Person ist ein Widerspruch in sich selbst. Sicher ist es kein Zufall, wenn eine bestimmte Person zum „Objekt“ einer manifesten Liebe wird. Die Faktoren, die eine solche spezifische Wahl bedingen, sind zu zahlreich und komplex, als dass wir hier näher darauf eingehen könnten. Wichtig ist jedoch, dass die Liebe zu einem bestimmten „Objekt“ nur die Aktualisierung einer immer vorhandenen Liebesbereitschaft auf eine bestimmte Person hin ist. Es ist nicht so, wie das die romantische Liebe gerne haben möchte, dass es auf der Welt nur diese einzige Person gibt, die man lieben kann, dass es die größte Chance im Leben eines Menschen ist, dieser Person zu begegnen, und dass die Liebe zu ihr zur Folge hat, dass man sich von allen anderen zurückzieht. Die Art von Liebe, die man nur einer einzigen Person gegenüber empfinden kann, ist eben aus diesem Grund keine wirkliche Liebe, sondern eine sado-masochistische Bindung. Die grundsätzliche Bejahung des anderen, die in der Liebe enthalten ist, richtet sich auf die geliebte Person als Verkörperung wesentlicher menschlicher Qualitäten. Die Liebe zu einer bestimmten Person impliziert die Liebe zum Menschen als solchem. Die Liebe zum Menschen an sich ist nicht - wie oft angenommen wird - eine Abstraktion, die „nach“ der Liebe zu einer bestimmten Person kommt, oder eine Ausweitung des Erlebnisses mit einem bestimmten „Objekt“. Sie ist vielmehr die Voraussetzung dafür, wenn sie auch genetisch im Kontakt mit konkreten Personen erworben wird.

Hieraus folgt, dass mein eigenes Selbst grundsätzlich ebenso sehr ein Objekt meiner Liebe ist wie eine andere Person. Die Bejahung meines eigenen Lebens, meines Glücks, meines Wachstums und meiner Freiheit wurzelt in meiner grundsätzlichen Bereitschaft und Fähigkeit zu einer solchen Bejahung. Besitzt ein Mensch diese Bereitschaft, dann besitzt er sie auch sich selbst gegenüber; wenn er nur andere „lieben“ kann, dann kann er überhaupt nicht lieben.

Selbstsucht ist nicht dasselbe wie Selbstliebe, sondern deren genaues Gegenteil. Selbstsucht ist eine Art Gier. Wie jede Gier ist sie unersättlich und daher nie wirklich zu befriedigen. Die Gier ist ein Fass ohne Boden. Der Gierige erschöpft sich in der nie endenden Anstrengung, seine Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dass ihm dies je gelingt. Genaue Beobachtung zeigt, dass der Selbstsüchtige zwar stets eifrig darauf bedacht ist, auf seine Kosten zu kommen, dass er aber nie befriedigt ist und niemals Ruhe findet, weil ihm stets die Angst im Nacken sitzt, er könnte nicht genug bekommen, es könnte ihm etwas entgehen und er könnte etwas entbehren müssen. Ein brennender Neid erfüllt ihn auf jeden, der vielleicht mehr haben könnte als er. Wenn wir noch etwas genauer hinsehen und besonders die unbewusste Dynamik beachten, so finden wir, dass sich solche Menschen im Grunde selbst nicht ausstehen können.

Das Rätsel, worauf dieser scheinbare Widerspruch beruht, ist leicht zu lösen. Die Selbstsucht beruht genau darauf, dass man sich selbst nicht leiden kann. Wer sich nicht leiden kann, wer mit sich nicht einverstanden ist, befindet sich in einer ständigen Unruhe in Bezug auf das eigene Selbst. Er besitzt nicht die innere Sicherheit, die nur auf [I-286] dem Boden einer echten Liebe zu sich selbst und der Bejahung der eigenen Person gedeihen kann. Er muss sich ständig mit sich beschäftigen voller Gier, alles für sich zu bekommen, da er von Grund auf unsicher und unbefriedigt ist. Dasselbe gilt für einen sogenannten narzisstischen Menschen, dem es nicht so sehr darauf ankommt, etwas für sich zu bekommen, sondern der sich vor allem selbst bewundern möchte. Während solche Menschen - oberflächlich gesehen - stark in sich verliebt scheinen, können sie sich in Wirklichkeit nicht leiden, und ihr Narzissmus ist - genau wie die Selbstsucht - eine Überkompensation des Mangels an Selbstliebe. Freud hat behauptet, der narzisstische Mensch habe seine Liebe von anderen abgezogen, um sie auf die eigene Person zu übertragen. Der erste Teil dieser Behauptung ist richtig, der zweite Teil ist ein Trugschluss. Der Narzisst liebt weder die anderen noch sich selbst.

Kehren wir jetzt zu der Frage zurück, die uns zu dieser psychologischen Analyse der Selbstsucht geführt hat. Wir sahen uns dem Widerspruch gegenüber, dass der heutige Mensch meint, er sei von seinem Selbstinteresse motiviert, während er tatsächlich sein Leben Zielen widmet, die nicht seine eigenen sind. Genauso hatte auch Calvin das Gefühl, dass das Leben des Menschen nicht um seiner selbst willen, sondern lediglich zur Verherrlichung Gottes da sei. Wir versuchten zu zeigen, dass die Selbstsucht darauf zurückzuführen ist, dass der Betreffende sein wahres Selbst, das heißt, sich als konkretes menschliches Wesen mit all seinen Möglichkeiten nicht bejaht und liebt. Das „Selbst“, in dessen Interesse der moderne Mensch handelt, ist das gesellschaftliche Selbst; ein Selbst, das sich im Wesentlichen mit der Rolle deckt, die der Betreffende nach dem, was die anderen von ihm erwarten, zu spielen hat und die in Wirklichkeit nur eine subjektive Tarnung seiner objektiven Funktion in der Gesellschaft ist. Die moderne Selbstsucht ist die Gier, die auf der Frustration des wahren Selbst beruht und deren Objekt das gesellschaftliche Selbst ist. Während sich der moderne Mensch durch eine nicht mehr zu übertreffende Bejahung seines Selbst auszuzeichnen scheint, ist dieses Selbst in Wirklichkeit geschwächt und auf ein Segment seines totalen Selbst reduziert - nämlich auf seinen Intellekt und seine Willenskraft - unter Ausschluss aller anderen Bestandteile seiner Gesamtpersönlichkeit.

Aber selbst wenn dies zutrifft, könnte man sich fragen, ob nicht die wachsende Beherrschung der Natur zu einer Verstärkung des individuellen Selbst geführt hat. Das ist bis zu einem gewissen Grad auch der Fall, und soweit es stimmt, betrifft es die positive Seite der individuellen Entwicklung, die wir natürlich weiter betreiben möchten. Aber wenn auch der Mensch in bemerkenswertem Ausmaß gelernt hat, die Natur zu beherrschen, so hat die Gesellschaft doch die von ihr ins Leben gerufenen Kräfte nicht unter Kontrolle. Hand in Hand mit der Rationalität unseres Produktionssystems in seinen technischen Aspekten geht die Irrationalität unseres Produktionssystems in seinen gesellschaftlichen Aspekten. Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Kriege bestimmen das Schicksal der Menschen. Der Mensch hat sich seine Welt aufgebaut, er baut Fabriken und Häuser, er produziert Autos und Textilien, er erntet Getreide und Früchte. Aber er ist den Erzeugnissen seiner Hände entfremdet, und er beherrscht die Welt nicht mehr, die er gebaut hat. Ganz im Gegenteil ist diese vom Menschen geschaffene Welt zu seinem Herrn geworden, dem er sich beugt, den er zu besänftigen und so gut er kann zu manipulieren versucht. Das Werk seiner Hände ist [I-287] zu seinem Gott geworden. Er scheint von seinem Selbstinteresse motiviert, in Wirklichkeit aber ist sein gesamtes Selbst mit allen seinen konkreten Möglichkeiten zu einem Werkzeug geworden, das den Zwecken eben jenes Apparates dient, den er selbst geschaffen hat. Er wiegt sich weiter in der Illusion, der Mittelpunkt der Welt zu sein, und ist dennoch von einem intensiven Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht erfüllt, wie es seine Vorfahren einst bewusst Gott gegenüber empfanden.

Das Gefühl der Isolierung und Ohnmacht des heutigen Menschen wird noch durch den Charakter seiner menschlichen Beziehungen verstärkt. Die konkreten Beziehungen zwischen den Menschen haben ihren unmittelbaren und humanen Charakter verloren. Statt dessen manipuliert man einander und behandelt sich gegenseitig als Mittel zum Zweck. In allen persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen gelten die Gesetze des Marktes. Es liegt auf der Hand, dass die Menschen einander gleichgültig sein müssen, wenn sie Konkurrenten sind. Andernfalls könnten sie ihre wirtschaftliche Aufgabe nicht erfüllen, sich gegenseitig zu bekämpfen, und notfalls auch nicht davor zurückzuschrecken, sich gegenseitig wirtschaftlich zugrunde zu richten.

Gleichgültigkeit charakterisiert auch die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das englische Wort für Arbeitgeber (employer von to employ = verwenden, gebrauchen) besagt alles: Der Kapitaleigner verwendet ein anderes menschliches Wesen so, wie er eine Maschine „verwendet“. Arbeitgeber und Arbeitnehmer benutzen sich gegenseitig zur Erreichung ihrer wirtschaftlichen Interessen; sie sind sich in ihrer Beziehung beide Mittel zum Zweck. Es handelt sich nicht um eine Beziehung zwischen zwei menschlichen Wesen, die ein Interesse aneinander haben, abgesehen davon, dass sie sich gegenseitig von Nutzen sind. Die gleiche Instrumentalität beherrscht auch die Beziehung zwischen dem Geschäftsmann und seinem Kunden. Der Kunde ist ein Objekt, das manipuliert werden muss, und keine konkrete Person, deren Wünsche der Geschäftsmann befriedigen möchte. Auch die Einstellung zur Arbeit ist vom gleichen Geist erfüllt. Im Gegensatz zum mittelalterlichen Handwerker ist der moderne Fabrikant nicht in erster Linie daran interessiert, was er produziert; er möchte vor allem erreichen, dass das von ihm investierte Kapital Profit bringt, und was er jeweils produziert, hängt im Wesentlichen davon ab, ob gerade dieser Zweig des Marktes ihm Gewinn verspricht.

Genauso entfremdet sind die Beziehungen der Menschen untereinander. Es ist, als ob es sich nicht um Beziehungen zwischen Menschen, sondern um solche zwischen Dingen handelte.[21] Am verheerendsten aber wirkt sich dieser Geist der Instrumentalisierung und Entfremdung auf die Beziehung des Menschen zu seinem Selbst aus. (Hegel und Marx haben die Grundlage für das Verständnis des Problems der Entfremdung gelegt. Vgl. insbesondere die Begriffe „Warenfetischismus“ und „Entfremdung der Arbeit“ bei Marx.) Der Mensch verkauft nicht nur Waren, er verkauft auch sich selbst und fühlt sich als Ware. Der Handarbeiter verkauft seine Körperkraft; der Geschäftsmann, der Arzt, der Büroangestellte verkauft seine „Persönlichkeit“. Sie müssen „eine Persönlichkeit“ sein, wenn sie ihre Erzeugnisse oder Dienstleistungen verkaufen wollen. Diese Persönlichkeit sollte liebenswürdig sein, aber ihr Besitzer sollte auch noch eine Reihe anderer Erwartungen erfüllen: Er sollte Energie und Initiative besitzen und was sonst noch seine spezielle Stellung erfordert. Wie bei [I-288] anderen Waren ist es auch hier der Markt, der über den Wert dieser menschlichen Eigenschaften, ja sogar über deren Existenz entscheidet. Wenn für die Eigenschaften, die ein Mensch zu bieten hat, kein Bedarf besteht, dann hat er sie auch nicht, genauso wie eine unverkäufliche Ware wertlos ist, wenn sie auch ihren Gebrauchswert haben mag. Demnach ist auch das Selbstvertrauen, das „Selbstgefühl“, nur ein Hinweis darauf, was die anderen über einen denken. Es ist nicht „er“, der von seinem Wert ohne Rücksicht auf seine Beliebtheit und seinem Erfolg auf dem Markt überzeugt ist. Wenn Nachfrage nach jemandem besteht, dann ist er „wer“; wenn er nicht beliebt ist, dann ist er schlechtweg niemand. Diese Abhängigkeit der Selbstachtung vom Erfolg der Persönlichkeit des Betreffenden verleiht der Popularität ihre ungeheure Bedeutung für den modernen Menschen. Von ihr hängt es nicht nur ab, ob man im praktischen Leben vorankommt, sondern auch ob man seine Selbstachtung behaupten kann oder in einen Abgrund von Minderwertigkeitsgefühlen versinkt. (Ernest Schachtel hat in einer unveröffentlichten Vorlesung über das Selbstgefühl und den „Verkauf“ der Persönlichkeit die Selbstachtung klar und unmissverständlich analysiert.)

Wir versuchten zu zeigen, dass die neue Freiheit, die der Kapitalismus dem Einzelnen einbrachte, die Wirkung noch verstärkte, welche die religiöse Freiheit des Protestantismus bereits auf ihn ausgeübt hatte. Der einzelne Mensch wurde noch einsamer, noch isolierter und wurde zum Werkzeug in den Händen überwältigender starker Kräfte außerhalb seiner selbst; er wurde zum „Individuum“, jedoch zu einem verwirrten und unsicheren Individuum. Es gab Dinge, die ihm halfen, über die offen zutage liegenden Manifestationen dieser inneren Unsicherheit hinwegzukommen. Vor allem war der Besitz eine Stütze seines Selbst. „Er“ war als Person nicht von seinem Besitz zu trennen. Seine Kleidung oder sein Haus waren genauso Bestandteil seines Selbst wie der eigene Körper. Je weniger er das Gefühl hatte, jemand zu sein, umso dringender brauchte er Besitz. Hatte er keinen Besitz oder ging dieser ihm verloren, dann ging ihm auch ein wichtiger Teil seines „Selbst“ verloren, und er wurde von den anderen wie auch von sich selbst nicht mehr ganz für voll genommen.

Andere Faktoren, die sein Selbstgefühl stärkten, waren Prestige und Macht. Diese erwachsen einem Menschen einesteils aus seinem Besitz, andererseits sind sie das unmittelbare Ergebnis seines Erfolges im Konkurrenzbereich. Die Bewunderung durch andere und die Macht über sie gaben neben dem Besitz dem unsicheren individuellen Selbst eine gewisse Sicherheit.

Für alle, die nur über wenig Besitz und über ein geringes soziales Prestige verfügten, war die Familie eine Quelle individuellen Prestiges. Hier konnte der Einzelne sich als „jemand“ fühlen. Hier gehorchten ihm seine Frau und seine Kinder, hier spielte er die Hauptrolle, und er nahm naiverweise an, dass diese ihm von Natur aus zukäme. Auch wenn er in seinen gesellschaftlichen Beziehungen ein Niemand war, zu Hause war er König. Neben der Familie gab ihm auch sein Nationalstolz (und in Europa häufig auch sein Standesbewusstsein) ein Gefühl von Bedeutung. Selbst wenn er persönlich ein Niemand war, war er doch stolz darauf, einer Gruppe anzugehören, die sich anderen vergleichbaren Gruppen überlegen fühlen konnte.

Wir müssen jedoch diese Faktoren, die für das geschwächte Selbst eine gewisse Stütze [I-289] darstellten, von jenen zu Anfang dieses Kapitels erwähnten Faktoren unterscheiden: von der tatsächlichen wirtschaftlichen und politischen Freiheit, von der Gelegenheit, persönliche Initiative zu entfalten, von der zunehmenden Aufklärung durch Vernunft. Letztere Faktoren haben das Selbst tatsächlich gestärkt und zur Entwicklung von Individualität, Unabhängigkeit und Rationalität geführt. Aber auch diese Faktoren waren nur eine Kompensation für Unsicherheit und Angst. Diese wurden nicht beseitigt, sondern nur zugedeckt, wodurch sie dem Einzelnen halfen, sich bewusst sicher zu fühlen. Aber dieses Sicherheitsgefühl lag zum Teil nur an der Oberfläche und hielt sich auch nur so lange, als stabilisierende Faktoren vorhanden waren.

Jede ins Einzelne gehende Analyse der europäischen und amerikanischen Geschichte der Zeit zwischen der Reformation und unseren Tagen könnte nachweisen, wie die beiden widersprüchlichen Tendenzen in der Entwicklung der „Freiheit von...“ zur „Freiheit zu...“ parallel laufen - oder besser gesagt eng ineinander verwoben sind. Leider nur überschreitet eine solche Analyse den Umfang dieses Buches und muss einer späteren Veröffentlichung vorbehalten bleiben.[22] In einigen Perioden und in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen war die Freiheit in ihrem positiven Sinn - als Stärke und Würde des Selbst - der dominierende Faktor; dies war etwa in England, Frankreich, Amerika und Deutschland der Fall, als dort das mittelständische Bürgertum auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet über die Vertreter der alten Ordnung seine Siege errang. In diesem Kampf um die positive Freiheit konnte der Mittelstand sich auf jene Seite des Protestantismus stützen, welche die Autonomie und Würde des Menschen betonte, während die katholische Kirche sich mit jenen Gruppen verbündete, die gegen die Befreiung des Menschen um der Aufrechterhaltung ihrer Privilegien willen kämpften.

Im philosophischen Denken der Neuzeit finden wir die beiden Aspekte der Freiheit genauso ineinander verwoben, wie das bereits in den theologischen Lehren der Reformation der Fall war. So waren für Kant und Hegel Autonomie und Freiheit des Individuums zentrale Postulate ihres Systems, während sie andererseits den Einzelnen den Zwecken eines allmächtigen Staates unterordneten. Die Philosophen der Französischen Revolution und die des Neunzehnten Jahrhunderts, wie Feuerbach, Marx, Stirner und Nietzsche, haben dann wieder in kompromissloser Weise der Idee Ausdruck verliehen, dass der Mensch nicht zu Zwecken verwendet werden dürfe, die außerhalb seiner eigenen Entfaltung und seines Glücks lägen. Die reaktionär eingestellten Philosophen dieses Jahrhunderts forderten dagegen ausdrücklich, dass der Einzelne sich der geistlichen und weltlichen Autorität unterzuordnen habe. In der zweiten Hälfte des Neunzehnten und zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts erreichte das Streben nach menschlicher Freiheit in ihrem positiven Sinn seinen Höhepunkt. Nicht nur der bürgerliche Mittelstand nahm daran teil, sondern auch die Arbeiterklasse beteiligte sich aktiv am Kampf um ihre eigenen wirtschaftlichen Ziele wie auch um die weiter gesteckten Ziele der Menschheit.

Mit der zunehmenden Entwicklung des Monopolkapitalismus in den letzten Jahrzehnten scheint sich die Gewichtsverteilung der beiden Tendenzen zur menschlichen Freiheit verändert zu haben. Jene Faktoren, die dazu tendieren, das individuelle Selbst zu schwächen, haben größeres Gewicht gewonnen, während die das [I-290] Individuum stärkenden Elemente entsprechend an Gewicht verloren haben. Das Gefühl der Ohnmacht und Vereinsamung hat beim Einzelnen zugenommen, während seine Freiheit von allen traditionellen Fesseln deutlicher in den Vordergrund trat und die Möglichkeiten zu einem individuellen wirtschaftlichen Aufstieg gleichzeitig zurückgingen. Der Einzelne fühlt sich von gigantischen Mächten bedroht, eine Situation, welche in vieler Weise der im Fünfzehnten und Sechszehnten Jahrhundert ähnlich ist.

In dieser Entwicklung spielt die zunehmende Macht des Monopolkapitals die wichtigste Rolle. Die Konzentration des Kapitals (nicht des Reichtums) in gewissen Sektoren unseres Wirtschaftssystems hat die Erfolgsmöglichkeiten für Initiative, Mut und Klugheit des Einzelnen eingeschränkt. In jenen Bereichen, wo das Monopolkapital seine Siege errungen hat, hat es die wirtschaftliche Unabhängigkeit vieler Menschen zerstört. Für die, welche die Auseinandersetzung nicht aufgegeben haben - insbesondere für einen großen Teil des Mittelstandes - hat sie den Charakter eines erfolglosen Kampfes gegen eine Übermacht angenommen, so dass an die Stelle des Zutrauens zur eigenen Initiative und des Mutes ein Gefühl der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit getreten ist. Eine ungeheure, wenn auch geheime Macht wird über die gesamte Gesellschaft von einer kleinen Gruppe ausgeübt, von deren Entscheidungen das Schicksal eines großen Teils unserer Gesellschaft abhängt. Die Inflation in Deutschland im Jahre 1923 oder der amerikanische Börsenkrach im Jahre 1929 haben dieses Gefühl der Unsicherheit noch erhöht und bei vielen die Hoffnung zerstört, durch eigene Kraft vorankommen zu können; und sie haben ihnen ihren herkömmlichen Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten zum Erfolg genommen.

Der kleine oder mittlere Geschäftsmann, der von der Übermacht des Großkapitals bedroht ist, kann zwar auch weiterhin noch gewinnbringend tätig sein und sich seine Unabhängigkeit bewahren; aber die über seinem Haupt schwebende Bedrohung hat seine Unsicherheit und Ohnmacht weit stärker als in früheren Zeiten vergrößert. Im Konkurrenzkampf gegen die Monopolgesellschaften muss er heute gegen Riesen ankämpfen, während er es früher mit seinesgleichen zu tun hatte. Aber auch die psychologische Situation jener unabhängigen Geschäftsleute, für welche die Entwicklung der modernen Industrie neue wirtschaftliche Funktionen geschaffen hat, unterscheidet sich von der des früheren unabhängigen Geschäftsmannes. Ein Beispiel hierfür ist ein Typ des unabhängigen Geschäftsmannes, der manchmal als Musterbeispiel für das Aufkommen eines neuen mittelständischen Berufs angeführt wird: der Tankstellenbesitzer. Viele dieser Leute sind wirtschaftlich unabhängig. Sie sind der Besitzer ihres kleinen Betriebs, genauso wie das früher bei einem Lebensmittelhändler oder beim Inhaber einer Schneidermeisterei der Fall war. Aber welch ein Unterschied zwischen einem Geschäftsmann des alten und des neuen Typs! Der Lebensmittelhändler brauchte beträchtliche Kenntnisse und Verkaufsgeschick. Er musste sich aus einer Anzahl von Großhändlern jene auswählen, bei denen er einkaufte, und er konnte sich unter ihnen die aussuchen, deren Preise und Qualitäten ihm am günstigsten erschienen; er hatte viele individuelle Kunden, deren Wünsche er kennen musste, die er beim Einkauf beraten musste und bei denen er sich dafür entscheiden musste, ob er ihnen Kredit gewähren wollte oder nicht. Er war nicht nur unabhängig, sein Beruf forderte von ihm auch Geschick, eine individuelle Bedienung seiner Kunden, [I-291] Branchenkenntnisse und Rührigkeit. Der Tankstellenbesitzer befindet sich in einer völlig anderen Situation. Er hat nur eine einzige Ware zu verkaufen: Benzin und Öl. Auch seine Verhandlungsmöglichkeiten mit den Ölgesellschaften sind nur beschränkt. Er wiederholt beim Einfüllen von Benzin und Öl ständig die gleichen Handgriffe. Er hat nicht die Möglichkeiten des kleinen Geschäftsmanns in früheren Zeiten, seine Geschicklichkeit, seine Initiative und seine individuelle Tüchtigkeit zu beweisen. Nur zwei Faktoren bestimmen seinen Profit: der Preis, den er für Benzin und Öl bezahlen muss, und die Zahl der Autos und Motorräder, die vor seiner Tankstelle halten. Beide Faktoren entziehen sich weitgehend seiner Einflussnahme. Er ist lediglich der Zwischenhändler zwischen dem Großhändler und dem Kunden. Psychologisch macht es kaum einen Unterschied, ob er bei einem Konzern angestellt ist oder als „unabhängiger“ Geschäftsmann arbeitet; er ist nur ein Rädchen im großen Verteilungsapparat.

Was den neuen Mittelstand der Angestellten betrifft, deren Zahl entsprechend der Ausweitung der Großunternehmen ständig zugenommen hat, so befinden sie sich offensichtlich in einer völlig anderen Lage als der kleine, unabhängige Geschäftsmann alten Typs. Man könnte die Meinung vertreten, dass sie zwar formal nicht mehr unabhängig sind, aber ebenso große oder sogar noch größere Möglichkeiten haben, durch eigene Intelligenz und Initiative zum Erfolg zu gelangen als in früheren Zeiten der Besitzer einer Schneiderei oder eines Lebensmittelladens. In gewissem Sinn trifft das auch zu, wenn man auch seine Zweifel haben kann, bis zu welchem Grad es stimmt. Aber die psychologische Situation des Angestellten ist eine andere. Er ist Teil eines großen Wirtschaftsapparates, er hat eine hoch spezialisierte Aufgabe, er befindet sich in einem erbitterten Konkurrenzkampf mit Hunderten anderer, die sich in der gleichen Lage befinden, und wird erbarmungslos auf die Straße gesetzt, wenn er ins Hintertreffen gerät. Kurz gesagt, selbst wenn seine Erfolgschancen auch zuweilen größer sind, so hat er doch die Sicherheit und Unabhängigkeit des Geschäftsmanns alten Stils großenteils verloren und ist zu einem größeren oder kleineren Rädchen in einer Maschinerie geworden, die ihm sein Arbeitstempo vorschreibt, die er nicht unter Kontrolle hat und im Vergleich zu der er völlig bedeutungslos ist.

Der riesige Umfang und die gewaltige Macht der Großunternehmen wirkt sich psychologisch auch auf den Arbeiter aus. In den kleineren Betrieben früherer Zeit kannte der Arbeiter seinen Chef persönlich, und er war mit dem gesamten Unternehmen, das für ihn übersichtlich war, vertraut. Obgleich auch er den Gesetzen des Marktes entsprechend eingestellt und wieder entlassen wurde, stand er doch mit seinem Chef und mit dem Betrieb in einer konkreten Beziehung, die ihm das Gefühl gab, den Boden zu kennen, auf dem er stand. Wer dagegen in einem Großbetrieb mit Tausenden von Mitarbeitern beschäftigt ist, befindet sich in einer anderen Situation. Für ihn ist der Chef zu einer abstrakten Figur geworden, die er nie zu sehen bekommt. Das „Management“ ist eine anonyme Macht, mit der er sich nur indirekt auseinanderzusetzen hat und für die er als Einzelner ohne jede Bedeutung ist. Das Unternehmen hat solche Ausmaße, dass er nur noch den kleinen Sektor überblicken kann, in welchem er arbeitet.

Die Gewerkschaften haben für einen gewissen Ausgleich gesorgt. Sie haben nicht nur die wirtschaftliche Lage des Arbeiters verbessert, sie haben auch die wichtige [I-292] psychologische Aufgabe erfüllt, ihm ein gewisses Gefühl der Stärke und Bedeutung gegenüber den Giganten zu geben, mit denen er es zu tun hat. Leider sind nur viele Gewerkschaften selbst zu solchen Mammutorganisationen angewachsen, dass in ihnen für die Initiative des einzelnen Mitglieds kaum noch Raum ist. Man zahlt seine Beiträge und gibt ab und zu seine Stimme ab, aber auch hier ist man nur ein Rädchen in einer großen Maschinerie. Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Gewerkschaften zu Organen werden, die von der aktiven Mitarbeit eines jeden Mitglieds getragen werden, und dass sie sich so organisieren, dass jedes Mitglied aktiv am Leben der Organisation teilnehmen und sich für das, was vorgeht, mitverantwortlich fühlen kann.

Die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen in unserer Zeit bezieht sich nicht nur auf die Rolle des Geschäftsmanns, des Angestellten und Arbeiters, sondern auch auf die Rolle des Kunden. Auch diesbezüglich ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer drastischen Veränderung gekommen. Der Kunde, der in einen kleinen Laden ging, welcher einem unabhängigen Geschäftsmann gehörte, konnte sicher sein, dass man ihm persönliche Aufmerksamkeit schenkte: Was er einkaufte, war dem Kaufmann wichtig. Er wurde empfangen wie jemand, auf den es ankam, und man erkundigte sich genau nach seinen Wünschen. Sein Einkauf gab ihm ein Gefühl von Wichtigkeit und Würde. Wie anders ist das Verhältnis eines Kunden zum Warenhaus. Hier steht er unter dem Eindruck des riesigen Gebäudes, einer Unzahl von Angestellten und der verwirrenden Fülle des Angebots. Dies gibt ihm das Gefühl, im Vergleich zu alldem winzig und unbedeutend zu sein. Als Individuum ist er für das Warenhaus ohne jede Bedeutung. Er ist nur wichtig als „ein“ Kunde. Das Geschäft möchte ihn nicht verlieren, weil das ein Zeichen dafür wäre, dass etwas nicht stimmt, und weil das bedeuten könnte, dass man aus dem gleichen Grund auch noch andere Kunden verlieren könnte. Als abstrakter Kunde ist er wichtig, als konkreter Kunde ist er völlig unwichtig. Niemand freut sich, wenn er das Geschäft betritt, und niemand ist an seinen Wünschen besonders interessiert. Wenn er einkauft, so ist das etwas Ähnliches, wie wenn er auf die Post geht und Briefmarken kauft.

Diese Situation wird durch die heutige Werbung noch augenfälliger. Das Verkaufsgespräch des altmodischen Geschäftsmanns war im Wesentlichen rational. Er wusste Bescheid über seine Ware, er kannte die Wünsche seines Kunden und versuchte auf dieser Basis ihm etwas zu verkaufen. Natürlich war auch sein Verkaufsgespräch nicht ganz objektiv, und natürlich versuchte auch er nach Kräften, den Kunden zum Kauf zu überreden. Aber er musste vernünftige Argumente vorbringen, wenn er Erfolg haben wollte. Bei einem großen Teil der heutigen Werbung ist das anders. Sie appelliert nicht an die Vernunft, sondern an Emotionen. Wie jede Art von hypnoider Suggestion versucht sie ihre Objekte emotional zu beeindrucken, um sie zu veranlassen, den Verstand auszuschalten. Diese Art der Werbung versucht den Kunden auf alle mögliche Weise zu beeindrucken: durch die ständige Wiederholung des immer gleichen Werbeslogans, durch das als Autorität wirkende Bild einer Dame der Gesellschaft oder eines berühmten Boxers, der eine bestimmte Zigarettenmarke raucht, oder dadurch, dass man mit dem Sex-Appeal eines hübschen Mädchens den Kunden anlockt und gleichzeitig sein kritisches Urteilsvermögen herabsetzt, oder dass man ihm mit der Drohung, er habe einen schlechten Körper- oder Mundgeruch, einen [I-293] Schrecken einjagt. Auch bedient man sich der Möglichkeit, in ihm Traumphantasien zu wecken, dass er seinem Leben eine plötzliche Wendung geben könnte, wenn er ein bestimmtes Hemd oder eine bestimmte Seife kauft. Alle diese Methoden sind ihrem Wesen nach irrational. Sie haben mit den Eigenschaften der angepriesenen Ware nichts zu tun und dämpfen oder beseitigen nur die kritischen Fähigkeiten des Kunden wie ein Opiat oder eine regelrechte Hypnose. Sie geben ihm eine gewisse Befriedigung, indem sie ihn zum Tagträumen veranlassen, genauso wie das die Filme tun, aber gleichzeitig verstärken sie auch sein Gefühl der Kleinheit und Ohnmacht.

Tatsächlich sind diese Methoden, unsere Fähigkeit zu kritischem Denken abzustumpfen, für unsere Demokratie noch gefährlicher als manche offenen Angriffe auf sie, und sie sind unmoralischer - vom Standpunkt der menschlichen Integrität aus gesehen - als die Pornoliteratur, deren Veröffentlichung wir mit Strafen belegen. Die Verbraucher-Bewegung versucht, die kritischen Fähigkeiten des Kunden, seine Würde und Bedeutung wiederherzustellen, und arbeitet in ähnlicher Richtung wie die Gewerkschaftsbewegung; sie ist aber bis jetzt über bescheidene Anfänge noch nicht hinausgekommen.

Was für den wirtschaftlichen Bereich gilt, trifft auch für die politische Sphäre zu. In der Frühzeit der Demokratie gab es noch verschiedene Einrichtungen, wo der Einzelne konkret und aktiv an Abstimmungen über bestimmte fällige Entscheidungen oder über den für ein bestimmtes Amt vorgesehenen Kandidaten teilnahm. Die zur Entscheidung stehenden Fragen waren ihm vertraut, und er kannte die Kandidaten. Die Abstimmung fand häufig in einer Versammlung statt, an der die gesamte Bevölkerung der Stadt teilnahm. Sie hatte einen konkreten Charakter, weil es dabei wirklich auf den Einzelnen ankam. Heute dagegen sieht sich der Wähler Mammutparteien gegenüber, die ihm genauso fernstehen und ihn genauso einschüchtern wie die Mammutorganisationen der Wirtschaft. Die Fragen, um die es geht, sind kompliziert und werden durch Vernebelungsmanöver noch komplizierter gemacht. Vielleicht bekommt der Wähler seinen Kandidaten vor der Wahl auch einmal zu sehen, aber seit wir den Rundfunk haben, kommt auch das nicht mehr so oft vor, so dass er die letzte Möglichkeit verliert, „seinen“ Kandidaten persönlich einzuschätzen. Tatsächlich lässt ihm der Parteiapparat die Wahl zwischen zwei oder drei Kandidaten; aber es handelt sich dabei nicht um die Kandidaten „seiner“ Wahl; er und sie wissen nur wenig voneinander, und ihre Beziehung ist genauso abstrakt, wie es die meisten Beziehungen geworden sind.

Was für die Wirkung der Werbung auf den Verbraucher gilt, gilt auch für die Methoden der politischen Propaganda auf den Wähler: Auch sie intensivieren nur sein Gefühl der Bedeutungslosigkeit. Die Wiederholung von Wahlparolen und von Dingen, die nichts mit den Problemen zu tun haben, über die zu entscheiden ist, stumpfen seine kritischen Fähigkeiten ab. Der klare und vernünftige Appell an den Verstand ist in der politischen Propaganda eher die Ausnahme als die Regel - und das selbst in den demokratischen Ländern. Angesichts der in ihrer Propaganda zur Schau gestellten Macht und Größe der Parteien kann der Wähler gar nicht umhin, sich klein und unbedeutend zu fühlen.

All das besagt keineswegs, dass Werbung und politische Propaganda die [I-294] Bedeutungslosigkeit des Einzelnen offen betonen. Ganz im Gegenteil schmeicheln sie ihm, indem sie ihn hinstellen, als ob es allein auf ihn ankäme, und indem sie an sein kritisches Urteils- und Unterscheidungsvermögen appellieren. Aber diese Behauptungen dienen ihnen im Wesentlichen nur dazu, keinen Verdacht aufkommen zu lassen und den Einzelnen in seiner Ansicht zu bestärken, dass er seine Entscheidungen selber fällt. Natürlich ist die Werbung nicht ganz und gar irrational, und natürlich haben auch die rationalen Faktoren in der politischen Propaganda der verschiedenen Parteien und ihrer jeweiligen Kandidaten unterschiedliches Gewicht.

Auch noch andere Faktoren spielen bei der zunehmenden Ohnmacht des Individuums eine Rolle. Die wirtschaftliche und politische Szene ist komplizierter und umfangreicher geworden, als sie früher war, der Einzelne ist daher weniger in der Lage, die Dinge zu durchschauen. Auch die Bedrohung, der er sich ausgesetzt sieht, hat zugenommen. Die strukturbedingte Arbeitslosigkeit vieler Millionen Menschen verstärkt ebenfalls das Gefühl der Unsicherheit. Wenn auch die Unterstützung der Arbeitslosen durch öffentliche Mittel die schlimmen Folgen der Arbeitslosigkeit nicht nur wirtschaftlich, sondern auch psychologisch mildert, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass die Arbeitslosigkeit für die allermeisten nur sehr schwer zu ertragen ist und dass die Angst vor ihr ihr ganzes Leben überschattet. Einen Arbeitsplatz zu haben, ganz gleich um welche Art von Arbeit es sich handelt, scheint für viele alles zu sein, was sie vom Leben verlangen können und wofür sie dankbar sein sollten. Drohende Arbeitslosigkeit lässt auch das Altwerden noch schlimmer erscheinen. In vielen Berufssparten sucht man heute nur junge Leute - selbst solche ohne Berufserfahrung -, weil sie noch „anpassungsfähig“, d.h. leicht in ein kleines Rädchen umzuformen sind, wie man es gerade für ein bestimmtes Projekt braucht.

Das Gefühl der Ohnmacht wird beim Einzelnen auch noch durch das Gespenst eines drohenden Krieges verstärkt. Sicherlich hat es auch im Neunzehnten Jahrhundert Kriege gegeben. Aber seit dem letzten Krieg haben sich die Vernichtungsmöglichkeiten ungeheuer vergrößert, und der Kreis der durch einen Krieg betroffenen Bevölkerung ist soviel größer geworden, dass er heute einen jeden ohne Ausnahme in sich einschließt. So ist die Kriegsgefahr zu einem Alptraum geworden, der vielleicht vielen nicht bewusst ist, solange ihr eigenes Volk nicht in einen Krieg verwickelt ist, der aber trotzdem ihr Leben überschattet und ihre Angst und das Gefühl der Ohnmacht noch verstärkt.

Der Lebensstil unserer gesamten Epoche entspricht dem hier von mir entworfenen Bild. Die großen Städte, in denen der Einzelne verlorengeht, die Häuser so hoch wie Berge, das ständige akustische Bombardement durch das Radio, die riesigen, dreimal am Tag wechselnden Schlagzeilen, die uns das Gefühl dafür nehmen, was wirklich wichtig ist, Revuen, in denen hundert junge Mädchen mit uhrwerkartiger Präzision zeigen, dass sie in der Lage sind, ihre Persönlichkeit völlig auszulöschen und wie eine starke, aber trotzdem reibungslos laufende Maschine zu funktionieren, der aufpeitschende Rhythmus des Jazz - all das und noch vieles andere ist Ausdruck einer Konstellation, die der Einzelne nicht mehr unter Kontrolle hat und die derartige Dimensionen angenommen hat, dass er selbst im Vergleich dazu nur ein Staubkörnchen ist. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als Schritt zu halten wie ein marschierender Soldat [I-295] oder wie ein Arbeiter am Fließband. Er kann sich betätigen, aber er hat das Gefühl seiner Unabhängigkeit und Bedeutung eingebüßt.

Wie groß die Angst des Durchschnittsmenschen in Amerika ist und wie stark er vom Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit erfüllt ist, geht deutlich aus der Beliebtheit der Mickey-Mouse-Filme hervor, die alle - wenn auch in zahllosen Abwandlungen - das gleiche Thema haben: Etwas Kleines wird von etwas überwältigend Großem verfolgt und in Gefahr gebracht, von ihm getötet oder verschlungen zu werden. Das kleine Ding läuft weg, und schließlich gelingt es ihm, dem bösen Feind zu entrinnen oder ihm sogar einen Schaden zuzufügen. Die Menschen würden sich nicht immer wieder die unzähligen Variationen ein und desselben Themas ansehen, wenn es in ihrem Inneren nicht ähnliche Gefühle anspräche. Offensichtlich ist das kleine, von einem mächtigen Feind bedrohte Ding der Zuschauer selbst, der genau diese Gefühle hat und sich mit eben dieser Situation identifizieren kann. Natürlich würde er sich nicht immer wieder von diesen Filmen angezogen fühlen, wenn sie nicht alle glücklich ausgingen. So aber durchlebt er alle seine eigenen Ängste und das beklemmende Gefühl seiner Kleinheit und hat zum Schluss das tröstliche Gefühl, dass er trotz allem gerettet werden, ja sogar den starken Feind besiegen wird. Das Traurige und Bedeutsame an diesem „Happy-End“ ist nur, dass er meist dadurch gerettet wird, dass er die Flucht ergreift und dass zufällig Umstände eintreten, die es dem Ungeheuer unmöglich machen, ihn zu erwischen.

Visionäre Denker des Neunzehnten Jahrhunderts haben die Lage, in der sich der Einzelne heute befindet, bereits vorausgesehen. Kierkegaard beschreibt das hilflose, von Zweifeln geplagte und zerrissene Individuum, das vom Gefühl seiner Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit überwältigt ist. Nietzsche hält uns den aufkommenden Nihilismus vor Augen, der dann im Nazismus akut werden sollte, und zeichnet das Bild eines „Übermenschen“ als Negation des unbedeutenden, richtungslosen Individuums, dem er in der Wirklichkeit begegnete. Franz Kafka hat das Thema der Machtlosigkeit des Menschen in seinem Werk auf höchst präzise Weise zum Ausdruck gebracht. In seinem Roman Das Schloss schildert er einen Mann, der mit den geheimnisvollen Bewohnern eines Schlosses Verbindung aufnehmen will, die ihm sagen sollen, was er zu tun hat, und die ihm seinen Platz in der Welt zeigen sollen. Sein ganzes Leben erschöpft sich in dem leidenschaftlichen Bemühen, mit ihnen in Berührung zu kommen, aber es gelingt ihm nie, und er bleibt allein mit einem Gefühl äußerster Sinnlosigkeit und tiefster Hilflosigkeit.

Auch Julian Green hat dem Gefühl der Isolierung und Ohnmacht des Menschen auf großartige Weise Ausdruck verliehen, wenn er sagt:

Ich war mir bewusst, dass wir im Vergleich mit dem Universum nur wenig zählten, ich wusste, dass wir nichts waren; aber so grenzenlos nichts zu sein scheint mir irgendwie sowohl überwältigend als auch gleichzeitig tröstlich. Jene Gestalten und Dimensionen, die über den Bereich menschlichen Denkens hinausreichen, sind völlig überwältigend. Gibt es etwas, woran wir uns halten können? Mitten im Chaos der Illusionen, in das wir kopfüber hineingeworfen sind, gibt es nur eines, das sich als wahr erweist - die Liebe. Alles andere ist nichts, eine einzige große Leere. Wir spähen hinab in einen riesigen, tiefen Abgrund. Und wir haben Angst. (J. Green, 1939.) [I-296]

Aber dieses Gefühl der Isolierung und Ohnmacht des Einzelnen, wie es diese Autoren zum Ausdruck bringen und wie es viele sogenannte Neurotiker spüren, wird vom normalen Durchschnittsmenschen nicht bewusst wahrgenommen. Dazu ist es zu Angst erregend. Er überdeckt es mit der Routine seiner Alltagstätigkeit, mit der Bestätigung und Anerkennung, die er in seinen privaten und gesellschaftlichen Beziehungen findet, mit seinem geschäftlichen Erfolg, mit allen möglichen Zerstreuungen, damit, dass er sich amüsiert, dass er Bekanntschaften schließt und „ausgeht“. Aber das Pfeifen im Dunkeln macht die Nacht noch nicht hell. Einsamkeit, Angst und innere Unruhe bleiben, und die kann der Mensch auf Dauer nicht ertragen. Er kann die Last der „Freiheit von“ nicht immer weitertragen. Er muss versuchen, der Freiheit ganz zu entfliehen, wenn es ihm nicht gelingt, von der negativen zur positiven Freiheit zu gelangen. Die bevorzugteste Möglichkeit, die uns die Gesellschaft heute als Fluchtweg anbietet, ist die Unterwerfung unter einen Führer, wie das in faschistischen Ländern der Fall ist, und die zwanghafte Konformität, wie sie in unserer eigenen Demokratie üblich ist. Bevor wir jetzt diese beiden von der Gesellschaft vorgezeichneten Fluchtwege beschreiben, muss ich den Leser bitten, mit mir in die Erörterung der komplizierten psychologischen Mechanismen der Flucht einzutreten. Wir haben uns in den vorigen Kapiteln bereits mit einigen dieser Mechanismen beschäftigt. Um aber die psychologische Bedeutung des Faschismus und der Automatisierung des Menschen in der modernen Demokratie ganz zu verstehen, muss man die psychologischen Phänomene nicht nur allgemein begreifen, sondern auch in den Einzelheiten ihrer konkreten Auswirkung. Dies mag wie ein Umweg erscheinen, ist aber tatsächlich ein notwendiger Bestandteil unserer Gesamtdiskussion. Genauso wie man psychologische Probleme ohne ihren gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund nicht richtig versteht, kann man auch gesellschaftliche Phänomene nicht begreifen, wenn man die ihnen zugrunde liegenden psychologischen Mechanismen nicht kennt. Wir wollen im nächsten Kapitel versuchen, diese Mechanismen zu analysieren und aufzeigen, was sich im einzelnen Individuum abspielt. So können wir erkennen, wie wir in unserem Bemühen, unserem Alleinsein und unserer Ohnmacht zu entfliehen, bereit sind, unser individuelles Selbst aufzugeben, indem wir uns entweder neuen Formen der Autorität unterwerfen oder indem wir uns allgemein akzeptierten Verhaltensmustern zwanghaft anpassen.

5 Fluchtmechanismen

Wir sind jetzt mit unserer Diskussion bei der Gegenwart angelangt und sollten nun eigentlich zur Erörterung der psychologischen Bedeutung des Faschismus und der Freiheit in den autoritären Systemen und in unserer Demokratie übergehen. Weil jedoch die Validität unserer gesamten Argumentation von der Gültigkeit unserer psychologischen Prämissen abhängt, scheint es mir angebracht, den allgemeinen Gedankengang zu unterbrechen und ein Kapitel der mehr ins Einzelne gehenden und konkreteren Diskussion jener psychologischen Mechanismen zu widmen, die wir bereits kurz berührt haben und auf die wir später nochmals zurückkommen werden. Diese Prämissen erfordern deshalb eine ausführliche Erörterung, weil sie sich auf Vorstellungen gründen, die sich mit unbewussten Kräften und mit der Art und Weise beschäftigen, wie diese in Rationalisierungen und bestimmten Charakterzügen zum Ausdruck kommen, was manchem Leser vielleicht fremd oder doch wenigstens nicht genügend klar sein dürfte.

Ich beziehe mich in diesem Kapitel absichtlich auf die Individualpsychologie, auf Beobachtungen, die in eingehenden Untersuchungen von Einzelpersonen bei psychoanalytischen Behandlungen gemacht wurden. Wenn auch die Psychoanalyse jenes Ideal nicht erreicht hat, das viele Jahre lang das Idealziel der akademischen Psychologie war - nämlich die Annäherung ihrer experimentellen Methoden an die der Naturwissenschaften - so ist sie doch eine durchaus empirische Methode, die sich auf die peinliche Beobachtung von keiner Zensur unterworfenen Gedanken, Träumen und Phantasien von Einzelpersonen gründet. Nur eine Psychologie, die die unbewussten Kräfte mitberücksichtigt, kann die verwirrenden Rationalisierungen durchschauen, denen wir uns gegenübersehen, wenn wir einen Menschen oder eine Kultur analysieren. Viele scheinbar unlösbare Probleme verschwinden sofort, wenn wir uns entschließen, die Vorstellung aufzugeben, dass die Motive, von denen die Menschen sich motiviert glauben, unbedingt auch jene sind, die sie tatsächlich dazu bringen, gerade so und nicht anders zu handeln, zu fühlen und zu denken.

Mancher Leser wird vielleicht fragen, ob die bei der Beobachtung von Einzelpersonen gewonnenen Erkenntnisse sich auch auf die psychologische Beurteilung von Gruppen anwenden lassen. Diese Frage ist nachdrücklich zu bejahen. Jede Gruppe [I-298] besteht ja aus Individuen und aus nichts anderem als Individuen. Daher kann es sich bei den psychologischen Mechanismen, die wir bei einer Gruppe am Werk sehen, nur um Mechanismen handeln, die auch beim Einzelnen am Werk sind. Wenn wir uns mit der Individualpsychologie als der Grundlage für das Verständnis der Sozialpsychologie beschäftigen, so tun wir etwas, was mit der Untersuchung eines Objektes unter dem Mikroskop vergleichbar ist. Es gibt uns die Möglichkeit, eben die Einzelheiten der psychologischen Mechanismen zu entdecken, die im großen Maßstab im Gesellschaftsprozess am Werk sind. Wenn unsere Analyse der sozio-psychologischen Phänomene sich nicht auf die detaillierte Untersuchung individuellen Verhaltens gründete, so würde ihr der empirische Charakter und daher die Gültigkeit abgehen.

Aber selbst wenn man zugibt, dass das Studium individuellen Verhaltens eine solche Bedeutung besitzt, könnte man doch fragen, ob die Untersuchung von Menschen, die man gemeinhin als Neurotiker bezeichnet, für die Betrachtung der Probleme der Sozialpsychologie von irgendwelchem Nutzen sein kann. Auch diese Frage glauben wir mit „ja“ beantworten zu müssen. Die Phänomene, die wir bei neurotischen Personen beobachten, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von denen, die wir bei normalen Menschen finden. Sie sind nur akzentuierter und deutlicher zu erkennen, und häufig sind sie auch dem Neurotiker leichter zugänglich als dem Normalen, der gar nicht merkt, dass er Probleme hat, die eine nähere Untersuchung rechtfertigen könnten.

Um dies noch deutlicher zu machen, scheint mir eine kurze Diskussion der Begriffe „neurotisch“ und „normal“ oder „gesund“ angebracht.[23]

Man kann den Begriff „normal“ oder „gesund“ auf zweierlei Weise definieren. Erstens kann man vom Standpunkt einer funktionierenden Gesellschaft aus den als normal oder gesund bezeichnen, der imstande ist, die ihm zufallende Rolle in der betreffenden Gesellschaft zu erfüllen. Konkreter ausgedrückt bedeutet das, dass er in der Lage ist, so zu arbeiten, wie es in der betreffenden Gesellschaft erforderlich ist, und dass er außerdem an ihrem Fortbestand mitwirken, das heißt, eine Familie gründen kann. Zweitens verstehen wir vom Standpunkt des Individuums aus unter Gesundheit und Normalität ein Optimum an Wachstum und Glück.

Wenn eine bestimmte Gesellschaft so strukturiert wäre, dass sie dem Einzelnen eine optimale Möglichkeit zu seinem Glück böte, so würden beide Standpunkte sich decken. In den meisten uns bekannten Gesellschaften - einschließlich unserer eigenen - ist dies jedoch nicht der Fall. Wenn sie sich auch hinsichtlich des Grads, in dem sie dem individuellen Wachstum förderlich sind, unterscheiden, so besteht doch immer eine Diskrepanz zwischen den Zielen einer reibungslos funktionierenden Gesellschaft und der vollen Entfaltung des Individuums. Wir müssen daher scharf zwischen beiden Auffassungen von „Gesundheit“ unterscheiden. Die eine Auffassung wird durch die gesellschaftlichen Erfordernisse bestimmt, die andere durch Werte und Normen, welche die Lebensziele des einzelnen Menschen betreffen.

Leider wird diese Unterscheidung oft nicht gemacht. Für die meisten Psychiater ist die Struktur ihrer eigenen Gesellschaft etwas so Selbstverständliches, dass für sie ein nicht gut angepasster Mensch das Stigma der Minderwertigkeit trägt. Andererseits gibt man einer gut angepassten Person auf der Skala menschlicher Werte einen [I-299] höheren Rang. Wenn wir die beiden Begriffe „normal“ und „neurotisch“ einander gegenüberstellen, so kommen wir zu folgendem Schluss: Der gut angepasste, normale Mensch ist im Hinblick auf die menschlichen Werte oft weniger gesund als der neurotische. Oft ist er nur deshalb so gut angepasst, weil er sein Selbst aufgegeben hat, um mehr oder weniger so zu werden, wie man es von ihm erwartet. Dabei kann ihm jede echte Individualität und Spontaneität verlorengegangen sein. Andererseits kann man den Neurotiker als einen Menschen charakterisieren, der nicht bereit ist, im Kampf um sein Selbst völlig die Waffen zu strecken. Sicherlich war sein Versuch, das individuelle Selbst zu retten, nicht von Erfolg gekrönt, und anstatt sein Selbst produktiv zum Ausdruck zu bringen, suchte er sein Heil darin, dass er neurotische Symptome entwickelte und sich in ein Phantasieleben zurückzog. Trotzdem ist er vom Standpunkt der menschlichen Werte aus weniger verkrüppelt als der Normale, der seine Individualität völlig eingebüßt hat. Selbstverständlich gibt es auch Menschen, die keine Neurotiker sind und deren Individualität trotzdem nicht im Anpassungsprozess untergegangen ist. Aber das dem Neurotiker anhaftende Stigma scheint mir unbegründet und nur insoweit gerechtfertigt, als man ihn unter dem Gesichtspunkt seiner Leistungsfähigkeit innerhalb der Gesellschaft beurteilt. Man kann eine ganze Gesellschaft nicht als in diesem Sinne neurotisch bezeichnen, da eine Gesellschaft nicht existieren könnte, wenn ihre Mitglieder ihre sozialen Aufgaben nicht erfüllen können. Vom Standpunkt der menschlichen Werte aus könnte man dagegen eine Gesellschaft als durchaus neurotisch in dem Sinn bezeichnen, dass ihre Mitglieder in Bezug auf das Wachstum ihrer Persönlichkeit verkrüppelt sind. Weil aber der Begriff „neurotisch“ so oft angewandt wird, um ein mangelhaftes Funktionieren in der Gesellschaft zu bezeichnen, möchte ich lieber statt von einer neurotischen Gesellschaft von einer solchen sprechen, die dem Glück und der Selbstverwirklichung des Menschen im Wege steht.

Die Mechanismen, die wir in diesem Kapitel erörtern, sind Fluchtmechanismen, die aus der Unsicherheit des isolierten Einzelmenschen resultieren.

Nachdem er die primären Bindungen, die ihm Sicherheit gaben, durchtrennt hat und der Welt als völlig separate Größe gegenübersteht, bleiben ihm zwei Möglichkeiten, den unerträglichen Zustand seiner Ohnmacht und Einsamkeit zu überwinden. Der eine Weg führt in die „positive Freiheit“. Der Mensch hat die Möglichkeit, spontan in Liebe und Arbeit mit der Welt in Beziehung zu treten und auf diese Weise seinen emotionalen, sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten einen echten Ausdruck zu verleihen. Auf diese Weise kann er mit seinen Mitmenschen, mit der Natur und mit sich selbst wieder eins werden, ohne die Unabhängigkeit und Integrität seines individuellen Selbst aufzugeben. Der andere Weg, der ihm offensteht, ist zu regredieren, seine Freiheit aufzugeben und den Versuch zu machen, seine Einsamkeit dadurch zu überwinden, dass er die Kluft, die sich zwischen seinem Selbst und der Welt aufgetan hat, beseitigt. Dieser zweite Weg kann niemals zu einer solchen Einheit mit der Welt führen, wie sie war, bevor der Mensch zum „Individuum“ wurde, denn seine Lostrennung lässt sich nicht rückgängig machen. Es handelt sich um eine Flucht aus einer unerträglichen Situation, die ein Weiterleben auf Dauer unmöglich machen würde. [I-300]

Dieser Ausweg hat daher Zwangscharakter wie jede Flucht vor einer drohenden Panik; außerdem kennzeichnet ihn die mehr oder weniger vollständige Aufgabe der Individualität und Integrität des Selbst. Daher handelt es sich nicht um eine Lösung, die zu Glück und positiver Freiheit führt; es ist im Prinzip eine Lösung, wie sie für alle neurotischen Phänomene kennzeichnend ist. Sie mildert eine unerträgliche Angst und macht durch die Vermeidung einer Panik das Weiterleben möglich. Aber das zugrunde liegende Problem ist damit nicht gelöst, und man muss dafür mit einem Leben bezahlen, das oft nur noch aus automatischen oder zwanghaften Handlungen besteht.

Einige dieser Fluchtmechanismen sind für die Gesellschaft nur von relativ untergeordneter Bedeutung. Wir finden sie nur bei Menschen mit schweren seelischen und emotionalen Störungen. Ich möchte in diesem Kapitel nur kulturell signifikante Mechanismen behandeln, deren Verständnis die unbedingte Voraussetzung für die psychologische Analyse der gesellschaftlichen Phänomene ist, mit denen wir uns dann in den folgenden Kapiteln beschäftigen wollen: dem faschistischen System einerseits und der modernen Demokratie andererseits.[24]

a) Flucht ins Autoritäre

Der erste Fluchtmechanismus, mit dem wir uns befassen wollen, ist die Tendenz, die Unabhängigkeit des eigenen Selbst aufzugeben und es mit irgendjemand oder irgendetwas außerhalb seiner selbst zu verschmelzen, um sich auf diese Weise die Kraft zu erwerben, die dem eigenen Selbst fehlt. Es handelt sich also darum, neue „sekundäre Bindungen“ als Ersatz für die verlorenen primären Bindungen zu suchen.

Deutlich erkennbare Formen dieses Mechanismus sind das Streben nach Unterwerfung und nach Beherrschung oder - besser gesagt - die masochistischen und sadistischen Strebungen, wie sie in unterschiedlichem Grad bei normalen und bei neurotischen Menschen anzutreffen sind. Wir wollen zunächst diese Tendenzen beschreiben und dann zeigen, dass beide eine Flucht vor einem unerträglichen Alleinsein sind.

Die häufigsten Formen, in denen masochistische Strebungen auftreten, sind Gefühle von Minderwertigkeit, Ohnmacht und individueller Bedeutungslosigkeit. Die Analyse von Personen, die von diesen Gefühlen besessen sind, zeigt, dass sie zwar bewusst über derartige Empfindungen klagen und sie loswerden möchten, sie aber unbewusst von einer Macht in ihrem Inneren getrieben werden, sich minderwertig und unbedeutend zu fühlen. Diese Gefühle bedeuten nicht nur, dass die Betreffenden sich ihrer wirklichen Benachteiligungen und Schwächen nicht bewusst sind (obwohl sie gewöhnlich das behaupten); solche Menschen zeigen vielmehr die Neigung, sich selbst noch [I-301] weit mehr herabzusetzen, sich als besonders schwach und leistungsunfähig hinzustellen. Mit ziemlicher Regelmäßigkeit zeigen sie eine deutliche Abhängigkeit von äußeren Gewalten, von anderen Menschen oder Institutionen oder auch von der Natur. Sie setzen sich gewöhnlich nicht durch, sie tun nicht, was sie gern möchten, sondern unterwerfen sich den tatsächlich gegebenen oder angeblichen Anordnungen jener äußeren Mächte. Oft sind sie völlig unfähig, das Gefühl „ich möchte“ oder „ich bin“ zu erleben. Für sie ist das ganze Leben etwas so überwältigend Schweres, dass sie es nicht zu meistern oder zu kontrollieren vermögen.

In extremeren Fällen - und deren gibt es viele - findet man neben der Neigung, sich herabzusetzen und sich äußeren Mächten zu unterwerfen, die Tendenz, sich selbst zu verletzen und leiden zu machen.

Diese Neigung kann verschiedene Formen annehmen. Es gibt Menschen, die in Selbstbeschuldigung und Selbstkritik schwelgen, wie sie selbst ihre ärgsten Feinde kaum gegen sie vorbringen würden. Andere - wie zum Beispiel manche Zwangsneurotiker - neigen dazu, sich mit Zwangsriten und Zwangsvorstellungen zu peinigen. Bei einem gewissen Typ der neurotischen Persönlichkeit treffen wir auf die Tendenz, körperlich krank zu werden und bewusst oder unbewusst geradezu auf eine Krankheit zu warten, so als ob es sich dabei um ein Geschenk des Himmels handelte. Oft erleiden sie auch Unfälle, zu denen es nicht gekommen wäre, wenn nicht eine unbewusste Neigung dazu bei ihnen vorhanden wäre. Diese gegen sich selbst gerichteten Tendenzen kommen oft auch in weniger offenen und dramatischen Formen vor. So können zum Beispiel manche Menschen im Examen Fragen nicht beantworten, obgleich sie die Antwort zur Zeit des Examens und auch hinterher genau wissen. Andere sagen Dinge, welche Menschen, die sie lieben oder von denen sie abhängig sind, gegen sie aufbringen, obgleich sie selbst jene Menschen gern haben und so etwas eigentlich gar nicht zu ihnen sagen wollten. Es ist fast so, als ob ein Feind ihnen geraten hätte, sich so zu verhalten, wie es ihnen am meisten schadet.

Diese masochistischen Tendenzen werden oft als deutlich pathologisch und irrational empfunden. Aber noch häufiger werden sie von dem Betreffenden rationalisiert. Die masochistische Abhängigkeit wird als Liebe oder Loyalität, Minderwertigkeitsgefühle werden als adäquater Ausdruck eines tatsächlichen Zu-kurz-gekommen-Seins empfunden, und dass man leidet, wird ganz und gar auf unvermeidliche Umstände geschoben.

Neben solchen masochistischen Tendenzen findet man bei ein und denselben Charakteren regelmäßig deren genaues Gegenteil, nämlich sadistische Neigungen. Diese variieren hinsichtlich ihrer Stärke und sind mehr oder weniger bewusst, doch fehlen sie nie. Dabei können wir drei Arten von sadistischen Tendenzen unterscheiden, die mehr oder weniger eng miteinander verknüpft sind. Die eine Form besteht darin, dass man andere Menschen von sich abhängig macht und dass man sie in seine absolute, uneingeschränkte Gewalt zu bekommen sucht, so dass sie nichts anderes mehr sind als ein Werkzeug, als „Ton in des Töpfers Hand“. Eine andere Form des Sadismus besteht in dem Impuls, nicht andere auf diese absolute Weise zu beherrschen, sondern sie auszubeuten, auszunutzen, zu bestehlen, sie auszunehmen und sich sozusagen alles Genießbare an ihnen einzuverleiben. Dieser Wunsch kann sich ebenso auf materielle [I-302] Dinge wie auf nicht-materielle beziehen, zum Beispiel auf die emotionalen oder intellektuellen Eigenschaften, die ein Mensch zu bieten hat.

Eine dritte Art des Sadismus besteht in dem Wunsch, andere leiden zu machen oder leiden zu sehen. Dieses Leiden kann körperlicher Art sein, doch handelt es sich noch öfter um seelisches Leiden. Der Betreffende möchte den anderen verletzen, demütigen, in Verlegenheit bringen oder ihn in beschämenden und demütigenden Situationen erleben.

Die sadistischen Neigungen sind aus offensichtlichen Gründen gewöhnlich weniger bewusst und werden stärker rationalisiert als die für die Gesellschaft harmloseren masochistischen Tendenzen. Oft verstecken sie sich völlig hinter Reaktionsbildungen wie einer überschwänglichen Güte und Fürsorge für andere. Besonders häufig treffen wir auf Rationalisierungen wie die folgenden: „Ich beherrsche dich, weil ich weiß, was für dich das Beste ist, und du solltest mir in deinem eigenen Interesse widerstandslos folgen.“ Oder: „Ich bin ein so wunderbarer und einzigartiger Mensch, dass ich das Recht habe von anderen zu erwarten, dass sie sich in meine Abhängigkeit begeben.“ Eine weitere Rationalisierung, hinter der sich oft das Bestreben, den anderen auszubeuten, versteckt, lautet: „Ich habe so viel für dich getan, dass ich jetzt das Recht habe, mir von dir das zu nehmen, was ich haben möchte.“ Eine noch aggressivere Art des sadistischen Impulses wird meist auf folgende Weise rationalisiert: „Andere haben mich verletzt, und wenn ich sie jetzt verletzen will, dann ist das nichts weiter als die gerechte Vergeltung“; oder: „Wenn ich zuerst zuschlage, verteidige ich mich selbst oder meine Freunde gegen die Gefahr, verletzt zu werden.“

Ein bestimmter Faktor in der Beziehung des Sadisten zu seinem Objekt wird oft übersehen, weshalb ich hier besonders darauf hinweisen möchte: seine Abhängigkeit vom Objekt seines Sadismus.

Während die Abhängigkeit des masochistischen Menschen von anderen offen zutage liegt, erwarten wir beim sadistischen das Gegenteil: Er wirkt so stark und beherrschend, und das Objekt seines Sadismus erscheint so schwach und unterwürfig, dass man sich nur schwer vorstellen kann, dass der Starke von dem, den er beherrscht, abhängig sein könnte. Und doch zeigt eine eingehende Analyse, dass dies zutrifft. Der sadistische Mensch braucht die Person, die er beherrscht, unbedingt, da sein eigenes Gefühl von Stärke in der Tatsache begründet liegt, dass er über einen anderen Herr ist. Diese Abhängigkeit kann völlig unbewusst sein. So kann zum Beispiel ein Ehemann seine Frau auf eine sehr sadistische Weise behandeln und ihr immer wieder sagen, es stünde ihr ja frei, jederzeit sein Haus zu verlassen, er wäre nur zu froh darüber. Oft wird sie so niedergedrückt sein, dass sie keinen Versuch wagt, ihn zu verlassen, weshalb sie beide auch weiterhin glauben, was er sage, sei wahr. Aber wenn sie den Mut aufbringt zu erklären, sie werde ihn verlassen, so kann etwas geschehen, was beide nie erwartet hätten: Er gerät in Verzweiflung, bricht zusammen und fleht sie an, ihn nicht zu verlassen. Er wird sagen, er könne ohne sie nicht leben, und wird beteuern, wie sehr er sie liebe und so weiter. Da sie ihrerseits in der Regel Angst davor hat, ihren Willen durchzusetzen, wird sie geneigt sein, ihm zu glauben, wird ihren Entschluss ändern und bleiben. Nun fängt das Spiel wieder von vorne an. Er nimmt sein früheres Verhalten wieder auf, sie findet es immer schwieriger bei ihm zu bleiben [I-303] und begehrt erneut auf, woraufhin er wieder zusammenbricht und sie bleibt, und so weiter ad infinitum.

Es gibt Tausende und Abertausende von Ehen und anderen persönlichen Beziehungen, in denen sich dieser Kreislauf ständig wiederholt und der Teufelskreis nie durchbrochen wird. Hat er gelogen, als er sagte, er liebe sie so sehr, dass er nicht ohne sie leben könne? Die Antwort hängt davon ab, was man unter Liebe versteht. Wenn er versichert, er könne nicht ohne sie leben - was natürlich nicht buchstäblich zu nehmen ist - so stimmt das vollkommen. Er kann wirklich nicht ohne sie leben oder wenigstens nicht ohne jemand anderen, bei dem er das Gefühl hat, dass dieser ein hilfloses Werkzeug in seinen Händen ist. Während in einem solchen Fall Gefühle der Liebe nur dann auftauchen, wenn die Beziehung gelöst zu werden droht, gibt es andere Fälle, wo der Sadist diejenigen, bei denen er fühlt, dass er Macht hat, offenbar liebt. Ob es sich um seine Frau, sein Kind, seinen Assistenten oder auch um einen Kellner oder einen Bettler auf der Straße handelt, er fühlt so etwas wie „Liebe“ oder sogar Dankbarkeit gegenüber denen, die er beherrscht. Er bildet sich vielleicht ein, er wolle ihr Leben nur beherrschen, weil er sie so sehr liebe. Tatsächlich aber „liebt“ er sie, weil er sie beherrscht. Er besticht sie mit Geschenken, mit seinem Lob und seinen Liebesbeteuerungen, mit seinem Geist und Witz oder auch mit seiner Fürsorge. Er vermag ihnen alles zu geben - alles, nur nicht das Recht, frei und unabhängig von ihm zu sein. Man findet diese Konstellation oft im Verhältnis von Eltern und Kindern. Hier versteckt sich dieses Beherrschen- und Besitzenwollen oft unter etwas, das sich wie die „natürliche“ Fürsorge für das Kind und wie der Wunsch, es zu beschützen, ausnimmt. Das Kind wird in einen goldenen Käfig gesetzt, es kann alles haben, vorausgesetzt, dass es nicht aus dem Käfig hinaus will. Die Folge ist oft, dass das heranwachsende Kind eine tiefe Angst vor der Liebe hat, da „Liebe“ für es soviel bedeutet wie gefangen und in seinem Streben nach Freiheit behindert zu sein.

Vielen kommt der Sadismus weniger rätselhaft vor als der Masochismus. Dass jemand andere Menschen verletzen oder beherrschen möchte, erscheint ihnen nicht gerade „gut“, aber doch ganz natürlich. Hobbes meint in seinem Leviathan (1651, S. 47), „ein ständiges und rastloses Verlangen nach Macht und abermals Macht, das erst mit dem Tod ein Ende hat, (sei) eine allgemeine Neigung der gesamten Menschheit“. Für ihn hatte der Wunsch nach Macht nichts Diabolisches, sondern war eine völlig vernünftige Folge des Verlangens nach Lust und Sicherheit. Von Hobbes bis Hitler, der das Herrschenwollen als logische Folge des biologisch bedingten Kampfes um das Überleben des Stärksten erklärte, hat man das Streben nach Macht als einen Bestandteil der menschlichen Natur hingestellt, der so selbstverständlich sei, dass er keiner weiteren Erklärung bedürfe. Dagegen scheinen masochistische Strebungen, die sich gegen das eigene Selbst richten, ein Rätsel. Wie kann man es sich erklären, dass es Menschen geben soll, die sich nicht nur selbst herabsetzen, schlechtmachen und verletzen, sondern auch noch Lust dabei empfinden? Widerspricht nicht das Phänomen des Masochismus unserem gesamten Bild von der menschlichen Psyche, die doch angeblich nach Lust und Selbsterhaltung strebt? Wie kann man es sich erklären, dass es Menschen geben soll, die sich von dem angezogen fühlen und sich selber zufügen, was wir doch alle unter allen Umständen vermeiden möchten, nämlich Schmerz und [I-304] Leiden? Es gibt jedoch eine Erscheinung, die beweist, dass Leiden und Schwachsein tatsächlich das Ziel menschlichen Strebens sein kann: die masochistische Perversion. Hier finden wir, dass Menschen ganz bewusst auf die eine oder andere Weise leiden möchten und dieses genießen. Bei der masochistischen Perversion gerät der Betreffende in sexuelle Erregung, wenn ein anderer ihm Schmerz zufügt. Aber dies ist nicht die einzige Form der masochistischen Perversion. Häufig wird nicht das Leiden durch tatsächliche Schmerzen gesucht, sondern die Erregung und Befriedigung, die der Betreffende empfindet, wenn er körperlich gefesselt und auf diese Weise hilflos und schwach gemacht wird. Oft will man auch bei einer masochistischen Perversion nichts anderes erreichen, als „moralisch“ schwach und klein gemacht zu werden, indem man wie ein kleines Kind behandelt oder angeredet oder auch ausgescholten oder auf andere Weise gedemütigt wird. Bei der sadistischen Perversion wird die Befriedigung mit entsprechenden Methoden erreicht, d.h. indem man andere körperlich verletzt, indem man sie mit Stricken oder Ketten fesselt oder durch Worte oder Taten demütigt.

Die masochistische Perversion mit ihrer bewussten und absichtlich herbeigeführten Lust an Schmerz und Demütigung hat die Aufmerksamkeit der Psychologen und Schriftsteller schon früher erregt als der masochistische Charakter (der sog. moralische Masochismus). Man erkennt jedoch immer deutlicher, wie eng verwandt die zuerst erwähnten masochistischen Neigungen mit der sexuellen Perversion sind und dass beide Formen des Masochismus im Wesentlichen ein und dasselbe Phänomen darstellen.

Einige Psychologen vertreten die Ansicht, weil es Menschen gebe, die ein Verlangen danach haben, sich zu unterwerfen und zu leiden, müsse es auch einen „Trieb“ geben, der dies zum Ziel habe. Auch Soziologen, wie zum Beispiel Alfred Vierkandt, kamen zum gleichen Schluss. Der erste, der nach einer tiefer gehenden theoretischen Erklärung dafür suchte, war Freud. Zunächst hielt er den Sado-Masochismus für ein im Wesentlichen sexuelles Phänomen. Da er bei Kleinkindern sado-masochistische Praktiken beobachtete, nahm er an, der Sado-Masochismus sei ein „Partialtrieb“, der regelmäßig bei der Entwicklung des Sexualtriebs auftrete. Er glaubte, sadomasochistische Tendenzen bei Erwachsenen hätten ihren Grund in einer Fixierung der psycho-sexuellen Entwicklung des Betreffenden auf einer früheren Ebene oder in einer Regression auf diese Ebene zurück. Später erkannte er immer mehr die Bedeutung jener Phänomene, die er als „moralischen Masochismus“ bezeichnete und worunter er die Neigung verstand, nicht körperlich, sondern seelisch zu leiden. Auch betonte er, dass masochistische und sadistische Neigungen stets zusammen anzutreffen seien, und dies trotz ihres scheinbaren Widerspruchs. Später änderte er jedoch seine theoretische Erklärung der masochistischen Phänomene. Er nahm an, dass im Menschen eine biologisch gegebene Tendenz vorhanden sei zu zerstören, die sich entweder gegen andere oder gegen sich selbst richten könne, und stellte die Theorie auf, dass der Masochismus seinem Wesen nach das Produkt des sogenannten Todestriebes sei. Ferner behauptete er, dieser Todestrieb, den man selbst nicht beobachten könne, verschmelze mit dem Sexualtrieb, und er äußere sich in dieser Legierung als Masochismus, wenn er sich gegen die eigene Person richte, und als Sadismus, wenn [I-305] er gegen andere gerichtet sei. Er nahm an, dass eben diese Vermischung mit dem Sexualtrieb den Menschen vor der gefährlichen Wirkung schütze, die der reine Todestrieb hätte. Kurz, nach Freud hat der Mensch nur die Wahl, entweder sich selbst oder andere zu zerstören, wenn es ihm nicht gelingt, seine Destruktivität mit dem Sexualtrieb zu verschmelzen. Diese Theorie unterscheidet sich grundsätzlich von Freuds ursprünglicher Auffassung vom Sado-Masochismus. Damals sah er in diesem im Wesentlichen ein sexuelles Phänomen, während er nach seiner späteren Theorie ein im Wesentlichen nicht-sexuelles Phänomen darstellt und der darin enthaltene sexuelle Faktor lediglich auf die Legierung des Todestriebs mit dem Sexualtrieb zurückzuführen ist.

Während Freud dem Phänomen der nicht-sexuellen Aggression jahrelang nur wenig Aufmerksamkeit schenkt, hat Alfred Adler die hier behandelten Tendenzen in den Mittelpunkt seines Systems gestellt. Aber er sieht in ihnen keinen Sado-Masochismus, sondern „Minderwertigkeitsgefühle“ und den „Willen zur Macht“. Adler sieht nur die rationale Seite dieser Phänomene. Während wir von einer irrationalen Tendenz reden, sich selbst herabzusetzen und sich unbedeutend erscheinen zu lassen, hält Adler die Minderwertigkeitsgefühle für eine adäquate Reaktion auf tatsächlich vorhandene Minderwertigkeiten, wie zum Beispiel auf organische Mängel oder auf die allgemeine Hilflosigkeit des Kleinkindes. Und während wir im Willen zur Macht einen irrationalen Impuls sehen, über andere zu herrschen, betrachtet ihn Adler vom rationalen Standpunkt aus und spricht davon als von einer adäquaten Reaktion, welche die Funktion habe, den Menschen gegen Gefahren zu schützen, die von seiner Unsicherheit und Mangelhaftigkeit herrühren. Hier wie stets vermag Adler das menschliche Verhalten nur unter dem Gesichtspunkt seiner rationalen Zweckmäßigkeit zu sehen, und wenn er auch wertvolle Einsichten in Bezug auf die verwickelten Zusammenhänge bezüglich der Motivation beigesteuert hat, bleibt er doch stets an der Oberfläche und steigt nie wie Freud in den Abgrund irrationaler Impulse hinab.

Einen von Freud abweichenden Standpunkt in der psychoanalytischen Literatur vertreten Wilhelm Reich (1933), Karen Horney (1937) und auch ich selbst (1936a).

Wenngleich Reichs Ansichten sich auf die ursprüngliche Auffassung von Freuds Libidotheorie gründen, vertritt er den Standpunkt, dass der Masochist letzten Endes die Lust sucht und dass der Schmerz, den er dabei in Kauf nehmen muss, ein Nebenprodukt und nicht das Ziel selbst sei. Karen Horney hat als erste erkannt, welche fundamentale Rolle masochistische Strebungen bei der neurotischen Persönlichkeit spielen. Sie hat die masochistischen Charakterzüge in allen Einzelheiten beschrieben und sieht in ihnen die Auswirkung der gesamten Charakterstruktur. In ihren Veröffentlichungen wie auch in meinen eigenen werden die masochistischen Charakterzüge nicht auf eine sexuelle Perversion zurückgeführt, sondern letztere wird als sexuelle Ausdrucksform psychischer Tendenzen verstanden, welche in einer spezifischen Charakterstruktur verankert sind.

Ich komme jetzt zur Hauptfrage: Worin wurzeln sowohl die masochistische Perversion als auch die masochistischen Charakterzüge? Und außerdem: Welches ist die gemeinsame Wurzel der masochistischen und der sadistischen Strebungen?

Wir haben bereits zu Anfang dieses Kapitels darauf hingewiesen, in welcher Richtung [I-306] die Antwort zu suchen ist. Sowohl die masochistischen als auch die sadistischen Strebungen dienen dazu, dem Betreffenden zu helfen, seinem unerträglichen Gefühl von Einsamkeit und Ohnmacht zu entrinnen. Psychoanalytische und andere empirische Beobachtungen masochistischer Personen liefern reichlich Beweise dafür, dass sie eine furchtbare Angst vor dieser Einsamkeit und ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit haben. (Diese Beweise im Einzelnen auszuführen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen.) Oft ist dieses Gefühl nicht bewusst; oft verdecken es kompensatorische Gefühle von eigener Überlegenheit und Vollkommenheit. Man braucht jedoch nur tief genug in die unbewusste Dynamik eines solchen Menschen einzudringen, und man wird unfehlbar auf diese Gefühle stoßen. Solche Menschen fühlen sich „frei“ im negativen Sinn, das heißt allein mit ihrem Selbst und mit einer entfremdeten, feindlichen Welt konfrontiert. Der Mensch hat in dieser Situation - um eine aufschlussreiche Beschreibung in Dostojewskis Die Brüder Karamasow zu zitieren - „kein dringenderes Bedürfnis als jemanden zu finden, auf den er so schnell wie möglich das Geschenk der Freiheit, mit der er, das unglückselige Geschöpf geboren wurde, abladen kann“. Der Mensch sucht in seiner Angst nach jemandem oder nach etwas, an den oder an das sich sein Selbst halten kann; er kann es nicht länger ertragen, sein eigenes individuelles Selbst zu sein, und versucht krampfhaft, es loszuwerden und seine Sicherheit dadurch zurückzugewinnen, dass er sich dieser Last seines Selbst entledigt.

Der Masochismus ist ein Weg zu diesem Ziel. Die verschiedenen Formen, welche die masochistischen Strebungen annehmen, haben alle nur das eine Ziel: das individuelle Selbst loszuwerden, sich selbst zu verlieren; oder anders gesagt: die Last der Freiheit loszuwerden. Dieses Ziel ist in jenen masochistischen Strebungen deutlich zu erkennen, wo der Betreffende sich einer anderen Person oder Macht zu unterwerfen versucht, die er als überwältigend stark empfindet. (Übrigens ist die Überzeugung von der überlegenen Macht eines anderen Menschen stets relativ zu verstehen. Sie kann sich entweder auf die tatsächlich vorhandene Stärke des anderen oder auch auf die Überzeugung von der eigenen außerordentlichen Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht gründen. Im letzteren Fall kann eine Maus oder ein Blatt bedrohliche Züge annehmen.) Auch bei anderen Formen masochistischer Strebungen ist das Ziel im Wesentlichen das gleiche. Das masochistische Gefühl der eigenen Kleinheit zeigt die Tendenz, das ursprüngliche Gefühl der Bedeutungslosigkeit noch zu verstärken. Wie ist das zu verstehen? Besteht die Möglichkeit, dass man seine Angst noch verstärkt in dem Bestreben, sie loszuwerden? Tatsächlich tut der masochistische Mensch genau dies. Solange ich zwischen meinem Wunsch, unabhängig und stark zu sein, und meinem Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht hin und hergerissen werde, befinde ich mich in einem qualvollen Konflikt. Gelingt es mir aber, mein Selbst auf ein Nichts zu reduzieren, und bringe ich es fertig, das Bewusstsein meiner Isolierung als Individuum zu überwinden, so kann ich mich aus diesem Konflikt retten. Sich unendlich klein und hilflos zu fühlen, ist ein Weg zu diesem Ziel; sich von Schmerz und Angst überwältigen zu lassen, ist ein anderer Weg; und ein dritter Weg besteht darin, sich den Wirkungen eines Rausches auszuliefern. Selbstmordphantasien sind die letzte Hoffnung, wenn alle anderen Mittel die Bürde des Alleinseins nicht erleichtert haben. [I-307]

Unter bestimmten Bedingungen sind diese masochistischen Strebungen relativ erfolgreich. Wenn der Betreffende kulturelle Verhaltensmuster findet, die diese befriedigt (und die ihm beispielsweise die Möglichkeit geben, sich dem „Führer“ einer faschistischen Ideologie zu unterwerfen), so gewinnt er eine gewisse Sicherheit, indem er sich mit Millionen anderer im Bund fühlt, welche seine Gefühle teilen. Aber selbst in solchen Fällen ist die masochistische „Lösung“ ebenso wenig eine Lösung wie es neurotische Manifestationen jemals sind: Es gelingt dem Betreffenden zwar, sein vordringlichstes Leiden loszuwerden, aber er hat damit den zugrunde liegenden Konflikt und sein stummes Elend nicht aus der Welt geschafft. Wenn die masochistische Strebung keine solchen kulturellen Verhaltensmuster vorfindet oder wenn sie quantitativ größer ist als der durchschnittlich in der gesellschaftlichen Gruppe des Betreffenden vorhandene Masochismus, dann bringt der Masochismus überhaupt keine Lösung für ihn. Er entstammt dann einer unerträglichen Situation, versucht diese zu überwinden, und der Betreffende gerät hierdurch nur in neues Elend. Wäre das Verhalten der Menschen stets vernünftig und zweckmäßig, so wäre der Masochismus ebenso unerklärlich wie die neurotischen Symptome ganz allgemein. Das Studium emotionaler und seelischer Störungen hat uns aber gelehrt, dass menschliches Verhalten von Strebungen motiviert sein kann, die von Angst oder irgendeinem anderen unerträglichen Zustand verursacht wurden, dass diese Strebungen diesen emotionalen Zustand zu überwinden suchen, aber lediglich seine sichtbaren Symptome verdecken - oder nicht einmal das. Neurotische Manifestationen haben Ähnlichkeit mit dem irrationalen Verhalten von Menschen, die sich in Panik befinden. So steht ein von einer Feuersbrunst überraschter Mensch vielleicht an seinem Fenster und ruft um Hilfe, wobei er völlig vergisst, dass ihn niemand hören kann und dass er sich noch über die Treppe retten könnte, die in wenigen Minuten auch in Flammen stehen wird. Er ruft laut, weil er gerettet werden möchte, und in diesem Augenblick scheint sein Verhalten auch wirklich ein Schritt auf dem Weg zu seiner Rettung zu sein - und doch muss es mit einer völligen Katastrophe enden. Ebenso werden masochistische Strebungen von dem Wunsch verursacht, das individuelle Selbst mit all seinen Mängeln, Konflikten, Risiken, Zweifeln und seiner unerträglichen Vereinsamung loszuwerden, doch gelingt es ihnen nur, den momentan auffälligsten Schmerz zu beseitigen, oder sie führen sogar zu noch größerem Leiden. Die Irrationalität des Masochismus - wie die aller neurotischen Manifestationen - besteht letztlich in der Zwecklosigkeit der zur Lösung einer unerträglichen emotionalen Situation angewandten Mittel.

Diese Erwägungen weisen auf einen wichtigen Unterschied zwischen einem neurotischen und einem vernünftigen Verhalten hin. Bei letzterem entspricht das Resultat der Motivation einer Handlung - man handelt, um ein bestimmtes Resultat zu erreichen. Bei neurotischen Strebungen handelt man aus einem Zwang heraus, der wesentlich negativ ist, um einer unerträglichen Situation zu entfliehen. Die Strebungen tendieren in einer Richtung, die nur scheinbar eine Lösung darstellt. Tatsächlich ist das Resultat dann genau das Gegenteil von dem, was der Betreffende erreichen möchte. Aber der Zwang, ein unerträgliches Gefühl loszuwerden, war so stark, dass es dem Betreffenden unmöglich war, sich für eine Handlungsweise zu entscheiden, die zu einer wirklichen Lösung, und nicht nur zu einer scheinbaren geführt hätte. [I-308]

Ein masochistischer Mensch ist also von einem unerträglichen Gefühl der Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit getrieben. Er versucht es zu überwinden, indem er sich von seinem Selbst befreit (von seinem Selbst als einer psychologischen, und nicht als einer physiologischen Größe). Er versucht es, indem er sich selbst herabsetzt, indem er leidet, indem er sich als unendlich unbedeutend hinstellt. Aber nicht Schmerz und Leiden möchte er erreichen, sie sind nur der Preis, den er für ein Ziel zahlt, das er auf zwanghafte Weise zu erreichen sucht. Der Preis ist hoch, und wie ein mexikanischer Peon (verschuldeter Tagelöhner) muss er immer mehr bezahlen und gerät immer tiefer in Schulden, ohne dass er je das bekommt, wofür er bezahlt hat, nämlich Frieden und Ruhe.

Ich habe von der masochistischen Perversion gesprochen, weil sie eindeutig beweist, dass das Leiden etwas sein kann, das man anstrebt. Aber das Leiden ist in der masochistischen Perversion genauso wenig wie beim moralischen Masochismus das wahre Ziel; in beiden Fällen ist es Mittel zu dem Zweck, sein Selbst zu vergessen. Der Unterschied zwischen Perversion und masochistischen Charakterzügen liegt im Wesentlichen darin, dass bei der Perversion die Tendenz, sein Selbst loszuwerden, körperlichen Ausdruck findet und mit sexuellen Gefühlen verbunden ist. Während sich beim moralischen Masochismus die masochistischen Tendenzen des ganzen Menschen bemächtigen und alle Ziele, die das Ich bewusst zu erreichen sucht, zu vernichten drohen, beschränken sie sich bei der Perversion mehr oder weniger auf den körperlichen Bereich. Außerdem haben sie durch ihre Legierung mit der Sexualität an dem Abbau der Spannung, zu der es im sexuellen Bereich kommt, teil, so dass sie eine unmittelbare Erleichterung bringen.

Das Zunichtemachen des individuellen Selbst und der Versuch, das unerträgliche Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, sind nur die eine Seite der masochistischen Strebungen. Die andere Seite ist der Versuch, Teil eines größeren und mächtigeren Ganzen außerhalb des eigenen Selbst zu werden, darin unterzutauchen und daran teilzuhaben. Diese Macht kann eine Person, eine Institution, Gott, die Nation, das Gewissen oder ein psychischer Zwang sein. Indem man zum Bestandteil einer Macht wird, die man als unerschütterlich stark, ewig und bezaubernd empfindet, hat man auch teil an ihrer Stärke und Herrlichkeit. Man liefert ihr sein Selbst aus und verzichtet auf alles, was an Kraft und Stolz damit zusammenhängt, man verliert seine Integrität als Individuum und verzichtet auf seine Freiheit. Aber man gewinnt dafür eine neue Sicherheit und einen neuen Stolz durch Teilhabe an der Macht, in der man aufgeht. Außerdem gewinnt man Sicherheit gegenüber quälenden Zweifeln. Der masochistische Mensch - ganz gleich, ob sein Herr eine Autorität außerhalb seiner selbst ist oder ob er seinen Herrn als Gewissen oder als einen psychischen Zwang internalisiert hat - braucht nichts mehr selber zu entscheiden, er ist nicht mehr für das Schicksal seines Selbst verantwortlich und ist hierdurch von allen Zweifeln befreit, welche Entscheidung er treffen sollte. Es bleibt ihm auch der Zweifel daran erspart, was der Sinn seines Lebens ist und wer er ist. Alle diese Fragen beantwortet die Beziehung zu der Macht, der er sich angehängt hat. Der Sinn seines Lebens und sein Identitätserleben werden von dem größeren Ganzen bestimmt, in dem sein Selbst untergetaucht ist. [I-309]

Die masochistischen Bindungen unterscheiden sich grundsätzlich von den primären Bindungen. Bei letzteren handelt es sich um diejenigen, die bestanden, bevor der Individuationsprozess vollendet war. Zuvor ist der Einzelne noch Teil „seiner“ natürlichen und gesellschaftlichen Welt, er ist noch nicht ganz aus seiner Umwelt aufgetaucht. Die primären Bindungen geben ihm eine echte Sicherheit und lassen ihn erkennen, wohin er gehört. Die masochistischen Bindungen dagegen bedeuten Flucht. Das individuelle Selbst ist aufgetaucht, aber es ist unfähig, seine Freiheit zu realisieren; es ist von Angst, Zweifeln und dem Gefühl der Ohnmacht überwältigt. Das Selbst versucht, Sicherheit in „sekundären Bindungen“ zu finden, als die wir die masochistischen Bindungen bezeichnen könnten, aber dieser Versuch kann niemals zum Erfolg führen. Das Entstehen des individuellen Selbst kann nicht rückgängig gemacht werden. Bewusst kann sich der Betreffende so sicher fühlen, als ob er „dazugehörte“, aber im Grunde bleibt er ein bedeutungsloses Atom, das unter der Auflösung seines Selbst leidet. Ein solcher Mensch und die Macht, an die er sich klammert, werden niemals eins, ein grundsätzlicher Antagonismus bleibt bestehen und mit ihm ein - wenn auch keineswegs bewusster - Impuls, die masochistische Abhängigkeit zu überwinden und frei zu werden.

Was ist das Wesen sadistischer Triebe? Auch hier ist der Wunsch, anderen Schmerz zuzufügen, nicht das Wesentliche. All die verschiedenen Formen des Sadismus, die wir beobachten können, gehen auf den einen wesentlichen Impuls zurück, nämlich auf das Bestreben, einen anderen Menschen völlig in die Gewalt zu bekommen, ihn zu einem hilflosen Gegenstand des eigenen Willens zu machen, zum absoluten Herrscher über ihn, zu seinem Gott zu werden und mit ihm machen zu können, was einem gefällt. Ihn zu demütigen und zu versklaven, sind nur Mittel zu diesem Zweck. Das radikalste Ziel ist, den Betreffenden zu quälen, da es keine größere Macht über einen anderen Menschen gibt, als wenn man ihm Schmerz zufügt, wenn man ihn zwingt zu leiden, ohne dass er sich dagegen wehren kann. Die Lust an der vollkommenen Beherrschung eines anderen Menschen (oder anderer belebter Objekte) macht das eigentliche Wesen des sadistischen Triebes aus.[25]

Es sieht so aus, als ob die Tendenz, sich zum absoluten Herrn über einen anderen Menschen zu machen, das genaue Gegenteil der masochistischen Tendenz wäre, und [I-310] es ist verwirrend, dass diese beiden Tendenzen so eng miteinander verknüpft sein sollen. Zweifellos ist der Wunsch, abhängig zu sein oder zu leiden, in seinen praktischen Konsequenzen das Gegenteil des Wunsches, selbst zu herrschen und andere zu quälen. Psychologisch jedoch entspringen beide Tendenzen ein und demselben Grundbedürfnis, das aus der Unfähigkeit stammt, die Isolation und Schwäche des eigenen Selbst zu ertragen. Ich schlage vor, die Absicht, die sowohl dem Sadismus als auch dem Masochismus zugrunde liegt, Symbiose zu nennen. In diesem psychologischen Sinn bedeutet Symbiose die Vereinigung eines individuellen Selbst mit einem anderen Selbst (oder mit irgendeiner anderen Macht außerhalb des eigenen Selbst) und zwar auf solche Weise, dass jeder dabei die Integrität seines Selbst verliert und beide in eine völlige Abhängigkeit voneinander geraten. Der Sadist braucht sein Objekt genauso notwendig, wie der Masochist seines braucht. Der Unterschied ist. nur, dass der Sadist nicht dadurch Sicherheit zu gewinnen sucht, dass er sich verschlingen lässt, sondern dadurch, dass er einen anderen verschlingt. In beiden Fällen geht die Integrität des individuellen Selbst verloren. Im einen Fall löse ich mich selbst in einer äußeren Macht auf und verliere mich. Im anderen Fall erweitere ich mein Selbst dadurch, dass ich einen anderen zu einem Teil meines Selbst mache und auf diese Weise die Kraft gewinne, die mir als einem unabhängigen Selbst fehlt. Immer ist es die Unfähigkeit, die Einsamkeit seines individuellen Selbst zu ertragen, die in eine symbiotische Beziehung mit einem anderen hineinführt. So wird deutlich, weshalb masochistische und sadistische Tendenzen stets miteinander verquickt sind. Mag es sich auch oberflächlich betrachtet um Widersprüche handeln, so wurzeln sie doch ihrem Wesen nach im gleichen Grundbedürfnis. Die Menschen sind nicht sadistisch oder masochistisch, sondern sie befinden sich in einem ständigen Schwingungszustand zwischen der aktiven und der passiven Seite des symbiotischen Komplexes, so dass es oft schwerfällt zu entscheiden, welche Seite in einem bestimmten Augenblick am Werk ist. In beiden Fällen aber gehen Individualität und Freiheit verloren.

Wenn wir an den Sadismus denken, dann denken wir im Allgemeinen an die Destruktivität und Feindseligkeit, die so augenfällig damit verbunden ist. Tatsächlich ist auch eine mehr oder weniger starke Destruktivität stets mit sadistischen Neigungen verbunden. Aber das gilt auch für den Masochismus. Jede Analyse masochistischer Charakterzüge zeigt diese Feindseligkeit. Der Hauptunterschied scheint darin zu liegen, dass beim Sadismus die Feindseligkeit gewöhnlich bewusster und im Verhalten des Betreffenden unmittelbar zum Ausdruck kommt, während sie im Masochismus meist unbewusst ist und keinen unmittelbaren Ausdruck findet. Ich will später nachzuweisen versuchen, dass Destruktivität dann entsteht, wenn die sinnliche, emotionale und intellektuelle Entfaltung des Menschen vereitelt wird; es ist daher zu erwarten, dass sie die Folge der gleichen Bedingungen ist, die auch das Bedürfnis nach einer Symbiose hervorrufen. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass der Sadismus nicht mit der Destruktivität identisch ist, wenn er auch dabei eine beträchtliche Rolle spielt. Der destruktive Mensch möchte das Objekt zerstören, das heißt, er möchte es beseitigen und es loswerden. Der Sadist dagegen möchte sein Objekt beherrschen, daher erleidet er einen Verlust, wenn dieses verschwindet.[26]

Auch kann der Sadismus in der von uns gebrauchten Bedeutung des Begriffs von [I-311] Destruktivität relativ frei und mit einer freundlichen Haltung einem Objekt gegenüber verbunden sein. Dieser Art eines „liebevollen“ Sadismus verlieh Balzac in seinem Roman Les illusions perdues klassischen Ausdruck, wo er ein Verhältnis beschreibt, das auch die spezielle, von uns als Bedürfnis nach Symbiose gekennzeichnete Eigenschaft aufweist. Balzac beschreibt da die Beziehung zwischen dem jungen Lucien und einem Bagnosträfling, der sich als Abbé ausgibt. Kurz nachdem dieser den Jüngling kennengelernt hat, der gerade einen Selbstmordversuch unternommen hat, sagt er zu ihm:

Dieser junge Mann hat nichts mehr mit dem Dichter gemein, der soeben gestorben ist. (...) Ich habe Sie aufgefischt, ich habe Ihnen das Leben zurückgegeben, und Sie gehören mir, wie das Geschöpf dem Schöpfer gehört, wie im Märchen Ifrit dem Geist, Itschoglan dem Sultan gehört, wie der Körper der Seele gehört. Ich werde Sie mit mächtiger Hand auf dem Weg der Macht halten, und ich verspreche Ihnen nichtsdestoweniger ein Leben der Vergnügen, der Ehren und ständigen Feste. (...) Nie wird es Ihnen an Geld fehlen. (...) Sie werden glänzen und paradieren, während ich, über den Schlamm der Grundmauern gebeugt, den strahlenden Bau Ihres Glücks sichern werde. Ich liebe die Macht um der Macht willen! Ich werde stets glücklich sein über Ihre Freuden, die mir versagt sind. Kurzum, ich werde durch Sie leben! (...) Ich will mein Geschöpf lieben, es bilden und für meinen Umgang formen, um es zu lieben, wie ein Vater ein Kind liebt. Ich werde in Ihrem Tilbury fahren, mein Junge, ich werde mich über Ihre Erfolge bei den Frauen freuen, ich werde sagen: Dieser schöne junge Mann bin ich. Dieser Marquis de Rubempré, ich habe ihn erschaffen und in die aristokratische Welt gesetzt; seine Größe ist mein Werk, er schweigt, oder er spricht mit meiner Stimme; er zieht mich bei allem zu Rate. (H. de Balzac, 1965, S. 701 f. und 707.)

Nicht nur im populären Sprachgebrauch wird der Sado-Masochismus häufig mit Liebe verwechselt. Besonders masochistische Phänomene werden oft für Liebe gehalten. Wenn jemand sich um eines anderen willen völlig selbst verleugnet, und alle seine Rechte und Ansprüche an ihn abtritt, so preist man das als Beispiel „großer Liebe“. Scheinbar gibt es keinen größeren Beweis für „Liebe“, als dass man sich aufopfert und bereit ist, sich um der geliebten Person willen selbst aufzugeben. Tatsächlich aber ist die „Liebe“ in solchen Fällen im Wesentlichen ein masochistisches Verlangen, das in dem Bedürfnis wurzelt, mit der betreffenden Person eine symbiotische Verbindung einzugehen. Wenn wir unter Liebe die leidenschaftliche Bejahung und tätige Bezogenheit auf das innerste Wesen eines anderen Menschen verstehen, wenn wir damit die Vereinigung mit dem anderen unter Wahrung der Unabhängigkeit und Integrität beider Partner meinen, dann sind Masochismus und Liebe Gegensätze. Die Liebe gründet sich auf Gleichberechtigung und Freiheit. Wenn sie sich auf Unterordnung und Integritätsverlust des einen Partners gründet, handelt es sich um eine masochistische Abhängigkeit, ganz gleich wie die Beziehung rationalisiert wird. Auch der Sadismus erscheint häufig in der Verkleidung der Liebe. Über einen anderen zu herrschen und dabei zu behaupten, es geschehe nur zu dessen Bestem, sieht oft wie Liebe aus, aber die wesentliche Rolle spielt dabei die Lust am Beherrschen.

Mancher Leser wird sich inzwischen gefragt haben: Ist der Sadismus, wie er hier beschrieben wird, nicht identisch mit dem Streben nach Macht? Die Antwort lautet, dass [I-312] zwar die destruktiveren Formen des Sadismus, deren Ziel es ist, einen anderen Menschen zu verletzen und zu quälen, mit dem Machtwillen nicht identisch sind, dass letzterer jedoch die signifikanteste Ausdrucksform des Sadismus ist. Es ist dies ein Problem, das heute noch an Bedeutung gewonnen hat. Seit Hobbes sieht man in dem Willen zur Macht das Grundmotiv menschlichen Verhaltens; die späteren Jahrhunderte haben jedoch mehr und mehr mit gesetzlichen und moralischen Mitteln die Macht in Zaum zu halten gesucht. Dann hat die Machtgier und die Überzeugung von deren Berechtigung mit dem Aufkommen des Faschismus einen neuen Höhepunkt erreicht. Millionen lassen sich von den Siegen der Macht beeindrucken und sehen darin ein Zeichen von Stärke. Sicher kommt in der Macht über andere Menschen eine überlegene Kraft im rein materiellen Sinn zum Ausdruck. Wenn es in meiner Macht liegt, den anderen zu töten, bin ich „stärker“ als er. Im psychologischen Sinn jedoch wurzelt die Machtgier nicht in der Stärke, sondern in der Schwäche. Sie ist Ausdruck der Unfähigkeit des Einzelnen, im Leben auf eigenen Füßen zu stehen. Sie ist der verzweifelte Versuch, sekundär zu Stärke zu kommen, wo genuine Stärke fehlt.

Das Wort „Macht“ (power) hat eine doppelte Bedeutung. Einmal versteht man darunter den Besitz von Macht über einen anderen Menschen, die Fähigkeit, ihn zu beherrschen; zum anderen handelt es sich darum, dass man die Macht besitzt, etwas zu tun - dass man also fähig und voll schöpferischer Potenz ist. Letztere Bedeutung hat nichts mit Herrschaft über andere zu tun. Macht in diesem Sinne bedeutet Meisterschaft als Befähigung zu etwas. Wenn wir von Ohnmacht (powerlessness) sprechen, dann haben wir diese Bedeutung des Begriffs im Sinn. Wir denken dann nicht an jemanden, der nicht fähig ist, andere zu beherrschen, sondern an jemanden, der nicht fähig ist, das zu tun, was er tun möchte.[27] So kann „Macht“ zweierlei bedeuten: Beherrschung anderer (domination) oder schöpferische Potenz (potency). Weit davon entfernt, miteinander identisch zu sein, schließen sich diese beiden Eigenschaften gegenseitig aus. Impotenz (impotence) - wenn wir diesen Ausdruck einmal nicht auf die sexuelle Sphäre beschränken, sondern ihn auf alle Bereiche menschlicher Möglichkeiten ausdehnen wollen - führt zu sadistischem Streben nach Macht über andere. In dem Maße, in dem jemand potent ist, d.h. die Fähigkeit besitzt, seine Möglichkeiten auf der Grundlage der Freiheit und Integrität seines Selbst zu verwirklichen, hat er es nicht nötig, andere zu beherrschen, und geht ihm die Lust an der Macht ab. Macht im Sinne von Beherrschung anderer ist die Perversion der schöpferischen Potenz, genau wie der sexuelle Sadismus die Perversion der geschlechtlichen Liebe ist.

Vermutlich finden sich sadistische und masochistische Charakterzüge bei allen Menschen. Das eine Extrem bilden Menschen, deren gesamte Persönlichkeit von diesen Charakterzügen beherrscht wird; ihnen stehen die gegenüber, für die solche sado-masochistischen Züge nicht charakteristisch sind. Nur in Bezug auf erstere können wir von einem sado-masochistischen Charakter sprechen. Ich bediene mich des Begriffs „Charakter“ hier in dem dynamischen Sinn, in dem Freud vom Charakter spricht. In diesem Sinn bezieht er sich nicht auf die Gesamtsumme aller für einen Menschen charakteristischen Verhaltensmuster, sondern auf die sein Verhalten motivierenden beherrschenden Triebe. Da Freud annahm, dass die grundlegenden [I-313] Motivationskräfte sexueller Natur seien, kam er zu Begriffen wie „oraler“, „analer“ oder „genitaler Charakter“. Teilt man diese Auffassung nicht, so muss man eine andere Einteilung der Charaktertypen vornehmen. Aber die dynamische Auffassung möchte ich beibehalten. Die den Charakter eines Menschen beherrschenden Triebkräfte müssen ihm nicht als solche bewusst sein. Jemand kann völlig von sadistischen Strebungen beherrscht sein und trotzdem bewusst der Überzeugung sein, alles nur aus Pflichtgefühl zu tun. Es kann sogar sein, dass er keine offenen sadistischen Handlungen begeht, sondern seine sadistischen Triebe so unterdrückt, dass er oberflächlich betrachtet als ein nicht-sadistischer Mensch erscheint. Trotzdem würde eine eingehende Analyse seines Verhaltens, seiner Phantasien, Träume und Gesten zeigen, dass in den tieferen Schichten seiner Persönlichkeit sadistische Impulse am Werk sind.

Wenn man auch den Charakter von Menschen, in denen sado-masochistische Triebe am Werk sind, als sado-masochistisch bezeichnen kann, so müssen doch solche Personen nicht unter allen Umständen neurotisch sein. Es hängt weitgehend von den speziellen Aufgaben ab, die die Betreffenden in ihrer gesellschaftlichen Situation zu erfüllen haben, wie auch von den in ihrer Kultur vorhandenen Gefühls- und Verhaltensmustern, ob ihre Charakterstruktur als „neurotisch“ oder als „normal“ empfunden wird. Tatsächlich ist für weite Teile des Kleinbürgertums in Deutschland und anderen europäischen Ländern der sado-masochistische Charakter typisch, und - wie noch zu zeigen ist - fühlten sich Menschen mit dieser Charakterstruktur von der Nazi-Ideologie am stärksten angesprochen. Da der Begriff „sado-masochistisch“ mit Perversion und Neurose in Zusammenhang gebracht wird, möchte ich lieber statt von einem sado-masochistischen Charakter von einem autoritären Charakter sprechen, besonders wenn es sich dabei nicht um einen neurotischen, sondern um einen normalen Menschen handelt. Diese Bezeichnung scheint mir deshalb gerechtfertigt, weil für einen sado-masochistischen Menschen stets eine Einstellung zur Autorität charakteristisch ist. Er bewundert die Autorität und neigt dazu, sich ihr zu unterwerfen, möchte aber gleichzeitig selbst eine Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben. Und noch aus einem anderen Grund habe ich diese Bezeichnung gewählt: Die faschistischen Systeme nennen sich selbst autoritär wegen der beherrschenden Rolle, welche die Autorität in ihrem gesellschaftlichen und politischen System spielt. Mit dem Begriff „autoritärer Charakter“ möchte ich deshalb darauf hinweisen, dass er die Persönlichkeitsstruktur benennt, welche die menschliche Grundlage des Faschismus bildet.

Bevor wir nun den autoritären Charakter erörtern, sollten wir noch den Begriff Autorität klären. Autorität ist keine Eigenschaft, die jemand „hat“ in dem Sinn, wie er Besitz oder körperliche Eigenschaften hat. Autorität bezieht sich auf eine zwischenmenschliche Beziehung, bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet. Aber es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer Überlegenheits-Unterlegenheits-Beziehung, die man als eine rationale Autoritätsbeziehung bezeichnen, und einer solchen, die man als hemmende Autoritätsbeziehung beschreiben kann.

Ein Beispiel soll zeigen, was ich damit meine. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und die zwischen Sklavenbesitzer und Sklave gründen sich beide auf die Überlegenheit des einen über den anderen. Das Interesse von Lehrer und Schüler [I-314] geht in gleicher Richtung. Der Lehrer ist zufrieden, wenn es ihm gelingt, seinen Schüler zu fördern; gelingt es ihm nicht, dann ist er genauso gescheitert wie der Schüler.

Dagegen möchte der Sklavenhalter den Sklaven nach Möglichkeit ausbeuten; je mehr er aus ihm herausholt, umso befriedigter ist er. Gleichzeitig versucht der Sklave, so gut er kann seine Ansprüche auf ein Minimum an Glück zu verteidigen. Diese Interessen laufen zweifellos einander zuwider, da der Vorteil des einen der Nachteil des anderen ist. In beiden Fällen hat die Überlegenheit des einen Partners eine unterschiedliche Funktion: Im ersteren Fall ist sie die Vorbedingung dafür, dass der der Autorität unterworfenen Person geholfen werden kann; im zweiten Fall ist sie die Vorbedingung für deren Ausbeutung.

Auch die Dynamik der Autorität ist in beiden Fällen eine andere: Je mehr der Schüler lernt, umso schmaler wird die Kluft zwischen ihm und seinem Lehrer. Er wird dem Lehrer immer ähnlicher. Mit andern Worten, die Autoritätsbeziehung zeigt die Tendenz, sich aufzulösen. Dient dagegen die Überlegenheit der Ausbeutung, wird der Abstand auf die Dauer immer größer.

Die psychologische Situation ist in beiden Autoritätssituationen unterschiedlich. In der ersten sind Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit die vorherrschenden Elemente. Die Autoritätsperson ist gleichzeitig ein Vorbild, mit dem man das eigene Selbst ganz oder teilweise identifizieren möchte. Im zweiten Fall entstehen Ressentiment und Feindseligkeit gegen den Ausbeuter, da die Unterordnung unter ihn den eigenen Interessen zuwiderläuft. Aber oft würde - wie im Fall des Sklaven - der Hass nur zu Konflikten führen, unter denen der Sklave zu leiden hätte, ohne eine Chance zu haben zu siegen. Daher wird er gewöhnlich eher dazu neigen, seine Hassgefühle zu verdrängen und wird sie gelegentlich sogar durch ein Gefühl blinder Bewunderung ersetzen. Dieses hat zweierlei Funktionen: Erstens beseitigt es das schmerzliche und gefährliche Hassgefühl, und zweitens mildert sich das Gefühl der Demütigung. Wenn der, der mich beherrscht, ein so prachtvoller oder vollkommener Mensch ist, dann brauche ich mich nicht zu schämen, wenn ich ihm gehorche. Ich kann ihm ja doch niemals gleichkommen, weil er so viel stärker, klüger und besser ist als ich. Bei dieser den anderen hemmenden Art der Autorität wird daher der Hass oder die irrationale Bewunderung und Überschätzung der Autoritätsperson sich ständig vergrößern. Ein rationales Autoritätsverhältnis wird dagegen im gleichen Verhältnis abgebaut, wie der der Autorität Unterworfene selbst stärker und daher der Autoritätsperson ähnlicher wird.

Der Unterschied zwischen der rationalen und der hemmenden Autorität ist natürlich nur relativ. Selbst in der Beziehung zwischen dem Sklaven und seinem Herrn hat der Sklave noch gewisse Vorteile. Er bekommt wenigstens soviel Essen und Schutz, dass er in der Lage ist, für seinen Herrn zu arbeiten. Andererseits gibt es nur bei einer idealen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler keine sich widerstreitenden Interessen. Zwischen diesen beiden Extremfällen gibt es viele Abstufungen, so zum Beispiel in der Beziehung zwischen einem Fabrikarbeiter und seinem Chef oder zwischen einem Bauernsohn und seinem Vater oder einer Hausfrau und ihrem Mann. Aber wenn auch im täglichen Leben beide Arten von Autorität miteinander verquickt sind, so unterscheiden sie sich doch ihrem Wesen nach, und jede Analyse einer konkreten [I-315] Autoritätsbeziehung muss daher stets das spezifische Gewicht der einen wie der anderen Art feststellen. Die Autorität muss nicht unbedingt eine Person oder eine Institution sein, die sagt: „Du musst das tun“ oder „Das darfst du nicht tun“. Man könnte diese Form als äußere Autorität bezeichnen, aber sie kann auch als innere Autorität, als Pflicht, Gewissen oder Über-Ich auftreten. Tatsächlich könnte man die Entwicklung des modernen Denkens vom Protestantismus bis zur Philosophie Kants dadurch charakterisieren, dass die äußere Autorität durch eine internalisierte Autorität ersetzt wurde. Durch die politischen Siege des aufsteigenden Bürgertums verlor die äußere Autorität an Ansehen, und das eigene Gewissen nahm den Platz ein, den diese innegehabt hatte, worin viele einen Sieg der Freiheit sehen. Sich (zum mindesten in religiösen Dingen) Anordnungen von außen zu unterwerfen, schien nun eines freien Mannes unwürdig. Dagegen sah man im Sieg über seine natürlichen Neigungen und in der „Selbstbeherrschung“, d.h. in der Beherrschung des einen Teils des Menschen - seiner Natur - durch einen anderen Teil seines Wesens - seine Vernunft, seinen Willen oder sein Gewissen - das Wesen der Freiheit. Die Analyse zeigt, dass das Gewissen ein ebenso strenger Zwingherr ist wie äußere Autoritäten. Außerdem zeigt sie, dass die Gewissensinhalte im letzten keine Forderungen des individuellen Selbst sind, sondern gesellschaftliche Forderungen, die die Würde ethischer Normen angenommen haben. Die Herrschaft des Gewissens kann sogar noch strenger sein als die der äußeren Autoritäten, weil der Betreffende die Befehle seines Gewissens als ureigenste erfährt. Wie aber kann jemand gegen sich selbst rebellieren?

In den letzten Jahrzehnten hat das Gewissen viel von seiner Bedeutung verloren. Es sieht so aus, als ob im Leben eines Menschen weder äußere noch innere Autoritäten mehr eine hervorragende Rolle spielten. Jeder ist völlig „frei“, wenn er nur den legitimen Ansprüchen anderer Menschen nicht ins Gehege kommt. Tatsächlich aber finden wir, dass die Autorität nicht verschwunden ist, sondern dass sie sich nur unsichtbar gemacht hat. An Stelle der offenen Autorität regiert jetzt die anonyme Autorität. Sie tarnt sich als gesunder Menschenverstand, als Wissenschaft, als psychische Gesundheit, als Normalität oder als öffentliche Meinung. Sie verlangt nichts als das, was „selbstverständlich“ ist. Sie scheint keinerlei Druck auszuüben, sondern nur sanft überreden zu wollen. Ob eine Mutter zu ihrer Tochter sagt: „Ich weiß ja, dass du mit dem jungen Mann nicht gern ausgehst“, oder ob uns eine Reklame suggeriert: „Rauchen Sie diese Zigarettenmarke - und sie werden von ihrer Frische begeistert sein“, wir haben es mit der gleichen subtilen Suggestion zu tun, die tatsächlich unser gesamtes gesellschaftliches Leben durchdringt. Die anonyme Autorität ist deshalb noch wirksamer als die offene Autorität, weil einem gar nicht erst der Verdacht kommt, dass da ein Befehl gegeben wird, den man zu befolgen hat. Bei der äußeren Autorität ist es klar, dass ein Befehl vorliegt und wer ihn gegeben hat. Man kann sich gegen die Autorität wehren, und persönliche Unabhängigkeit und moralischer Mut können sich in diesem Kampf entfalten. Aber während auch noch bei der internalisierten Autorität der Befehl - wenn er auch in unserem Inneren besteht - doch erkennbar bleibt, sind bei der anonymen Autorität sowohl der Befehl als auch die Instanz, die ihn erteilt, unsichtbar geworden. Es ist, als ob ein unsichtbarer Feind auf uns schießen würde. Da ist niemand und nichts, wogegen man sich wehren könnte. [I-316]

Wenn wir uns jetzt wiederum dem autoritären Charakter zuwenden, so ist zunächst als wichtigstes Merkmal seine Einstellung zur Macht zu erwähnen. Für den autoritären Charakter gibt es sozusagen zwei verschiedene Geschlechter: die Mächtigen und die Machtlosen. Seine Liebe, seine Bewunderung und seine Bereitschaft zur Unterwerfung werden automatisch von der Macht geweckt, ganz gleich, ob es sich dabei um eine Person oder eine Institution handelt. Die Macht fasziniert ihn, nicht weil sie vielleicht irgendwelche speziellen Werte repräsentiert, sondern schlicht als Macht. Genauso automatisch, wie seine „Liebe“ durch Macht geweckt wird, wecken machtlose Menschen oder Institutionen seine Verachtung. Allein schon der Anblick eines machtlosen Menschen erweckt in ihm den Wunsch, diesen anzugreifen, zu beherrschen und zu demütigen. Während für einen Menschen mit einem anderen Charakter der Gedanke, über einen Hilflosen herzufallen, entsetzlich wäre, fühlt sich der autoritäre Charakter umso mehr dazu angestachelt, je hilfloser sein Objekt wird.

Ein bestimmter Wesenszug des autoritären Charakters hat schon viele Beobachter irregeführt: seine Neigung der Autorität zu trotzen und sich gegen jeden Einfluss von „oben“ zu wehren. Manchmal überschattet dieser Widerstand das gesamte Bild, und die Unterwürfigkeit tritt in den Hintergrund. Ein solcher Mensch rebelliert ständig gegen irgendeine Autorität, selbst wenn diese seinen eigenen Interessen tatsächlich förderlich wäre und ihn in keiner Weise zu unterdrücken versucht. Manche nehmen auch eine zwiespältige Haltung zur Autorität ein. Sie begehren gegen eine bestimmte Autorität auf - besonders wenn sie nicht so mächtig ist als erwartet -, während sie sich gleichzeitig oder auch später einer anderen Autorität unterwerfen, die durch größere Machtentfaltung oder durch größere Zusagen ihnen ihre masochistischen Sehnsüchte zu erfüllen scheint. Schließlich gibt es auch einen Typ, der seine rebellischen Neigungen völlig verdrängt hat, so dass diese nur an die Oberfläche kommen, wenn die Kontrolle durch das Bewusstsein nachlässt. Manchmal erkennt man sie auch erst ex posteriori an dem Hass, der den Betreffenden gegen eine Autorität erfüllt, wenn deren Macht schwindet und sie zu stürzen droht. Bei Menschen vom ersten Typ, bei dem die rebellische Haltung das Bild bestimmt, wird man leicht zu der Annahme verführt, ihre Charakterstruktur sei genau das Gegenteil von der des unterwürfigen masochistischen Typs. Es sieht so aus, als handele es sich um Personen, die sich auf Grund ihres hochgradigen Bedürfnisses nach Unabhängigkeit jeder Autorität widersetzen. Sie wirken wie Menschen, die auf Grund ihrer inneren Kraft und Integrität gegen jene Mächte ankämpfen, die ihrer Freiheit und Unabhängigkeit im Wege sind. Aber bei dem Kampf eines autoritären Charakters gegen die Autorität handelt es sich im Wesentlichen um Trotz. Es handelt sich um den Versuch, sich durchzusetzen und das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, indem man die Autorität bekämpft, obwohl man auch weiterhin das Bedürfnis hat, sich zu unterwerfen - bewusst oder unbewusst. Ein autoritärer Mensch ist niemals ein „Revolutionär“, lieber würde ich ihn einen „Rebellen“ nennen. Viele Menschen und viele politische Bewegungen sind dem oberflächlichen Beobachter ein Rätsel, weil sie anscheinend unerklärlicherweise vom „Radikalismus“ zu einem äußerst autoritären Gehabe hinüberwechseln. Psychologisch handelt es sich bei solchen Menschen um typische „Rebellen“.

Die Einstellung des autoritären Charakters zum Leben, seine gesamte [I-317] Weltanschauung wird von seinen emotionalen Strebungen bestimmt. Der autoritäre Charakter hat eine Vorliebe für Lebensbedingungen, welche die menschliche Freiheit einschränken, er liebt es, sich dem Schicksal zu unterwerfen. Was er unter „Schicksal“ versteht, hängt von seiner gesellschaftlichen Stellung ab. Das „Schicksal“ eines Soldaten ist der Wille oder die Laune seines Vorgesetzten, dem er sich mit Freuden unterordnet. Für den kleinen Geschäftsmann ist Schicksal gleichbedeutend mit den ökonomischen Gesetzen. Wirtschaftskrisen und Prosperität sind für ihn keine gesellschaftlichen Phänomene, die durch menschliche Aktivität geändert werden können, sondern Ausdruck des Willens einer höheren Macht, der man sich zu unterwerfen hat. Für die an der Spitze der Pyramide ist die Situation im Grunde nicht anders. Der Unterschied liegt nur in der Größe und Reichweite der Macht, der man sich unterwirft, und nicht im Abhängigkeitsgefühl als solchem.

Nicht nur die Instanzen, die das eigene Leben direkt bestimmen, sondern auch jene Mächte, die das Leben im Allgemeinen bestimmen, werden als unausweichliches Schicksal empfunden. Es ist Schicksal, dass es Kriege gibt und dass die Einen herrschen und die Anderen beherrscht werden. Es ist Schicksal, dass die Summe des Leidens niemals geringer werden kann, als sie es von jeher war. Man kann das Schicksal philosophisch als „Naturgesetz“ oder als „Los des Menschen“, religiös als „Wille des Herrn“ oder moralisch als „Pflicht“ rationalisieren - für den autoritären Charakter ist es stets eine höhere Macht außerhalb des einzelnen Menschen, der sich jeder nur unterwerfen kann. Der autoritäre Charakter verehrt die Vergangenheit. Was einmal war, wird in alle Ewigkeit so bleiben. Sich etwas noch nie Dagewesenes zu wünschen oder darauf hinzuarbeiten, ist Verbrechen oder Wahnsinn. Das Wunder der Schöpfung - und Schöpfung ist immer ein Wunder - liegt außerhalb seines emotionalen Erfahrungsbereichs.

Schleiermachers Definition des religiösen Gefühls als des Gefühls „schlechthinniger Abhängigkeit“ ist die Definition der allgemeinen masochistischen Lebenserfahrung. Bei diesem Abhängigkeitsgefühl spielt die Sünde eine besondere Rolle. Der Begriff der Erbsünde, die auf allen zukünftigen Generationen lastet, ist für eine autoritäre Wirklichkeitserfahrung kennzeichnend. Ein moralischer Fehltritt wird wie jedes andere menschliche Versagen zum Schicksal, vor dem es kein Entrinnen gibt. Wer einmal gesündigt hat, ist mit eisernen Ketten in alle Ewigkeit an seine Sünden gefesselt. Was der Mensch getan hat, wird zu einer ihn beherrschenden Macht, die ihn nie mehr freilässt. Man kann zwar die Folgen der Schuld durch Sühne mildern, aber die Sühne kann die Schuld niemals aus der Welt schaffen. (Victor Hugo hat die Unentrinnbarkeit der Schuld in seinem Roman Les Misérables im Charakter des Javert höchst eindrucksvoll geschildert.) Jesajas Worte: „Wären eure Sünden auch rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee“ (Jes 1,18) drücken das genaue Gegenteil der autoritären Weltanschauung aus.

Das allem autoritären Denken gemeinsame Merkmal ist die Überzeugung, dass das Leben von Mächten bestimmt wird, die außerhalb des Menschen, seiner Interessen und seiner Wünsche liegen. Es gibt kein anderes Glück als die Unterwerfung unter diese Mächte. Die Ohnmacht des Menschen ist das Leitmotiv der masochistischen Weltanschauung. Einer der ideologischen Väter des Nazismus, Moeller van den [I-318] Bruck, verleiht diesem Gefühl sehr deutlich Ausdruck, wenn er schreibt: „Der konservative Mensch (...) glaubt vielmehr an die Katastrophe, an die Ohnmacht des Menschen, sie zu vermeiden, an die Zwangsläufigkeit, mit der sie den Geschicken entrollt, und an die furchtbare Enttäuschung, die der verführten Gutgläubigkeit am Ende nur bleibt.“ (A. Moeller van den Bruck, 1930, S. 223.) In Hitlers Mein Kampf (1933) werden wir noch mehr Beispiele für diese Gesinnung finden.

Dem autoritären Charakter fehlt es nicht an Tatkraft, Mut und Glauben. Aber diese Eigenschaften haben für ihn eine völlig andere Bedeutung als für einen Menschen, der sich nicht nach Unterwerfung sehnt. Für den autoritären Charakter wurzelt die Aktivität im Grundgefühl der Ohnmacht, das er überwinden möchte. Aktivität in diesem Sinn heißt im Namen von etwas handeln, das dem eigenen Selbst übergeordnet ist. Man kann im Namen Gottes handeln oder im Namen der Vergangenheit, im Namen der Natur oder der Pflicht, aber niemals im Namen der Zukunft, des noch Ungeborenen, des Machtlosen oder des Lebens als solchen. Der autoritäre Charakter gewinnt seine Kraft zu handeln, indem er sich an eine überlegene Macht anlehnt. Diese Macht ist unanfechtbar und unveränderlich. Mangel an Macht ist für ihn stets ein untrügliches Zeichen von Schuld und Minderwertigkeit, und wenn die Autorität, an die er glaubt, Zeichen von Schwäche erkennen lässt, so verwandelt sich seine Liebe und Achtung in Hass und Verachtung. Es fehlt ihm an der „offensiven Potenz“, die eine etablierte Macht anzugreifen vermag, auch ohne dass man sich zuvor einer anderen, stärkeren Macht versichert hat.

Der Mut des autoritären Charakters ist im Wesentlichen ein Mut, das zu ertragen, was das Schicksal oder sein persönlicher Repräsentant oder „Führer“ für ihn bestimmt hat. Zu leiden ohne zu klagen, ist seine höchste Tugend - und nicht der Mut zum Versuch, das Leiden zu beenden oder wenigstens zu mildern. Nicht das Schicksal zu ändern, sondern sich ihm zu unterwerfen, macht den Heroismus des autoritären Charakters aus.

Er glaubt an die Autorität, solange sie stark ist und Befehle erteilen kann. Letzten Endes wurzelt sein Glaube in seinem Zweifel und stellt den Versuch dar, diesen zu kompensieren. Aber er hat keinen Glauben, wenn wir unter Glauben das feste Vertrauen auf die Verwirklichung dessen verstehen, was bisher nur als Möglichkeit existiert. Die autoritäre Weltanschauung ist ihrem Wesen nach relativistisch und nihilistisch, und mag sie auch noch so leidenschaftlich behaupten, den Relativismus besiegt zu haben, und mag sie noch so ihre Aktivität zur Schau tragen. Sie wurzelt in einer letzten Verzweiflung, im völligen Mangel an Glauben und führt zum Nihilismus und zur Verleugnung des Lebens. (Vgl. hierzu die gute Beschreibung des nihilistischen Charakters durch H. Rauschning, 1938.)

Die autoritäre Weltanschauung kennt den Begriff der Gleichberechtigung nicht. Der autoritäre Charakter mag sich zwar gelegentlich des Wortes „Gleichberechtigung“ im konventionellen Sinn, oder wenn es ihm gerade passend erscheint, bedienen. Aber sie besitzt für ihn keine wirkliche Bedeutung und kein wirkliches Gewicht, da sie sich auf etwas bezieht, was außerhalb des Bereichs seiner emotionalen Erfahrung liegt. Für ihn setzt sich die Welt zusammen aus Menschen mit und ohne Macht, aus Über- und Untergeordneten. Auf Grund seiner sado-masochistischen Strebungen kennt er [I-319] nur Beherrschung oder Unterwerfung, aber niemals Solidarität. Unterschiede bezüglich Geschlecht oder Rasse sind für ihn daher Zeichen von Überlegenheit oder Minderwertigkeit. Ein Unterschied ohne diesen Beigeschmack ist für ihn undenkbar.

Die Beschreibung der sado-masochistischen Strebungen und des autoritären Charakters gilt vor allem für die extremeren Formen der Hilflosigkeit und dementsprechend für die extremen Formen der Flucht in eine symbiotische Beziehung zum Gegenstand der Verehrung oder Beherrschung.

Wenn diese sado-masochistischen Strebungen auch bei allen Menschen zu finden sind, kann man doch nur bestimmte Personen und gesellschaftliche Gruppen als typisch sado-masochistisch bezeichnen. Es gibt jedoch eine gemäßigtere Form der Abhängigkeit, die in unserer Kultur so allgemein verbreitet ist, dass sie nur in Ausnahmefällen zu fehlen scheint. Diese Abhängigkeit weist zwar nicht die gefährlichen, leidenschaftlichen Eigenschaften des Sado-Masochismus auf, aber sie spielt doch eine zu große Rolle, als dass wir sie in unserer Erörterung übergehen dürften.

Ich beziehe mich auf Menschen, deren ganzes Leben auf eine subtile Art an eine Macht außerhalb ihrer selbst gebunden ist. (Vgl. K. Horney, 1939.) Sie tun, denken oder fühlen nichts, was nicht irgendwie mit dieser Macht in Beziehung stünde. Von „ihr“ erwarten sie Schutz, von „ihr“ möchten sie behütet werden, „sie“ machen sie aber auch verantwortlich für alles, was bei ihrem eigenen Tun und Treiben herauskommt. Oft ist sich der Betreffende dieser Abhängigkeit keineswegs bewusst. Wenn er sie auch irgendwie ahnt, hat er doch von der Person oder Macht, von der er abhängig ist, oft nur eine unbestimmte Vorstellung. Er hat kein deutliches Bild von ihr. Ihre Haupteigenschaft besteht darin, dass sie eine bestimmte Funktion erfüllt, nämlich den Betreffenden zu beschützen, ihm zu helfen und ihn voranzubringen, immer an seiner Seite zu sein und ihn nie zu verlassen. Man kann dieses „X“, das diese Eigenschaften besitzt, als den magischen Helfer bezeichnen. Häufig ist der magische Helfer personifiziert: Man stellt sich ihn als Gott vor, als ein Prinzip oder auch als wirkliche Personen, wie etwa seine eigenen Eltern, seinen Mann, seine Frau oder seinen Vorgesetzten. Dabei sollte man sich darüber klar sein, dass reale Personen, welche die Rolle des magischen Helfers übernehmen, mit magischen Qualitäten ausgestattet werden, und dass sie ihre Bedeutung dem Umstand verdanken, dass sie die Personifizierung des magischen Helfers sind. Man kann diesen Prozess der Personifizierung des magischen Helfers oft beobachten, wenn sich jemand „verliebt“. Jemand, der auf einen solchen magischen Helfer eingestellt ist, sucht ihn in einem Menschen aus Fleisch und Blut zu finden. Aus diesem oder jenem Grund - wobei oft auch das sexuelle Begehren eine Rolle spielt - nimmt eine bestimmte Person für den Betreffenden jene magischen Qualitäten an, und er macht sie zu dem Wesen, auf das er sein ganzes Leben einstellt und von dem er völlig abhängig wird. Die Tatsache, dass die andere Person häufig ihrerseits das gleiche mit ihm vornimmt, ändert an dem Bild nichts. Es verstärkt nur noch den Eindruck, dass es sich bei dieser Beziehung um „echte Liebe“ handelt. Man kann dieses Bedürfnis nach einem magischen Helfer in psychoanalytischen Verfahren unter experimentähnlichen Bedingungen studieren. Oft entwickelt die analysierte Person eine tiefe Bindung an den Psychoanalytiker und bringt ihr gesamtes Leben, ihr ganzes Tun, Denken und Fühlen mit ihm in Beziehung. Bewusst oder unbewusst [I-320] fragt sie sich ständig: Wäre er (der Analytiker) damit einverstanden oder nicht, wäre es ihm recht oder würde er mich dafür tadeln? In Liebesbeziehungen dient die Tatsache, dass man sich diese oder jene Person zum Partner erwählt, als Beweis dafür, dass man sie liebt, weil sie gerade so ist, wie sie ist. Diese Illusion ist freilich in der psychoanalytischen Situation nicht aufrechtzuerhalten. Die unterschiedlichsten Personen entwickeln da dieselben Gefühle gegenüber den unterschiedlichsten Psychotherapeuten. Die Beziehung nimmt sich wie Liebe aus, und oft ist sie auch von sexuellen Wünschen begleitet. Ihrem Wesen nach handelt es sich dabei jedoch um eine Beziehung zum personifizierten magischen Helfer, eine Rolle, die der Psychoanalytiker - genau wie andere Personen von einer gewissen Autorität (etwa Ärzte, Geistliche oder Lehrer) - offensichtlich für einen Menschen, der nach einem personifizierten magischen Helfer ausschaut, auf befriedigende Weise zu spielen vermag.

Die Gründe, weshalb jemand an einen magischen Helfer gebunden ist, sind im Prinzip die gleichen, die den symbiotischen Trieben zugrunde liegen: Unfähigkeit, allein zu sein und die eigene individuelle Persönlichkeit voll zum Ausdruck zu bringen. Bei den sado-masochistischen Strebungen führt diese Unfähigkeit dazu, dass man versucht, durch die Abhängigkeit vom magischen Helfer vom eigenen Selbst loszukommen, während sie bei der gemäßigteren Form der Abhängigkeit, von der wir jetzt sprechen, nur zum Verlangen nach Lenkung und Schutz führt. Die Intensität der Bezogenheit auf ihn steht im umgekehrten Verhältnis zur Fähigkeit, die eigenen intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten spontan zum Ausdruck zu bringen. Anders gesagt: Man hofft alles, was man vom Leben erwartet, von ihm zu bekommen, anstatt sich selber tätig darum zu bemühen. Je mehr dies der Fall ist, umso mehr verschiebt sich das Lebenszentrum von der eigenen Person auf den magischen Helfer und dessen Personifizierungen. Die Frage lautet dann nicht mehr, wie man sein eigenes Leben leben soll, sondern wie man „ihn“ manipulieren kann, um ihn nicht zu verlieren, und wie man ihn dazu veranlassen kann, das zu tun, was man möchte, ja sogar ihn für Dinge verantwortlich zu machen, für die man selbst verantwortlich ist.

Im extremen Fall besteht das ganze Leben eines solchen Menschen fast ausschließlich in dem Versuch, „ihn“ zu manipulieren. Es werden dabei unterschiedliche Mittel angewandt; einige benutzen dabei ihren Gehorsam, andere ihre „Güte“ und wieder andere ihr Leiden als Mittel zur Manipulation. Wir beobachten in solchen Fällen, dass es kein Gefühl, keinen Gedanken und keine Emotion gibt, die nicht von diesem Bedürfnis, „ihn“ zu manipulieren, gefärbt wäre. Es geschieht also kein psychischer Akt mehr wirklich spontan und frei. Diese Abhängigkeit, die einer Blockierung der Spontaneität entspringt und die gleichzeitig dazu führt, verleiht aber nicht nur eine gewisse Sicherheit, sie führt auch andererseits zu einem Gefühl der Schwäche und Knechtschaft. Ist dies der Fall, so fühlt sich der gleiche Mensch, der von dem magischen Helfer abhängig ist, gleichzeitig - wenn auch oft unbewusst - von „ihm“ versklavt und rebelliert daher mehr oder weniger heftig gegen „ihn“. Dieses Aufbegehren gegen eben den Menschen, auf den man seine Hoffnung auf Sicherheit und Glück gesetzt hat, führt zu neuen Konflikten. Man muss diese Gefühle unterdrücken, wenn man „ihn“ nicht verlieren will, aber die unter der Oberfläche vorhandene Feindseligkeit gefährdet ständig die in der Beziehung gesuchte Sicherheit. [I-321]

Ist der magische Helfer in einem realen Menschen personifiziert, wird es zu ständigen Konflikten mit ihm kommen, einmal durch die unausbleibliche Enttäuschung, wenn er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt - und da diese Erwartungen illusorisch sind, muss der reale Mensch sie unausweichlich enttäuschen - und zum anderen durch das aus der Versklavung der eigenen Persönlichkeit herrührende Ressentiment. Manchmal enden diese Konflikte mit einer Trennung, worauf der Betreffende sich gewöhnlich ein anderes Objekt wählt, von dem er erwartet, dass es alle seine in den magischen Helfer gesetzten Hoffnungen erfüllen wird. Erweist sich auch diese Beziehung als Fehlschlag, so wird auch sie wieder abgebrochen, oder der Betreffende kommt zu dem Schluss, „das Leben“ sei nun einmal nicht anders, und er resigniert. Er erkennt einfach nicht, dass er nicht deshalb scheiterte, weil er sich nicht den richtigen magischen Helfer wählte; vielmehr versucht er, durch Manipulation einer magischen Kraft zu erreichen, was ein Mensch nur durch sein eigenes, spontanes Tätigsein erreichen kann.

Freud hat das Phänomen der lebenslangen Abhängigkeit von einem Objekt außerhalb seiner selbst erkannt. Er hat es interpretiert als die Beibehaltung früher, im Wesentlichen sexueller Bindungen an die Eltern während des ganzen späteren Lebens.

Tatsächlich machte dieses Phänomen, das er als Ödipuskomplex bezeichnete, einen solchen Eindruck auf ihn, dass er darin den Kern aller Neurosen und in seiner erfolgreichen Überwindung das Hauptproblem einer normalen Entwicklung sah.[28]

Mit dieser Entdeckung des Ödipuskomplexes als dem zentralen Phänomen der Psychologie hat Freud eine der wichtigsten Entdeckungen gemacht. Allerdings hat er sie nicht richtig interpretiert, denn wenn auch die sexuelle Anziehung zwischen Eltern und Kindern tatsächlich vorhanden ist und die sich daraus ergebenden Konflikte manchmal zu einer neurotischen Entwicklung beitragen, so spielen doch weder die sexuelle Anziehung noch die daraus resultierenden Konflikte die Hauptrolle bei der Fixierung der Kinder an ihre Eltern. Solange das Kind noch klein ist, hängt es natürlich von seinen Eltern ab, aber seine Spontaneität wird durch diese Abhängigkeit nicht unausweichlich beschränkt. Wenn jedoch die Eltern in ihrer Funktion als Agentur der Gesellschaft beginnen, die Spontaneität und das Unabhängigkeitsstreben des Kindes zu unterdrücken, dann ist der Heranwachsende immer weniger in der Lage, auf eigenen Füßen zu stehen. Er sucht daher nach einem magischen Helfer und macht häufig die Eltern zu dessen Personifizierung. Später überträgt er dann diese Gefühle auf jemand anderen, zum Beispiel auf einen Lehrer oder auf den Ehemann oder den Psychotherapeuten. Auch hierbei ist zu betonen, dass das Bedürfnis, mit einem derartigen Autoritätssymbol eng verbunden zu sein, nicht durch den Fortbestand der ursprünglichen sexuellen Anziehungskraft eines Elternteils verursacht wird, sondern durch die Beeinträchtigung des Expansionsdrangs und der Spontaneität des Kindes und seine hierdurch hervorgerufene Angst.

Die Beobachtung zeigt, dass der Kern einer jeden Neurose - wie auch der Kern einer jeden normalen Entwicklung - der Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit ist. Bei vielen normalen Menschen endet dieser Kampf damit, dass sie ihr Selbst völlig aufgeben, weshalb man sie als gut angepasst und normal ansieht. Der Neurotiker ist dagegen ein Mensch, der es nicht aufgegeben hat, sich gegen seine völlige Unterjochung [I-322] zu wehren, der aber gleichzeitig an die Gestalt des magischen Helfers gebunden bleibt, welche Form oder Gestalt „er“ auch immer für ihn angenommen haben mag. Seine Neurose ist stets als der - im Wesentlichen erfolglose - Versuch zu verstehen, den Konflikt zwischen jener inneren Abhängigkeit und dem Streben nach Freiheit zu lösen.

b) Flucht ins Destruktive

Wie bereits erwähnt, ist zwischen den sado-masochistischen Strebungen und der Destruktivität zu unterscheiden, obwohl beide meist miteinander verquickt sind. Die Destruktivität unterscheidet sich insofern, als ihr Ziel nicht die aktive oder passive Symbiose, sondern die Vernichtung ihres Objektes ist. Aber auch sie wurzelt darin, dass Ohnmacht und Isolierung für den Einzelnen unerträglich sind. Ich kann dem Gefühl meiner Ohnmacht gegenüber der Welt außerhalb von mir dadurch entrinnen, dass ich sie zerstöre. Sicher bleibe ich auch dann, wenn es mir gelungen ist, sie zu beseitigen, immer noch allein und isoliert, aber ich befinde mich dann in einer splendid isolation, in der ich nicht von einer überwältigenden Macht von Objekten außerhalb meiner selbst zermalmt werden kann. Die Zerstörung der Welt ist der letzte, verzweifelte Versuch, mich davor zu retten, von ihr zermalmt zu werden. Ziel des Sadismus ist die Einverleibung des Objekts, Ziel der Destruktivität ist dessen Beseitigung. Der Sadismus strebt danach, das atomisierte Individuum durch die Herrschaft über andere zu stärken; die Destruktivität erstrebt das gleiche durch die Beseitigung jeder Bedrohung von außen.

Wer die persönlichen Beziehungen in unserem gesellschaftlichen Leben betrachtet, muss bestürzt sein über das Ausmaß der überall herrschenden Destruktivität. Meist ist man sich ihrer nicht unmittelbar bewusst, sondern rationalisiert sie auf verschiedene Weise. Tatsächlich gibt es praktisch nichts, was nicht zur Rationalisierung der Destruktivität herangezogen wird. Liebe, Pflicht, Gewissen und Patriotismus benutzte und benutzt man als Masken, um andere oder sich selbst zu zerstören. Es ist jedoch zwischen zwei verschiedenen Arten destruktiver Tendenzen zu unterscheiden.[29] Es gibt destruktive Tendenzen, die aus einer besonderen Situation als Reaktion auf Angriffe auf unser Leben oder auf das Leben anderer, auf unsere Integrität oder auch auf Ideen, mit denen wir uns identifizieren, erwachsen. Diese Art der Destruktivität ist eine natürliche und notwendige Begleiterscheinung unserer Lebensbejahung.

Dagegen handelt es sich bei der hier zur Erörterung stehenden Destruktivität nicht um diese rationale - oder man könnte auch sagen „reaktive“ - Feindseligkeit, sondern um eine in einem Menschen ständig bereitliegende Tendenz, die sozusagen nur auf eine passende Gelegenheit wartet, sich zu manifestieren. Wenn wir für die Destruktivität eines Menschen keinen objektiven „Grund“ feststellen können, bezeichnen wir ihn als geisteskrank oder als psychisch krank (auch wenn er selbst sich gewöhnlich irgendeine Rationalisierung zurechtgemacht hat). Meist werden die destruktiven Impulse jedoch so rationalisiert, dass zum mindesten einige andere Personen oder [I-323] gesellschaftliche Gruppen an diese Rationalisierung glauben und sie für „realistisch“ halten. Aber die Objekte der irrationalen Destruktivität und die speziellen Gründe dafür, dass man sich gerade sie auswählt, sind nur von sekundärer Bedeutung. Die destruktiven Impulse sind eine Leidenschaft im Menschen, und es gelingt ihnen immer, ein Objekt zu finden. Wenn aus irgendeinem Grund andere Personen nicht zum Objekt der Destruktivität eines Menschen werden können, kann es leicht geschehen, dass er selbst zum Objekt wird. Wenn das in einem erheblichen Ausmaß geschieht, ist oft eine körperliche Erkrankung die Folge - ja es kann sogar zu einem Selbstmordversuch kommen.

Wir gingen von der Annahme aus, dass die Destruktivität eine Flucht vor dem unerträglichen Gefühl der Ohnmacht ist, da sie darauf abzielt, alle Objekte zu beseitigen, mit denen der Betreffende sich auseinanderzusetzen hat. Aber angesichts der ungeheuren Rolle, welche die destruktiven Tendenzen im menschlichen Verhalten spielen, scheint mir diese Interpretation keine ausreichende Erklärung. Isolierung und Ohnmacht sind auch der Grund für die Angst und für die „Vereitelung“ des Lebens als zwei weiteren Quellen von Destruktivität. Was die Angst betrifft, so ist darüber nicht viel zu sagen. Jede Bedrohung vitaler (materieller oder emotionaler) Interessen verursacht Angst (vgl. K. Horney, 1939), und destruktive Tendenzen sind die häufigste Reaktion auf diese Angst. Die Bedrohung kann von bestimmten Personen in einer bestimmten Situation ausgehen. In einem solchen Fall richtet sich die Destruktivität gegen diese Personen. Es kann sich aber auch um eine konstante - wenn auch nicht unbedingt bewusste - Angst handeln, die dem ebenfalls konstanten Gefühl entspringt, von der Außenwelt bedroht zu sein. Diese Art einer konstanten Angst entspringt der Situation des isolierten, ohnmächtigen Individuums und ist eine weitere Quelle des Reservoirs von Destruktivität, das in seinem Inneren entsteht.

Eine andere wichtige Folge der gleichen Grundsituation ist das, was ich oben als Vereitelung des Lebens bezeichnet habe. Der isolierte und ohnmächtige Einzelne ist bezüglich der Verwirklichung seiner sinnlichen, emotionalen und intellektuellen Möglichkeiten blockiert. Es fehlen ihm die innere Sicherheit und Spontaneität, die die Voraussetzungen für ihre Realisierung wären. Diese innere Blockierung wird noch durch die kulturellen Tabus verstärkt, mit denen Lust und Glück belegt sind. Hinzu kommen die Tabus der Religion und Sitten der Mittelklasse seit der Reformationszeit. Diese äußeren Tabus sind zwar heutzutage praktisch verschwunden, doch ist die innere Blockierung trotz der bewussten Billigung sinnlicher Lust bestehen geblieben. Freud hat auf diese Beziehung zwischen der Vereitelung des Lebens und der Destruktivität hingewiesen. Die Erörterung seiner Theorie gibt uns Gelegenheit, einige eigene Ideen dazu zu äußern.

Freud hat erkannt, dass seine ursprüngliche Vermutung, wonach der Sexualtrieb und der Selbsterhaltungstrieb die beiden grundlegenden Motivationen menschlichen Verhaltens seien, das Gewicht und die Bedeutung destruktiver Impulse vernachlässigt hatte. Da er später glaubte, dass die destruktiven Tendenzen ebenso wichtig sind wie die sexuellen, gelangte er zu der Annahme, dass im Menschen zwei Grundstrebungen vorhanden seien: ein auf das Leben ausgerichteter Trieb, der mit der sexuellen Libido mehr oder weniger identisch ist, und der auf die Vernichtung des Lebens [I-324] ausgerichtete Todestrieb. Freud nahm an, dass letzterer mit der sexuellen Energie verquickt sein kann und dass er sich dann entweder gegen das Selbst oder gegen Objekte außerhalb des Selbst richtet. Außerdem nahm er an, dass der Todestrieb in einer biologischen Eigenschaft wurzelt, die allen lebenden Organismen eigen und daher ein notwendiger und unabänderlicher Teil des Lebens ist.

Die Annahme eines Todestriebes ist insoweit befriedigend, als sie die volle Bedeutung der destruktiven Tendenzen berücksichtigt, die Freud in seinen früheren Theorien vernachlässigt hatte. Aber sie ist insofern unbefriedigend, als sie ihre Zuflucht zu einer biologischen Erklärung nimmt, welche die Tatsache nicht genügend berücksichtigt, dass das Ausmaß der Destruktivität bei den verschiedenen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen ungeheuer variiert. Wenn Freuds Vermutung stimmte, wäre anzunehmen, dass das Ausmaß der Destruktivität sowohl gegen andere als auch gegen sich selbst bei allen Menschen mehr oder weniger gleich wäre. Aber das Gegenteil ist zu beobachten. Das Ausmaß der Destruktivität weist in unserer Kultur nicht nur bei den Einzelnen, sondern auch in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen erhebliche Unterschiede auf. So spielt sie zum Beispiel im Charakter des Kleinbürgertums in Europa eine entschieden größere Rolle als bei der Arbeiterklasse und in den oberen Schichten der Bevölkerung. Die anthropologische Forschung hat uns mit Völkern bekannt gemacht, für die eine besonders starke Destruktivität kennzeichnend ist, während andere ein ebenso bemerkenswertes Fehlen von Destruktivität - sowohl in Form von Feindseligkeit gegen andere wie auch gegen sich selbst - erkennen lassen.[30]

Bei jedem Versuch, die Ursachen der Destruktivität verstehen zu lernen, sollte man sich zunächst mit eben diesen Unterschieden beschäftigen, um sich dann zu fragen, welche anderen Unterscheidungsmerkmale festzustellen sind und ob diese nicht der Grund für die Unterschiede in der Stärke der Destruktivität sein könnten. Dieses Problem bietet jedoch solche Schwierigkeiten, dass es einer eigenen ausführlichen Behandlung bedarf, für die hier leider kein Raum ist. Immerhin möchte ich andeuten, in welcher Richtung die Antwort zu suchen sein dürfte. Mir scheint, dass der Grad der Destruktivität beim einzelnen Menschen in einem direkten Verhältnis dazu steht, wie sehr ihm die Entfaltungsmöglichkeiten in seinem Leben beschnitten wurden. Ich meine damit nicht die Versagung dieses oder jenes triebhaften Wunsches, sondern die Vereitelung des gesamten Lebens, die Blockierung der Spontaneität, des Wachstums und des Ausdrucks der sinnlichen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten.

Das Leben hat seine eigene Dynamik; es hat die Tendenz zu wachsen, sich Ausdruck zu verschaffen, sich zu leben. Wird diese Tendenz vereitelt, dann scheint die auf das Leben ausgerichtete Energie einen Zerfallsprozess durchzumachen und sich in Energie zu verwandeln, die auf Zerstörung ausgerichtet ist. Anders gesagt, der Lebenstrieb und der Destruktionstrieb sind nicht voneinander unabhängige Faktoren, sondern sie stehen in einem umgekehrten Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Je mehr der Lebenstrieb vereitelt wird, umso stärker wird der Zerstörungstrieb; je mehr Leben verwirklicht wird, umso geringer ist die Kraft der Destruktivität. Destruktivität ist das Ergebnis ungelebten Lebens. Menschen und gesellschaftliche Bedingungen, die das Leben zu unterdrücken suchen, erzeugen ein leidenschaftliches Verlangen nach [I-325] Zerstörung, das sozusagen das Reservoir bildet, aus dem sich die jeweiligen Tendenzen nähren, die sich entweder gegen andere oder gegen sich selbst richten.

Es versteht sich von selbst, wie wichtig es ist, sich nicht nur klarzumachen, welch dynamische Rolle die Destruktivität im Gesellschaftsprozess spielt, sondern auch zu begreifen, welches die spezifischen Bedingungen für ihre Intensität sind. Wir haben bereits auf die Feindseligkeit hingewiesen, die die Mittelklasse in der Reformationszeit erfüllte und die in bestimmten religiösen Vorstellungen des Protestantismus zum Ausdruck kam - vor allem in seinem asketischen Geist und in Calvins Bild von einem erbarmungslosen Gott, dem es beliebte, einen Teil der Menschheit ohne eigenes Verschulden der ewigen Verdammnis anheimzugeben. Später brachte die Mittelklasse dann ihre Feindseligkeit hauptsächlich unter dem Deckmantel der moralischen Entrüstung zum Ausdruck, die eine Rationalisierung eines intensiven Neids auf die Bessergestellten war, die ihr Leben genießen konnten. In unserer heutigen Welt spielte die Destruktivität des Kleinbürgertums beim Aufkommen des Nazismus eine wichtige Rolle, da dieser an diese destruktiven Strebungen appellierte und sie im Kampf gegen seine Gegner benutzte. Auch die Destruktivität des Kleinbürgertums wurzelte - wie leicht einzusehen ist - in der Isolierung des Einzelnen und in der Unterdrückung seiner persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten, worunter dieses Kleinbürgertum noch mehr zu leiden hatte als die oberen und untersten Schichten der Bevölkerung.

c) Flucht ins Konformistische

Bei den bisher erörterten Mechanismen überwindet der Einzelne sein Gefühl der Ohnmacht gegenüber der überwältigenden Macht der Außenwelt, indem er entweder auf seine individuelle Integrität verzichtet oder indem er andere zerstört, so dass die Welt für ihn nicht länger bedrohlich ist.

Andere Fluchtmechanismen bestehen darin, dass man sich so total von der Welt zurückzieht, dass diese ihren bedrohlichen Charakter verliert (bestimmte psychotische Zustände bieten dieses Bild - vgl. H. S. Sullivan, 1940, S. 68 ff.; ders., 1929; F. Fromm-Reichmann, 1939), und dass man sich psychologisch in einem solchen Maße aufbläht, dass die Außenwelt vergleichsweise klein wird. Wenn diese Fluchtmechanismen für die Individualpsychologie auch wichtig sind, so sind sie kulturell nur von untergeordneter Bedeutung. Ich möchte deshalb hier nicht näher darauf eingehen und mich lieber einem weiteren Fluchtmechanismus zuwenden, der von größter gesellschaftlicher Bedeutung ist.[31]

Dieser Mechanismus stellt die Lösung dar, für die sich die meisten normalen Menschen in unserer heutigen Gesellschaft entscheiden. Er besteht kurz gesagt darin, dass der Einzelne aufhört, er selbst zu sein; er gleicht sich völlig dem Persönlichkeitsmodell an, das ihm seine Kultur anbietet, und wird deshalb genau wie alle anderen und so, wie die anderen es von ihm erwarten. Die Diskrepanz zwischen dem „Ich“ und der Welt verschwindet und damit auch die bewusste Angst vor dem Alleinsein und der Ohnmacht. Man könnte diesen Mechanismus mit der Schutzfärbung gewisser Tiere [I-326] vergleichen. Diese sehen ihrer Umgebung so ähnlich, dass sie kaum von ihr zu unterscheiden sind. Wer sein Selbst aufgibt und zu einem Automaten[32] wird, der mit Millionen anderer Automaten in seiner Umgebung identisch ist, fühlt sich nicht mehr allein und braucht deshalb keine Angst mehr zu haben. Aber der Preis, den er dafür zahlen muss, ist hoch, es ist der Verlust seines Selbst.

Die Annahme, der „normale“ Weg, seine Einsamkeit zu überwinden, sei zum Automaten zu werden, widerspricht nun aber einer der verbreitetsten Vorstellungen vom Menschen in unserer Kultur. Von den meisten wird angenommen, dass sie Individuen sind, denen es freisteht zu denken, zu fühlen und zu handeln, wie es ihnen beliebt. Es ist dies nicht nur die allgemeine Ansicht über den modernen Individualismus, jeder Einzelne ist auch der aufrichtigen Überzeugung, dass er „er“ ist und dass seine Gedanken, Gefühle und Wünsche die „seinen“ sind. Obwohl es auch unter uns eigenständige Persönlichkeiten gibt, so ist diese Meinung doch in den allermeisten Fällen eine Illusion - und eine gefährliche noch dazu -, denn sie verhindert, dass wir die Bedingungen beseitigen, die an diesem Stand der Dinge schuld sind.

Wir stehen hier vor einem der wichtigsten Probleme der Psychologie, dem wir vielleicht am einfachsten auf die Spur kommen, wenn wir zunächst eine Reihe von Fragen stellen. Was ist das Selbst? Was macht das Wesen jener Handlungen aus, die uns nur die Illusion vermitteln, sie seien unsere ureigensten Handlungen? Was ist Spontaneität? Was ist ein ursprünglicher geistiger Akt? Und endlich: Was hat all das mit der Freiheit zu tun? Wir wollen in diesem Kapitel zu zeigen versuchen, wie uns Gefühle und Gedanken von außen eingeflößt werden können, wie wir sie trotzdem subjektiv als unsere eigenen erfahren, und wie wir dabei unsere eigenen Gefühle und Gedanken verdrängen, so dass sie aufhören ein Teil unseres Selbst zu sein. Wir wollen dann die hier angeschnittenen Fragen im Kapitel über „Freiheit und Demokratie“ noch weiter verfolgen.

Beginnen wir die Darlegung mit der Analyse der Bedeutung von Erfahrungen, die - in Worte gefasst - „ich fühle“, „ich denke“ und „ich will“ lauten. Wenn wir sagen „ich denke“, so scheint das eine klare, unzweideutige Feststellung zu sein, wobei es nur darauf ankommt, ob das, was ich denke, richtig oder falsch ist, und nicht ob ich es bin, der denkt, oder ob ich es nicht bin. Es gibt jedoch ein konkretes Experiment, welches uns sofort erkennen lässt, dass die Antwort auf diese Frage nicht unbedingt so lautet, wie wir zunächst annehmen möchten: die Hypnose. Beobachten wir ein solches Experiment. (Zu den Problemen der Hypnose vgl. das Verzeichnis der einschlägigen Publikationen von M. H. Erickson, 1939, S. 472.)

Die Versuchsperson A wird vom Hypnotiseur B in hypnotischen Schlaf versetzt und bekommt von ihm suggeriert, dass sie nach dem Erwachen den Wunsch haben wird, ein Manuskript zu lesen, von dem sie annimmt, es mitgebracht zu haben, dass sie es suchen und nicht finden wird, dass sie daraufhin annehmen wird, eine dritte Person habe es gestohlen, und dass sie sehr wütend auf diese dritte Person C werden wird. Außerdem bekommt A gesagt, er werde vergessen, dass ihm all das nur während des hypnotischen Schlafs suggeriert worden sei. Hinzuzufügen ist noch, dass es sich bei C um eine Person handelt, gegen die unsere Versuchsperson A niemals etwas hatte, und dass den Umständen nach auch kein Grund dafür gegeben ist, auf C ärgerlich zu [I-327] sein; außerdem hat A das Manuskript in Wirklichkeit gar nicht mitgebracht.

Was geschieht nun? A wacht auf und sagt nach einem kurzen Gespräch über irgendein Thema: „Das erinnert mich übrigens an etwas, das ich in meinem Manuskript beschrieben habe. Ich werde es Ihnen vorlesen.“ Er blickt sich um, findet es nicht, und wendet sich daraufhin an C, dem er vorwirft, er habe es an sich genommen; er regt sich immer mehr darüber auf, und als C den Vorwurf zurückweist, gerät A in Wut und beschuldigt C direkt, es gestohlen zu haben. Er geht sogar noch weiter. Er bringt Gründe vor, die es plausibel machen sollen, dass C der Dieb ist; er sagt, er habe von anderen gehört, dass C das Manuskript unbedingt brauche, und er habe ja jetzt eine gute Gelegenheit gehabt, es an sich zu nehmen, und so weiter. Wir hören, wie er nicht nur C beschuldigt, sondern sich zahlreiche „Rationalisierungen“ zurechtmacht, die seine Beschuldigung plausibel erscheinen lassen sollen. (Natürlich entspricht keine davon der Wahrheit, und zuvor hätte A sie sich niemals einfallen lassen.)

Nehmen wir jetzt an, dass in diesem Augenblick eine weitere Person (D) das Zimmer betritt. Sie wird nicht anzweifeln, dass A das sagt, was er denkt und fühlt; die einzige Frage, die er sich stellen wird, dürfte lauten, ob seine Anschuldigungen richtig sind oder nicht, das heißt, ob die Gedanken von A mit den wirklichen Tatsachen übereinstimmen oder nicht. Uns dagegen, die wir bei der ganzen Prozedur dabei waren, geht es nicht darum zu fragen, ob die Anschuldigung stimmt. Wir wissen ja, dass es nicht darum geht, weil wir uns sicher sind, dass das, was A fühlt und denkt, nicht seine Gedanken und Gefühle, sondern fremde Elemente sind, die ihm ein anderer in den Kopf gesetzt hat.

D aber, der mitten im Experiment hereingekommen ist, könnte etwa folgendes denken: „Da ist der A, der klar erkennen lässt, dass er all das denkt. Er muss doch selbst am besten wissen, was er denkt, und seine eigene Aussage ist der beste Beweis dafür, was er fühlt. Da sind aber auch noch die anderen, die sagen, seine Gedanken seien ihm suggeriert worden und es handele sich dabei um fremde, von außen kommende Elemente. Ehrlich gesagt, kann ich nicht entscheiden, wer da recht hat, jeder könnte sich irren. Da aber zwei gegen einen stehen, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Mehrheit recht hat.“ Aber wir, die wir dem ganzen Experiment beigewohnt haben, hegen keine diesbezüglichen Zweifel, und genauso wenig würde das der neu hinzugekommene D, falls er schon andere hypnotische Experimente miterlebt hätte. Er wüsste dann, dass man derartige Experimente unzählige Male mit verschiedenen Personen und unterschiedlichem Inhalt wiederholen kann. Der Hypnotiseur kann seiner Versuchsperson suggerieren, eine rohe Kartoffel sei eine köstliche Ananas, und sie wird die Kartoffel mit dem gleichen Genuss verzehren wie eine Ananas. Oder er kann seiner Versuchsperson suggerieren, dass sie nichts sieht, und sie wird blind sein. Oder auch, dass die Erde flach und keine Kugel sei, und sie wird leidenschaftlich die Auffassung verfechten, dass die Erde eine Scheibe ist.

Was beweist das hypnotische - und vor allem das posthypnotische Experiment? Es beweist, dass wir Gedanken, Gefühle, Wünsche, ja sogar Sinnesempfindungen haben können, die wir subjektiv als unsere empfinden, obwohl sie uns von außen suggeriert wurden und uns daher im Grunde fremd sind und nicht das, was wir wirklich denken, fühlen und so weiter. [I-328]

Was zeigt uns speziell das hypnotische Experiment, von dem wir ausgingen? Es zeigt uns: 1. dass die Versuchsperson etwas will, nämlich das Manuskript lesen, dass sie 2. etwas denkt, nämlich dass C es an sich genommen hat, und dass sie 3. etwas fühlt, nämlich Wut auf C. Wir sahen, dass alle drei geistigen Akte - der Willensimpuls, das Denken und das Fühlen - nicht ihre eigenen sind in dem Sinn, dass sie das Ergebnis ihrer eigenen geistigen Tätigkeit wären; dass sie nicht in ihr ihren Ursprung haben, sondern ihr von außen suggeriert wurden und dass sie trotzdem subjektiv das Gefühl hat, es wären ihre eigenen. Sie bringt auch eine Reihe von Gedanken vor, die ihr nicht in der Hypnose suggeriert wurden, jene „Rationalisierungen“ nämlich, mit denen sie ihre Vermutung „erklärt“, dass C das Manuskript gestohlen habe. Trotzdem sind das nur im formalen Sinn die eigenen Gedanken. Wenngleich sie scheinbar ihren Verdacht erklären, wissen wir doch, dass der Verdacht zuerst da war und dass die rationalisierenden Überlegungen nur erfunden wurden, um das Gefühl plausibel zu machen. Sie sind daher keine wirkliche Erklärung, sondern sie kommen der Versuchsperson erst post factum.

Wir sind zunächst vom hypnotischen Experiment ausgegangen, weil dieses auf unmissverständliche Weise zeigt, dass man von der Spontaneität seiner geistigen Akte überzeugt sein kann und sie trotzdem uns unter bestimmten Bedingungen von einer anderen Person suggeriert sein können. Wir finden aber dieses Phänomen keineswegs nur in der hypnotischen Situation. Dass die Inhalte unseres Denkens, Fühlens und Wollens uns von außen eingegeben werden und nicht genuin die unseren sind, ist so häufig, dass man den Eindruck bekommt, diese Pseudo-Akte seien die Regel und genuine oder angeborene geistige Akte seien die Ausnahme.

Der Pseudo-Charakter, den das Denken annehmen kann, ist besser bekannt als die gleiche Erscheinung im Bereich des Wollens und Fühlens. Wir behandeln daher am besten zuerst den Unterschied zwischen dem genuinen Denken und dem Pseudo-Denken. Nehmen wir einmal an, wir befänden uns auf einer Insel, wo Fischer und Sommergäste aus der Stadt wohnen. Wir möchten gern wissen, was wir für Wetter bekommen, und fragen einen Fischer und zwei Leute aus der Stadt danach, von denen wir wissen, dass sie den Wetterbericht im Radio gehört haben. Der vom Wetter abhängige Fischer mit seiner langen Erfahrung wird nachdenken, wenn er nicht schon, bevor wir ihn fragten, sich seine Meinung darüber gebildet hatte. Da er weiß, was Windrichtung, Temperatur, Feuchtigkeit und so weiter als Grundlage für die Wettervoraussage bedeuten, wird er die verschiedenen Faktoren gegeneinander abwägen und zu einem mehr oder weniger endgültigen Schluss gelangen. Vermutlich wird er sich auch an den Wetterbericht im Radio erinnern und darauf zu sprechen kommen, ob dieser seine Meinung bestätigt oder ihr widerspricht; widerspricht er ihr, so dürfte er die Gründe für seine eigene Meinung besonders sorgfältig abwägen. Aber - und darauf kommt es an - es handelt sich um seine Meinung, um das Resultat seines Denkens, das er uns mitteilt.

Der erste der beiden Sommergäste ist ein Mann, der, als wir ihn um seine Meinung fragten, sich bewusst ist, dass er vom Wetter nicht viel versteht, und der auch nicht das Gefühl hat, dass man etwas davon verstehen müsse. Er sagt nur: „Ich kann das nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass der Wetterbericht im Radio so und so war.“ Der [I-329] andere Mann, den wir fragen, ist ein anderer Typ. Er meint, er wisse genau über das Wetter Bescheid, obwohl er in Wirklichkeit nur wenig davon versteht. Er gehört zu denen, die meinen, sie müssten jede Frage beantworten können. Er denkt einen Augenblick nach und sagt uns dann „seine“ Ansicht, die in Wirklichkeit mit der Wettervoraussage im Radio übereinstimmt. Wir fragen ihn, wie er zu dieser Ansicht komme, und er sagt, er habe es aus der Windrichtung, Temperatur und so weiter geschlossen.

Oberflächlich betrachtet verhält sich dieser Mann nicht anders als der Fischer. Analysieren wir seine Antwort jedoch genauer, dann stellt sich heraus, dass er die Radiomeldung gehört und übernommen hat. Da er jedoch das Gefühl hat, er müsse eine eigene Meinung haben, vergisst er, dass er die Meinung einer Autoritätsperson nur einfach wiederholt, und ist überzeugt, dass er durch eigenes Nachdenken darauf gekommen ist. Er bildet sich ein, er habe sich auf Grund der vorhandenen Verhältnisse eine Meinung gebildet, aber wenn wir näher zusehen, stellen wir fest, dass die von ihm angeführten Gründe ihm niemals die Möglichkeit zu dieser Wetterprognose gegeben hätten, wenn er nicht schon eine vorgefasste Meinung gehabt hätte. Tatsächlich handelt es sich nur um Pseudo-Gründe, die ihm dazu dienen, den Eindruck zu erwecken, er sei durch eigenes Nachdenken zu seiner Meinung gekommen. Er macht sich die Illusion, er habe sich eine eigene Meinung gebildet, während er in Wirklichkeit nur die Meinung einer Autoritätsperson übernommen hat, ohne sich jedoch über den Vorgang selber klar zu sein. Es ist sehr gut möglich, dass er in Bezug auf das Wetter recht hatte und dass der Fischer sich irrte, aber in diesem Fall wäre nicht „seine“ Meinung die richtige, selbst wenn sich der Fischer mit „seiner eigenen Meinung“ tatsächlich geirrt hätte.

Die gleiche Erscheinung können wir beobachten, wenn wir die Leute nach ihrer Meinung über gewisse andere Themen, zum Beispiel in der Politik fragen. Man frage einmal einen durchschnittlichen Zeitungsleser, wie er über ein bestimmtes politisches Problem denke. Er wird uns dann einen mehr oder weniger exakten Bericht über das, was er gelesen hat, als „seine“ Meinung hinstellen und trotzdem - und das ist der springende Punkt - der Überzeugung sein, das von ihm Vorgebrachte sei das Ergebnis seines eigenen Nachdenkens. Wenn er in einer kleinen Gemeinschaft lebt, wo politische Meinungen vom Vater auf den Sohn weitergegeben werden, kann „seine eigene“ Meinung weit mehr, als er es auch nur einen Augenblick für möglich halten würde, von der immer noch vorhandenen Autorität eines strengen Vaters geprägt sein. Die Meinung eines anderen Lesers kann einer augenblicklichen Verlegenheit entspringen, der Angst, man könne ihn für schlecht informiert halten, weshalb seine „Ansicht“ im Wesentlichen Theater ist und nicht das Ergebnis einer natürlichen Kombination von Erfahrung, Wünschen und Wissen. Die gleiche Erscheinung finden wir auch bei ästhetischen Urteilen. Der durchschnittliche Museumsbesucher, der sich das Bild eines berühmten Malers - sagen wir Rembrandts - betrachtet, sagt, das sei ein wunderschönes, eindrucksvolles Bild. Wenn wir sein Urteil analysieren, finden wir, dass er innerlich nicht besonders darauf anspricht, sondern dass er es nur deshalb für schön hält, weil er weiß, dass man es von ihm erwartet. Das gleiche gilt für das Urteil der Leute über Musik und auch für den Akt der Wahrnehmung selbst. Wenn die Leute sich irgendeine Sehenswürdigkeit betrachten, dann kommt es häufig vor, [I-330] dass sie in Wirklichkeit nur die Reproduktion davon im Sinn haben, die sie unzählige Male zum Beispiel auf Postkarten gesehen haben, und während sie glauben, „sie“ sähen die Sehenswürdigkeit, haben sie in Wirklichkeit nur diese Abbildungen davon vor Augen. Oder wenn sie Zeuge eines Unfalls werden, dann sehen und hören sie die Situation so, wie die Zeitung vermutlich darüber berichten wird. Tatsächlich ist es doch so, dass für viele Leute ein Erlebnis, das sie hatten, eine künstlerische Darbietung oder eine politische Versammlung erst dann „wirklich“ wird, wenn sie darüber in der Zeitung gelesen haben.

Die Unterdrückung kritischen Denkens beginnt meist schon frühzeitig. So erkennt vielleicht bereits ein fünfjähriges Mädchen die Unaufrichtigkeit seiner Mutter entweder auf subtile Art daran, dass diese zwar immerzu von Liebe und Freundlichkeit spricht, aber tatsächlich kalt und egoistisch ist, oder auf gröbere Weise, wenn es merkt, dass die Mutter mit einem anderen Mann ein Verhältnis hat, während sie ständig ihre hohen moralischen Grundsätze betont. Das Kind fühlt die Diskrepanz. Sein Gefühl für Gerechtigkeit und Wahrheit ist verletzt. Weil es aber von der Mutter abhängig ist, die keinerlei Kritik erlauben würde, und weil es vielleicht einen schwachen Vater hat, auf den es sich nicht verlassen kann, ist es gezwungen, seine kritische Einsicht zu verdrängen. Schon sehr bald wird es die Unaufrichtigkeit und Untreue der Mutter nicht mehr bemerken. Es wird die Fähigkeit zum kritischen Denken verlieren, denn sie beizubehalten wäre ebenso hoffnungslos wie gefährlich. Außerdem steht es unter dem Eindruck, es werde von ihm erwartet, dass es glaubt, dass seine Mutter aufrichtig ist und sich anständig verhält und dass seine Eltern glücklich verheiratet sind, und es wird sich diese Vorstellung bereitwillig zu eigen machen.

Bei allen diesen Beispielen geht es darum, ob der Gedanke das Ergebnis eigenen Denkens, das heißt eigenen Tätigseins ist. Es geht nicht darum, ob die Inhalte des Denkens richtig sind. Wie wir bereits bei der Wetterprognose des Fischers andeuteten, kann seine Ansicht, die auf eigenem Denken beruht, falsch und die des Mannes, der nur wiederholt, was ein anderer für ihn gedacht hat, richtig sein. Das Pseudo-Denken kann auch völlig logisch und rational sein. Sein Pseudo-Charakter äußert sich nicht unbedingt darin, dass es unlogisch ist. Man kann das an Rationalisierungen studieren, die sich bemühen, eine Handlung oder ein Gefühl mit rationalen und realistischen Beweggründen zu erklären, obwohl sie in Wirklichkeit von irrationalen und subjektiven Faktoren determiniert waren. Die Rationalisierung kann zwar auch im Widerspruch zu den Tatsachen oder zu den Regeln logischen Denkens stehen, häufig aber wird sie selbst logisch und rational sein. Ihre Irrationalität liegt dann darin, dass sie nicht das wirkliche Motiv für die Handlung darstellt, deren Ursache sie angeblich war.

Ein bekannter Witz ist ein gutes Beispiel für eine irrationale Rationalisierung: Eine Frau hat sich von einer Nachbarin einen Glaskrug ausgeliehen und ihn zerbrochen. Als sie aufgefordert wird, ihn zurückzugeben, antwortet sie: „Erstens habe ich ihn schon zurückgegeben; zweitens habe ich ihn mir nie von Ihnen ausgeliehen; und drittens war er schon kaputt, als Sie ihn mir gegeben haben.“ Ein Beispiel für eine „rationale“ Rationalisierung ist es, wenn A, der sich in wirtschaftlicher Not befindet, seinen Verwandten B bittet, ihm etwas Geld zu leihen. B lehnt ab mit der Begründung, wenn [I-331] er A Geld leihe, werde er nur dessen Leichtsinn Vorschub leisten und seine Neigung unterstützen, sich immer nur auf andere zu verlassen. Das mag durchaus stimmen, aber es ist trotzdem eine Rationalisierung, weil B das Geld A auf keinen Fall leihen wollte, und auch wenn er selbst glaubt, er sei um das Wohl von A besorgt, handelt er doch tatsächlich aus Geiz.

Es lässt sich daher nicht feststellen, ob wir es mit einer Rationalisierung zu tun haben, wenn wir lediglich untersuchen, ob eine Behauptung logisch ist; wir müssen auch die psychologischen Motivationen mit berücksichtigen, die in einem Menschen am Werk sind. Das Entscheidende ist nicht, was der Betreffende denkt, sondern wie er denkt. Ein dem eigenen aktiven Denken entspringender Gedanke ist stets neu und originell; originell nicht unbedingt in dem Sinn, dass ihn nicht andere schon zuvor gedacht hätten, jedoch stets in dem Sinn, dass derjenige, der denkt, sein Denken als Werkzeug benutzt, um etwas Neues in der Außenwelt oder in sich selbst zu entdecken. Den Rationalisierungen fehlt ihrem ganzen Wesen nach dieses Entdecken und Enthüllen; sie bestätigen lediglich unsere emotionalen Vorurteile. Die Rationalisierungen sind kein geeignetes Mittel, zur Wirklichkeit vorzustoßen, sondern nur post factum ein Versuch, die eigenen Wünsche mit der vorhandenen Wirklichkeit in Einklang zu bringen.

Man muss beim Fühlen genau wie beim Denken zwischen einem echten Gefühl, das aus uns selbst kommt, und einem Pseudo-Gefühl unterscheiden, das in Wirklichkeit nicht unser eigenes ist, auch wenn wir es dafür halten. Wählen wir ein Beispiel aus dem täglichen Leben, das für den Pseudo-Charakter unserer Gefühle im Verkehr mit anderen typisch ist: Wir beobachten einen Mann auf einer Abendgesellschaft. Er ist heiter, er lacht, er führt freundschaftliche Gespräche und scheint alles in allem recht glücklich und zufrieden zu sein. Beim Abschied lächelt er freundlich und sagt, wie gut es ihm gefallen habe. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss - und in diesem Augenblick bemerken wir, wenn wir ihn genau beobachten, dass sein Gesichtsausdruck sich plötzlich verändert. Das Lächeln ist verschwunden, was natürlich zu erwarten war, da er ja jetzt allein ist und nichts und niemand ihn mehr zum Lächeln veranlasst. Aber die Veränderung, von der ich spreche, beschränkt sich nicht darauf, dass er nicht mehr lächelt. Ein Ausdruck tiefer Traurigkeit, ja fast Verzweiflung steht auf seinem Gesicht. Dieser Ausdruck dauert vermutlich nur ein paar Sekunden, dann nimmt das Gesicht wieder den üblichen maskenhaften Ausdruck an. Der Mann steigt in seinen Wagen und denkt über den Abend nach. Er fragt sich, ob er einen guten Eindruck gemacht hat, und hat das Gefühl, dass das der Fall war. Aber war „er“ wirklich den ganzen Abend lang glücklich und vergnügt? War der flüchtige Ausdruck von Traurigkeit und Verzweiflung, den wir auf seinem Gesicht beobachteten, nur eine momentane Reaktion ohne größere Bedeutung? Diese Frage ist kaum zu beantworten, wenn wir nicht mehr über ihn wissen. Aber es gibt einen Schlüssel zum Verständnis der Bedeutung seiner Heiterkeit.

Er träumt nämlich in jener Nacht, er sei wieder im Krieg bei der A. E. F. (Amerikanische Streitkräfte in Übersee). Er hat den Befehl erhalten, sich durch die feindlichen Linien hindurch ins Stabsquartier des Gegners einzuschleichen. Er zieht eine Offiziersuniform an - offenbar eine deutsche - und findet sich plötzlich mitten in einer [I-332] Gruppe deutscher Offiziere. Er ist überrascht, dass es im Stabsquartier so behaglich ist und dass alle so nett zu ihm sind, aber dabei bekommt er immer größere Angst, sie könnten merken, dass er ein Spion ist. Da kommt auch schon ein jüngerer Offizier, der ihm besonders sympathisch ist, auf ihn zu und sagt: „Ich weiß, wer Sie sind. Es gibt für Sie nur eine Möglichkeit, hier wieder rauszukommen. Erzählen Sie Witze! Lachen Sie und bringen Sie sie zum Lachen, damit sie so abgelenkt werden, dass sie Ihnen selbst keine Aufmerksamkeit mehr schenken.“ Er ist für diesen guten Rat dankbar und fängt an, Witze zu erzählen und laut zu lachen. Aber er übertreibt es schließlich so sehr, dass die anderen Verdacht schöpfen, und je argwöhnischer sie werden, umso krampfhafter werden seine Witze. Schließlich erfüllt ihn eine so furchtbare Angst, dass er nicht länger zu bleiben vermag. Er springt plötzlich vom Stuhl auf, und alle laufen hinter ihm her. Dann ändert sich die Szene, und er sitzt in einer Straßenbahn, die genau vor seinem Haus hält. Er ist in Zivil und fühlt sich erleichtert bei dem Gedanken, dass der Krieg vorüber ist.

Nehmen wir an, wir hätten die Möglichkeit, ihn am nächsten Tag zu fragen, was ihm im Zusammenhang mit den einzelnen Traumelementen einfällt. Wir wollen hier nur einige Assoziationen festhalten, die uns für das Verständnis des Hauptproblems, für das wir uns interessieren, besonders signifikant erscheinen. Die deutsche Uniform erinnert ihn daran, dass auf der Party am vergangenen Abend ein Gast war, der mit einem starken deutschen Akzent sprach. Es fällt ihm ein, dass er sich über diesen Mann geärgert hat, weil dieser ihn kaum beachtete, obwohl er (der Träumer) sich doch bemühte, einen besonders guten Eindruck auf ihn zu machen. Während er sich das durch den Kopf gehen lässt, erinnert er sich, dass der Mann mit dem deutschen Akzent sich tatsächlich über ihn lustig gemacht und über eine seiner Äußerungen unverschämt gelächelt hatte. Zu dem behaglichen Raum, in dem sich das Stabsquartier befand, fällt ihm ein, dass er dem Zimmer ähnlich sah, in dem er letzte Nacht bei der Party gesessen hat, dass aber die Fenster aussahen wie die in dem Saal, in dem er früher einmal durch ein Examen gefallen war. Er wundert sich über diese Assoziation, aber es fällt ihm ein, dass er sich, bevor er zu der Party ging, Gedanken darüber gemacht hatte, ob er dort auch einen guten Eindruck machen würde; denn erstens war unter den Gästen der Bruder eines jungen Mädchens, für das er sich interessierte, und außerdem hatte der Gastgeber einen erheblichen Einfluss auf einen seiner Vorgesetzten, der ihm für sein berufliches Vorankommen äußerst wichtig war. Zu diesem Vorgesetzten bemerkt er, er sei ihm sehr unsympathisch, und erfühle sich gedemütigt, weil er ihm ein freundliches Gesicht zeigen müsse, und auch der Gastgeber sei ihm irgendwie unsympathisch gewesen, wenn er sich das auch nicht klargemacht hätte. Weiter assoziiert er, dass er eine komische Geschichte über einen Mann mit einer Glatze erzählt habe und ihm hinterher eingefallen sei, er könnte damit am Ende seinen Gastgeber gekränkt haben, weil dieser zufällig ebenfalls fast kahl sei. Mit dem Straßenbahnwagen kann er zunächst nichts anfangen, bis ihm einfällt, dass er ihn an den Straßenbahnwagen erinnert, in dem er als Junge zur Schule gefahren ist. Dann fällt ihm noch ein, dass er im Traum plötzlich selbst der Fahrer war und sich darüber wunderte, dass eine Straßenbahn fast genauso zu lenken war wie ein Auto. Offensichtlich vertrat der Straßenbahnwagen im Traum die Stelle seines Autos, mit dem [I-333] er nach Hause gefahren war, und diese Heimfahrt erinnerte ihn an seinen Heimweg von der Schule.

Für jemand, der mit der Deutung von Träumen vertraut ist, werden die Verwicklungen dieses Traumes und die ihn begleitenden Assoziationen inzwischen klar sein, wenngleich ich die Assoziationen nur zum Teil erwähnt und praktisch nichts über die Persönlichkeitsstruktur dieses Mannes und über seine frühere und gegenwärtige Situation mitgeteilt habe. Der Traum enthüllt seine wahren Gefühle auf der Party. Er war ängstlich darauf bedacht, einen guten Eindruck zu machen, und hatte sich über einige Leute geärgert, bei denen er das Gefühl hatte, dass sie sich über ihn lustig machten und ihn nicht gebührend achteten. Der Traum zeigt, dass seine Heiterkeit ihm nur dazu diente, Angst und Ärger zu verbergen und gleichzeitig die für sich einzunehmen, über die er sich ärgerte. Die Heiterkeit war nichts als eine Maske. Sie kam ihm nicht von Herzen, sondern sie verdeckte nur, was „er“ wirklich fühlte, nämlich Angst und Ärger. Das verunsicherte ihn so, dass er das Gefühl hatte, er wäre ein Spion in einem feindlichen Lager, der jeden Augenblick entlarvt werden konnte. Der flüchtige Ausdruck von Traurigkeit und Verzweiflung, den wir bei ihm beobachten konnten, als er das Haus verließ, wird hiermit bestätigt und ist damit zu erklären, dass sein Gesicht in diesem Augenblick das ausdrückte, was „er“ wirklich fühlte, obwohl „er“ sich dieses Gefühls nicht bewusst war. Der Traum gibt das Gefühl auf dramatische Weise deutlich wieder, wenn er sich auch nicht unverhüllt auf die Menschen bezieht, auf die sich seine Gefühle richteten.

Dieser Mann ist weder ein Neurotiker, noch stand er unter Hypnose. Es handelt sich bei ihm um einen ziemlich normalen Zeitgenossen, der von der üblichen Angst und dem üblichen Anerkennungsbedürfnis des heutigen Menschen erfüllt ist. Er ist sich nicht bewusst, dass seine Fröhlichkeit nicht „seine“ Fröhlichkeit ist, weil er so daran gewöhnt ist, in jeder Situation das zu empfinden, was man gerade von ihm erwartet, dass es eher eine Ausnahme als die Regel wäre, wenn ihm etwas als „merkwürdig“ auffallen würde.

Was für das Denken und Fühlen gilt, das gilt auch für das Wollen. Die meisten Menschen sind überzeugt, dass ihre Entschlüsse die ihren sind und dass es sich um ihr eigenes Wollen handelt, wenn sie etwas wollen, solange sie nicht von einer äußeren Macht offen zu etwas gezwungen werden. Aber das gehört zu den großen Illusionen, die wir uns über uns selber machen. Sehr viele unserer Entschlüsse sind nicht wirklich unsere Entscheidungen, sondern sie werden uns von außen suggeriert. Wir bringen es fertig, uns einzureden, es handele sich um unsere eigenen Entscheidungen, aber in Wirklichkeit verhalten wir uns so, wie es die anderen von uns erwarten, und das tun wir aus Angst vor der Isolierung und weil wir unser Leben, unsere Freiheit und unsere Behaglichkeit unmittelbar bedroht fühlen.

Wenn man ein Kind fragt, ob es gerne jeden Tag in die Schule geht, und die Antwort lautet „Aber natürlich“, dann ist es zweifelhaft, ob die Antwort stimmt. In vielen Fällen stimmt sie sicher nicht. Möglicherweise geht das Kind häufig ganz gern in die Schule, aber oft würde es lieber spielen oder etwas anderes tun. Wenn es das Gefühl hat, „ich möchte jeden Tag gern in die Schule gehen“, besteht die Möglichkeit, dass es seine Abneigung gegen den regelmäßigen Schulbesuch verdrängt hat. Es hat das [I-334] Gefühl, man erwartet von ihm, dass es täglich gerne in die Schule geht; dieser Druck ist stark genug, das Gefühl zum Verschwinden zu bringen, es gehe oft nur deshalb, weil es muss. Vielleicht wäre es glücklicher, wenn es sich darüber im Klaren sein könnte, dass es manchmal gern geht und manchmal nur geht, weil es muss. Der Druck des Pflichtgefühls ist aber so groß, dass es das Gefühl bekommt, „es“ wolle das, was man von ihm erwartet.

Man nimmt allgemein an, dass die meisten Menschen freiwillig heiraten. Sicher gibt es Fälle, wo Menschen bewusst aus Pflichtgefühl oder aus einer Verpflichtung heraus eine Ehe eingehen. Es gibt auch Fälle, wo ein Mann heiratet, weil „er“ es wirklich will. Aber es gibt auch nicht wenige Fälle, wo ein Mann (oder natürlich auch eine Frau) bewusst glaubt, er wolle eine bestimmte Person heiraten, während er tatsächlich in eine Reihe von Ereignissen hineingeraten ist, die zur Heirat hinführen und die ihm jede Rückzugsmöglichkeit versperren. In den Monaten vor der Hochzeit ist er fest davon überzeugt, dass „er“ heiraten möchte, und der erste, ziemlich späte Hinweis darauf, dass er es vielleicht doch lieber nicht täte, ist die Tatsache, dass er am Hochzeitstag plötzlich in Panik gerät und den Impuls fühlt wegzulaufen. Wenn er „vernünftig“ ist, dauert dieses Gefühl nur wenige Minuten, und er beantwortet die Frage, ob er die Absicht habe, die Ehe einzugehen, fest überzeugt mit: „Ja!“

Wir könnten noch viele Beispiele aus dem täglichen Leben anführen, wo Menschen scheinbar ihre Entscheidungen treffen und etwas Bestimmtes wollen, in Wirklichkeit aber einem inneren oder äußeren Druck nachgeben, wonach sie das zu wollen haben, was sie dann auch tun. Wenn man sieht, wie die Menschen ihre Entscheidungen treffen, ist man geradezu verblüfft darüber, wie häufig sie irrtümlicherweise einen eigenen Entschluss zu fassen glauben, während sie sich in Wirklichkeit nur an die Konvention halten oder aus Pflichtgefühl oder ganz einfach unter einem Druck handeln. Es sieht fast so aus, als sei ein „ureigener“ Entschluss ein verhältnismäßig seltenes Phänomen in einer Gesellschaft, die doch angeblich die individuelle Entscheidungsfreiheit zum Eckstein ihrer Existenz gemacht hat.

Ich möchte noch ausführlich auf ein Beispiel jenes Pseudo-Wollens eingehen, das man häufig auch in der Analyse von Menschen beobachten kann, die keinerlei neurotische Symptome aufweisen. Dieser spezielle Fall hat zwar mit den großen kulturellen Problemen, mit denen wir uns in diesem Buch hauptsächlich beschäftigen, nur wenig zu tun, aber er gibt auch dem mit dem Wirken unbewusster Kräfte weniger vertrauten Leser Gelegenheit, deren Einfluss näher kennenzulernen. Außerdem komme ich mit diesem Beispiel noch einmal auf den Zusammenhang zwischen der Verdrängung und den Pseudo-Akten zurück, ein Problem, das wir zwar schon angedeutet, aber noch nicht gesondert behandelt haben. Wenn man sich auch mit der Verdrängung meist im Zusammenhang mit der Auswirkung verdrängter Kräfte auf neurotisches Verhalten, auf Träume usw. beschäftigt, scheint es mir doch angebracht darauf hinzuweisen, dass jede Verdrängung einen Teil unseres wirklichen Selbst auslöscht und uns zwingt, das von uns verdrängte Gefühl durch ein Pseudo-Gefühl zu ersetzen.

Bei dem Fall, den ich hier vorstellen möchte, handelt es sich um einen zweiundzwanzigjährigen Medizinstudenten. Er interessiert sich für seine Arbeit und kommt mit seinen Mitmenschen recht gut aus. Er ist nicht besonders unglücklich, wenn er auch [I-335] oft etwas müde ist und keine rechte Lust am Leben hat. Er macht eine Analyse nur, weil er Psychiater werden möchte, und er klagt lediglich über eine gewisse Blockierung bei seinen medizinischen Studien. Er könne sich häufig nicht an Dinge erinnern, die er gerade erst gelesen habe, und werde bei den Vorlesungen ungewöhnlich schnell müde, auch schneide er bei den Prüfungen schlecht ab. Das Ganze sei ihm ein Rätsel, weil er sonst ein viel besseres Gedächtnis besitze. Er bezweifelt nicht, dass er Medizin studieren möchte, doch kommen ihm oft starke Zweifel, ob er auch die nötige Begabung dazu besitzt.

Nach einigen Wochen Analyse erzählt er einen Traum, bei dem er im obersten Geschoss eines von ihm selbst erbauten Hochhauses steht und mit einem leichten Triumphgefühl auf die anderen Gebäude hinabblickt. Plötzlich bricht das Hochhaus zusammen, und er wird unter den Trümmern begraben. Er merkt, dass man versucht, ihn auszugraben, und hört jemanden sagen, er sei schwer verletzt, und der Arzt werde gleich kommen. Aber er hat das Gefühl, endlos lange auf den Arzt warten zu müssen. Als dieser endlich eintrifft, stellt er fest, dass er seine Instrumente vergessen hat und ihm deshalb nicht helfen kann. Da wird er auf den Arzt wütend, steht plötzlich auf und merkt, dass er ja überhaupt nicht verletzt ist. Er verhöhnt den Arzt, und in diesem Augenblick wacht er auf.

Er hat zu diesem Traum zwar nur wenige, aber dafür umso bedeutsamere Assoziationen. Zu dem von ihm gebauten Hochhaus bemerkt er beiläufig, er habe sich schon immer für Architektur interessiert. Als Kind sei es viele Jahre lang seine Lieblingsbeschäftigung gewesen, mit Bauklötzchen zu spielen, und mit siebzehn Jahren habe er Architekt werden wollen. Als er mit seinem Vater darüber gesprochen habe, habe dieser freundlich gesagt, es stünde ihm natürlich frei, seinen Beruf selbst zu wählen, doch er (der Vater) sei sicher, dass das nur ein Relikt aus der Kindheit mit ihren Wunschvorstellungen sei und dass er bestimmt in Wirklichkeit lieber Medizin studieren wolle. Der junge Mann dachte, der Vater habe wohl recht, und sprach nie mehr mit ihm darüber, sondern begann ganz selbstverständlich das Medizinstudium. Seine Assoziationen zu dem Arzt, der zu spät kam und seine Instrumente vergessen hatte, waren ziemlich unbestimmt und dürftig. Aber während er noch über diesen Teil des Traumes sprach, fiel ihm plötzlich ein, dass der Termin für seine Analyse geändert worden war und dass er zwar keine Einwände dagegen gemacht hatte, aber recht ärgerlich darüber gewesen war. Während er jetzt darüber spricht, kommt dieser Ärger wieder in ihm hoch. Er beschuldigt den Analytiker, er mache mit ihm, was er wolle, und sagt schließlich: „Na ja, ich kann ja sowieso nicht tun, was ich will.“ Er ist selbst über seinen Zorn und über diese Äußerung ganz erstaunt, denn bisher hatte er nichts gegen den Analytiker und gegen die analytische Arbeit mit ihm einzuwenden.

Einige Zeit danach hatte er einen anderen Traum, von dem er aber nur einen kleinen Teil behalten hatte: Sein Vater ist bei einem Autounfall verletzt worden. Er selbst ist Arzt und soll den Vater versorgen. Als er ihn aber untersuchen will, ist er völlig gelähmt und kann nichts tun. Er ist entsetzt und wacht auf.

Bei seinen Assoziationen erwähnt er widerstrebend, in den letzten Jahren sei ihm immer wieder der Gedanke gekommen, der Vater könne plötzlich sterben, und dieser Gedanke habe ihn erschreckt. Manchmal habe er sogar an das Erbe gedacht, das er [I-336] ihm hinterlassen würde, und daran, was er damit anfangen würde. Er war jedoch mit diesen Phantasien nicht sehr weit gekommen und hatte sie jedes Mal unterdrückt, wenn sie auftauchen wollten. Beim Vergleich dieses Traumes mit dem zuvor erwähnten, fällt ihm auf, dass der Arzt in beiden Fällen nicht in der Lage war, wirksame Hilfe zu leisten. Er merkt deutlicher als je zuvor, dass er niemals ein guter Arzt werden wird. Als er darauf hingewiesen wird, dass er im ersten Traum einen ausgesprochenen Zorn und Hohn über den unfähigen Arzt empfunden hat, fällt ihm ein, dass jedes Mal, wenn er von einem Arzt gehört oder gelesen habe, der unfähig war, seinen Patienten zu helfen, ein Gefühl des Triumphs in ihm aufgestiegen sei, das er sich aber damals nicht klargemacht habe.

Im weiteren Verlauf der Analyse kommt noch weiteres verdrängtes Material zutage. Zu seinem Erstaunen entdeckt er ein starkes Gefühl des Zorns auf seinen Vater und kommt außerdem dahinter, dass das Gefühl, als Arzt nichts zu taugen, nur Teil eines allgemeinen Gefühls der Ohnmacht ist, das sein ganzes Leben durchdringt. Obgleich er an der Oberfläche seines Bewusstseins glaubte, sein Leben nach eigenen Plänen gestaltet zu haben, fühlt er jetzt, dass er in einer tieferen Schicht von einem Gefühl der Resignation beherrscht war. Er merkt, dass er überzeugt war, nicht tun zu können, was er wollte, sondern dass er sich so verhalten musste, wie man es von ihm erwartete. Es wird ihm immer klarer, dass er im Grunde nie Arzt werden wollte und dass das, was ihm wie mangelnde Begabung vorkam, nichts anderes als ein Ausdruck seines passiven Widerstandes war.

Dieser Fall ist ein typisches Beispiel dafür, dass jemand seine persönlichen Wünsche verdrängt und sich das, was andere von ihm erwarten, so zu eigen macht, dass er sich einbildet, er wolle es selbst. Man könnte auch sagen, dass an die Stelle des ursprünglichen Wunsches der Pseudo-Wunsch tritt.

Dieser Ersatz der ursprünglichen Akte des Denkens, Fühlens und Wollens durch Pseudo-Akte führt schließlich dazu, dass das ursprüngliche Selbst durch ein Pseudo-Selbst ersetzt wird. Das ursprüngliche Selbst ist der wirkliche Urheber alles geistigen Tätigseins. Das Pseudo-Selbst ist nur ein Stellvertreter, der die Rolle spielt, die man von ihm erwartet, der aber dies im Namen des Selbst tut.

Freilich kann jemand auch viele Rollen spielen und subjektiv überzeugt sein, in jeder dieser Rollen „er“ zu sein. Tatsächlich aber ist er in allen diesen Rollen das, wovon er glaubt, dass man es von ihm erwartet, und bei vielen Menschen, wenn nicht gar bei den meisten, wird das ursprüngliche Selbst vom Pseudo-Selbst völlig erstickt. Manchmal kommt in einem Traum, in Phantasien oder wenn der Betreffende betrunken ist, etwas von dem ursprünglichen Selbst zum Vorschein - Gefühle und Gedanken, die er jahrelang nicht mehr gehabt hat. Oft handelt es sich um schlimme Dinge, die er verdrängte, weil er Angst davor hatte oder sich ihrer schämte. Manchmal handelt es sich aber auch um das Beste in ihm, das er verdrängt hat, aus Angst, man würde ihn auslachen oder angreifen.[33] [I-337]

Der Verlust des Selbst und sein Ersatz durch ein Pseudo-Selbst erzeugt im Menschen einen Zustand intensiver Unsicherheit. Er ist von Zweifeln besessen, weil er gewissermaßen seine Identität verloren hat, weil er im Wesentlichen ein Spiegelbild dessen ist, was andere von ihm erwarten. Um die aus diesem Identitätsverlust entspringende Panik zu überwinden, muss er sich anpassen und seine Identität in der ständigen Billigung und Anerkennung durch andere suchen. Wenn er selbst nicht weiß, wer er ist, werden es vielleicht die andern wissen, sofern er sich nur ihren Erwartungen entsprechend verhält. Wenn sie es wissen, wird auch er es wissen, wenn er ihnen nur Glauben schenkt.

Die Automatisierung des Individuums in unserer gegenwärtigen Gesellschaft hat die Hilflosigkeit und Unsicherheit des Durchschnittsmenschen noch verstärkt. Er ist deshalb bereit, sich neuen Autoritäten zu unterwerfen, die ihm Sicherheit anbieten und seine Zweifel mindern. Im nächsten Kapitel wollen wir uns mit den speziellen Bedingungen befassen, welche die Voraussetzung dafür waren, dass die Deutschen dieses Angebot annahmen. Wir werden sehen, dass für den Kern der Nazi-Bewegung - das Kleinbürgertum - die Flucht ins Autoritäre besonders charakteristisch war. Im Letzten Kapitel wollen wir dann die Auswirkungen des Konformismus auf die Kultur unserer eigenen Demokratie weiter verfolgen.

6 Die Psychologie des Nazismus

Im vorigen Kapitel haben wir unsere Aufmerksamkeit auf zwei psychologische Typen konzentriert: den autoritären und den konformistischen Charakter. Ich hoffe, dass die ausführliche Beschreibung dieser Typen auch das Verständnis der in diesem und im nächsten Kapitel behandelten Probleme erleichtern wird: die Psychologie des Nazismus und die der modernen Demokratie.

Wenn wir uns mit der Psychologie des Nazismus beschäftigen, müssen wir zunächst eine einleitende Frage stellen - die Frage nach der Relevanz psychologischer Faktoren für das Verständnis des Nazismus.

In wissenschaftlichen und noch mehr in populären Diskussionen über den Nazismus werden häufig zwei entgegengesetzte Ansichten vertreten: Einmal heißt es, die Psychologie biete keine Erklärung für ein wirtschaftliches und politisches Phänomen wie den Faschismus, zum anderen wird behauptet, der Faschismus sei ein rein psychologisches Problem.

Erstere Auffassung sieht im Nazismus entweder das Ergebnis einer ausschließlich ökonomischen Dynamik - der Expansionstendenzen des deutschen Imperialismus - oder ein im Wesentlichen politisches Phänomen - die Eroberung der Staatsgewalt durch eine von Industriellen und Junkern unterstützten politischen Partei. Kurz gesagt sieht man im Sieg des Nazismus das Ergebnis eines Betrugs und des Zwanges, den eine Minderheit auf die Mehrheit der Bevölkerung ausübte.

Dagegen stehen die Vertreter der zweiten Auffassung auf dem Standpunkt, man könne den Nazismus nur psychologisch oder, besser gesagt, psychopathologisch erklären: Hitler sei ein Wahnsinniger oder ein „Neurotiker“, und seine Gefolgsleute seien ebenfalls verrückt oder seelisch labil. Nach dieser Deutung, die unter anderem L. Mumford vertritt, sind die wirklichen Quellen des Faschismus „in der menschlichen Seele, und nicht in der Wirtschaft“ zu suchen. Und Mumford fährt fort: „Im unmäßigen Hochmut, in der Lust an der Grausamkeit und in neurotischen Verfallserscheinungen - hierin, und nicht im Versailler Vertrag oder in der Unfähigkeit der Deutschen Republik liegt die Erklärung für den Faschismus“ (L. Mumford, 1940, S. 118).

Meiner Auffassung nach ist weder die eine noch die andere dieser Erklärungen [I-339] richtig, welche die politischen und wirtschaftlichen Faktoren unter Ausschluss der psychologischen - oder umgekehrt - als Ursache ansehen. Der Nazismus ist ein psychologisches Problem, aber man muss die psychologischen Faktoren aus den sozio-ökonomischen Faktoren heraus verstehen; der Nazismus ist ein ökonomisches und politisches Problem, aber dass er ein ganzes Volk erfasst hat, ist mit psychologischen Gründen zu erklären. Ich möchte mich in diesem Kapitel mit dem psychologischen Aspekt des Nazismus, mit seiner menschlichen Grundlage befassen. Damit stellen sich uns zwei Probleme: die Charakterstruktur der Menschen, die er angesprochen hat, und die psychologischen Merkmale der Ideologie, die ihn zu einem so wirksamen Instrument zur Beeinflussung eben dieser Leute machten.

Wenn man die psychologischen Hintergründe für den Erfolg des Nazismus untersucht, muss man von Anfang an folgende Unterscheidung treffen: Da ist einerseits der Teil der Bevölkerung, der sich der Nazi-Herrschaft beugte, ohne wesentlichen Widerstand zu leisten, der aber andererseits nicht zu den Bewunderern der Nazi-Ideologie und ihren politischen Methoden gehörte. Und da waren andererseits jene, welche sich zu der neuen Ideologie stark hingezogen fühlten und fanatische Anhänger derjenigen wurden, die sie proklamierten. Erstere Gruppe bestand hauptsächlich aus Angehörigen der Arbeiterklasse und des liberalen und katholischen Bürgertums. Trotz ihrer vorzüglichen Organisation, besonders was die Arbeiterschaft betrifft, und trotz ihrer feindlichen Einstellung gegen den Nazismus von seinen Anfängen bis 1933 zeigten sie jedoch nicht den inneren Widerstand, den man auf Grund ihrer politischen Überzeugung von ihnen hätte erwarten können. Ihr Widerstandswille brach schnell zusammen, und sie haben seither dem Regime kaum noch Schwierigkeiten gemacht (abgesehen natürlich von der kleinen Minderheit, die in all den Jahren einen heroischen Kampf gegen den Nazismus geführt hat). Psychologisch scheint diese Bereitschaft, sich dem Nazi-Regime zu unterwerfen, vor allem auf eine innere Müdigkeit und Resignation zurückzuführen zu sein, die - wie wir im nächsten Kapitel zeigen werden - selbst in demokratischen Ländern für die Menschen unserer Zeit charakteristisch sind. In Deutschland kam für die Arbeiterklasse noch die Niederlage hinzu, die sie nach ihren ersten Erfolgen in der Revolution von 1918 erlitten hatte. Sie war mit großen Hoffnungen in die Nachkriegszeit eingetreten. Sie hatte mit der Verwirklichung des Sozialismus oder doch wenigstens mit einer beträchtlichen Besserung ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage gerechnet. Aber aus welchen Gründen auch immer hatte sie eine ununterbrochene Folge von Niederlagen hinnehmen müssen, weshalb sie schließlich alle Hoffnungen aufgab. Anfang 1930 war fast alles, was die Arbeiter mit ihren anfänglichen Siegen erreicht hatten, wieder verlorengegangen, und die Folge war eine tiefe Resignation, Misstrauen gegen ihre Führer und Zweifel am Wert einer jeden politischen Organisation und Aktivität. Sie blieben zwar noch Mitglied ihrer jeweiligen Partei und glaubten in ihrem Bewusstsein auch noch weiter an ihre politischen Doktrinen; tief im Inneren hatten viele von ihnen aber jede Hoffnung auf die Wirksamkeit einer politischen Tätigkeit aufgegeben.

Nach Hitlers Machtergreifung kam für die Mehrzahl der Bevölkerung noch ein weiterer Beweggrund hinzu, sich der Nazi-Bewegung anzuschließen. Für Millionen wurde damals das Hitler-Regime gleichbedeutend mit „Deutschland“. Nachdem er einmal [I-340] die Regierungsgewalt innehatte, bedeutete ein Widerstand gegen ihn, dass man sich von der Gemeinschaft der Deutschen ausschloss. Als die anderen politischen Parteien abgeschafft waren und die Nazi-Partei Deutschland „war“, bedeutete ein Widerstand gegen sie Widerstand gegen Deutschland. Es scheint, dass für den Durchschnittsmenschen nichts schwerer zu ertragen ist als das Gefühl, keiner größeren Gruppe zuzugehören. Ein Deutscher kann noch so sehr ein Gegner der Grundsätze des Nazismus sein, wenn er zu wählen hat, ob er lieber allein stehen oder sich Deutschland zugehörig fühlen will, wird er sich meist für Letzteres entscheiden. Man kann beobachten, dass vielfach auch Menschen, die selbst keine Nazis sind, den Nazismus gegen die Kritik von Ausländern verteidigen, weil sie das Gefühl haben, dass ein Angriff auf die Nazis ein Angriff auf Deutschland ist. Die Angst vor der Isolierung und die relative Schwäche moralischer Prinzipien helfen jeder Partei, einen großen Teil der Bevölkerung für sich zu gewinnen, wenn sie erst einmal im Staat an die Macht gekommen ist.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich ein für die politische Propaganda wichtiger Grundsatz: Jeder Angriff auf Deutschland selbst, jede diffamierende Propaganda gegen „die Deutschen“ (wie zum Beispiel ihre Bezeichnung als „Hunnen“ im Ersten Weltkrieg) verstärkt nur die Loyalität auch derer gegenüber dem Nazi-System, die sich noch nicht völlig damit identifiziert haben. Freilich lässt sich dieses Problem auch durch eine noch so geschickte Propaganda nicht grundsätzlich lösen, sondern nur dadurch, dass sich in allen Ländern eine Grundwahrheit siegreich durchsetzt, dass nämlich die ethischen Grundsätze über die Existenz der Nation gehen und dass jemand, der sich zu ihnen bekennt, der Gemeinschaft all derer angehört, die diese Überzeugung teilen, geteilt haben und auch in Zukunft teilen werden.

Während die Arbeiterschaft und das liberale und katholische Bürgertum zur Nazi-Ideologie eine negative oder resignierte Haltung einnahmen, wurde sie vom Kleinbürgertum, das sich aus Geschäftsleuten, Handwerkern und kleinen Angestellten zusammensetzt, leidenschaftlich begrüßt. (Vgl. zu diesem ganzen Kapitel und insbesondere zur Rolle des Kleinbürgertums H. D. Lasswell, 1933, S. 374, und F. L. Schumann, 1939.)

Die Angehörigen der älteren Generation dieser Bevölkerungsgruppe bildeten die eher passiv eingestellte Massenbasis; ihre Söhne und Töchter waren die aktiveren Kämpfer. Diese fühlten sich von der Nazi-Ideologie ungeheuer angesprochen, von ihrem Geist blinden Gehorsams gegenüber dem Führer, vom Hass gegen rassische und politische Minderheiten, vom Streben nach Eroberung und Herrschaft, und von der Verherrlichung des deutschen Volkes und der „nordischen Rasse“; und dieser Appell an ihre Emotionen gewann sie für die Sache der Nazis und machte sie zu ihren begeisterten Anhängern und Verfechtern. Die Antwort auf die Frage, weshalb die Nazi-Ideologie das Kleinbürgertum derart ansprach, ist im Gesellschafts-Charakter dieses Kleinbürgertums zu suchen. Dieser Gesellschafts-Charakter unterschied sich deutlich von dem der Arbeiterschaft und der höheren Schichten des Mittelstandes wie auch von dem des Adels in der Zeit vor 1914. Es gibt gewisse Charakterzüge, die für diesen Teil des Mittelstandes von jeher kennzeichnend waren: seine Vorliebe für die Starken und sein Hass auf die Schwachen, seine Kleinlichkeit, seine feindselige [I-341] Haltung, seine übertriebene Sparsamkeit sowohl in Bezug auf seine Gefühle wie auch in Bezug auf das Geld, und ganz besonders seine asketische Einstellung. Der Horizont des Kleinbürgertums war eng begrenzt, es verachtete und hasste die Fremden, es war neugierig und neidisch auf die eigenen Bekannten, spionierte sie aus und rationalisierte seinen Neid als moralische Entrüstung. Sein ganzes Leben gründete sich auf das Prinzip der Sparsamkeit - wirtschaftlich und psychologisch.

Wenn wir feststellen, dass der Gesellschafts-Charakter des Kleinbürgertums sich von dem der Arbeiterschaft unterschied, so heißt das nicht, dass diese Charakterstruktur nicht auch in der Arbeiterklasse zu finden gewesen wäre. Aber sie war typisch für das Kleinbürgertum, während nur eine Minderheit in der Arbeiterschaft dieselbe Charakterstruktur in so ausgeprägter Form aufwies. Aber der eine oder andere Charakterzug, wie etwa der übertriebene Respekt vor der Autorität und der Sparsinn waren - wenn auch in einer weniger intensiven Form - ebenso bei den meisten Angehörigen der Arbeiterschaft zu finden. Andererseits hat es den Anschein, dass ein großer Teil der kleinen Angestellten - vielleicht sogar die meisten von ihnen - in Bezug auf ihre Charakterstruktur mehr den Handarbeitern (besonders den Arbeitern in den großen Fabriken) als den Mitgliedern des „alten Mittelstandes“ ähnlich waren, die nicht am Aufstieg des Monopolkapitalismus teilgehabt hatten, sondern sich im Wesentlichen von diesem bedroht fühlten.[34]

Wenn auch der Gesellschafts-Charakter des Kleinbürgertums schon lange vor dem Ersten Weltkrieg der gleiche war, so ist doch andererseits unverkennbar, dass die Ereignisse nach dem Krieg eben die Charakterzüge noch verstärkten, auf welche die Nazi-Ideologie eine so große Anziehungskraft ausübte: das Streben nach Unterwerfung und die Gier nach Macht.

In der Zeit vor der Deutschen Revolution von 1918 hatte sich die wirtschaftliche Lage der unteren Schichten des alten Mittelstandes bereits verschlechtert, doch war die Situation dieser kleinen Geschäftsleute und Handwerker nicht verzweifelt; es gab immerhin noch eine Reihe von Faktoren, die ihnen eine gewisse Sicherheit gewährten. Die Autorität der Monarchie war noch unangefochten, und dadurch, dass das Kleinbürgertum sich an sie anlehnte und sich mit ihr identifizierte, fühlte es sich sicher und war von einem narzisstischen Stolz erfüllt. Auch die Autorität der Religion und der herkömmlichen Moral war noch fest verwurzelt. Die Familie war noch unerschüttert und ein sicherer Zufluchtsort in einer feindlichen Welt. Der Einzelne hatte das Gefühl, einem stabilen gesellschaftlichen und kulturellen System anzugehören, in dem jeder seinen bestimmten Platz hatte. Seine Unterwürfigkeit und seine Loyalität gegenüber der Autorität waren eine befriedigende Lösung für seine masochistischen [I-342] Strebungen. Allerdings gab er sich noch nicht völlig selber auf und bewahrte sich noch ein Gefühl der Wichtigkeit seiner eigenen Persönlichkeit. Für das, was ihm an Sicherheit und Aggressivität als Individuum abging, fand er eine Entschädigung in der Macht der verehrten Autoritäten. Kurz, seine wirtschaftliche Lage war noch so solide, dass sie ihm ein Gefühl des Stolzes auf sich selbst und einer relativen Sicherheit gab, und die Autoritäten, an die er sich anlehnte, waren ihrerseits so stark, dass sie ihm zusätzlich die Sicherheit gaben, die ihm seine persönliche Situation nicht gewähren konnte.

Nach dem Krieg änderte sich diese Situation beträchtlich. Erstens ging es nun mit dem alten Mittelstand wirtschaftlich immer schneller bergab. Dies wurde noch durch die Inflation beschleunigt, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte und die die Ersparnisse aus der Arbeit vieler Jahre fast völlig hinwegraffte.

Zwar war das Kleinbürgertum in den Jahren zwischen 1924 und 1928 wirtschaftlich wieder besser gestellt und schöpfte erneut Hoffnung, doch gingen diese Vorteile durch die Wirtschaftsdepression nach 1929 wieder verloren. Wie in der Inflationszeit war der zwischen die Arbeiterschaft und die Oberschicht gepresste Mittelstand die wehrloseste und daher auch die am schwersten betroffene Gruppe. (Vgl. F. L. Schumann, 1939, S. 104.)

Aber neben diesen wirtschaftlichen Faktoren gab es auch psychologische Probleme, die die Situation noch verschlimmerten. Dazu gehörten der verlorene Krieg und der Zusammenbruch der Monarchie. Monarchie und Staat waren psychologisch gesehen der Fels gewesen, auf den das Kleinbürgertum seine Existenz aufgebaut hatte; daher erschütterte deren Misserfolg und ihr Zusammenbruch die eigene Existenzgrundlage. Wenn man in aller Öffentlichkeit den Kaiser lächerlich machen und die Offiziere attackieren konnte, wenn der Staat seine Regierungsform ändern und sich „rote Agitatoren“ als Staatsminister und einen Sattlermeister als Reichspräsidenten gefallen lassen musste, worauf konnte dann der kleine Mann noch bauen? Er hatte sich in seiner subalternen Art mit all diesen Institutionen identifiziert. Was sollte er nun tun, nachdem sie alle dahin waren?

Auch die Inflation spielte nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern ebenso psychologisch eine wichtige Rolle. Sie bedeutete einen ebenso tödlichen Schlag für den Grundsatz der Sparsamkeit wie für die Autorität des Staates. Wenn die Ersparnisse vieler Jahre, für die man auf so viele kleine Annehmlichkeiten verzichtet hatte, ohne eigenes Verschulden verlorengehen konnten, was hatte es dann überhaupt noch für einen Sinn zu sparen? Wenn der Staat die Versprechungen, die er auf seine Banknoten und Anleihen gedruckt hatte, brechen konnte, wessen Versprechungen konnte man dann überhaupt noch trauen?

Und nicht nur mit der wirtschaftlichen Situation des Kleinbürgertums ging es nach dem Krieg immer schneller bergab, es verlor auch sein gesellschaftliches Ansehen. Vor dem Krieg konnte man sich als etwas Besseres vorkommen als ein Arbeiter. Nach der Revolution hob sich das gesellschaftliche Prestige der Arbeiterschaft beträchtlich, und entsprechend schwand das Ansehen des Kleinbürgertums dahin. Es war jetzt keiner mehr da, auf den man hätte herabsehen können, ein Vorrecht, das bei den kleinen Geschäftsleuten und ihresgleichen immer eine wichtige Rolle gespielt hatte. [I-343]

Schließlich geriet auch noch das letzte Bollwerk für die Sicherheit des Mittelstandes ins Wanken: die Familie. Nach dem Kriege war in Deutschland vielleicht noch mehr als in anderen Ländern eine Entwicklung eingetreten, bei der die Autorität des Vaters und die alte bürgerliche Moral schwer erschüttert wurden. Die jüngere Generation tat, was sie wollte, und kümmerte sich nicht mehr darum, ob ihre Eltern damit einverstanden waren oder nicht.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind zu vielfältig und komplex, als dass wir sie hier in allen Einzelheiten diskutieren könnten. Ich möchte nur einiges dazu bemerken. Der Zerfall der alten gesellschaftlichen Autoritätssymbole wie Monarchie und Staat beeinflusste auch die Rolle der individuellen Autoritäten, nämlich der Eltern. Wenn sich jene Autoritäten als schwach erwiesen, die - wie die jüngere Generation von ihren Eltern gelernt hatte, zu respektieren waren - dann verloren auch die Eltern ihr Ansehen und ihre Autorität. Hinzu kam noch, dass die ältere Generation durch die veränderte Lage und insbesondere durch die Inflation selbst verwirrt und ratlos war und sich mit den neuen Bedingungen weit weniger abzufinden wusste als die wendigere jüngere Generation. So fühlte diese sich ihren Eltern überlegen und nahm sie samt ihren guten Lehren nicht immer ganz ernst. Außerdem waren die Eltern durch die Verarmung des Mittelstandes nicht mehr in der Lage, die Zukunft ihrer Kinder finanziell sicherzustellen.

So kam es, dass die ältere Generation im Kleinbürgertum immer verärgerter und verbitterter wurde, wenn sie sich dabei auch passiv verhielt. Die jüngere Generation dagegen drängte zur Tat. Die Grundlage für eine unabhängige wirtschaftliche Existenz, die ihre Eltern noch besessen hatten, war ihnen verlorengegangen; der Arbeitsmarkt war gesättigt, alle Berufe waren überfüllt, und sie hatten kaum eine Chance sich einmal als Arzt oder Rechtsanwalt ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Wer im Krieg mitgekämpft hatte, meinte ein Anrecht auf ein besseres Los zu haben. Vor allem die vielen jungen Offiziere, die jahrelang daran gewöhnt waren, zu kommandieren und Macht auszuüben, konnten sich natürlich nicht damit abfinden, dass sie jetzt als Büroangestellte oder Vertreter arbeiten sollten.

Diese wachsende gesellschaftliche Frustration führte zu einer Projektion, die bei der Ausbreitung des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle spielte. Der alte Mittelstand sah in seiner schlechten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage nicht so sehr das eigene Schicksal, als vielmehr das Schicksal des deutschen Volkes. Man schob den eigenen - sozialen - Abstieg auf die nationale Niederlage und den Versailler Vertrag und machte diese zum Symbol der eigenen Entbehrungen.

Es heißt oft, die Behandlung der Deutschen durch die Siegermächte 1918 sei einer der Hauptgründe für das Aufkommen des Nazismus gewesen. Diese Behauptung bedarf einer Präzisierung. Die meisten Deutschen empfanden den Friedensvertrag als ungerecht; aber der Mittelstand war über den Versailler Vertrag weit erbitterter, als es die Arbeiter waren. Diese hatten das alte Regime bekämpft, und der verlorene Krieg war für sie gleichbedeutend mit der Niederlage dieses Regimes. Sie hatten das Gefühl, tapfer gekämpft zu haben, und empfanden die Niederlage nicht als persönliche Schmach. Außerdem war die Revolution nur durch die Niederlage der Monarchie ermöglicht worden, und sie hatte ihnen wirtschaftliche, politische und menschliche [I-344] Vorteile eingebracht. Der Groll auf Versailles kam aus dem Kleinbürgertum; der Groll der Nationalsozialisten war eine Rationalisierung, eine Projektion der eigenen gesellschaftlichen Benachteiligung auf die Benachteiligung der Nation.

Diese Projektion kommt in Hitlers persönlicher Entwicklung deutlich zum Ausdruck. Er war ein typischer Vertreter des Kleinbürgertums, ein Niemand ohne alle Zukunftsaussichten, der das intensive Gefühl hatte, ein Ausgestoßener zu sein. In Mein Kampf spricht Hitler an mehreren Stellen von sich als dem „Niemand“, als dem „Unbekannten“, der er in seiner Jugend gewesen sei. Aber obwohl dies im Wesentlichen an seiner eigenen gesellschaftlichen Stellung lag, verstand er, es mit nationalen Symbolen zu rationalisieren. Da er außerhalb des Reiches geboren war, fühlte er sich nicht so sehr gesellschaftlich als in nationaler Beziehung ausgestoßen, und das Großdeutsche Reich, in das alle seine Söhne heimkehren sollten, wurde für ihn zum Symbol für gesellschaftliches Prestige und Sicherheit. (Vgl. A. Hitler, 1933, S. 4 f.)

Das Gefühl der Ohnmacht und Angst beim alten Mittelstand, seine Isolierung innerhalb der Gesellschaft und seine aus dieser Lage entspringende Destruktivität waren nicht die einzige psychologische Quelle des Nazismus. Die Bauern waren aufgebracht gegen ihre städtischen Kreditgeber, bei denen sie verschuldet waren, und die Arbeiter waren tief enttäuscht und entmutigt darüber, dass sie nach ihren anfänglichen Siegen 1918 politisch immer mehr ins Hintertreffen gerieten und dass ihre Führung jede strategische Initiative eingebüßt hatte. Der größte Teil der Bevölkerung wurde von jenem Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Einzelnen erfasst, das wir bereits als typisch für den monopolistischen Kapitalismus beschrieben haben.

Diese psychologischen Bedingungen waren nicht die „Ursache“ des Nazismus. Sie waren nur die menschliche Basis, ohne die er sich nicht hätte entwickeln können; aber jede Analyse des Gesamtphänomens des Aufstiegs und Siegs des Nazismus muss sich neben seinen psychologischen Voraussetzungen auch mit seinen rein wirtschaftlichen und politischen Ursachen befassen. In Anbetracht der umfangreichen Literatur über letztere Aspekte und der speziellen Absicht, die wir mit diesem Buch verfolgen, brauchen wir uns mit diesen ökonomischen und politischen Fragen nicht zu beschäftigen. Ich möchte den Leser lediglich an die Rolle erinnern, welche die Vertreter der Großindustrie und die halb bankrotten Junker bei der Errichtung der Nazi-Herrschaft spielten. Ohne ihre Unterstützung hätte Hitler niemals gewinnen können, und sie unterstützten ihn weit mehr aus der Erkenntnis heraus, dass sie damit ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen dienten, als aus psychologischen Gründen.

Die besitzende Klasse sah sich einem Reichstag gegenüber, in dem 40 Prozent der Abgeordneten Sozialisten und Kommunisten waren und Gruppen repräsentierten, die mit dem bestehenden Gesellschaftssystem unzufrieden waren, und in dem sich auch immer mehr Nazi-Abgeordnete befanden, die ebenfalls eine Bevölkerungsschicht repräsentierten, die sich in einer erbitterten Opposition gegen die mächtigsten Vertreter des deutschen Kapitalismus befand. Ein Parlament, in welchem die Mehrheit der Abgeordneten Tendenzen vertrat, die sich gegen deren wirtschaftliche Interessen richteten, musste gefährlich erscheinen. Daher behauptete man, die Demokratie funktioniere nicht. Tatsächlich hätte man jedoch sagen können, die Demokratie funktioniere nur allzu gut. Der Reichstag repräsentierte auf ziemlich adäquate Weise [I-345] die Interessen der verschiedenen Schichten der deutschen Bevölkerung, weshalb das parlamentarische System sich nicht mehr mit dem Bedürfnis der Großindustrie und der halb-feudalen Großgrundbesitzer vereinbaren ließ, sich ihre Privilegien zu erhalten. Die Vertreter der privilegierten Gruppen erwarteten vom Nazismus, dass er den sie bedrohenden emotionalen Unwillen in andere Kanäle leiten und dass er gleichzeitig das deutsche Volk in den Dienst ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen stellen würde. Alles in allem wurden sie nicht enttäuscht, wenn sie sich auch in unwesentlichen Einzelheiten irrten. Hitler und seine Gefolgsleute waren keine willigen Werkzeuge, die sich von den Thyssens und Krupps herumkommandieren ließen; diese mussten vielmehr ihre Macht mit der Nazi-Herrschaft teilen und oft sogar sich ihr unterordnen. Aber während die Nazis alle anderen Schichten der Bevölkerung wirtschaftlich schädigten, dienten sie den Interessen der wichtigsten Machtgruppen der deutschen Industrie. Das Nazi-System ist die „Stromlinienform“ des deutschen Vorkriegsimperialismus und setzte den Weg da fort, wo die Monarchie gescheitert war. (Die Weimarer Republik hatte die Entwicklung des deutschen Monopolkapitalismus nicht wirklich unterbrochen, sondern sie effektiv mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gefördert.)

Mancher Leser dürfte sich hier die Frage stellen, wie sich die Behauptung, der Mittelstand sei psychologisch für den Nazismus am empfänglichsten gewesen, mit der Feststellung in Einklang bringen lasse, der Nazismus diene den Interessen des deutschen Imperialismus? Die Antwort hierauf ist im Wesentlichen die gleiche wie die auf die Frage, welche Rolle das städtische Bürgertum in der Epoche des aufkommenden Kapitalismus spielte. In der Nachkriegszeit war der Mittelstand und insbesondere das Kleinbürgertum vom Monopolkapitalismus bedroht. Seine Angst und der daraus entspringende Hass versetzten es in eine Panik, in der es ebenso sehr nach Unterwerfung wie nach Beherrschung der Machtlosen verlangte. Diese Gefühle nutzte eine völlig andere Bevölkerungsschicht für ein Regime aus, das sie ihren eigenen Interessen dienstbar zu machen gedachte. Hitler erwies sich hierzu als ein so geeignetes Werkzeug, weil er die Charakterzüge des erbitterten, hasserfüllten Kleinbürgers, mit dem sich das Kleinbürgertum emotional und gesellschaftlich identifizieren konnte, mit denen eines Opportunisten verband, der bereit war, sich in den Dienst der deutschen Großindustriellen und Junker zu stellen. Ursprünglich gab er sich als Messias des alten Mittelstandes. Er versprach, die Warenhäuser abzuschaffen und die „Zinsknechtschaft zu brechen“ und dergleichen. Aber er hat diese oft geäußerten Versprechen nie erfüllt. Nicht als ob das etwas ausgemacht hätte. Der Nazismus besaß niemals irgendwelche genuine politische oder wirtschaftliche Prinzipien. Man versteht ihn nur richtig, wenn man begreift, dass sein eigentliches Prinzip ein radikaler Opportunismus war. Es kam ihm darauf an, dass Hunderttausende von Kleinbürgern, die bei einer normalen Entwicklung der Dinge kaum eine Chance gehabt hätten, zu Macht und Geld zu gelangen, jetzt als Funktionäre der Nazi-Bürokratie ein großes Stück vom Kuchen mitbekamen, indem sie die Oberschicht zwangen, ihren Reichtum und ihr Prestige mit ihnen zu teilen. Andere, die dem Nazi-Apparat nicht angehörten, bekamen gute Stellen, die man den Juden und den politischen Gegnern wegnahm, und was den Rest betraf, so bekamen sie zwar nicht mehr Brot, dafür aber „Spiele“. Die [I-346] emotionale Befriedigung, welche ihnen diese sadistischen Schauspiele gewährten, und eine Ideologie, die ihnen ein Gefühl der Überlegenheit über den Rest der Menschheit gab, entschädigte sie - wenigstens eine Zeitlang - dafür, dass ihr Leben wirtschaftlich und kulturell verarmt war.

Wir sahen, dass bestimmte sozio-ökonomische Veränderungen, besonders der Niedergang des Mittelstandes und die wachsende Macht des Monopolkapitals, eine tiefe psychologische Wirkung ausübten. Die Wirkung wurde durch eine politische Ideologie noch verstärkt und in ein System gebracht, wie dies im Sechszehnten Jahrhundert durch eine religiöse Ideologie geschehen war - und die so geweckten psychischen Kräfte sollten sich dann in einer Richtung auswirken, welche den ursprünglichen wirtschaftlichen Interessen dieser Bevölkerungsschicht genau entgegengesetzt war. Der Nazismus erweckte das Kleinbürgertum psychologisch zu neuem Leben, trug aber gleichzeitig mit dazu bei, dass ihm seine alte wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung verlorenging. Er mobilisierte seine emotionalen Energien, die zu einer wichtigen Kraft im Kampf um die wirtschaftlichen und politischen Ziele des deutschen Imperialismus werden sollten.

Ich möchte auf den folgenden Seiten zu zeigen versuchen, dass Hitlers Persönlichkeit, seine Lehren und das Nazi-System eine extreme Form jener Charakterstruktur darstellen, die wir als „autoritär“ bezeichnet haben, und dass er eben hierdurch jene Teile der Bevölkerung so stark ansprach, die - mehr oder weniger - die gleiche Charakterstruktur besaßen.

Hitlers Autobiographie bietet eine vorzügliche Illustration des autoritären Charakters, und da sie außerdem das repräsentativste Dokument der Nazi-Literatur ist, möchte ich sie als Hauptquelle für meine Analyse der Psychologie des Nazismus benutzen.

Wir haben das gleichzeitige Vorhandensein von sadistischen und masochistischen Strebungen als das Wesentliche beim autoritären Charakter bezeichnet. Unter Sadismus verstanden wir das Streben nach uneingeschränkter Macht über einen anderen Menschen, das mehr oder weniger mit Destruktivität vermischt ist. Der Masochismus dagegen zielt darauf ab, dass der Betreffende sich in einer überwältigend starken Macht auflöst und so an deren Kraft und Ruhm teilhat. Ursache sowohl für die sadistischen als auch für die masochistischen Tendenzen ist die Unfähigkeit des isolierten Einzelnen, auf eigenen Füßen zu stehen, und sein Bedürfnis nach einer symbiotischen Beziehung, welche diese Vereinsamung überwindet.

In Hitlers Autobiographie Mein Kampf kommt dieses sadistische Streben nach Macht auf mannigfache Weise zum Ausdruck. Es kommt in Hitlers Beziehung zu der Masse des deutschen Volkes zum Ausdruck, die er - auf typisch sadistische Weise - gleichzeitig verachtet und „liebt“, und es spricht ebenso aus seiner Haltung den politischen Gegnern gegenüber, die jene destruktiven Elemente aufweist, welche eine so wesentliche Komponente des Sadismus darstellen. Er spricht von der Befriedigung, welche die Herrschaft den Massen gewährt: „Was sie wünscht, ist der Sieg des Stärkeren und die Vernichtung des Schwachen oder seine bedingungslose Unterwerfung.“ (A. Hitler, 1933, S. 372)

Gleich dem Weibe, (...) das sich lieber dem Starken beugt als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden [I-347] und fühlt sich im Innern mehr befriedigt durch eine Lehre, die keine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihr auch meist nur wenig anzufangen und fühlt sich sogar leicht verlassen. Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebenso wenig zum Bewusstsein wie die empörende Misshandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise.“ (A. Hitler, 1933, S. 44).

Als wesentlichen Faktor in der Propaganda bezeichnet er es, den Willen der Zuhörer durch die überlegene Kraft des Redners zu brechen. Er scheut sich nicht einmal zuzugeben, dass die körperliche Ermüdung der Zuhörer ihm höchst willkommen ist, da sie dann leichter zu beeinflussen sind. Zur Frage, welche Tageszeit für politische Versammlungen die geeignetste sei, sagt er:

Morgens und selbst tagsüber scheinen die willensmäßigen Kräfte des Menschen sich noch in höchster Energie gegen den Versuch der Aufzwingung eines fremden Willens und einer fremden Meinung zu sträuben. Abends dagegen unterliegen sie leichter der beherrschenden Kraft eines stärkeren Wollens. Denn wahrlich stellt jede solche Versammlung einen Ringkampf zweier entgegengesetzter Kräfte dar. Der überragenden Redekunst einer beherrschenden Apostelnatur wird es nun leichter gelingen, Menschen dem neuen Wollen zu gewinnen, die selbst bereits eine Schwächung ihrer Widerstandskraft in natürlichster Weise erfahren haben, als solche, die noch im Vollbesitz ihrer geistigen und willensmäßigen Spannkraft sind. (A. Hitler, 1933, S. 531 f.)

Hitler kennt sehr genau die Voraussetzungen dafür, dass sich jemand nach Unterwerfung sehnt, und gibt eine ausgezeichnete Schilderung eines solchen Menschen, der eine Massenversammlung besucht:

Die Massenversammlung ist auch schon deshalb notwendig, weil in ihr der Einzelne, der sich zunächst als werbender Anhänger einer jungen Bewegung vereinsamt fühlt und leicht der Angst verfällt, allein zu sein, zum ersten Mal das Bild einer größeren Gemeinschaft erhält, was bei den meisten Menschen kräftigend und ermutigend wirkt. (...) Wenn er aus seiner kleinen Arbeitsstätte oder aus dem großen Betriebe, in dem er sich recht klein fühlt, zum ersten Male in die Massenversammlung hineintritt und nun Tausende und Tausende von Menschen gleicher Gesinnung um sich hat, (...) dann unterliegt er selbst dem zauberhaften Einfluss dessen, was wir mit dem Wort Massensuggestion bezeichnen. (A. Hitler, 1933, S. 536.)

Entsprechend beschreibt auch Joseph Goebbels die Masse in seinem Roman Michael, wenn er sagt, das Volk wolle nichts anderes als anständig beherrscht werden, und deshalb den Staatsmann mit einem Künstler vergleichen kann: „Für ihn ist das Volk nichts anderes, als was für den Bildhauer der Stein ist. Führer und Masse, das ist ebenso wenig ein Problem wie etwa Maler und Farbe.“ (J. Goebbels, 1931, S. 31.)

In seinem Tagebuch Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei gibt Goebbels eine genaue Beschreibung der Abhängigkeit des Sadisten von seinen Objekten; wie schwach und leer er sich fühlt, wenn er nicht über jemanden Macht besitzt, und wie diese Macht ihm Kraft verleiht. Was in ihm selbst vor sich geht, beschreibt Goebbels folgendermaßen: „Ich werde mit einem Beifallsorkan empfangen. Das reißt mich wieder etwas hoch, und dann rede ich in beiden Sälen. Die Leute ahnen gar nicht, wie schlecht es um mich bestellt ist.“ (J. Goebbels, 1934, S. 120.) [I-348]

Eine aufschlussreiche Beschreibung jener besonderen Art von Macht über die Menschen, welche die Nazis als „Führertum“ bezeichnen, gibt der Führer der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley. Über die bei einem Nazi-Führer erforderlichen Eigenschaften und über die Ziele der Ausbildung zum Führer schreibt er: „Wir wollen wissen, ob diese Männer den Willen zum Führer in sich tragen, zum Herrsein, mit einem Wort zum Herrschen. (...) Wir wollen herrschen, wir haben Freude am Herrschen. (...) So werden diese Männer z.B. reiten lernen (...), um das Gefühl zu haben, ein lebendes Wesen absolut beherrschen zu können“ (R. Ley, zit. nach K. Heiden, 1937, S. 177). Den gleichen Nachdruck auf die Macht legt Hitler in Mein Kampf bei der Formulierung der Ziele der Erziehung. Von dem „jungen Volksgenossen“ sagt er: „Seine gesamte Erziehung und Ausbildung muss darauf angelegt werden, ihm die Überzeugung zu geben, anderen unbedingt überlegen zu sein“ (A. Hitler, 1933, S. 456).

Dass er an einer anderen Stelle erklärt, man müsse dem Schüler beibringen, auch Ungerechtigkeit zu ertragen, ohne dagegen aufzubegehren, dürfte den Leser inzwischen nicht mehr befremden. Dieser Widerspruch ist typisch für die sado-masochistische Ambivalenz zwischen der Machtgier und dem Streben nach Unterwerfung.

Der Wunsch nach Macht über die Massen ist es, was die „Elite“, die Nazi-Führer beseelt, und - wie die oben angeführten Zitate zeigen - sie geben es manchmal mit fast erstaunlicher Offenheit zu. Manchmal kleiden sie es in eine weniger offensive Form und betonen, beherrscht werden, das sei es, was die Massen wollen. Manchmal sieht Hitler sich auch genötigt, den Massen zu schmeicheln, und um seine zynische Verachtung zu verbergen, greift er zu Tricks wie dem folgenden: Vom Selbsterhaltungstrieb, der - wie wir noch sehen werden - für ihn mehr oder weniger mit dem Trieb zur Macht identisch ist, sagt er, dieser habe beim Arier seine edelste Form erreicht, „indem er das eigene Ich dem Leben der Gesamtheit willig unterordnet und, wenn die Stunde es erfordert, auch zum Opfer bringt“ (A. Hitler, 1933, S. 326).

Die „Führer“ genießen die Macht zwar an erster Stelle, aber deshalb müssen die Massen keineswegs die sadistische Befriedigung entbehren. Die rassischen und politischen Minderheiten in Deutschland und dann andere Nationen, die als schwach und dekadent hingestellt werden, sind die Objekte des Sadismus, mit dem die Massen abgespeist werden. Während Hitler und seine Gefolgsleute die Macht über die Masse des deutschen Volkes genießen, bringt man diesen Massen selbst bei, die Macht über andere Völker zu genießen und leidenschaftlich nach Weltherrschaft zu streben.

Hitler scheut sich nicht, diesen Wunsch nach Weltherrschaft offen als sein Ziel und als das Ziel seiner Partei zu beschreiben. Den Pazifismus verspottet er und meint: „Tatsächlich ist die pazifistisch-humane Idee vielleicht ganz gut dann, wenn der höchststehende Mensch sich vorher die Welt in einem Umfange erobert und unterworfen hat, der ihn zum alleinigen Herrn dieser Erde macht“ (A. Hitler, 1933, S. 315). Im Schlusswort zum zweiten Band heißt es: „Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muss eines Tages zum Herrn der Erde werden.“ (A. Hitler, 1933, S. 782.)

Für gewöhnlich versucht Hitler, sein Machtstreben zu rationalisieren und zu rechtfertigen; dabei bedient er sich mit Vorliebe folgender Rechtfertigungen: Seine [I-349] Herrschaft über andere Völker sei nur zu deren Besten und komme nur der Kultur der Welt zugute; der Wille zur Macht sei in den ewigen Gesetzen der Natur begründet, und er habe lediglich diese Gesetze erkannt und befolge sie; er selbst handele nach dem Gebot einer höheren Macht - Gottes, der Vorsehung, der Geschichte oder der Natur; sein Streben nach Herrschaft diene lediglich der Verteidigung gegen die Versuche anderer, ihn und das deutsche Volk zu beherrschen. Er selbst wolle nur Frieden und Freiheit.

Ein Beispiel für die erste Art Rationalisierungen ist folgende Stelle aus Mein Kampf: „Würde das deutsche Volk in seiner geschichtlichen Entwicklung jene herdenmäßige Einheit besessen haben, wie sie anderen Völkern zugute kam, dann würde das Deutsche Reich heute wohl die Herrin des Erdballs sein. Die Weltgeschichte hätte einen anderen Lauf genommen“, ein Friede wäre erreicht worden, „gestützt nicht durch die Palmwedel tränenreicher pazifistischer Klageweiber, sondern begründet durch das siegreiche Schwert eines die Welt in den Dienst einer höheren Kultur nehmenden Herrenvolkes“ (A. Hitler, 1933, S. 437 f.).

In den letzten Jahren ist jeder Zeitungsleser mit Hitlers Versicherungen vertraut geworden, sein Ziel sei nicht nur das Wohlergehen Deutschlands, sondern er diene mit seinen Taten gleichzeitig dem Wohl der Zivilisation im Allgemeinen. Die Behauptung, seine Machtgelüste entsprächen den Gesetzen der Natur, ist mehr als eine bloße Rationalisierung; sie entspringt dem Wunsch, sich einer Macht außerhalb des eigenen Ich zu unterwerfen, wie er speziell in Hitlers grober Popularisierung des Darwinismus zum Ausdruck kommt. Er ist der Überzeugung: „Der Trieb der Arterhaltung ist die erste Ursache zur Bildung menschlicher Gemeinschaften.“ (A. Hitler, 1933, S. 165.)

Der Selbsterhaltungstrieb führt zum Kampf des Stärkeren um die Beherrschung des Schwächeren und auf wirtschaftlichem Gebiet zur Auslese des Besten. Die Gleichsetzung des Selbsterhaltungstriebs mit der Macht über andere findet einen besonders verblüffenden Ausdruck in Hitlers Versicherung: „Sicher fußte die erste Kultur der Menschheit weniger auf dem gezähmten Tier als vielmehr auf der Verwendung niederer Menschen.“ (A. Hitler, 1933, S. 323.) Er projiziert den eigenen Sadismus auf die Natur, „die grausame Königin aller Weisheit“ (A. Hitler, 1933, S. 144), und er vertritt die Ansicht, die Erhaltung der Kultur sei „gebunden an das eherne Gesetz der Notwendigkeit und des Rechtes des Sieges des Besten und Stärksten“ (A. Hitler, 1933, S. 316).

Es ist interessant zu beobachten, dass der „Sozialist“ Hitler im Zusammenhang mit diesem vergröberten Darwinismus für die liberalen Grundsätze eines uneingeschränkten Wettbewerbs eintritt. In einer Polemik gegen die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft nationalistischer Verbände sagt er: „Auch wird durch solchen Zusammenschluss das freie Spiel der Kräfte unterbunden, der Kampf zur Auslese der Besten abgestellt und somit der notwendige und endgültige Sieg des Gesünderen und Stärkeren für immer verhindert“ (A. Hitler, 1933, S. 577). An einer anderen Stelle nennt er das freie Spiel der Kräfte die Weisheit des Lebens.

Sicher drückt sich in Darwins Theorie selbst kein sado-masochistischer Charakter aus. Ganz im Gegenteil entsprach sie für viele ihrer Anhänger der Hoffnung auf eine Weiterentwicklung der Menschheit zu höheren Kulturstufen. Für Hitler aber war sie Ausdruck und Rechtfertigung des eigenen Sadismus. Er enthüllt ganz naiv, welche [I-350] psychologische Bedeutung die darwinistische Theorie für ihn hatte. Als er - noch unbekannt - in München wohnte, pflegte er „jeden Morgen früh schon vor fünf Uhr aufzuwachen“ und hatte sich „die Spielerei angewöhnt, den Mäuslein, die in der kleinen Stube ihre Unterhaltung trieben, ein paar Stücklein harte Brotreste oder -rinden auf den Fußboden zu legen und nun zuzusehen, wie sich die possierlichen Tierchen um diese paar Leckerbissen herumjagten“ (A. Hitler, 1933, S. 239). Dieses „Spiel“ war der Darwinsche „Kampf ums Dasein“ im Kleinen. Es war für ihn der kleinbürgerliche Ersatz für die Zirkusspiele der römischen Cäsaren und ein Vorspiel für den historischen Zirkus, den er der Welt vorführen sollte.

Die letzte Rationalisierung für seinen Sadismus, nämlich die Rechtfertigung seines Sadismus als eine Verteidigung gegen die Angriffe anderer, finden wir in vielfältiger Form in Hitlers Äußerungen. Er und das deutsche Volk sind immer die Unschuldigen, und seine Gegner sind immer die sadistischen Bestien. Ein großer Teil dieser Propaganda besteht aus absichtlichen, bewussten Lügen. Teilweise jedoch besitzt sie die gleiche emotionale „Aufdringlichkeit“ wie paranoide Beschuldigungen. Diese Anschuldigungen haben immer die Funktion, eine Entdeckung des eigenen Sadismus und der eigenen Destruktivität zu verhüten. Sie richten sich nach der Formel: Du bist es, der die sadistischen Absichten hat, deshalb bin ich unschuldig. Bei Hitler ist dieser Abwehrmechanismus äußerst irrational, da er seine Feinde eben der Dinge anklagt, die er ganz offen als seine eigenen Ziele zugibt. So beschuldigt er die Juden, die Kommunisten und die Franzosen derselben Dinge, die er in Bezug auf seine eigenen Aktionen als völlig legitime Ziele hinstellt. Er macht sich kaum die Mühe, diesen Widerspruch mit Rationalisierungen zu tarnen. Er beschuldigt die Juden, Negertruppen aus Französisch-Nordafrika an den Rhein gebracht zu haben, „immer mit dem gleichen Hintergedanken und dem klaren Ziele, durch die dadurch zwangsläufig eintretende Bastardisierung die ihnen verhasste weiße Rasse zu zerstören, (sie) von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen und selber zu ihren Herren aufzusteigen“ (A. Hitler, 1933, S. 357). Hitler muss den Widerspruch entdeckt haben, der darin lag, dass er andere um dessentwillen verurteilte, was er für das edelste Ziel seiner Rasse erklärte, und er versucht den Widerspruch damit zu rationalisieren, dass er behauptet, dem Selbsterhaltungstrieb der Juden fehle „die idealistische Gesinnung der arischen Rasse“ (A. Hitler, 1933, S. 330).

Dasselbe wirft er auch den Franzosen vor. Er beschuldigt sie, sie wollten Deutschland erwürgen und ihm seine Kraft rauben. Er benutzt diese Anschuldigung als Rechtfertigung für die „Verteidigung Deutschlands gegen das die Welt und ihren Frieden dauernd störende Frankreich“ (A. Hitler, 1933, S. 765) und bekennt: „Wäre ich selbst Franzose und wäre mir somit Frankreichs Größe so lieb, wie mir die Deutschlands heilig ist, so könnte und wollte auch ich nicht anders handeln, als es am Ende Clemenceau tut.“ (A. Hitler, 1933, S. 766.)

Die Kommunisten beschuldigt er der Brutalität, und den Erfolg des Marxismus schreibt er dessen politischem Willen und seiner aktivistischen Brutalität zu. Gleichzeitig jedoch erklärt er: „Was das nationale Deutschland von jeder praktischen Gestaltung der deutschen Entwicklung ausschaltete, war das Fehlen einer geschlossenen Zusammenarbeit brutaler Macht mit genialem politischem Wollen.“ (A. Hitler, 1933, S. 596.) [I-351]

Die tschechische Krise von 1938 und der gegenwärtige Krieg lieferten viele Beispiele derselben Art. Es gab keinen Akt nationalsozialistischer Unterdrückung, der nicht als Verteidigung gegen die Unterdrückung durch andere erklärt wurde. Es ist anzunehmen, dass diese Beschuldigungen reine Propagandalügen waren und dass ihnen auch die paranoide „Aufrichtigkeit“ abging, die seine Vorwürfe gegen die Juden und die Franzosen gefärbt haben mag. Ihr Propagandawert lag darin, dass besonders das Kleinbürgertum, das auf Grund der eigenen Charakterstruktur für solche paranoide Beschuldigungen anfällig ist, sie glaubte.

Hitlers Verachtung für die Machtlosen wird besonders deutlich, wenn er von Menschen spricht, deren politische Ziele - der Kampf um ihre nationale Freiheit - den Zielen, zu denen er sich bekannte, ähnlich waren. Nirgends vielleicht kommt die Unaufrichtigkeit seines Interesses an der nationalen Freiheit eklatanter zum Ausdruck als in seiner Verachtung für machtlose Revolutionäre. So spricht er voller Ironie und Verachtung von der kleinen Gruppe von Nationalsozialisten, der er sich zu Anfang in München angeschlossen hatte. Auf der ersten Versammlung, die er besuchte, hatte er den Eindruck: „Fürchterlich, fürchterlich! Das ist ja eine Vereinsmeierei allerärgster Art und Weise. In diesen Klub also sollte ich eintreten? Dann kam die Neuaufnahme zur Sprache, das heißt: es kam meine Einfangung zur Behandlung.“ (A. Hitler, 1933, S. 241.)

Er bezeichnet sie als „lächerliche kleine Schöpfung“, und ihr einziger Vorzug sei gewesen, „die Möglichkeit einer wirklichen persönlichen Tätigkeit dem Einzelnen freizustellen“ (A. Hitler, 1933, S. 243).

Er sagt, es wäre ihm nie eingefallen, einer der bereits bestehenden großen Parteien beizutreten, eine Einstellung, die für ihn höchst charakteristisch ist. Er musste in einer Gruppe anfangen, von der er das Gefühl hatte, dass sie ihm unterlegen und schwach war. Eine Konstellation, in der er gegen eine bereits bestehende Macht hätte ankämpfen oder wo er sich mit seinesgleichen hätte messen müssen, hätte seine Initiative und seinen Mut nicht angestachelt.

Die gleiche Verachtung für die Machtlosen spricht aus seinen Äußerungen über die indischen Revolutionäre. Der gleiche Mann, der sich häufiger als irgend jemand sonst für die eigenen Zwecke des Schlagworts der nationalen Freiheit bediente, hat nur Verachtung übrig für diese Revolutionäre, die ohne über Macht zu verfügen es wagten, dem mächtigen britischen Weltreich entgegenzutreten. Er schreibt, er erinnere sich noch

der ebenso kindlichen wie unverständlichen Hoffnungen, die in den Jahren 1920/21 plötzlich in völkischen Kreisen auftauchten, England stände in Indien vor dem Zusammenbruch. Irgendwelche asiatische Gaukler, vielleicht meinetwegen auch wirkliche indische „Freiheitskämpfer“, die sich damals in Europa herumtrieben, hatten es fertiggebracht, selbst sonst ganz vernünftige Menschen mit der fixen Idee zu erfüllen, dass das britische Weltreich, das seinen Angelpunkt in Indien besitze, gerade dort vor dem Zusammenbruch stehe. (...) Indischen Aufrührern wird dies aber nie gelingen. (...) Es ist eben eine Unmöglichkeit, einen machtvollen Staat, der entschlossen ist, für seine Existenz, wenn nötig, den letzten Blutstropfen einzusetzen, durch eine Koalition von Krüppeln zu berennen. Als völkischer Mann, der den Wert des Menschentums nach rassischen Grundlagen abschätzt, darf ich schon aus der Erkenntnis [I-352] der rassischen Minderwertigkeit dieser sogenannten „unterdrückten Nationen“ nicht das Schicksal des eigenen Volkes mit dem ihren verketten. (A. Hitler, 1933, S. 746 f.)

Die Liebe zu den Mächtigen und der Hass auf die Machtlosen, die so typisch für den sado-masochistischen Charakter sind, erklären vieles an der politischen Handlungsweise Hitlers und seiner Gefolgsleute. Die republikanische Regierung meinte, man könne die Nazis „beschwichtigen“, wenn man nachsichtig mit ihnen umginge. Aber der Versuch misslang nicht nur, ihr Hass wurde nur noch angestachelt, als die Regierung sich als schwach und ohnmächtig erwies. Hitler hasste die Weimarer Republik, weil sie schwach war, und er bewunderte die Großindustriellen und Militärs, weil sie über Macht verfügten. Er hat nie gegen eine etablierte starke Macht gekämpft, sondern immer nur gegen Gruppen, von denen er annahm, dass sie im Grunde schwach waren. Hitlers - und übrigens auch Mussolinis - „Revolution“ erfolgte unter der Protektion der an der Macht Befindlichen, und sie richtete sich mit Vorliebe gegen solche, die sich nicht wehren konnten. Man könnte sogar vermuten, dass Hitlers Haltung gegenüber Großbritannien unter anderem von diesem psychologischen Komplex bestimmt war. Solange er das Gefühl hatte, dass England mächtig war, liebte und bewunderte er es. In seinem Buch spricht er von dieser Liebe zu England. Als er dann aber vor und nach München die Schwäche der englischen Position erkannte, verwandelte sich seine Liebe in Hass und in den Wunsch, England zu vernichten. Eine „Beschwichtigungs“-Politik war bei einer Persönlichkeit wie Hitler dazu angetan, Hass und nicht Freundschaft zu erzeugen.

Wir haben bisher von der sadistischen Seite von Hitlers Ideologie gesprochen. Wie wir jedoch bei der Diskussion des autoritären Charakters sahen, gibt es neben der sadistischen auch die masochistische. Sie besteht in dem Verlangen, sich einer überwältigend starken Macht zu unterwerfen, das Selbst auszulöschen, und dies neben dem Wunsch, Macht über hilflose Wesen zu haben. Diese masochistische Seite der Nazi-Ideologie und -Praxis kommt in der Art, wie man die Massen behandelt, besonders deutlich zum Ausdruck. Man sagt ihnen immer wieder: Der Einzelne ist nichts und zählt nicht. Er sollte seine persönliche Bedeutungslosigkeit hinnehmen, sich in einer höheren Macht auflösen und dann stolz darauf sein, an der Stärke und Glorie dieser höheren Macht teilzuhaben. Hitler drückt dies in seiner Definition des Idealismus deutlich aus: „Er allein führt die Menschen zur freiwilligen Anerkennung des Vorrechtes der Kraft und der Stärke und lässt sie so zu einem Stäubchen jener Ordnung werden, die das ganze Universum formt und bildet.“ (A. Hitler, 1933, S. 328.)

Goebbels gibt in seinem Roman Michael eine ähnliche Definition dessen, was er unter Sozialismus versteht, wenn er sagt, „Sozialist sein: das heißt, das Ich dem Du unterordnen, die Persönlichkeit der Gesamtheit zum Opfer bringen“ (J. Goebbels, 1931, S. 38).

Wenn man den Einzelnen zum Opfer bringt und ihn auf ein Staubkörnchen, auf ein Atom reduziert, so bedeutet das nach Hitler den Verzicht auf das Recht, die individuelle Meinung, die eigenen Interessen und das eigene Glück zu behaupten. Dieser Verzicht macht das innerste Wesen einer politischen Organisation aus, in welcher „der Einzelne auf die Vertretung seiner persönlichen Meinung sowohl als seiner [I-353] Interessen verzichtet“ (A. Hitler, 1933, S. 326). Er preist die „Selbstlosigkeit“ und lehrt: „im Jagen nach dem eigenen Glück stürzen die Menschen aus dem Himmel erst recht in die Hölle“ (A. Hitler, 1933, S. 328). Ziel der Erziehung ist es, dem Einzelnen beizubringen, dass es ihm nicht zusteht, sich persönlich durchzusetzen. Schon der Schuljunge muss „lernen zu schweigen, nicht nur, wenn er mit Recht getadelt wird, sondern soll auch lernen, wenn nötig, Unrecht schweigend zu ertragen“ (A. Hitler, 1933, S. 459). In Bezug auf das höchste Ziel, das es zu erreichen gilt, schreibt er:

Der völkischen Weltanschauung muss es im völkischen Staat endlich gelingen, jenes edlere Zeitalter herbeizuführen, in dem die Menschen ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung von Hunden, Pferden und Katzen erblicken, sondern im Emporheben des Menschen selbst, ein Zeitalter, in dem der Eine erkennend schweigend verzichtet, der andere freudig opfert und gibt. (A. Hitler, 1933, S. 449.)

Dieser letzte Satz ist etwas überraschend. Nach der Beschreibung des einen Menschentyps, der „erkennend schweigend verzichtet“, hätte man erwartet, dass er im Gegensatz dazu vielleicht den Menschen beschrieben hätte, der die Führung und Verantwortung übernimmt oder dergleichen. Statt dessen definiert Hitler diesen anderen Typ ebenfalls mit seiner Opferbereitschaft. Es fällt schwer, den Unterschied zwischen jemand, der „schweigend verzichtet“ und jemand, der „freudig opfert“ zu erkennen. Ich möchte vermuten, dass Hitler in Wirklichkeit zwischen den Massen, die verzichten, und dem Herrscher, der herrschen sollte, unterscheiden wollte. Aber wenn er auch gelegentlich sein eigenes Machtstreben und das seiner „Elite“ offen zugibt, so bestreitet er es doch auch oft. An dieser Stelle wollte er offenbar nicht mit der Sprache heraus und ersetzte daher den Willen zu herrschen durch die Bereitschaft „freudig Opfer zu bringen“.

Hitler ist sich völlig darüber klar, dass seine Philosophie der Selbstverleugnung und des Opferbringens für jene bestimmt ist, denen ihre wirtschaftliche Lage nicht erlaubt, glücklich zu sein. Er hat nicht im Sinn, eine Gesellschaftsordnung zu begründen, die jedem Einzelnen den Weg zu seinem persönlichen Glück erschließt; die Armut der Masse ist ihm gerade recht, weil sie so eher an sein Evangelium der Selbstaufgabe glaubt. Und so erklärt er auch ganz offen: „Wir (...) wenden uns an die große Armee derjenigen, die zu arm sind, als dass ihr persönliches Leben höchstes Glück auf der Welt bedeuten könnte.“ (A. Hitler, 1933, S. 449.) Seine ganze Predigt von der Selbstaufopferung hat offensichtlich nur den einen Zweck, der Masse klarzumachen, dass sie verzichten und sich unterordnen muss, wenn der Führer und seine „Elite“ ihr Machtstreben verwirklichen wollen.

Aber auch Hitler selbst ist von dieser masochistischen Sehnsucht erfüllt. Für ihn heißt die höhere Macht, der er sich unterwirft, Gott, die Vorsehung, die Notwendigkeit, die Geschichte oder die Natur. Tatsächlich besitzen alle diese Begriffe für ihn die gleiche Bedeutung, sie symbolisieren eine überwältigend starke Macht. Er beginnt seine Autobiographie mit der Bemerkung: „Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies.“ (A. Hitler, 1933, S. 1; Hervorhebung E. F.). Er sagt dann weiter, das ganze deutsche Volk müsse in einem einzigen Staat vereinigt werden, weil erst dann, wenn dieser Staat für [I-354] alle zu klein würde, aus der Not des eigenen Volkes „das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens“ (a.a.O.) erstehen werde.

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg ist für ihn „eine verdiente Züchtigung der ewigen Vergeltung“ (A. Hitler, 1933, S. 250). Völker, die sich mit anderen Rassen vermischen, „sündigen gegen den Willen der ewigen Vorsehung“ (A. Hitler, 1933, S. 359) oder - wie er an anderer Stelle sagt - „wider den Willen des ewigen Schöpfers“ (A. Hitler, 1933, S. 314). Deutschlands Mission ist ihm „vom Schöpfer des Universums zugewiesen“ (A. Hitler, 1933, S. 234). Der Himmel steht über den Menschen, und er nennt es ein einziges „Glück in diesem Jammer“, „dass man wohl Menschen betören, den Himmel aber nicht bestechen kann“ (A. Hitler, 1933, S. 762; alle vorstehenden Hervorhebungen E. F.).

Die Macht, die Hitler vielleicht noch mehr als Gott, die Vorsehung und das Schicksal beeindruckt, ist die Natur. Während die geschichtliche Entwicklung in den letzten vierhundert Jahren darauf hinauslief, die Herrschaft über den Menschen durch die Herrschaft über die Natur zu ersetzen, beharrt Hitler darauf, dass man zwar Menschen beherrschen kann und beherrschen sollte, dass man aber die Natur nicht beherrschen könne. Wir zitierten bereits seine Behauptung, die erste Kultur der Menschheit habe wahrscheinlich nicht mit der Zähmung von Tieren, sondern mit der Verwendung niederer Menschen begonnen. Er macht sich über die Idee lustig, dass der Mensch die Natur überwinden könne, und verspottet die, welche glauben, sie könnten die Natur beherrschen, während „ihnen jedoch als Waffe nichts weiter als eine Idee zur Verfügung steht“. Er sagt, dass der Mensch „nicht die Natur beherrscht, sondern nur auf Grund der Kenntnis einzelner Naturgesetze und Geheimnisse zum Herrn derjenigen anderen Lebewesen aufgestiegen ist, denen dieses Wissen eben fehlt“ (A. Hitler, 1933, S. 314). Auch hier stoßen wir wieder auf denselben Gedanken, dass die Natur jene große Macht ist, der wir uns zu unterwerfen haben, dass wir hingegen Menschen sehr wohl beherrschen sollten.

Ich habe in Hitlers Äußerungen zwei Tendenzen nachzuweisen versucht, die wir bereits als grundlegend für den autoritären Charakter beschrieben haben: das Streben nach Macht über Menschen und zugleich das Verlangen, sich einer überwältigend starken äußeren Macht zu unterwerfen. Hitlers Ideen sind mit der Ideologie der Nazi-Partei mehr oder weniger identisch. Die in seinem Buch zum Ausdruck gebrachten Ideen hat er in zahllosen Reden wiederholt und hat damit die Massen für seine Partei gewonnen. Diese Ideologie erwuchs aus seiner Persönlichkeit, die mit ihren Minderwertigkeitsgefühlen, mit ihrem Hass auf das Leben, ihrem Asketentum und ihrem Neid auf all jene, die sich des Lebens freuen, der Boden für seine sado-masochistischen Strebungen war. Sie wandte sich an Menschen, die auf Grund ihrer ähnlichen Charakterstruktur sich von diesen Lehren angezogen und erregt fühlten und zu glühenden Anhängern des Mannes wurden, der das aussprach, was sie fühlten. Aber nicht nur die Nazi-Ideologie befriedigte das Kleinbürgertum; die Nazis setzten mit ihren politischen Methoden das in die Praxis um, was ihre Ideologie versprach. Sie errichteten eine Hierarchie, in der jeder jemand anderen über sich hat, dem er sich unterordnen kann, und einen anderen unter sich, den er seine Macht fühlen lassen kann. Der Mann an der Spitze, der Führer, hat die Vorsehung, die Geschichte, die Natur über sich als die Macht, in die er untertauchen kann. So befriedigt die [I-355] Nazi-Ideologie und -Praxis die aus der Charakterstruktur eines Teiles der Bevölkerung entspringenden Wünsche. Denen aber, denen der Genuss, über andere zu herrschen und sie sich zu unterwerfen, versagt blieb und die resigniert den Glauben ans Leben, an ihre Selbstbestimmung und alles übrige verloren haben, gibt sie eine Richtung an und eine Orientierungsmöglichkeit.

Ermöglichen uns diese Erwägungen eine Prognose, ob sich der Nazismus in Zukunft behaupten wird? Ich fühle mich nicht in der Lage, diesbezügliche Voraussagen zu machen. Immerhin dürfte es der Mühe wert sein, einige Punkte hervorzuheben, die sich aus den hier erörterten psychologischen Voraussetzungen ergeben. Erfüllt der Nazismus angesichts dieser psychologischen Situation nicht die emotionalen Bedürfnisse der Bevölkerung, und ist diese psychologische Funktion nicht ein wesentlicher Faktor für die zunehmende Stabilität des Nazismus?

Aus allem bisher Gesagten geht hervor, dass die Antwort auf diese Frage nur ein Nein sein kann. Die menschliche Individuation, die Zerstörung aller „primären Bindungen“ lässt sich nicht rückgängig machen. Der Prozess der Auflösung der mittelalterlichen Welt hat vierhundert Jahre gedauert und geht in unserer Zeit zu Ende. Wenn wir nicht unser gesamtes industrielles System, all unsere Produktionsweisen zerstören und wieder auf das vorindustrielle Niveau zurückschrauben wollen, wird der Mensch ein Individuum bleiben, das völlig aus der ihn umgebenden Welt emporgetaucht ist. Wir haben gesehen, dass der Mensch diese negative Freiheit nicht ertragen kann, dass er ihr in neue Bindungen zu entrinnen sucht, die ihm als Ersatz für die primären Bindungen, die er aufgab, dienen sollen. Aber diese neuen Bindungen stellen keine wirkliche Vereinigung mit der Welt dar. Er bezahlt die neue Sicherheit mit der Aufgabe der Integrität seines Selbst. Die tatsächlich vorhandene Dichotomie zwischen ihm und diesen Autoritäten verschwindet nicht. Sie beeinträchtigen sein Leben und lassen es verkümmern, auch dann, wenn er sich ihnen bewusst freiwillig unterwirft. Gleichzeitig lebt er in einer Welt, in der er sich nicht nur in ein „Atom“ verwandelt hat, sondern die ihm auch alle Möglichkeiten bietet, zu einem Individuum zu werden. Das moderne Industriesystem ist nicht nur praktisch in der Lage, einem jeden eine wirtschaftlich gesicherte Existenz zu verschaffen; von dieser materiellen Basis aus gibt es ihm auch die Möglichkeit, seine intellektuellen, sinnlichen und emotionalen Potenzialitäten voll zur Entfaltung zu bringen bei einer beträchtlichen Verkürzung der Arbeitszeit.

Die Funktion einer autoritären Ideologie und Praxis lässt sich mit der Funktion neurotischer Symptome vergleichen. Diese Symptome entspringen einer unerträglichen psychologischen Situation und bieten gleichzeitig eine Lösung, die das Weiterleben möglich macht. Aber diese Lösungen führen nicht zum Glück oder zur Entfaltung der Persönlichkeit, denn die Bedingungen, welche die neurotische Lösung notwendig machen, bleiben ja unverändert bestehen. Die Dynamik der menschlichen Natur veranlasst den Menschen, nach befriedigenderen Lösungen zu suchen, soweit eine Möglichkeit besteht, sie zu erreichen. Die Einsamkeit und Ohnmacht des Einzelnen, sein Streben nach Verwirklichung der in ihm angelegten Möglichkeiten, die objektive Tatsache der gesteigerten Produktionskapazität unserer Industrie sind dynamische Faktoren, welche die Grundlage für ein zunehmendes Streben nach Freiheit und [I-356] Glück bilden. Die Flucht in eine symbiotische Bindung kann das Leiden eine Zeitlang mildern, aber sie kann es nicht aus der Welt schaffen. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der wachsenden Individuation, aber sie ist auch die Geschichte der wachsenden Freiheit. Das Streben nach Freiheit ist keine metaphysische Erscheinung und lässt sich nicht mit dem Naturgesetz erklären; es ist vielmehr das unausbleibliche Resultat des Individuationsprozesses und des Wachstums der Kultur. Die autoritären Systeme können die Grundbedingungen nicht beseitigen, die zum Streben nach Freiheit führen, und sie können auch das Freiheitsverlangen nicht ausrotten, das diesen Bedingungen entspricht.

7 Freiheit und Demokratie

a) Die Illusion der Individualität

In den vorigen Kapiteln habe ich zu zeigen versucht, dass gewisse Faktoren im modernen Industriesystem und insbesondere in seiner monopolistischen Phase zur Entwicklung einer Persönlichkeit führen, die sich ohnmächtig und alleingelassen, angsterfüllt und unsicher fühlt. Ich habe die besonderen Bedingungen in Deutschland erörtert, die Anlass waren, dass ein Teil der Bevölkerung zum fruchtbaren Boden für eine Ideologie und eine politische Praxis wurde, die eben den Charakter ansprechen, welchen ich als autoritär bezeichnet habe.

Aber wie ist das mit uns selbst? Ist unsere eigene Demokratie lediglich vom Faschismus jenseits des Atlantik oder von einer „Fünften Kolonne“ in unseren eigenen Reihen bedroht? Träfe dies zu, so wäre die Situation zwar ernst, aber nicht kritisch. Aber wenn auch die Gefahr des Faschismus - sowohl die von außen als auch die im Inneren drohende - durchaus ernst zu nehmen ist, so wäre es doch ein noch größerer Irrtum und eine noch größere Gefahr, die Augen davor zu verschließen, dass wir in unserer eigenen Gesellschaft dem gleichen Phänomen gegenüberstehen, das überall auf der Welt ein fruchtbarer Nährboden für den Faschismus ist: der Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht des Individuums.

Diese Feststellung bedeutet eine Herausforderung für die herkömmliche Überzeugung, dass die moderne Demokratie, indem sie den einzelnen Menschen von allen äußeren Zwängen befreite, bereits den wahren Individualismus verwirklicht habe. Wir sind stolz darauf, dass wir keiner äußeren Autorität unterworfen sind, dass wir unsere Gedanken und Gefühle frei äußern können und halten es für selbstverständlich, dass diese Freiheit uns beinahe automatisch unsere Individualität garantiert. Das Recht der Gedankenfreiheit bedeutet jedoch nur dann etwas, wenn wir auch fähig sind, eigene Gedanken zu haben. Die Freiheit von einer äußeren Autorität ist nur dann ein dauernder Gewinn, wenn unsere inneren psychologischen Bedingungen derart sind, dass wir auch in der Lage sind, unsere Individualität zu behaupten. Haben wir dieses Ziel erreicht, oder nähern wir uns ihm wenigstens? Wir beschäftigen uns hier in diesem Buch mit der menschlichen Seite der Freiheitsfrage, daher besteht unsere Aufgabe [I-358] eben darin, diese Frage kritisch zu analysieren. Dabei greifen wir Fäden wieder auf, die wir in den ersten Kapiteln fallen ließen. Als wir die beiden Aspekte der Freiheit des heutigen Menschen untersuchten, wiesen wir auf die ökonomischen Bedingungen hin, die zu einer wachsenden Isolierung und Ohnmacht des einzelnen Menschen in unserer Zeit geführt haben. Bei der Erörterung der psychologischen Folgen haben wir nachgewiesen, dass diese Ohnmacht entweder zu jener Flucht führt, wie wir sie beim autoritären Charakter finden, oder dass es zu einem zwanghaften Konformismus kommt, in dessen Verlauf der isolierte Einzelmensch zum Automaten wird, wobei er sein Selbst verliert, obwohl er bewusst weiterhin der Überzeugung ist, er sei frei und nur sich selbst unterworfen.

Es ist wichtig, dass wir uns klarmachen, wie sehr unsere Kultur dieser Tendenz, mit anderen konform zu gehen, Vorschub leistet, wenn uns hier auch nur Raum für wenige besonders charakteristische Beispiele zur Verfügung steht. Die Unterdrückung spontanen Fühlens und die hierdurch hervorgerufene Beeinträchtigung der Entwicklung einer echten Individualität beginnt schon sehr früh, praktisch bereits mit den ersten Erziehungsmaßnahmen beim Kleinkind. (Rorschach-Tests mit drei- bis fünfjährigen Kindern haben ergeben, dass deren Versuch, ihre Spontaneität zu wahren, zum Hauptkonflikt zwischen den Kindern und autoritären Erwachsenen führt. - Vgl. hierzu A. Hartoch, 1956.)

Das besagt nicht, dass diese Erziehung unweigerlich zur Unterdrückung der Spontaneität führen muss, wenn das eigentliche Ziel darin besteht, die innere Unabhängigkeit und Individualität des Kindes, sein Wachstum und seine Integrität zu fördern. Die Beschränkungen, die eine derartige Erziehung dem heranwachsenden Kind vielleicht zumuten muss, sind lediglich vorübergehende Maßnahmen, welche dem Wachstums- und Entfaltungsprozess nur nützen. In unserer Kultur jedoch führt die Erziehung nur allzu oft zur Ausrottung der Spontaneität. Dann werden die ursprünglich psychischen Akte durch andersartige Gefühle, Gedanken und Wünsche überlagert. (Ich möchte noch einmal wiederholen, dass ich unter „ursprünglich“ (original) nicht verstehe, dass ein Gedanke nicht schon zuvor von jemand anderem gedacht wurde, sondern dass er in dem Betreffenden seinen Ursprung hat, dass er aus dessen eigener Aktivität und aus seinem Denken entspringt.) Ein etwas willkürlich herausgegriffenes Beispiel wäre etwa die ganz frühe Unterdrückung von Gefühlen wie Abneigung und Feindseligkeit. Die meisten Kinder bekunden zunächst ein gewisses Maß an Feindseligkeit und Trotz, was durch ihre Konflikte mit der Umwelt hervorgerufen wird, die ihrem Expansionsdrang Einhalt zu gebieten sucht und der sie sich - als der schwächere Teil - im Allgemeinen fügen müssen. Eines der wichtigsten Ziele im Erziehungsprozess besteht darin, diese feindseligen Regungen zu beseitigen. Man wendet dabei unterschiedliche Methoden an, die von Drohungen und Strafen, die dem Kind Angst einjagen, bis zu den subtileren Methoden von „Bestechungen“ oder „Erklärungen“ variieren, die das Kind verwirren und dazu veranlassen, seine Feindseligkeit aufzugeben. Das Kind bringt dann zunächst seine Gefühle nicht mehr offen zum Ausdruck und gibt es schließlich auf, überhaupt noch etwas selbst zu fühlen. Hinzu kommt, dass man ihm beibringt, die Wahrnehmung von Feindseligkeit und Unaufrichtigkeit bei anderen zu verdrängen. Das ist manchmal nicht eben leicht, da Kinder [I-359] die Fähigkeit haben, derartige negative Eigenschaften bei anderen zu merken, und sich nicht so leicht von Worten täuschen lassen, wie das meist bei Erwachsenen der Fall ist. Es gibt immer noch Leute, die sie „ohne jeden Grund“ nicht leiden können - außer aus dem sehr triftigen Grund, dass sie die von solchen Leuten ausstrahlende Feindseligkeit oder Unaufrichtigkeit spüren. Diese Reaktion treibt man ihnen bald aus. Es dauert nicht lange, bis das Kind die „Reife“ des durchschnittlichen Erwachsenen erreicht und sein Vermögen verliert zwischen einem anständigen Menschen und einem Schuft zu unterscheiden, solange letzterer nicht eine offenkundige Untat verübt.

Andererseits bringt man dem Kind schon früh durch Erziehung bei, Gefühle zu empfinden, die keineswegs „seine“ eigenen sind. Besonders lehrt man es, die Leute zu lieben, kritiklos freundlich zu ihnen zu sein und sie anzulächeln. Was dabei die Erziehung vielleicht nicht ausrichtet, wird dann im späteren Leben durch gesellschaftlichen Druck nachgeholt. Wenn du nicht lächelst, bist du in den Augen der anderen kein „liebenswürdiger Mensch“ - und du musst ein liebenswürdiger Mensch sein, wenn du deine Dienstleistung als Kellnerin, als Handlungsreisender oder als Arzt verkaufen willst. Nur die an der untersten Basis der Gesellschaftspyramide, die nichts als ihre körperliche Arbeit zu verkaufen haben, und die ganz oben brauchen nicht besonders „liebenswürdig“ zu sein. Freundlichkeit, Fröhlichkeit und alles, was ein Lächeln sonst noch auszudrücken vermag, wird zur automatischen Reaktion, die man an- und abdreht wie einen elektrischen Schalter.[35]

Natürlich merkt man oft, dass es sich dabei lediglich um eine Geste handelt. Meistens aber macht man es sich nicht klar und verlernt daher, zwischen dem Pseudo-Gefühl und spontaner Freundlichkeit zu unterscheiden.

Nicht nur die Feindseligkeit wird nach außen hin unterdrückt, und nicht nur die echte Freundlichkeit erleidet den Todesstoß, wenn man sie auf diese Weise durch ein Pseudo-Gefühl ersetzt. Es gibt noch eine ganze Reihe spontaner Emotionen, die ebenfalls unterdrückt werden und durch Pseudo-Gefühle ersetzt werden. Freud hat eine dieser Unterdrückungen, nämlich die Unterdrückung der Sexualität, zum Mittelpunkt seines ganzen Systems gemacht. Wenn ich auch der Ansicht bin, dass die Verhinderung der Freude an der Sexualität nicht die einzige wichtige Unterdrückung spontaner Reaktionen, sondern nur eine von vielen ist, so ist doch ihre Bedeutung nicht zu unterschätzen. Sie führt zweifellos zu sexuellen Hemmungen und außerdem dazu, dass die Sexualität einen zwanghaften Charakter annimmt und wie Alkohol oder eine Droge konsumiert wird, um sich selbst zu vergessen, ohne dabei einen besonderen Genuss zu verspüren. Infolge der Intensität der sexuellen Begierden beeinflusst [I-360] deren Unterdrückung außerdem nicht nur die sexuelle Sphäre, sondern sie nimmt dem Betreffenden auch den Mut zu einem spontanen Reagieren in allen anderen Bereichen.

In unserer Gesellschaft hält man ganz allgemein nicht viel von Gefühlen. Wenn auch zweifellos jedes kreative Denken - genau wie jede andere schöpferische Tätigkeit - untrennbar mit Emotionen verknüpft ist, so ist es doch zu einem Ideal geworden, emotionsfrei zu denken und zu leben. „Emotional“ sein ist gleichbedeutend geworden mit unausgeglichen oder gar geistesgestört sein. Wer diesen Maßstab akzeptiert, wird hierdurch stark geschwächt; sein Denken verarmt und verflacht. Da aber andererseits die Gefühle nicht ganz auszurotten sind, müssen sie völlig getrennt von der intellektuellen Seite der Persönlichkeit existieren. Das Resultat ist jene billige und unaufrichtige Sentimentalität, womit Filme und Schlager Millionen abspeisen, die nach Gefühlen hungern.

Ich möchte noch ein Gefühl, das als tabu gilt, besonders erwähnen, weil seine Verdrängung tief an den Wurzeln der Persönlichkeit rührt: Ich meine das Gefühl für das Tragische. Wie wir schon in einem früheren Kapitel sahen, ist das Bewusstsein des Todes und der tragische Aspekt des Lebens, ob undeutlich oder klar vorhanden, eines der Grundmerkmale des Menschen. Jede Kultur setzt sich auf ihre Weise mit dem Problem des Todes auseinander. Für Gesellschaften, in denen der Individuationsprozess erst wenig fortgeschritten ist, ist das Ende der persönlichen Existenz weniger ein Problem, weil die Erfahrung der individuellen Existenz selbst noch weniger weit entwickelt ist. Man begreift den Tod noch nicht als etwas, das sich vom Leben grundsätzlich unterscheidet. Kulturen, in denen die Individuation bereits ein höheres Stadium erreichte, behandelten den Tod je nach ihrer gesellschaftlichen und psychologischen Struktur. Die Griechen legten allen Nachdruck auf das Leben und stellten sich den Tod nur als eine schattenhafte, verschwommene Fortsetzung des Lebens vor. Die Ägypter gründeten ihre Hoffnung auf den Glauben an die Unzerstörbarkeit des menschlichen Körpers, wenigstens bei denen, deren Macht sich während ihres Lebens als unzerstörbar erwies. Die Juden nahmen die Tatsache des Todes auf realistische Weise zur Kenntnis und brachten es fertig, sich mit dem Gedanken der Vernichtung des individuellen Lebens abzufinden mit Hilfe ihrer Vision von einem Zustand des Glücks und der Gerechtigkeit, der durch die Menschen in dieser Welt eines Tages erreicht sein wird. Das Christentum machte den Tod zu etwas Unrealistischem und versuchte die Unglücklichen mit der Verheißung eines Lebens nach dem Tode zu trösten. Unsere Zeit leugnet einfach den Tod, und damit verleugnet sie einen grundlegenden Aspekt unseres Lebens. Anstatt das Bewusstsein, dass wir leiden und sterben müssen, zu einem der stärksten Antriebe für das Leben, zur Grundlage für die menschliche Solidarität und zu einer Erfahrung werden zu lassen, ohne die der Freude und Begeisterung Intensität und Tiefe fehlt, sieht sich der Mensch gezwungen, diese Erfahrung zu verdrängen. Aber wie das stets bei Verdrängungen der Fall ist, hören die verdrängten Elemente, die man sich aus den Augen schafft, damit nicht auf zu existieren. So führt die Angst vor dem Tode unter uns ein illegitimes Dasein. Sie bleibt lebendig, auch wenn wir sie zu leugnen versuchen, aber weil sie verdrängt wurde, bleibt sie steril. Dies ist eine Quelle für die mangelnde Tiefe anderer Erfahrungen, [I-361] für die Ruhelosigkeit unseres Lebens, und ich möchte meinen, dass sich aus ihr auch die Riesenbeträge erklären, die man in Amerika für Bestattungen aufwendet.

Bei dem Tabuierungsprozess von Emotionen spielt die moderne Psychiatrie eine zwiespältige Rolle. Einerseits hat ihr größter Vertreter, Freud, der Fiktion von der rationalen, zweckgerichteten Eigenart des menschlichen Geistes ein Ende gemacht und hat uns einen Weg gewiesen, der einen Blick in den Abgrund menschlicher Leidenschaften erlaubt. Andererseits hat die eben durch diese Errungenschaften Freuds bereicherte Psychiatrie sich in den Dienst der allgemeinen Tendenz gestellt, die Persönlichkeit zu manipulieren. Viele Psychiater - und auch Psychoanalytiker - haben das Bild der „normalen“ Persönlichkeit aufgestellt, die niemals zu traurig, zu zornig oder zu aufgeregt ist. Sie benutzen Worte wie „kindisch“ oder „neurotisch“ zur abschätzigen Beurteilung von Wesenszügen oder Persönlichkeitstypen, die nicht in das herkömmliche Modell vom „normalen“ Menschen hineinpassen. Diese Art der Beeinflussung ist vielleicht noch gefährlicher als die ältere Form, die den Betreffenden offen beschimpfte. Der wusste dann wenigstens, dass es da einen Menschen oder eine Auffassung gab, die ihn ablehnte, und er konnte sich dagegen wehren. Aber wer kann sich gegen die „Wissenschaft“ zur Wehr setzen?

Genauso wie unsere Gefühle und unsere Emotionen wird auch unser ursprüngliches Denken entstellt. Von Anfang an läuft unsere Erziehung darauf hinaus, das Kind am selbständigen Denken zu hindern und ihm fertige Gedanken in den Kopf zu setzen. Wie man das bei Kleinkindern bewerkstelligt, ist einfach zu beobachten. Sie sind voller Neugier in Bezug auf die Welt, sie wollen sie mit den Händen und mit dem Verstand begreifen. Sie möchten die Wahrheit wissen, da dies der sicherste Weg ist, sich in einer fremden und mächtigen Welt zu orientieren. Stattdessen nimmt man sie nicht ernst, wobei es keinen Unterschied macht, ob diese Einstellung sich als offene Missachtung oder als subtile Herablassung äußert, wie man sie all jenen gegenüber zu bekunden pflegt, die machtlos sind (wie Kinder, alte Menschen oder Kranke). Wenn auch diese Behandlung bereits weitgehend den Mut zum selbständigen Denken nimmt, gibt es doch ein noch schlimmeres Handicap: die - oft unbeabsichtigte - Unaufrichtigkeit, die für das Verhalten eines durchschnittlichen Erwachsenen einem Kind gegenüber typisch ist. Diese Unaufrichtigkeit bezieht sich zum Teil auf das fiktive Bild von der Welt, das man dem Kind vermittelt und mit dem es ungefähr ebenso viel anfangen kann wie jemand, der Informationen über das Leben in der Arktis bekommt, wenn er wissen möchte, wie man sich am besten auf eine Expedition in die Wüste Sahara vorbereitet. Neben dieser ganz allgemein falschen Darstellung der Welt gibt es noch viele spezielle Lügen, mit denen man Tatsachen zu verbergen sucht, welche die Erwachsenen aus unterschiedlichen persönlichen Gründen vor den Kindern geheim halten möchten. Von der schlechten Laune, die man mit dem Verhalten des Kindes rechtfertigt, oder von den sexuellen Beziehungen der Eltern oder ihren Streitigkeiten „braucht das Kind nichts zu wissen“, und wenn es dahinterzukommen versucht, stößt es auf eine verärgerte oder höfliche Ablehnung.

So vorbereitet, kommt das Kind in die Schule und später vielleicht aufs College. Ich möchte noch kurz auf einige unserer heutigen Erziehungsmethoden eingehen, die darauf hinauslaufen, dass den Heranwachsenden nur noch mehr der Mut zum [I-362] eigenständigen Denken genommen wird. Hierher gehört das Beispiel, dass man dem Wissen von Tatsachen - oder besser gesagt der Information - einen übertriebenen Wert beimisst. Man huldigt dem pathetischen Aberglauben, wenn man sich nur immer mehr Tatsachen einpräge, werde man schließlich zur Erkenntnis der Wirklichkeit gelangen. Hunderte von verstreuten Einzelfakten, die ohne jede Beziehung zueinander sind, werden den Schülern eingetrichtert. Ihre Zeit und ihre Kraft wird dafür in Anspruch genommen, dass sie immer mehr Tatsachen lernen, so dass ihnen zum Denken kaum noch Zeit bleibt. Natürlich bleibt das Denken ohne die Kenntnis von Tatsachen leer und fiktiv; aber „Informationen“ allein können für das Denken ebenso ein Hindernis bilden wie zu wenig Informationen.

Ein anderer, eng damit verwandter Weg, dem Menschen den Mut zum eigenständigen Denken zu nehmen, läuft darauf hinaus, dass man alle Wahrheit als relativ auffasst. (Vgl. hierzu R. S. Lynd, 1939; zu den philosophischen Aspekten des Problems vgl. M. Horkheimer, 1935.) Man stellt die Wahrheit als einen metaphysischen Begriff hin, und wenn jemand sagt, es gehe darum, die Wahrheit zu ergründen, dann halten ihn die „progressiven“ Denker unserer Zeit für rückständig. Man erklärt die Wahrheit zu einer durchaus subjektiven Angelegenheit; ja fast zu einer Geschmackssache. Die wissenschaftliche Forschung hat von allen subjektiven Faktoren frei zu sein und ihre Ziele ohne Leidenschaft und Interesse zu verfolgen. Der Wissenschaftler hat mit keimfreien Händen an die Tatsachen heranzugehen wie der Chirurg an seinen Patienten. Die Folge dieses Relativismus, der sich oft als Empirismus oder Positivismus ausgibt, oder der sich rühmt, sich stets korrekter Begriffe zu bedienen, ist die, dass das Denken seinen wesentlichen Anreiz verliert - nämlich die Wünsche und Interessen dessen, der denkt. Statt dessen wird das Denken zu einer Maschine, die „Tatsachen“ registriert. Aber genauso wie sich das Denken aus dem Bedürfnis entwickelt hat, das materielle Leben zu meistern, wurzelt auch die Suche nach der Wahrheit in den Interessen und Bedürfnissen von Einzelmenschen und gesellschaftlichen Gruppen.

Ohne dieses Interesse gäbe es keinen Anreiz für das Suchen nach Wahrheit. Es gibt immer Gruppen, deren Interesse durch Wahrheit vorangetrieben wird, und ihre Vertreter sind die Vorkämpfer menschlichen Denkens. Aber es gibt auch Gruppen, deren Interessen durch die Verschleierung von Wahrheit vorangetrieben werden. Nur im letzteren Fall ist das Interesse des Forschers der Sache der Wahrheit abträglich. Daher geht es nicht darum, dass irgendein Interesse mit im Spiel ist, sondern um welche Art von Interesse es sich handelt. Ich möchte behaupten, dass jedes menschliche Wesen sich irgendwie nach Wahrheit sehnt, weil jeder irgendwie ein Bedürfnis nach ihr hat. Das Gesagte gilt in erster Linie für unsere Orientierung in der Außenwelt und insbesondere für das Kind. Als Kind macht jeder Mensch ein Stadium der Machtlosigkeit durch, und die Wahrheit ist eine der stärksten Waffen derjenigen, die nicht über Macht verfügen. Aber die Wahrheit ist für den Menschen nicht nur wichtig im Hinblick auf seine Orientierung in der Außenwelt; seine innere Stärke hängt weitgehend davon ab, ob er die Wahrheit über sich selber kennt. Wenn man sich Illusionen über sich selber macht, dann sind das Krücken, die nur dem von Nutzen sind, der nicht allein laufen kann; aber sie machen ihn nur noch schwächer. Der Mensch ist umso stärker, je mehr es ihm gelingt, seine Persönlichkeit zu integrieren, das heißt auch, [I-363] je besser er sich selbst durchschaut. „Erkenne dich selbst“ gehört zu den fundamentalen Geboten, deren Ziel Kraft und Glück des Menschen ist.

Außer den bereits erwähnten Faktoren gibt es noch andere, die geeignet sind, beim durchschnittlichen Erwachsenen den letzten Rest an eigenständigem Denken durcheinanderzubringen. In Bezug auf alle Grundfragen im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft, in Bezug auf alle psychologischen, wirtschaftlichen, politischen und moralischen Probleme hat ein großer Sektor unserer Kultur nur die eine Funktion - das, worum es geht, zu vernebeln. Die Behauptung, die Probleme seien zu kompliziert, als dass der Durchschnittsmensch sie verstehen könne, ist dabei nur eine Verschleierungstaktik. Mir scheint dagegen, dass viele der Grundprobleme im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft sehr einfach, ja so einfach sind, dass man von jedermann erwarten könnte, dass er sie begreift. Wenn man sie als so ungeheuer kompliziert hinstellt, dass nur ein „Spezialist“ sie verstehen kann, und auch dieser nur auf seinem eigenen begrenzten Gebiet, dann nimmt man - oft sogar absichtlich - den Leuten den Mut, in Bezug auf die wirklich wichtigen Probleme ihrer eigenen Denkfähigkeit zu trauen. Der einzelne Mensch steht dann hilflos einer chaotischen Masse von Daten gegenüber und wartet mit einer rührenden Geduld darauf, dass die Spezialisten herausfinden, was man zu tun habe und welcher Weg einzuschlagen ist.

Die Beeinflussung der Menschen hat zweierlei zur Folge: Einmal bringt sie eine skeptische und zynische Einstellung zu allem hervor, was gesagt oder gedruckt wird; andererseits führt sie zu einem kindlichen Glauben an alles, was einem von einer Autoritätsperson gesagt wird. Diese Verbindung von Zynismus und Naivität ist für den modernen Menschen höchst kennzeichnend. Die wesentliche Folge davon ist, dass er den Mut zu eigenem Denken und zu eigenen Entscheidungen verliert.

Die Fähigkeit zum kritischen Denken wird auch durch die Zerstörung eines jeden strukturierten Weltbildes gelähmt. Die Tatsachen verlieren ihre spezifische Qualität, welche sie nur als Teile eines strukturierten Ganzen besitzen können, und behalten nur eine abstrakte, quantitative Bedeutung. Jede Tatsache ist immer wieder nur eine weitere Tatsache, und es kommt lediglich darauf an, ob wir mehr oder weniger wissen. Hierbei üben Rundfunk, Film und Presse eine verheerende Wirkung aus. Die Nachricht von der Bombardierung einer Stadt und vom Tod Hunderter von Menschen wird schamlos breitgetreten oder von einer Reklamesendung über eine Seifen- oder Weinmarke unterbrochen. Der gleiche Sprecher mit der gleichen suggestiven, einschmeichelnden und autoritativen Stimme, deren er sich eben noch bediente, um uns über den Ernst der politischen Lage aufzuklären, drängt sich jetzt dem Zuhörer mit der Anpreisung eines bestimmten Waschmittels auf, deren Hersteller den Werbefunk dafür bezahlt. In der Wochenschau folgt auf die Bilder torpedierter Schiffe eine Modeschau. Die Zeitungen räumen den läppischen Ideen und Eßgewohnheiten einer Debütantin den gleichen Raum ein und berichten mit dem gleichen Ernst darüber wie über Ereignisse von wissenschaftlicher oder künstlerischer Bedeutung. Aus allen diesen Gründen haben wir zu dem, was wir hören, keine echte Beziehung mehr. Wir regen uns nicht mehr darüber auf, unsere Gefühle und unser kritisches Urteilsvermögen werden beeinträchtigt, und wir werden gegen das, was in der Welt vorgeht, immer gleichgültiger. Das Leben verliert im Namen der „Freiheit“ jede Struktur. Es setzt [I-364] sich aus vielen Einzelstückchen zusammen, und wir verlieren jedes Gefühl für das Ganze. Der Einzelne sitzt vor diesen Einzelstücken wie ein Kind vor einem Puzzlespiel. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass das Kind weiß, was ein Haus ist, und deshalb in den Stückchen, mit denen es spielt, Teile des Hauses erkennen kann, während der Erwachsene die Bedeutung des „Ganzen“, dessen Stücke er in den Händen hält, nicht mehr erfasst. Er ist verwirrt und starrt angstvoll auf seine sinn- und bedeutungslosen Einzelstückchen.

Was wir über den Mangel an „Originalität“ in unserem Fühlen und Denken sagten, gilt auch für das Wollen. Das zu erkennen, ist besonders schwierig; es sieht ja so aus, als ob der heutige Mensch - wenn überhaupt irgendetwas - dann zu viele Wünsche habe, und als ob sein einziges Problem darin bestehe, zwar zu wissen, was er will, es aber nicht alles haben zu können. Wir verwenden unsere ganze Energie darauf, das zu bekommen, was wir haben wollen, und die meisten fragen nie nach der Voraussetzung dafür: dass sie nämlich wissen, was sie wirklich wollen. Sie nehmen sich nicht die Zeit darüber nachzudenken, ob das, was sie anstreben, auch wirklich das ist, was sie selber wollen. In der Schule wollen sie gute Noten bekommen, als Erwachsene wollen sie immer erfolgreicher sein, sie wollen zu Geld kommen, noch mehr Ansehen erwerben, einen noch besseren Wagen kaufen, Reisen machen, und so weiter. Aber wenn sie inmitten dieser krampfhaften Aktivität einmal innehalten, kommt ihnen vielleicht die Frage in den Sinn: „Wenn ich diese Stelle jetzt wirklich bekomme, wenn ich mir diesen besseren Wagen anschaffe, wenn ich diese Reise machen kann - was dann? Was nützt mir das alles? Bin ich es denn, der das alles will? Laufe ich nicht hinter irgendeinem Ziel her, das mich angeblich glücklich machen soll und das mir wieder aus den Händen gleitet, sobald ich es erreicht habe? Wenn solche Fragen auftauchen, so erschrecken sie den Betreffenden, denn sie stellen die Grundlage in Frage, auf die sich die gesamte Tätigkeit eines Menschen, seine Vorstellung von dem, was er will, aufbaut. Deshalb versucht man, solche beunruhigenden Gedanken so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Man hat das Gefühl, man quäle sich mit derartigen Fragen nur, weil man müde oder deprimiert sei - und man jagt weiter Zielen nach, die man für die ureigensten hält.

Trotzdem ist das alles doch ein Hinweis darauf, dass man eine vage Vorstellung von der Wahrheit hat - nämlich dass der heutige Mensch in der Illusion lebt, er wisse, was er wolle, während er in Wirklichkeit nur das will, was er nach Ansicht der anderen wollen sollte. Um das einzusehen, muss man sich darüber klarwerden, dass es nicht - wie die meisten meinen - verhältnismäßig einfach ist zu wissen, was man wirklich will, sondern dass es sich dabei um eines der schwierigsten Probleme handelt, die der Mensch zu lösen hat. Es ist eine Aufgabe, der wir krampfhaft dadurch aus dem Wege zu gehen suchen, dass wir fertig angebotene Ziele akzeptieren, als ob es unsere eigenen wären. Der heutige Mensch ist bereit, große Risiken auf sich zu nehmen beim Versuch, die Ziele zu erreichen, die angeblich „seine“ Ziele sind, aber er hat eine tiefe Angst davor, das Risiko und die Verantwortung auf sich zu nehmen, sich seine eigenen Ziele zu setzen. Eine intensive Aktivität wird oft irrtümlich als Beweis dafür angesehen, dass man sein Handeln selbst bestimmt, wenn wir auch wissen, dass es vielleicht nicht spontaner ist als das Verhalten eines Schauspielers oder eines [I-365] Hypnotisierten. Wenn die Rollen verteilt sind, kann jeder Schauspieler mit Elan seine Rolle spielen und dabei sogar in Bezug auf den Text und Einzelheiten seines Spiels etwas improvisieren. Aber er spielt doch nur die Rolle, die ihm übertragen wurde.

Dass es so schwer ist zu erkennen, bis zu welchem Grad unsere Wünsche - wie auch unsere Gedanken und Gefühle - nicht wirklich unsere eigenen sind, sondern uns von außen eingegeben wurden, hängt eng mit dem Problem von Autorität und Freiheit zusammen. Im Verlauf der modernen Geschichte ist an die Stelle der Autorität der Kirche die des Staates getreten, an die Stelle der Autorität des Staates trat die des Gewissens, und in unserer Zeit hat man letztere durch die anonyme Autorität des gesunden Menschenverstandes und der öffentlichen Meinung ersetzt, um hierdurch zur Konformität zu gelangen. Weil wir uns von den älteren, unverhüllten Formen der Autorität freigemacht haben, merken wir nicht, dass wir einer neuen Art von Autorität zum Opfer gefallen sind. Wir sind zu Konformisten geworden, die in der Illusion leben, Individuen mit eigenem Willen zu sein. Diese Illusion hilft dem einzelnen Menschen, sich seiner Unsicherheit nicht bewusst zu werden, aber darin erschöpft sich auch die Hilfe, die einem eine solche Illusion gewähren kann. Im Grunde ist das Selbst so geschwächt, dass der Mensch sich machtlos und höchst unsicher fühlt. Er lebt in einer Welt, zu der er keine echte Beziehung mehr hat und in der jeder und alles instrumentalisiert ist, wo er zu einem Teil der Maschine geworden ist, die seine Hände konstruiert haben. Er denkt, fühlt und will, was die anderen von ihm erwarten, und verliert dabei sein Selbst, auf das sich jede echte Sicherheit eines freien Menschen gründen muss.

Der Verlust des Selbst hat die Notwendigkeit, mit den anderen konform zu gehen, noch vergrößert, führt er doch zu einem tiefen Zweifeln an der eigenen Identität. Wenn ich nichts bin als das, was die anderen von mir erwarten, wer bin „ich“ dann? Wir sahen, wie der Zweifel am eigenen Selbst mit dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Welt begann, in der der Einzelne noch seinen unangefochtenen Platz in einer festbegründeten Ordnung besaß. Die Identität des Individuums ist ein Hauptproblem der modernen Philosophie seit Descartes. Heute halten wir es für selbstverständlich, dass wir wir sind. Trotzdem besteht unser Zweifel an uns fort oder hat sich sogar noch verstärkt. Pirandello verleiht diesem Gefühl des modernen Menschen in seinen Theaterstücken Ausdruck. Er geht von der Frage aus: Wer bin ich? Welch anderen Beweis habe ich für meine Identität als den Fortbestand meines körperlichen Selbst? Seine Antwort ist nicht wie bei Descartes die Bejahung des persönlichen Selbst, sondern dessen Leugnung: Ich besitze keine Identität, es gibt kein Selbst außer dem Spiegelbild dessen, was andere von mir erwarten: Ich bin, „wie du mich haben willst“.

Dieser Identitätsverlust macht es nur umso dringlicher, sich anzupassen; er bedeutet, dass man sich seiner selbst nur sicher sein kann, wenn man den Erwartungen der andern entspricht. Entsprechen wir ihren Vorstellungen von uns nicht, so riskieren wir nicht nur ihre Missbilligung, was zu einer noch stärkeren Isolierung führt, wir riskieren auch, die Identität unserer Persönlichkeit zu verlieren, womit wir unsere geistige Gesundheit aufs Spiel setzen.

Wenn wir uns den Erwartungen der anderen anpassen, wenn wir uns von ihnen nicht [I-366] unterscheiden, bringen wir diese Zweifel an unserer Identität zum Schweigen und gewinnen damit eine gewisse Sicherheit. Aber der Preis dafür ist hoch. Wenn man seine Spontaneität und seine Individualität aufgibt, so führt das zu einer Vereitelung des Lebens. Auch wenn ein solcher Konformist biologisch noch weiterlebt, ist er doch emotional und seelisch tot. Er bewegt sich weiter, aber das Leben rinnt ihm durch die Finger wie Sand. Hinter einer Fassade von Zufriedenheit und Optimismus ist der heutige Mensch tief unglücklich; tatsächlich steht er am Rande der Verzweiflung. Er klammert sich verzweifelt an seine vermeintliche Individualität. Er möchte „anders“ sein, und er kennt kein größeres Lob, als von etwas zu sagen, es sei „anders“. Man informiert uns über den Namen des Schalterbeamten, bei dem wir unsere Fahrkarten kaufen. Handtaschen, Spielkarten und tragbare Rundfunkgeräte werden „persönlich gemacht“, indem man die Initialen des Besitzers darauf anbringt. All das ist ein Hinweis auf den Hunger nach „Anderssein“, aber es sind fast die letzten Überreste von Individualität, die uns noch geblieben sind. Der heutige Mensch hungert nach Leben. Aber da er ein Konformist ist, kann er das Leben nicht mehr spontan erleben und greift zum Surrogat in Form von Anreizen und Nervenkitzel: dem Nervenkitzel des Alkohols, des Sports - oder indem er die aufregenden Erlebnisse fiktiver Personen auf der Leinwand miterlebt.

Was also bedeutet Freiheit für den heutigen Menschen? Er hat sich von äußeren Fesseln befreit, die ihn daran hindern könnten, das zu tun und zu denken, was er für richtig hält. Er möchte die Freiheit haben, nach seinem eigenen Willen zu handeln, wenn er nur wüsste, was er will, denkt und fühlt. Aber eben das weiß er nicht. Er richtet sich dabei nach anonymen Autoritäten und nimmt ein Selbst an, das nicht das seine ist. Je mehr er das tut, umso ohnmächtiger fühlt er sich, umso mehr sieht er sich gezwungen sich anzupassen. Trotz allem dick aufgetragenen Optimismus und trotz aller äußerlichen Initiative ist der heutige Mensch vom Gefühl einer tiefen Ohnmacht erfüllt, so dass er wie gelähmt herannahenden Katastrophen entgegenstarrt.

Oberflächlich gesehen funktionieren die Menschen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben recht gut. Aber es wäre gefährlich zu übersehen, wie tief unglücklich sie unter dieser beruhigenden Tünche sind. Wenn das Leben seine Bedeutung verliert, weil es nicht mehr selbst gelebt wird, gerät der Mensch in Verzweiflung. Die Menschen sterben nicht ruhig den körperlichen Hungertod, und sie sterben auch nicht ruhig den seelischen Hungertod. Wenn wir uns um die wirtschaftlichen Bedürfnisse nur soweit kümmern, wie sie den „Normalbürger“ betreffen, wenn wir das unbewusste Leiden des automatisierten Durchschnittsbürgers nicht sehen, dann erkennen wir die Gefahr nicht, die unserer Kultur von der menschlichen Basis her droht: die Bereitschaft, jede Ideologie und jeden Führer zu akzeptieren, wenn er nur etwas Aufregendes verspricht und eine politische Struktur und Symbole anbietet, die dem Leben des Einzelnen angeblich einen Sinn geben und wieder Ordnung hineinbringen. Die Verzweiflung des automatenhaften Konformisten ist ein fruchtbarer Boden für die politischen Ziele des Faschismus.

b) Freiheit und Spontaneität

Bisher haben wir uns in diesem Buch mit dem einen Aspekt der Freiheit befasst: mit der Ohnmacht und Unsicherheit des isolierten Einzelnen in der modernen Gesellschaft, der sich von allen Bindungen befreit hat, die seinem Leben einst Sinn und Sicherheit gaben. Wir sahen, dass der Mensch diese Isolierung nicht ertragen kann; er ist als isoliertes Wesen der Außenwelt gegenüber völlig hilflos und daher voller Angst vor ihr. Durch diese Isolierung ist die Einheit der Welt für ihn verlorengegangen, und er hat jeden Orientierungspunkt verloren. Deshalb überfallen ihn Zweifel an sich selbst, am Sinn des Lebens, und schließlich gibt es für ihn keinerlei Grundsätze mehr, nach denen er sich in seinem Handeln richten könnte. Hilflosigkeit und Zweifel lähmen sein Leben, und um weiterleben zu können, versucht er der Freiheit - der negativen Freiheit - zu entfliehen. So gerät er in eine neue Knechtschaft hinein. Diese unterscheidet sich von den primären Bindungen, von denen er sich noch nicht völlig gelöst hat, obwohl er sich in die Abhängigkeit von Autoritäten oder seiner gesellschaftlichen Gruppe begeben hat. Die Flucht gibt ihm auch nicht seine verlorene Sicherheit zurück, sondern sie hilft ihm nur, sein Selbst als eine separate Größe zu vergessen. Er erlangt eine neue, aber brüchige Sicherheit, die er damit bezahlt, dass er ihr die Integrität seines individuellen Selbst zum Opfer bringt. Er entscheidet sich für den Verlust seines Selbst, weil er das Alleinsein nicht ertragen kann. So führt die Freiheit - als „Freiheit von“ - nur in eine neue Knechtschaft hinein.

Ergibt sich aus unserer Analyse, dass es einen unvermeidlichen Teufelskreis gibt, der von der Freiheit in eine neue Abhängigkeit hineinführt? Macht die Freiheit von allen primären Bindungen den Menschen so einsam und isoliert, dass er unausweichlich in eine neue Knechtschaft hineinfliehen muss? Sind Unabhängigkeit und Freiheit gleichbedeutend mit Isolierung und Angst? Oder gibt es einen Zustand der positiven Freiheit, in dem der einzelne Mensch als unabhängiges Selbst existiert und trotzdem nicht isoliert ist, sondern mit der Welt, mit den anderen Menschen und mit der Natur vereint ist?

Wir glauben auf diese Frage eine positive Antwort geben zu können, dass nämlich der Prozess der wachsenden Freiheit kein Teufelskreis ist und dass der Mensch frei und trotzdem nicht allein, kritisch und doch nicht voller Zweifel, unabhängig und doch ein integraler Teil der Menschheit sein kann. Diese Freiheit kann der Mensch dadurch erlangen, dass er sein Selbst verwirklicht, dass er er selbst ist. Was ist unter der Verwirklichung des Selbst zu verstehen? Die Philosophen des Idealismus waren der Ansicht, dass man nur durch intellektuelle Einsicht zur Selbstverwirklichung gelangen könne. Sie betonten nachdrücklich, dass die menschliche Persönlichkeit in Natur und Vernunft gespalten sei und dass die Vernunft die menschliche Natur unterdrücken und unter Aufsicht halten könne. Die Folge dieser Aufspaltung war jedoch, dass nicht nur das Gefühlsleben des Menschen, sondern auch seine intellektuellen Fähigkeiten verkrüppelt wurden. Dadurch, dass die Vernunft zum Wächter über ihren Gefangenen, die Natur, gesetzt wurde, wurde sie selbst zum Gefangenen; und so verkrüppelten beide Seiten der menschlichen Persönlichkeit - Vernunft und Gefühlsleben. Wir glauben, dass die Verwirklichung des Selbst nicht nur durch einen Akt des Denkens, [I-368] sondern auch durch die Verwirklichung der gesamten Persönlichkeit zustande kommt, wenn der Mensch nämlich alle seine emotionalen und intellektuellen Möglichkeiten tätig zum Ausdruck bringt. Diese Möglichkeiten stecken in jedem, sie werden aber nur in dem Maße verwirklicht, als sie einen Ausdruck finden. Mit anderen Worten: Die positive Freiheit besteht im spontanen Tätigsein (activity) der gesamten, integrierten Persönlichkeit.

Wir kommen hier auf eines der schwierigsten Probleme der Psychologie zu sprechen, auf das Problem der Spontaneität. Ein Versuch, dieses Problem angemessen zu diskutieren, würde ein weiteres Buch beanspruchen. Aber auf Grund des bisher Gesagten dürfte es immerhin möglich sein, durch Kontrastierung verständlich zu machen, worin die wesentliche Eigenschaft spontanen Tätigseins (spontaneous activity) besteht. Bei dieser handelt es sich nicht um eine zwanghafte Tätigkeit, zu der sich der Mensch durch seine Isolierung und Ohnmacht getrieben fühlt; es handelt sich nicht um die Tätigkeit eines automatenhaften Konformisten, der kritiklos Verhaltensmodelle übernimmt, die ihm von außen suggeriert werden. Spontanes Tätigsein ist die freie Aktivität des Selbst im Sinne der lateinischen Wurzel des Wortes sponte, was wörtlich soviel bedeutet wie „aus freien Stücken“.

Unter Tätigsein bzw. Aktivität verstehen wir nicht, dass jemand „irgendetwas tut“; es handelt sich vielmehr um das kreative Tätigsein, das sowohl im emotionalen, als auch im intellektuellen Bereich, sowohl im sinnlichen Bereich als auch in dem des Willens wirkt. Voraussetzung für diese Spontaneität ist, dass man die Persönlichkeit in ihrer Totalität annimmt und die Spaltung zwischen „Vernunft“ und „Natur“ beseitigt; denn nur, wenn der Mensch nicht wesentliche Teile seines Selbst verdrängt, nur wenn er sich selbst transparent wird, und nur wenn er die verschiedenen Sphären seines Lebens grundsätzlich integriert hat, ist spontanes Tätigsein möglich.

Die Spontaneität ist in unserer Kultur zwar eine relativ seltene Erscheinung, doch fehlt sie immerhin nicht ganz. Ich möchte nur einige Beispiele dafür anführen:

Erstens kennen wir Menschen, die diese Spontaneität besitzen oder doch besaßen, deren Denken, Fühlen und Handeln Ausdruck ihres Selbst und nicht Ausdruck eines Automaten ist. Bei solchen Menschen handelt es sich meistens um Künstler. Tatsächlich kann man den Künstler geradezu als einen Menschen definieren, der sich spontan auszudrücken weiß. Wenn wir diese Definition akzeptieren - und Balzac hat ihn genau so definiert -, dann muss man auch gewisse Philosophen und Wissenschaftler als Künstler bezeichnen, während wieder andere sich von ihnen so sehr unterscheiden wie ein altmodischer Fotograf von einem schöpferischen Maler. Es gibt andere Menschen, denen zwar die Fähigkeit - oder vielleicht auch nur die notwendige Übung - fehlt, sich in einem objektiven Medium auszudrücken, wie der Künstler das tut, die aber trotzdem die gleiche Spontaneität besitzen. Die Lage des Künstlers ist jedoch prekär, denn man pflegt nur die Individualität oder die Spontaneität des erfolgreichen Künstlers zu respektieren; gelingt es ihm nicht, seine Kunstwerke zu verkaufen, so bleibt er für seine Zeitgenossen ein „Spinner“ oder ein „Neurotiker“. Der Künstler befindet sich in dieser Hinsicht in einer ähnlichen Lage wie der Revolutionär. Der erfolgreiche Revolutionär ist ein Staatsmann, der erfolglose ist ein Verbrecher.

Auch kleine Kinder bieten Beispiele von Spontaneität. Sie haben die Fähigkeit, [I-369] wirklich eigene Gefühle und Gedanken zu haben. Diese Spontaneität zeigt sich an dem, was sie sagen und denken, und in den Gefühlen, die sich auf ihrem Gesicht ausdrücken. Wenn man sich fragt, was die kleinen Kinder für die meisten Menschen so anziehend macht, so ist es meiner Meinung nach - von sentimentalen und konventionellen Gründen abgesehen - eben diese Spontaneität. Sie spricht jeden stark an, der selbst noch nicht so abgestorben ist, dass er kein Gefühl mehr dafür hat. Tatsächlich gibt es nichts Anziehenderes und Überzeugenderes als Spontaneität, mag man sie nun bei einem Kind, bei einem Künstler oder auch bei anderen Menschen finden, die nicht zu dieser Alters- oder Berufsgruppe gehören.

Die meisten von uns erleben wenigstens Augenblicke eigener Spontaneität, die wir gleichzeitig als Augenblicke echten Glücks empfinden. Ganz gleich, ob wir das frische, spontane Erlebnis einer Landschaft haben, ob uns eine Erkenntnis als Ergebnis unseres Nachdenkens dämmert, ob wir ein sinnliches Vergnügen erleben, das nicht stereotyper Art ist, oder ob die Liebe zu einem anderen Menschen plötzlich in uns aufquillt - in solchen Augenblicken wissen wir alle, was ein spontanes Erlebnis ist, und wir haben vielleicht eine Ahnung davon, was das menschliche Leben sein könnte, wenn solche Erfahrungen nicht so selten wären und so wenig gepflegt würden.

Weshalb ist spontanes Tätigsein eine Lösung für das Problem der Freiheit? Wir sagten, dass die negative Freiheit allein den Menschen zu einem isolierten Wesen macht, dessen Beziehung zur Welt distanziert und voller Misstrauen ist, und dessen Selbst schwach und ständig bedroht ist. Spontanes Tätigsein ist der einzige Weg, auf dem man die Angst vor dem Alleinsein überwinden kann, ohne die Integrität seines Selbst zu opfern, denn in der spontanen Verwirklichung des Selbst vereinigt sich der Mensch aufs Neue mit der Welt - mit dem Menschen, der Natur und sich selbst. Die wichtigste Komponente einer solchen Spontaneität ist die Liebe - aber nicht die Liebe, bei der sich das Selbst in einem anderen Menschen auflöst, und auch nicht die Liebe, die nur nach dem Besitz des anderen strebt, sondern die Liebe als spontane Bejahung der anderen, als Vereinigung eines Individuums mit anderen auf der Basis der Erhaltung des individuellen Selbst. Die dynamische Eigenschaft der Liebe liegt eben in dieser Polarität, die darin besteht, dass sie aus dem Bedürfnis entspringt, die Absonderung zu überwinden und zum Einssein zu gelangen und trotzdem die eigene Individualität nicht zu verlieren. Die andere Komponente ist die Arbeit - aber nicht die Arbeit als zwanghafte Aktivität, die nur dazu dient, dem Alleinsein zu entfliehen, nicht die Arbeit, die einerseits die Natur beherrschen möchte und die andererseits die von Menschen geschaffenen Produkte vergötzt oder sich zum Sklaven dieser Produkte macht, sondern die Arbeit als Schöpfung, bei der der Mensch im Akt der Schöpfung eins wird mit der Natur.[36] Was für die Liebe und die Arbeit gilt, gilt für jedes spontane Tätigsein, ob es sich nun um sinnliche Freuden oder um die Teilnahme am politischen Gemeinschaftsleben handelt. Sie bejaht die Individualität des Selbst und eint es zugleich mit den anderen Menschen und der Natur. Die der Freiheit innewohnende grundsätzliche Dichotomie - die Geburt der Individualität und der Schmerz des Alleinseins - wird auf höherer Ebene durch das spontane Tätigsein des Menschen aufgelöst.

Bei jedem spontanen Tätigsein nimmt der Mensch die Welt in sich auf. Dabei bleibt [I-370] nicht nur sein individuelles Selbst intakt, es wird stärker und gefestigter. Denn das Selbst ist stark genau in dem Maße, wie es aktiv-tätig ist. Echte Kraft liegt nicht im Besitz als solchem, weder im materiellen Besitz noch im Besitz seelischer Qualitäten wie Emotionen oder Gedanken. Auch der Gebrauch oder die Manipulation von Objekten verleiht keine Kraft. Was wir benutzen, gehört nicht deshalb uns, weil wir es benutzen. Nur das gehört uns, auf das wir durch unser schöpferisches Tätigsein genuin bezogen sind, ob es sich nun um einen Menschen oder einen unbelebten Gegenstand handelt. Nur jene Eigenschaften, die aus unserem spontanen Tätigsein resultieren, verleihen unserem Selbst Kraft und bilden daher die Grundlage seiner Integrität. Die Unfähigkeit, spontan zu handeln und das zum Ausdruck zu bringen, was man genuin fühlt und denkt, und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, anderen und sich selbst ein Pseudo-Selbst zu präsentieren, sind die Wurzeln des Gefühls von Minderwertigkeit und Schwäche. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, es gibt nichts, dessen wir uns mehr schämen, als nicht wir selbst zu sein, und es gibt nichts, was uns stolzer und glücklicher macht, als das zu denken, zu fühlen und zu sagen, was wirklich unser Eigentum ist.

Dies impliziert, dass es auf das Tätigsein als solches ankommt, auf den Prozess und nicht auf das Resultat. In unserer Kultur ist das Gewicht genau umgekehrt verteilt. Wir produzieren nicht, um konkrete Bedürfnisse zu befriedigen, sondern zu dem abstrakten Zweck, unsere Ware zu verkaufen. Wir haben das Gefühl, alle materiellen und auch alle immateriellen Dinge durch Kauf erwerben zu können, und so werden die Dinge zu unserem Eigentum unabhängig davon, ob wir uns auf schöpferische Weise um sie bemühen. Ebenso betrachten wir unsere persönlichen Eigenschaften und den Erfolg unserer Bemühungen als Ware, die man für Geld, Prestige und Macht verkaufen kann. So verschiebt sich das Gewicht von der augenblicklichen Befriedigung, welche eine kreative Tätigkeit verleiht, auf den Wert des fertigen Produkts. Dabei geht dem Menschen die einzige Befriedigung verloren, die ihn wirklich glücklich machen kann - das Augenblickserlebnis des Tätigseins - und er jagt hinter einem Phantom her, das ihn enttäuscht, sobald er es erreicht zu haben glaubt - das trügerische Glück, genannt Erfolg.

Wenn der Mensch durch spontanes Tätigsein sein Selbst verwirklicht und auf diese Weise zur Welt in Beziehung tritt, hört er auf, ein isoliertes Atom zu sein, er und die Welt werden Teil eines strukturierten Ganzen, er hat seinen ihm zukommenden Platz in der Welt, womit auch seine Zweifel an sich selbst und am Sinn seines Lebens verschwinden. Diese Zweifel entsprangen seiner Absonderung und der Vereitelung seines Lebens. Die Zweifel schwinden, sobald er es fertigbringt, nicht mehr unter Zwang und automatisch, sondern spontan zu leben. Er erlebt sich dann als tätiges und schöpferisches Individuum und erkennt, dass das Leben nur den einen Sinn hat: den Vollzug des Lebens selbst.

Wenn der einzelne Mensch sein Grundgefühl des Zweifels an sich selbst und an seinem Platz im Leben überwindet, wenn er zur Welt in Beziehung tritt, indem er sie im Akt spontanen Erlebens erfasst, dann gewinnt er Kraft als ein Individuum, und er gewinnt Sicherheit. Diese Sicherheit unterscheidet sich jedoch von der Sicherheit, welche das vorindividualistische Stadium kennzeichnet, ebenso wie sich die neue [I-371] Beziehung zur Welt von den primären Bindungen unterscheidet. Die neue Sicherheit erwächst nicht aus dem Schutz, den der Einzelne von einer höheren Macht außerhalb seiner selbst genießt, und es handelt sich auch nicht um eine Sicherheit, aus der die tragische Seite des Lebens ausgemerzt ist. Die neue Sicherheit ist dynamisch. Sie gründet sich nicht auf Schutz durch andere, sondern auf das eigene spontane Tätigsein. Es ist die Sicherheit, die sich der Mensch in jedem Augenblick durch sein spontanes Tätigsein erwirbt. Es ist die Sicherheit, die nur die Freiheit geben kann und die keiner Illusion bedarf, weil sie die Bedingungen ausgeschaltet hat, welche Illusionen notwendig machen.

Zur positiven Freiheit als der Verwirklichung des Selbst gehört die volle Bejahung der Einzigartigkeit des Individuums. Die Menschen sind gleich geboren, aber sie sind auch verschieden geboren. Diese Verschiedenheit beruht auf der unterschiedlichen erblichen körperlichen und seelisch-geistigen Veranlagung, die sie mit auf die Welt bringen, zu der dann die besondere Konstellation der äußeren Umstände und die gemachten Erfahrungen hinzukommen. Diese individuelle Grundlage der Persönlichkeit ist bei zwei Menschen ebenso wenig identisch, wie zwei Organismen jemals physiologisch identisch sind. Bei der genuinen Entfaltung des Selbst handelt es sich stets um ein Wachstum auf dieser besonderen Grundlage. Es ist ein organisches Wachstum, die Entfaltung eines Kerns, der dieser einen Person eigentümlich ist und nur für sie gilt. Dagegen stellt die Entwicklung eines automatenhaften Konformisten kein organisches Wachstum dar. Da ist die Entfaltung der Basis des Selbst blockiert, und das Selbst wird vom Pseudo-Selbst überlagert, das - wie wir bereits feststellten - seinem Wesen nach die Inkorporation äußerer Modelle des Denkens und Fühlens ist. Ein organisches Wachstum ist nur möglich, wenn man vor der Besonderheit des Selbst anderer Menschen wie auch vor der des eigenen Selbst größte Achtung hat. Diese Achtung vor der Einzigartigkeit des Selbst und ihre Pflege ist die wertvollste Errungenschaft der menschlichen Kultur, und gerade sie ist heute in Gefahr.

Die Einzigartigkeit des Selbst widerspricht in keiner Weise dem Prinzip der Gleichheit. Die These, dass die Menschen gleich geboren werden, heißt, dass sie alle grundlegenden menschlichen Eigenschaften miteinander gemein haben, dass sie als menschliche Wesen das gleiche Schicksal haben und dass sie den gleichen unveräußerlichen Anspruch auf Freiheit und Glück haben. Es bedeutet außerdem, dass sie in einer Beziehung der Solidarität zueinander stehen, und nicht in einer Beziehung von Herrschaft und Unterwerfung. Aber der Begriff „Gleichheit“ bedeutet nicht, dass alle Menschen gleich sind. Ein derartiger Gleichheitsbegriff ist von der Rolle abgeleitet, die der Mensch heute im ökonomischen Bereich spielt. In der Beziehung zwischen dem, der kauft, und dem, der verkauft, sind die konkreten Unterschiede der Persönlichkeit ausgeschaltet. In dieser Situation kommt es lediglich darauf an, dass der eine etwas zu verkaufen hat und dass der andere das Geld besitzt, es zu kaufen. Im wirtschaftlichen Leben unterscheidet sich der eine Mensch nicht vom anderen; als reale Personen unterscheiden sie sich, und die Pflege ihrer Besonderheit macht das Wesen der Individualität aus.

Zur positiven Freiheit gehört auch das Prinzip, dass es keine höhere Macht als dieses einzigartige individuelle Selbst gibt, dass der Mensch Mittelpunkt und Zweck seines [I-372] Lebens ist und dass das Wachstum und die Realisierung der Individualität des Menschen ein Ziel ist, das niemals irgendwelchen Zwecken untergeordnet werden kann, die angeblich noch wertvoller sind. Diese Interpretation könnte auf ernste Einwände stoßen. Heißt es nicht einem zügellosen Egoismus das Wort reden? Heißt es nicht, die Idee des Opfers als Ideal negieren? Würde es nicht zur Anarchie führen? Tatsächlich habe ich diese Fragen in der vorausgegangenen Erörterung teils explizit, teils implizit bereits beantwortet. Sie sind mir jedoch zu wichtig, als dass ich nicht noch einmal versuchen sollte, die Antworten zu erläutern, um Missverständnisse zu vermeiden.

Wenn ich sagte, dass der Mensch keiner Instanz unterworfen sein sollte, die höher steht als er selbst, so heißt das nicht, dass ich die Würde von Idealen leugnen möchte. Ganz im Gegenteil bedeutet es die stärkste Bejahung von Idealen. Allerdings erfordert es eine kritische Analyse dessen, was unter einem Ideal zu verstehen ist. Man neigt heute ganz allgemein zu der Annahme, ein Ideal sei jedes beliebige Ziel, das nicht materiellen Gewinn einbringt, alles, wofür ein Mensch bereit ist, egoistische Ziele zu opfern. Das ist eine rein psychologische - und deshalb relativistische - Auffassung von einem Ideal. Von diesem subjektivistischen Standpunkt aus besitzt ein Faschist, der von dem Wunsch beseelt ist, sich einer höheren Macht zu unterwerfen und gleichzeitig andere Menschen zu unterjochen, ebenso gut ein Ideal wie jemand, der für die menschliche Freiheit und Gleichheit kämpft. Von diesem Standpunkt aus lässt sich das Problem „Ideal“ niemals lösen.

Wir müssen den Unterschied zwischen echten und fiktiven Idealen erkennen, einen Unterschied, der ebenso grundsätzlicher Art ist wie der zwischen wahr und falsch. Alle echten Ideale haben eines gemeinsam: Es kommt in ihnen das Streben nach etwas zum Ausdruck, das noch nicht erreicht ist, das aber zum Wachstum und Glück des einzelnen Menschen wünschenswert wäre. (Vgl. M. Otto, 1940, Kap. IV und V.) Vielleicht wissen wir nicht immer, womit dieses Ziel zu erreichen ist, und vielleicht gehen auch die Meinungen darüber auseinander, ob dieses oder jenes Ideal wirklich der menschlichen Entwicklung dient, aber das ist noch kein Grund zu einem Relativismus, der behauptet, wir könnten nicht wissen, was dem Leben förderlich oder hinderlich sei. Wir sind uns auch nicht immer sicher, welche Nahrungsmittel gesund sind und welche nicht, und trotzdem schließen wir daraus nicht, dass wir keine Möglichkeit besitzen, Gift zu erkennen. Ebenso können wir auch - wenn wir nur wollen - erkennen, was für unser seelisches Leben Gift ist. Wir wissen, dass Armut, Einschüchterung und Isolierung lebensfeindlich sind und dass alles, was der Freiheit dient und was den Mut und die Kraft fördert, wir selbst zu sein, lebensfördernd ist. Was gut oder schlecht für den Menschen ist, ist keine metaphysische Frage, sondern ein empirisches Problem, das mit Hilfe einer Analyse der menschlichen Natur und der Wirkung, die gewisse Bedingungen auf den Menschen haben, zu lösen ist.

Wie ist das aber mit „Idealen“ wie denen der Faschisten, die sich unverkennbar gegen das Leben richten? Wie können wir begreifen, dass Menschen diese falschen Ideale ebenso leidenschaftlich verfechten wie andere Menschen wahre Ideale? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir einige psychologische Erwägungen anstellen. Das Phänomen des Masochismus zeigt, dass Menschen sich zum Leiden und zur Unterwerfung hingezogen fühlen können. Zweifellos sind Leiden, Unterwerfung [I-373] oder Selbstmord die Antithese positiver Lebensziele. Dennoch können diese Ziele manchem befriedigend und verlockend erscheinen. Dieses Sich-angezogen-Fühlen von dem, was dem Leben abträglich ist, verdient mehr als jedes andere Phänomen die Bezeichnung „pathologische Perversion“. Viele Psychologen vertreten den Standpunkt, dass das Erlebnis von Lust und die Vermeidung von Schmerz das einzig legitime Leitprinzip für das menschliche Handeln sei. Aber die dynamische Psychologie kann nachweisen, dass das subjektive Erlebnis der Lust nicht allein darüber entscheidet, ob ein bestimmtes Verhalten wirklich zum Glück des Betreffenden führt. Ein Beweis hierfür ist die Analyse masochistischer Phänomene. Eine solche Analyse zeigt, dass die Empfindung von Lust tatsächlich das Ergebnis einer pathologischen Perversion sein kann, und dass sie sowenig über die objektive Bedeutung einer Erfahrung aussagt, wie der süße Geschmack eines Giftes etwas über dessen Wirkung auf den Organismus aussagt.[37] Demnach wäre ein echtes Ideal jedes Ziel, welches das Wachstum, die Freiheit und das Glück des Selbst fördert, und fiktive Ideale wären all jene zwanghaften und irrationalen Ziele, die subjektiv verlockende Erlebnisse in Aussicht stellen (wie zum Beispiel der Trieb, sich jemandem unterzuordnen), die aber tatsächlich dem Leben abträglich sind. Sind wir mit dieser Definition einverstanden, so folgt für uns daraus, dass ein echtes Ideal keine geheimnisvolle, dem Menschen übergeordnete Macht, sondern deutlicher Ausdruck der stärksten Bejahung des Selbst ist. Jedes Ideal, das einer solchen Bejahung entgegensteht, beweist eben hierdurch, dass es kein Ideal, sondern ein pathologisches Ziel ist.

Hier stellt sich eine weitere Frage, nämlich die nach dem Opfer. Schließt unsere Definition der Freiheit als der Nicht-Unterwerfung unter eine höhere Macht Opfer, einschließlich des Opfers des eigenen Lebens aus?

Es ist dies heute eine besonders wichtige Frage, da der Faschismus die Selbstaufopferung als höchste Tugend preist und durch seinen idealistischen Anstrich auf viele Menschen Eindruck macht. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich logisch aus dem zuvor Gesagten. Es gibt zwei völlig unterschiedliche Arten des Opfers. Es gehört zu den tragischen Seiten unseres Lebens, dass die Erfordernisse unseres körperlichen Selbst und die Ziele unseres seelischen Selbst miteinander in Widerstreit geraten können, dass wir tatsächlich unser körperliches Selbst opfern müssen, um die Integrität unseres spirituellen Selbst zu wahren. Es wird dies immer ein tragisches Opfer sein. Der Tod ist nie süß, auch dann nicht, wenn man ihn für das höchste Ideal erleidet. Er bleibt unaussprechlich bitter und kann trotzdem die höchste Bejahung unserer Individualität sein. Ein solches Opfer unterscheidet sich grundsätzlich vom „Opfer“, das der Faschismus predigt. Dort ist das Opfer nicht der höchste Preis, den der [I-374] Mensch unter Umständen zahlen muss, um sein Selbst zu behaupten, sondern es ist Selbstzweck. Dieses masochistische Opfer sieht die Erfüllung des Lebens in dessen Negierung, in der Auslöschung des Selbst. Diese Art des Opfers ist nur höchster Ausdruck dessen, was der Faschismus in allen seinen Abarten erreichen möchte - die Vernichtung des individuellen Selbst und seine völlige Unterordnung unter eine höhere Macht. Es ist die Perversion des echten Opfers, genauso wie der Selbstmord die äußerste Perversion des Lebens ist. Das echte Opfer setzt den kompromisslosen Wunsch nach geistiger Integrität voraus. Wenn Menschen, die ihre Integrität verloren haben, ihr Leben opfern, dann versteckt sich dahinter nur ihr moralischer Bankrott.

Einem letzten Einwand ist noch zu begegnen: Wird es nicht zur Anarchie führen, wenn man es dem Einzelnen erlaubt, frei und spontan zu handeln und keine höhere Autorität anzuerkennen als sich selbst? Wenn man unter Anarchie bedenkenlosen Egoismus und Destruktivität versteht, dann hängt es davon ab, welche Auffassung man von der menschlichen Natur hat. Ich kann hier nur darauf verweisen, was ich im Kapitel über die Fluchtmechanismen dargelegt habe: dass der Mensch nämlich weder gut noch böse ist, dass das Leben die inhärente Tendenz hat, zu wachsen, sich zu entfalten und Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen, und dass, wenn Leben vereitelt wird, der Mensch isoliert und von Zweifeln oder dem Gefühl des Alleinseins und der Ohnmacht bedrängt ist, er zur Destruktivität getrieben wird und nach Macht und Unterwerfung verlangt. Wenn die Freiheit zur Freiheit zu wird, wenn der Mensch sein Selbst vollkommen und kompromisslos verwirklichen kann, wird die Grundursache für seine asozialen Triebe verschwinden, und nur Kranke und Abnormale werden noch gefährlich sein. Bisher ist diese Art der Freiheit in der Geschichte noch nie verwirklicht worden, trotzdem aber war sie ein Ideal, an das die Menschheit sich klammerte, auch wenn es oft abstruse und irrationale Formen annahm. Man braucht sich nicht zu wundern, dass die Annalen der Geschichte soviel Grausamkeit und Destruktivität aufweisen. Wenn es einen Grund zur Verwunderung - und zu neuer Hoffnung - gibt, dann ist es meiner Ansicht nach die Tatsache, dass die menschliche Rasse trotz allem, was dem Menschen schon zugestoßen ist, sich Eigenschaften bewahrt und sogar weiterentwickelt hat wie Würde, Mut, Anstand und Güte, wie wir sie im Verlauf der gesamten Geschichte und auch heute noch bei zahllosen Einzelmenschen finden.

Wenn man unter Anarchie versteht, dass der Einzelne keinerlei Autorität anerkennt, dann ist die Antwort auf unsere Frage darin zu suchen, was bereits über rationale und irrationale Autorität gesagt wurde. Die rationale Autorität zielt - wie jedes echte Ideal - auf Wachstum und Entfaltung der Individualität ab. Aus diesem Grund gerät sie prinzipiell niemals in Konflikt mit dem einzelnen Menschen und seinen realen, nicht-pathologischen Zielen.

Wir haben in diesem Buch die These vertreten, dass die Freiheit für den modernen Menschen eine zweifache Bedeutung besitzt: dass er sich von den traditionellen Autoritäten befreite und zu einem „Individuum“ wurde, dass er aber gleichzeitig auch isoliert und machtlos und zu einem Werkzeug für Zwecke außerhalb seiner selbst wurde, sich selbst und anderen entfremdet. Wir sahen, dass dieser Zustand das Selbst unterminiert, es schwächt und mit Angst erfüllt und dass er den Menschen bereitmacht, sich einer neuen Art von Knechtschaft zu unterwerfen. Andererseits führt die positive [I-375] Freiheit zur vollen Verwirklichung der dem Menschen eigenen Möglichkeiten und befähigt ihn, aktiv und spontan zu leben. Die Freiheit hat einen kritischen Punkt erreicht, wo die ihr eigene Dynamik die Gefahr mit sich bringt, dass sie in ihr Gegenteil umschlägt. Die Zukunft der Demokratie hängt von der Verwirklichung des Individualismus ab, der seit der Renaissance das Ziel des modernen Denkens ist. Die kulturelle und politische Krise unserer Zeit liegt nicht daran, dass es zuviel Individualismus gibt, sondern dass das, was wir für Individualismus halten, zu einer leeren Schale geworden ist. Der Sieg der Freiheit ist nur möglich, wenn die Demokratie sich zu einer Gesellschaftsform entwickelt, wo der einzelne Mensch mit seinem Wachstum und seinem Glück Ziel und Zweck der Kultur ist, wo das Leben keine Rechtfertigung durch Erfolg oder irgendetwas anderes braucht und wo der einzelne Mensch nicht von einer Macht außerhalb seiner selbst unterworfen oder manipuliert wird - sei es nun der Staat oder der Wirtschaftsapparat. Schließlich geht es um eine Gesellschaft, in der Gewissen und Ideale nicht die Internalisierung äußerer Forderungen sind, sondern wo darin der einzelne Mensch selbst und seine Ziele zum Ausdruck kommen, wie sie der Besonderheit seines Selbst entspringen. Es ist in den vorausgegangenen Epochen der modernen Geschichte noch nicht gelungen, diese Ziele voll zu verwirklichen. Sie sind weitgehend ideologische Ziele geblieben, weil die materielle Grundlage für die Entwicklung eines echten Individualismus nicht gegeben war. Der Kapitalismus hat diese Vorbedingung geschaffen. Das Produktionsproblem ist - wenigstens im Prinzip - gelöst, und wir können einer Zukunft entgegensehen, in der alles im Überfluss vorhanden ist, in der es keinen Kampf um wirtschaftliche Privilegien auf Grund der nur unzureichend vorhandenen wirtschaftlichen Mittel mehr zu geben braucht. Das Problem, dem wir uns heute gegenübersehen, ist die Organisation der gesellschaftlichen und ökonomischen Kräfte, in einer Weise, dass der Mensch - als Mitglied einer organisierten Gesellschaft - zum Herrn dieser Kräfte werden kann und aufhört, ihr Sklave zu sein.

Ich habe die psychologische Seite der Freiheit in den Vordergrund gestellt, aber ich habe auch zu zeigen versucht, dass das psychologische Problem nicht von der materiellen Basis der menschlichen Existenz, von der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Struktur der Gesellschaft, zu trennen ist. Hieraus folgt, dass die Verwirklichung der positiven Freiheit und des Individualismus auch an ökonomische und soziale Veränderungen gebunden ist, die es dem Einzelnen ermöglichen, im Sinne der Verwirklichung seines Selbst frei zu werden. Ich möchte in diesem Buch nicht die wirtschaftlichen Probleme behandeln, die sich aus diesen Prämissen ergeben, und keine ökonomischen Vorschläge für die Zukunft machen. Aber ich möchte doch keinen Zweifel darüber lassen, in welcher Richtung mir die Lösung zu liegen scheint.

Zunächst: Wir können es uns nicht leisten, irgendwelche grundlegenden Errungenschaften der modernen Demokratie aufzugeben - weder die repräsentative Regierungsform, d.h. die vom Volk gewählte und dem Volk verantwortliche Regierung, noch die Rechte, welche die Bill of Rights einem jeden Bürger garantiert. Und wir können auch nicht die neueren demokratischen Grundsätze aufs Spiel setzen, dass keiner mehr verhungern darf, dass die Gesellschaft für alle ihre Mitglieder verantwortlich ist, dass niemand durch Einschüchterung dazu gebracht werden darf, sich [I-376] unterzuordnen und aus Angst vor Arbeitslosigkeit und Hunger seinen Stolz aufzugeben. Diese Grunderrungenschaften müssen nicht nur erhalten, sie müssen auch noch ausgebaut und erweitert werden.

Aber wenn die Demokratie auch bis zu einem gewissen Grad - wenn auch keineswegs vollkommen - verwirklicht ist, so genügt das doch nicht. Fortschritte in der Demokratie sind erforderlich hinsichtlich der tatsächlichen Freiheit, Initiative und Spontaneität des einzelnen Menschen, und dies nicht nur in Bezug auf gewisse private und geistige Dinge, sondern vor allem in dem Bereich, der für das Leben eines jeden Menschen von fundamentaler Bedeutung ist: im Bereich seiner Arbeit.

Welches sind die allgemeinen Voraussetzungen hierfür? Die irrationale und planlose Eigenart unserer Gesellschaft muss durch eine geplante Wirtschaft ersetzt werden, welche die gemeinsamen konzentrierten Anstrengungen der gesamten Gesellschaft repräsentiert. Die Gesellschaft muss das soziale Problem auf ebenso vernünftige Weise meistern, wie sie die Natur gemeistert hat. Eine Voraussetzung hierfür ist die Beseitigung der geheimen Herrschaft derer, die - obgleich gering an Zahl - eine große wirtschaftliche Macht ausüben, ohne dass sie jenen gegenüber, deren Schicksal von ihnen abhängt, verantwortlich wären. Wir könnten diese neue Gesellschaftsordnung als „demokratischen Sozialismus“ bezeichnen, doch tut der Name nichts zur Sache. Es kommt lediglich darauf an, dass wir ein vernünftiges Wirtschaftssystem begründen, das dem Wohl des Volkes dient. Heute hat die große Mehrheit des Volkes nicht nur keinerlei Kontrolle über die gesamte Wirtschaftsmaschinerie, sie hat auch kaum eine Chance, an ihrem Arbeitsplatz eine echte Initiative und echte Spontaneität zu entwickeln. Sie sind eben in dem Betrieb „beschäftigt“, und man erwartet nicht mehr von ihnen, als dass sie das tun, was sie geheißen werden. Nur in einer Planwirtschaft, wo die gesamte Nation auf vernünftige Weise die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte unter Kontrolle hat, kann der Einzelne an der Verantwortung teilhaben und seine schöpferische Intelligenz bei der Arbeit einsetzen. Worauf es ankommt ist, dass man einem jeden wieder Gelegenheit gibt, echtes Tätigsein zu entfalten, dass die Ziele der Gesellschaft und seine eigenen Ziele miteinander identisch werden, und das nicht nur ideologisch, sondern in der Realität. Es kommt darauf an, dass er seine Kraft und Vernunft aktiv bei seiner Arbeit einsetzt und dass er sich mitverantwortlich fühlt, weil seine Arbeit für ihn im menschlichen Bereich einen Sinn hat. An die Stelle der Manipulation der Menschen muss ihre aktive und intelligente Zusammenarbeit treten, und wir müssen den Grundsatz der Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk von der formalen politischen in die wirtschaftliche Sphäre ausdehnen.

Die Frage, ob ein wirtschaftliches oder politisches System der Sache der menschlichen Freiheit dient, ist nicht nur im politischen und wirtschaftlichen Sinn zu beantworten. Das einzige Kriterium für die Verwirklichung der Freiheit ist, ob der einzelne Mensch aktiv sein Leben und das der Gesellschaft mitbestimmt oder nicht, und das nicht nur durch den formalen Akt der Wahl, sondern bei seiner täglichen Arbeit und in seinen Beziehungen zu den anderen. Wenn sich die moderne politische Demokratie auf die rein politische Sphäre beschränkt, so kann sie den Folgen der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit des Durchschnittsbürgers nicht entgegenwirken. Aber auch rein [I-377] wirtschaftliche Vorstellungen wie die Sozialisierung der Produktionsmittel genügen nicht.

Ich denke hier nicht so sehr an den irreführenden Gebrauch des Wortes „Sozialismus“, wie er - aus taktischen Gründen - bei den Nationalsozialisten üblich ist. Ich denke an Russland, wo das Wort Sozialismus eine trügerische Bedeutung angenommen hat. Denn wenn auch die Sozialisierung der Produktionsmittel dort durchgeführt ist, so wird doch die große Masse der Bevölkerung von einer mächtigen Bürokratie manipuliert. Das muss unausweichlich die Entwicklung der Freiheit und des Individualismus verhindern, selbst wenn sich die Kontrolle durch die Regierung auch für die wirtschaftlichen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung günstig auswirken mag.

Noch niemals sind Worte mehr zum Vertuschen der Wahrheit missbraucht worden als heute. Der Betrug an den Verbündeten wird als Beschwichtigung bezeichnet, eine militärische Aggression wird als Verteidigung gegen einen Angriff getarnt, die Eroberung kleiner Völker läuft unter dem Namen eines Freundschaftspakts, und die brutale Unterdrückung der gesamten Bevölkerung erfolgt im Namen des Nationalsozialismus. Die Worte „Demokratie“, „Freiheit“ und „Individualismus“ werden auf ähnliche Weise missbraucht. Es gibt eine Möglichkeit, den wahren Unterschied zwischen Demokratie und Faschismus zu definieren. Die Demokratie ist ein System, das die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Voraussetzungen für die volle Entfaltung des einzelnen Menschen schafft. Der Faschismus ist ein System, das - seines Namens ungeachtet - den Einzelnen äußeren Zwecken unterordnet und der Entwicklung einer echten Individualität abträglich ist.

Zweifellos liegt bei dem Versuch, die Vorbedingung für die Verwirklichung der Demokratie zu schaffen, eine der größten Schwierigkeiten im Widerspruch zwischen einer Planwirtschaft und der aktiven Mitarbeit eines jeden Einzelnen. Die Planwirtschaft eines riesigen Industriesystems erfordert eine weitgehende Zentralisierung und infolgedessen eine Bürokratie, welche diesen zentralisierten Apparat verwaltet. Andererseits erfordert die aktive Mitbestimmung und Mitarbeit jedes Einzelnen und die der kleinsten Einheiten des Gesamtsystems eine weitgehende Dezentralisation. Wenn nicht die Planung von oben mit einer aktiven Mitwirkung von unten Hand in Hand geht, wenn nicht der Strom des gesellschaftlichen Lebens ständig von unten nach oben fließt, wird eine Planwirtschaft nur zu einer neuerlichen Manipulation der Menschen führen. Es ist eine der Hauptaufgaben der Gesellschaft, das Problem einer Kombination von Zentralisierung und Dezentralisierung zu lösen. Aber es ist bestimmt nicht weniger lösbar, als die technischen Probleme es waren, die wir bereits gelöst haben, was uns eine fast vollkommene Beherrschung der Natur ermöglicht hat. Dieses Problem kann freilich nur gelöst werden, wenn wir die Notwendigkeit klar erkennen und wenn wir Vertrauen zum Volk und zu seiner Fähigkeit haben, seine wahren Interessen als menschliche Wesen wahrzunehmen.

In gewisser Weise stehen wir hier wieder vor dem Problem der individuellen Initiative. Die persönliche Initiative war einer der großen Antriebe sowohl für die Wirtschaft als auch für die persönliche Entwicklung im liberalen Kapitalismus. Allerdings sind hier zwei Qualifikationen vorzunehmen: Sie hat nur bestimmte Eigenschaften des Menschen entwickelt, nämlich seinen Willen und seinen Verstand, während sie [I-378] ihn im Übrigen für wirtschaftliche Ziele einspannte. Es war ein Prinzip, das am besten in einer hochindividualisierten und vom Wettbewerb geprägten Phase des Kapitalismus funktionierte und das für zahllose unabhängige Wirtschaftsunternehmen Raum bot. Heute steht weit weniger Raum hierfür zur Verfügung. Nur wenige können heute noch individuelle Initiative entfalten. Wenn wir dieses Prinzip heute realisieren und so erweitern wollen, dass die gesamte Persönlichkeit frei wird, so wird das nur möglich sein, wenn die gesamte Gesellschaft auf vernünftige Weise daran mitwirkt und wenn soweit dezentralisiert wird, dass eine reale, echte, aktive Mitarbeit und Mitbestimmung der kleinsten Einheiten des Systems gewährleistet ist.

Nur wenn der Mensch die Gesellschaft in den Griff bekommt, nur wenn er den Wirtschaftsapparat in den Dienst des menschlichen Glücks stellt, und nur wenn jeder Einzelne aktiv am gesellschaftlichen Prozess beteiligt wird, kann er seine Einsamkeit und das Gefühl der Ohnmacht überwinden, das ihn heute zur Verzweiflung treibt. Heute leidet der Mensch nicht so sehr unter der Armut wie darunter, dass er zu einem Rädchen einer großen Maschine, zu einem Automaten wurde und dass sein Leben leer und sinnlos geworden ist. Der Sieg über autoritäre Systeme aller Art wird nur möglich sein, wenn die Demokratie nicht den Rückzug antritt, sondern die Offensive ergreift und das in die Wirklichkeit umsetzt, was alle jene im Sinn hatten, die in den vergangenen Jahrhunderten für die Freiheit gekämpft haben. Sie wird nur dann über die Kräfte des Nihilismus triumphieren, wenn sie die Menschen mit dem stärksten Glauben erfüllen kann, zu dem der menschliche Geist fähig ist: mit dem Glauben an das Leben und an die Wahrheit und an die Freiheit als der aktiven und spontanen Verwirklichung des individuellen Selbst.

Anhang: Charakter und Gesellschaftsprozess

Wir haben uns in diesem Buch bisher mit den Wechselbeziehungen von sozio-ökonomischen, psychologischen und ideologischen Faktoren befasst, indem wir bestimmte historische Epochen wie das Reformationszeitalter und unsere heutige Zeit analysierten. Für Leser, die sich speziell für die mit einer solchen Analyse zusammenhängenden theoretischen Probleme interessieren, möchte ich in diesem Anhang noch kurz auf die allgemeine theoretische Grundlage eingehen, auf welcher meine konkrete Analyse basiert.[38]

Untersucht man die psychologischen Reaktionen einer Gesellschaftsgruppe, so hat man es mit der Charakterstruktur der Mitglieder dieser Gruppe, d.h. mit individuellen Personen zu tun. Wir interessieren uns hier jedoch nicht so sehr für die Besonderheiten, durch welche sich diese Personen voneinander unterscheiden, sondern für den Teil ihrer Charakterstruktur, welcher den meisten Mitgliedern der Gruppe gemeinsam ist. Ich bezeichne diesen Charakter als Gesellschafts-Charakter (social character). Der Gesellschafts-Charakter ist notwendigerweise weniger spezifisch als der Individual-Charakter. Beschreibt man letzteren, so befasst man sich mit der Gesamtheit der Wesenszüge, die in ihrer besonderen Konfiguration die Persönlichkeitsstruktur des betreffenden Menschen ausmachen. Der Gesellschafts-Charakter dagegen umfasst nur eine Auswahl aus diesen Wesenszügen, und zwar den wesentlichen Kern der Charakterstruktur der meisten Mitglieder einer Gruppe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und der Lebensweise dieser Gruppe entwickelt hat. Wenngleich es immer „Abweichler“ mit einer völlig anderen Charakterstruktur geben wird, stellen doch die Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe Variationen dieses Kerns dar, wie sie durch die zufälligen Faktoren von Geburt und Lebenserfahrungen zustande kamen, die ja von Mensch zu Mensch verschieden sind. Wenn wir einen Einzelmenschen ganz verstehen wollen, sind diese Unterscheidungsmerkmale von größter Wichtigkeit. Wollen wir dagegen verstehen, in welche Kanäle die menschliche Energie geleitet wird und wie sie sich als Produktivkraft in einer bestimmten Gesellschaftsordnung auswirkt, dann gehört unser Hauptinteresse dem Gesellschafts-Charakter.

Der Begriff des Gesellschafts-Charakters ist ein Schlüsselbegriff für das Verständnis [I-380] des Gesellschaftsprozesses überhaupt. Der Charakter im dynamischen Sinn der analytischen Psychologie ist die besondere Form, in welche die menschliche Energie durch die dynamische Anpassung menschlicher Bedürfnisse an die besonderen Daseinsformen einer bestimmten Gesellschaft gebracht wird. Der Charakter bestimmt dann seinerseits das Denken, Fühlen und Handeln des einzelnen Menschen. In Bezug auf unser Denken können wir das nur schwer einsehen, da wir herkömmlicherweise alle zu der Überzeugung neigen, das Denken sei ein ausschließlich intellektueller Akt und sei von der psychologischen Struktur der Persönlichkeit unabhängig. Das ist jedoch nicht der Fall, und es trifft umso weniger zu, je mehr unsere Gedanken sich mit ethischen, philosophischen, politischen, psychologischen oder gesellschaftlichen Problemen befassen, statt mit konkreten Objekten empirisch umzugehen. Derartige Gedanken werden - soweit es sich nicht um die rein logischen Elemente des Denkakts handelt - weitgehend durch die Persönlichkeitsstruktur des Denkenden bestimmt. Dies gilt für die ganze Doktrin oder für ein ganzes theoretisches System ebenso wie für einzelne Begriffe wie Liebe, Gerechtigkeit, Gleichheit oder Opfer. Ein jeder derartiger Begriff und eine jede Doktrin besitzt eine emotionale Matrix, und diese Matrix ist in der Charakterstruktur des einzelnen Menschen verwurzelt.

In den früheren Kapiteln haben wir zahlreiche Beispiele hierfür angeführt. Als Beispiele für entsprechende Doktrinen haben wir die emotionalen Wurzeln des frühen Protestantismus und der modernen autoritären Einstellung nachzuweisen versucht. Hinsichtlich einzelner Begriffe haben wir gezeigt, dass zum Beispiel für den sado-masochistischen Charakter die Liebe eine symbiotische Abhängigkeit und keine gegenseitige Bejahung und Vereinigung auf der Basis der Gleichberechtigung bedeutet. Das Opfer bedeutet für ihn die äußerste Unterordnung des individuellen Selbst unter etwas Höheres, und nicht die Behauptung des eigenen geistig-seelischen und moralischen Selbst. Unterschiede bedeuten Unterschiede in Bezug auf die Macht, und nicht in Bezug auf die Verwirklichung der Individualität auf der Basis der Gleichberechtigung. Gerechtigkeit heißt soviel wie, dass jeder das bekommen sollte, was er verdient, und nicht, dass der einzelne Mensch einen unbedingten Anspruch auf die Verwirklichung seiner angeborenen und unveräußerlichen Rechte hat. Mut ist die Bereitschaft sich zu unterwerfen und Leiden zu erdulden, und nicht die stärkste Behauptung von Individualität der Gewalt gegenüber. Obwohl zwei Menschen von unterschiedlicher Persönlichkeit sich desselben Wortes bedienen, wenn sie zum Beispiel von Liebe sprechen, so hat das Wort doch entsprechend ihrer Charakterstruktur eine völlig unterschiedliche Bedeutung für sie. Zweifellos wären viele Missverständnisse zu vermeiden, wenn man diese Begriffe psychologisch korrekt analysierte, weil jeder Versuch einer rein logischen Klassifizierung unvermeidlich fehlschlagen muss.

Die Tatsache, dass Ideen eine emotionale Matrix besitzen, ist von größter Bedeutung, denn sie ist der Schlüssel zum Verständnis des Geistes einer Kultur. Verschiedene Gesellschaften oder Klassen innerhalb einer Gesellschaft besitzen einen spezifischen Gesellschafts-Charakter, und auf dieser Basis entwickeln sich unterschiedliche Ideen, die zu mächtigen Triebkräften werden. So konnte zum Beispiel die Idee, Arbeit und Erfolg seien das Hauptziel des Lebens, eine so mächtige Anziehungskraft auf den modernen Menschen ausüben, weil er sich einsam fühlt und an allem zweifelt. Würde [I-381] man dagegen versuchen, die Pueblo-Indianer oder mexikanische Bauern für den Gedanken zu gewinnen, man müsse sich unaufhörlich anstrengen und nach Erfolg streben, so wäre das völlig zwecklos. Diese Menschen mit ihrer andersartigen Charakterstruktur würden kaum begreifen, wovon einer, der solche Ziele propagiert, überhaupt redet - selbst wenn sie seine Sprache verstehen würden.[39] So haben auch Hitler und der Teil der deutschen Bevölkerung, der dieselbe Charakterstruktur besitzt, ganz aufrichtig das Gefühl, dass jeder, der behauptet, man könne den Krieg abschaffen, entweder ein vollkommener Narr oder ein offenkundiger Lügner sei. Auf Grund ihres Gesellschafts-Charakters ist für sie ein Leben ohne Leiden und Katastrophen genauso unfassbar wie Freiheit und Gleichberechtigung.

Ideen werden oft von bestimmten Gruppen bewusst akzeptiert, aber auf Grund der Besonderheiten ihres Gesellschafts-Charakters von ihnen nicht wirklich angenommen. Für solche Menschen bilden derartige Ideen einen Vorrat an bewusst vertretenen Überzeugungen, aber in kritischen Augenblicken handeln sie nicht danach. Ein Beispiel hierfür war die deutsche Arbeiterbewegung zur Zeit des Siegs des Nazismus. Vor Hitlers Machtergreifung gaben die allermeisten deutschen Arbeiter ihre Stimme der Sozialdemokratischen oder Kommunistischen Partei, was besagt, dass deren Ideen unter der Arbeiterschaft äußerst weit verbreitet waren. Aber das Gewicht, das diese Ideen für sie besaßen, stand in keinem Verhältnis zu ihrer Verbreitung. Beim Ansturm des Nazismus waren die meisten seiner politischen Gegner nicht bereit, für ihre Ideen zu kämpfen. Viele Anhänger der linken Parteien glaubten zwar an ihr Parteiprogramm, solange diese Parteien noch Macht und Ansehen besaßen, als dann aber die Stunde der Krise kam, resignierten sie. Bei einer genauen Analyse der Charakterstruktur der deutschen Arbeiter ergibt sich ein Grund - wenn auch gewiss nicht der einzige - für diese Erscheinung. Sehr viele von ihnen gehörten einem Persönlichkeitstyp an, der viele Merkmale des autoritären Charakters aufweist. Sie hatten einen tiefen Respekt vor der etablierten Autorität und sehnten sich nach ihr.[40] Wenn der Sozialismus die individuelle Unabhängigkeit gegenüber der Autorität beziehungsweise die Solidarität gegenüber jedem individualistischen Sich-Absondern betonte, so war dies nicht das, was viele dieser Arbeiter auf Grund ihrer Persönlichkeitsstruktur wirklich wollten. Es war ein Fehler ihrer radikalen Führer, dass diese die Macht ihrer Partei nur nach der Verbreitung dieser Ideen, und nicht nach dem Gewicht einschätzten, das diese Ideen besaßen.

Demgegenüber zeigte unsere Analyse der lutherischen und calvinistischen Doktrinen, dass jene Ideen für die Anhänger der neuen Religion eine starke Anziehungskraft besaßen, weil sie an die Bedürfnisse und Ängste appellierten, welche der Charakterstruktur der Menschen entsprachen, an die sie sich richteten. Anders gesagt: Ideen können zu mächtigen Kräften werden, jedoch nur in dem Maße, wie sie Antworten auf besondere menschliche Bedürfnisse eines speziellen Gesellschafts-Charakters sind.

Nicht nur das Denken und Fühlen eines Menschen wird von seiner Charakterstruktur bestimmt, sondern auch sein Tun. Es ist Freuds Verdienst, dies nachgewiesen zu haben, wenn auch sein theoretischer Bezugsrahmen nicht richtig ist. Dass die Handlungsweise eines Menschen von den dominierenden Tendenzen seiner [I-382] Charakterstruktur bestimmt wird, ist bei Neurotikern besonders deutlich zu erkennen. Es ist leicht einzusehen, dass der Zwang, die Fenster von Häusern oder die Pflastersteine zu zählen, in bestimmten Trieben des Zwangscharakters wurzelt. Dagegen scheint das Tun eines normalen Menschen von rein rationalen Erwägungen und von den Erfordernissen der Wirklichkeit bestimmt zu sein. Man kann jedoch mit Hilfe der neuen Beobachtungsmöglichkeiten, welche die Psychoanalyse bietet, erkennen, dass auch das sogenannte rationale Verhalten weitgehend von der Charakterstruktur bestimmt wird. Wir haben bereits bei unserer Erörterung der Bedeutung der Arbeit für den modernen Menschen ein diesbezügliches Beispiel angeführt. Wir sahen, dass das starke Verlangen nach einer unaufhörlichen Tätigkeit seine Wurzeln in Einsamkeit und Angst hat. Wir sahen, dass dieser innere Zwang zur Arbeit sich von der Einstellung zur Arbeit in anderen Kulturen unterscheidet, wo die Menschen nur soviel arbeiten, wie notwendig ist, und nicht noch darüber hinaus durch Kräfte angetrieben werden, die in ihrer Charakterstruktur wurzeln. Da heutzutage alle normalen Menschen etwa den gleichen Impuls zu arbeiten haben und da außerdem diese Intensität der Arbeit notwendig ist, wenn sie überhaupt leben wollen, übersieht man leicht die irrationale Komponente in diesem Charakterzug.

Wir müssen uns jetzt fragen, welche Funktion der Charakter für den Einzelnen und für die Gesellschaft hat. Ersteres ist unschwer zu beantworten. Wenn der individuelle Charakter eines Menschen mehr oder weniger genau dem Gesellschafts-Charakter entspricht, veranlassen ihn die in seiner Persönlichkeit dominierenden Triebe, eben das zu tun, was unter den spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen seiner Kultur notwendig und wünschenswert ist. Hat er zum Beispiel einen leidenschaftlichen Hang zum Sparen und einen Abscheu davor, Geld für überflüssige Dinge auszugeben, so wird ihm das außerordentlich zustatten kommen, wenn er der Besitzer eines kleinen Ladens ist, der sparen und sich einschränken muss, wenn er noch weiter bestehen will. Außer dieser wirtschaftlichen Funktion haben die Charakterzüge auch noch eine rein psychologische Bedeutung, die nicht weniger wichtig ist. Einem Menschen, bei dem etwa das Sparen in seiner Persönlichkeit verankert ist, gewährt es auch eine tiefe psychologische Befriedigung, sich entsprechend zu verhalten; das heißt, es kommt ihm nicht nur praktisch zugute, wenn er spart, es befriedigt ihn auch. Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn man zum Beispiel eine Frau aus dem Kleinbürgertum auf dem Markt einkaufen sieht und feststellt, dass sie ebenso glücklich darüber ist, wenn sie zwei Cent spart, wie jemand mit einer anderen Charakterstruktur, wenn er sich einem sinnlichen Genuss hingibt. Zu dieser psychologischen Befriedigung kommt es nicht nur, wenn jemand dem aus seiner Charakterstruktur entspringenden Verlangen entsprechend handelt, sondern auch wenn er über Ideen liest oder von ihnen hört, die ihn aus eben diesem Grund ansprechen. Auf den autoritären Charakter übt eine Ideologie, welche die Natur als gewaltige Macht auffasst, der wir uns zu unterwerfen haben, oder eine Rede, die in sadistischen Schilderungen politischer Ereignisse schwelgt, eine tiefe Anziehungskraft aus, und es gewährt ihm eine Befriedigung, wenn er etwas Derartiges liest oder anhört. Um noch einmal zusammenzufassen: Die subjektive Funktion des Charakters besteht bei einem normalen Menschen darin, dass er ihn veranlasst, so zu handeln, wie dies vom praktischen Standpunkt aus für ihn [I-383] notwendig ist, und dass er ihm darüber hinaus bei seiner Betätigung noch eine psychologische Befriedigung gewährt.

Betrachten wir den Gesellschafts-Charakter im Hinblick auf seine Funktion im Gesellschaftsprozess, so müssen wir von der Feststellung ausgehen, die wir hinsichtlich seiner Funktion für den einzelnen Menschen machten: dass nämlich der Mensch, indem er sich den gesellschaftlichen Bedingungen anpasst, eben jene Charakterzüge entwickelt, auf Grund derer er so handeln möchte, wie er handeln muss. Wenn der Charakter der meisten Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft - das heißt wenn der Gesellschafts-Charakter derart an die objektiven Aufgaben angepasst ist, die der Einzelne in dieser Gesellschaft zu erfüllen hat, dann werden die Energien dieser Menschen so geformt, dass sie zu Produktivkräften werden, die für das Funktionieren eben dieser Gesellschaft unentbehrlich sind. Nehmen wir noch einmal die Arbeit als Beispiel. Unser modernes Industriesystem macht es erforderlich, dass der größte Teil unserer Energie in die Arbeit hineingesteckt wird. Würden die Menschen nur unter dem Druck äußerer Notwendigkeiten arbeiten, dann käme es häufig zu Reibereien darüber, was sie tun sollten und was sie lieber tun möchten, und das würde ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Dagegen wird die menschliche Energie durch die dynamische Anpassung des Charakters an die gesellschaftlichen Erfordernisse in solche Formen gebracht, dass sie - anstatt Reibungen zu erzeugen - die Menschen dazu antreibt, sich den besonderen ökonomischen Notwendigkeiten entsprechend zu verhalten. Daher muss man den heutigen Menschen nicht mehr zwingen, möglichst hart zu arbeiten, sondern er wird durch einen inneren Zwang zur Arbeit getrieben, dessen psychologische Bedeutung wir zu analysieren versuchten. Oder anders gesagt: Er hat sich - anstatt äußeren Autoritäten zu gehorchen - eine innere Autorität in Gestalt von Gewissen und Pflicht aufgebaut, die ihn wirksamer unter Kontrolle hält, als das eine äußere Autorität jemals vermöchte. Kurz der Gesellschafts-Charakter internalisiert äußere Notwendigkeiten und spannt auf diese Weise die menschliche Energie für die Aufgaben eines bestimmten ökonomischen und gesellschaftlichen Systems ein.

Wie wir bereits feststellten, ist jedes Verhalten, das gewissen Bedürfnissen entspricht, die sich zu einer Charakterstruktur entwickelt haben, sowohl psychologisch als auch vom Standpunkt des materiellen Erfolges aus befriedigend. Solange eine Gesellschaft dem Einzelnen diese beiden Arten der Befriedigung gleichzeitig bieten kann, haben wir es mit einer Situation zu tun, in welcher die psychologischen Kräfte die gesellschaftliche Struktur zementieren. Früher oder später kommt es jedoch zu einer Verschiebung. Die traditionelle Charakterstruktur besteht weiter, während neue wirtschaftliche Bedingungen entstehen, die mit den traditionellen Charakterzügen nichts mehr anfangen können. Die Menschen neigen dazu, sich auch weiterhin ihrer Charakterstruktur entsprechend zu verhalten, aber nun wird ihre Handlungsweise entweder zu einem Handicap in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Ziele, oder es sind nicht genügend Möglichkeiten vorhanden, Stellungen zu finden, die es ihnen erlauben, sich ihrer „Natur“ gemäß zu betätigen. Ein Beispiel dafür ist die Charakterstruktur des alten Mittelstandes, besonders in Ländern mit einer so starren Klassenschichtung wie Deutschland. Die alten bürgerlichen Tugenden - Genügsamkeit, Sparsamkeit, Vorsicht, Argwohn - wurden im modernen Geschäftsleben immer weniger wert im [I-384] Vergleich zu neuen Tugenden wie Initiative, Risikobereitschaft, Aggressivität und so weiter. Selbst dort, wo diese alten Tugenden noch von Vorteil waren - wie etwa bei den kleinen Geschäftsleuten - gingen die Möglichkeiten in dieser Branche so zurück, dass nur noch wenige Söhne aus diesem alten Mittelstand diese Charakterzüge in ihrem Beruf erfolgreich „nutzen“ konnten. Durch die Art ihrer Erziehung hatten sie Charakterzüge entwickelt, die ehemals der gesellschaftlichen Situation ihres Standes angepasst waren, aber die wirtschaftliche Entwicklung schritt schneller voran als die Charakterentwicklung. Diese Verschiebung zwischen der ökonomischen und der psychologischen Entwicklung führte zu einer Situation, in der die seelischen Bedürfnisse nicht länger mit der üblichen wirtschaftlichen Betätigung befriedigt werden konnten. Diese Bedürfnisse existierten jedoch weiter und mussten auf einem anderen Weg nach ihrer Befriedigung suchen. Das engherzige egoistische Streben nach dem eigenen Vorteil, wie es für das Kleinbürgertum kennzeichnend war, verschob sich nun von der individuellen auf die nationale Ebene. Auch die sadistischen Impulse, die man im privaten Existenzkampf eingesetzt hatte, wurden jetzt einerseits auf die gesellschaftliche und politische Szene verlagert und andererseits durch Frustration intensiviert. Als dann alle Hemmungen fielen, suchte man in der Verfolgung politischer Gegner und im Krieg Befriedigung. So kam es, dass die psychologischen Kräfte im Verein mit den durch die Gesamtsituation bedingten Entbehrungen die bestehende Gesellschaftsordnung nicht länger festigten, sondern zum Dynamit wurden, dessen sich Gruppen bedienten, welche die herkömmliche politische und wirtschaftliche Struktur der demokratischen Gesellschaft zerstören wollten.

Wir haben noch nicht davon gesprochen, welche Rolle der Erziehungsprozess bei der Bildung des Gesellschafts-Charakters spielt. Mir scheinen jedoch einige Bemerkungen hierzu angebracht, weil viele Psychologen die Erziehung in der frühen Kindheit und die Erziehungsmethoden beim heranwachsenden Kind für die Ursache der Charakterentwicklung halten. Dabei sollten wir uns zunächst fragen, was wir unter Erziehung verstehen. Man kann sie auf verschiedene Weise definieren. Unter dem Gesichtspunkt des Gesellschaftsprozesses ist etwa folgendes darüber zu sagen: Die gesellschaftliche Funktion der Erziehung besteht darin, dass man den Einzelnen in die Lage versetzt, die Rolle auszufüllen, die er später in der Gesellschaft spielen soll, d.h. dass man seinen Charakter so formt, dass er dem Gesellschafts-Charakter möglichst nahekommt, dass seine persönlichen Wünsche mit den Erfordernissen seiner gesellschaftlichen Rolle übereinstimmen. Das Erziehungssystem einer jeden Gesellschaft wird durch diese Aufgabe bestimmt. Man kann daher die Struktur einer Gesellschaft oder die Persönlichkeit ihrer Mitglieder nicht mit dem Erziehungsprozess erklären. Wir müssen umgekehrt das Erziehungssystem mit den Erfordernissen erklären, die sich aus der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der jeweiligen Gesellschaft ergeben. Die Erziehungsmethoden sind jedoch deshalb von größter Bedeutung, weil sie die Mechanismen darstellen, mit deren Hilfe der Einzelne in die gewünschte Form gebracht wird. Man kann sie als die Mittel ansehen, mit deren Hilfe die gesellschaftlichen Erfordernisse in persönliche Eigenschaften umgewandelt werden. Die Erziehungsmethoden sind zwar nicht die Ursache für einen speziellen Gesellschafts-Charakter, aber sie begründen einen der Mechanismen, mit deren Hilfe der Charakter [I-385] geformt wird. In diesem Sinn ist die Kenntnis der Erziehungsmethoden und das Verständnis dafür ein wichtiger Bestandteil der Gesamtanalyse der Funktionsweise einer Gesellschaft.

Das eben Gesagte gilt auch für einen speziellen Sektor des gesamten Erziehungsprozesses, für die Familie. Freud hat nachgewiesen, dass die frühen Kindheitserfahrungen auf die Bildung der Charakterstruktur einen entscheidenden Einfluss haben. Wenn das zutrifft, muss man sich fragen, wie es möglich ist, dass das Kind, das doch - wenigstens in unserer Kultur - kaum mit dem Leben in der Gesellschaft in Berührung kommt, von dieser geformt werden soll. Die Antwort lautet nicht nur, dass die Eltern - von gewissen individuellen Ausnahmen abgesehen - die Erziehungsmethoden der Gesellschaft anwenden, in der sie selbst leben, sondern dass auch deren eigene Persönlichkeit den Charakter ihrer Gesellschaft oder ihres Standes repräsentiert. Sie übermitteln dem Kind das, was man als die psychologische Atmosphäre oder den Geist einer Gesellschaft bezeichnen könnte, indem sie das sind, was sie sind, nämlich die Vertreter dieses Geistes. So kann man die Familie als die psychologische Agentur der Gesellschaft ansehen.

Nachdem wir nun festgestellt haben, dass der Gesellschafts-Charakter durch die Lebensweise der jeweiligen Gesellschaft geformt wird, möchte ich den Leser noch einmal an das erinnern, was ich im ersten Kapitel über das Problem der dynamischen Anpassung gesagt habe, dass nämlich der Mensch zwar von den Erfordernissen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen seiner Umwelt geformt wird, dass er aber nicht unbegrenzt anpassbar ist. Es gibt nicht nur bestimmte physiologische Bedürfnisse, die gebieterisch nach Befriedigung verlangen, sondern es gibt auch psychologische Eigenschaften, die dem Menschen mitgegeben sind und befriedigt werden müssen und die, wenn dies nicht geschieht, bestimmte Reaktionen hervorrufen. Um welche Eigenschaften handelt es sich dabei? Die wichtigste scheint mir die Tendenz zu sein zu wachsen, sich zu entwickeln und die Möglichkeiten zu realisieren, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte entwickelt hat - wie zum Beispiel die Fähigkeit zum schöpferischen und kritischen Denken und zum Erleben differenzierter emotionaler und sinnlicher Erfahrungen. Alle diese Möglichkeiten haben ihre eigene Dynamik. Nachdem sie sich einmal im Evolutionsprozess entwickelt haben, streben sie danach, sich irgendwie auszudrücken. Diese Tendenz kann unterdrückt und frustriert werden, aber eine derartige Unterdrückung führt zu neuen Reaktionen, besonders zur Ausbildung destruktiver und symbiotischer Impulse. Es scheint auch so zu sein, dass diese allgemeine Tendenz zu wachsen - die das psychologische Äquivalent zu der entsprechenden biologischen Tendenz ist - zu spezifischen Tendenzen führt, wie etwa der Sehnsucht nach Freiheit und dem Hass gegen Unterdrückung, da die Freiheit die Grundbedingung für jedes Wachstum ist. Diese Sehnsucht nach Freiheit kann zwar verdrängt werden und aus dem Bewusstsein des Betreffenden verschwinden, doch hört sie auch dann nicht auf, als latente innere Kraft zu existieren, worauf der bewusste oder unbewusste Hass hinweist, welcher stets mit der Unterdrückung Hand in Hand geht.

Es besteht auch Grund zur Annahme, dass das Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit - wie bereits erwähnt - ein der menschlichen Natur inhärenter Zug ist, wenn er [I-386] auch genau wie das Streben nach Freiheit verdrängt und pervertiert werden kann. Mit dieser Annahme befinden wir uns theoretisch auf gefährlichem Boden. Wir hätten leichtes Spiel, wenn wir auf religiöse und philosophische Auffassungen zurückgreifen könnten, die das Vorhandensein derartiger Tendenzen mit dem Glauben, dass der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wurde oder unter Berufung auf das Naturgesetz erklären. Ich sehe jedoch keine Möglichkeit, unsere Argumentation mit derartigen Erklärungen zu unterbauen. Man kann meiner Ansicht nach das Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit nur mit einer Analyse der gesamten Geschichte der Menschheit erklären, und zwar sowohl was den einzelnen Menschen als auch was die Gesellschaft betrifft. Auf diese Weise kommen wir zur Erkenntnis, dass für alle Machtlosen Gerechtigkeit und Wahrheit die wichtigsten Waffen im Kampf um ihre Freiheit und ihr Wachstum sind. Nicht nur mussten die meisten Menschen sich im gesamten Verlauf der Geschichte gegen mächtigere Gruppen verteidigen, die sie unterdrücken und ausbeuten konnten, jeder Einzelne macht in seiner Kindheit eine Periode durch, die durch Machtlosigkeit gekennzeichnet ist. Meiner Auffassung nach entwickeln sich in diesem Zustand der Ohnmacht Wesenszüge wie das Gespür für Gerechtigkeit und Wahrheit, die zu Potenzialitäten des Menschen werden. Hieraus ist zu schließen, dass die Charakterentwicklung zwar von den Grundbedingungen des Lebens geprägt wird und dass die menschliche Natur nicht biologisch von vornherein festgelegt ist, dass sie aber trotzdem ihre eigene Dynamik besitzt, welche in der Entwicklung des Gesellschaftsprozesses einen aktiven Faktor darstellt. Auch wenn wir noch nicht in der Lage sind, mit Hilfe von psychologischen Begriffen klar darzulegen, worin das Wesen der menschlichen Dynamik genau besteht, müssen wir ihre Existenz anerkennen. Wenn wir die Irrtümer der biologischen und der metaphysischen Auffassung vermeiden wollen, dürfen wir nicht in einen ebenso schweren Irrtum verfallen, nämlich in einen soziologischen Relativismus, in dem der Mensch nichts ist als eine Marionette, die an den Fäden der gesellschaftlichen Umstände gelenkt wird. Das unveräußerliche Recht des Menschen auf Freiheit und Glück ist in Eigenschaften begründet, die dem Menschen angeboren sind: in seinem Streben zu leben, sich zu entfalten und die in ihm angelegten Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen, welche sich im Prozess der historischen Evolution in ihm entwickelt haben.

Ich möchte an diesem Punkt noch einmal auf die wichtigsten Unterschiede zwischen der in diesem Buch angewandten psychologischen Methode und der von Freud hinweisen. Auf den ersten Unterschied sind wir bereits im ersten Kapitel so ausführlich eingegangen, dass wir hier nur noch einmal ganz kurz darauf zu verweisen brauchen.

Es handelt sich darum, dass ich die menschliche Natur als im Wesentlichen geschichtlich bedingt ansehe, wenn ich auch die Bedeutung von biologischen Faktoren keineswegs unterschätzen möchte und nicht der Meinung bin, dass die Frage so zu stellen ist, dass man die kulturellen Faktoren gegen die biologischen ausspielt. Zweitens betrachtet Freud den Menschen grundsätzlich als ein geschlossenes System, das von der Natur mit bestimmten physiologisch bedingten Trieben ausgestattet wurde, und er interpretiert die Entwicklung des Charakters als Reaktion auf die Befriedigung oder Frustrierung dieser Triebe. Demgegenüber vertrete ich den Standpunkt, dass die menschliche Persönlichkeit grundsätzlich nur in ihrer Beziehung zur Welt, zu den [I-387] anderen Menschen, zur Natur und zu sich selbst zu verstehen ist. Ich halte den Menschen primär für ein gesellschaftliches Wesen und glaube nicht, wie Freud es tut, dass er primär selbstgenügsam ist und nur sekundär die anderen braucht, um seine triebhaften Bedürfnisse zu befriedigen. In diesem Sinne glaube ich, dass die Individualpsychologie im Grunde Sozialpsychologie ist, oder - um mit Sullivan zu reden - Psychologie zwischenmenschlicher Beziehung. Das Schlüsselproblem der Psychologie ist das Problem der besonderen Art der Bezogenheit des Einzelnen auf die Welt, und nicht die Befriedigung oder Frustrierung einzelner triebhafter Begierden. Das Problem der Befriedigung der triebhaften Begierden des Menschen ist als Teil des Gesamtproblems seiner Beziehung zur Welt zu verstehen, und nicht als das Problem der menschlichen Persönlichkeit. Deshalb sind meiner Meinung nach die Bedürfnisse und Wünsche, bei denen es um die Beziehung des Einzelnen zu anderen Menschen geht, wie zum Beispiel Liebe, Hass, Zärtlichkeit und Symbiose, die fundamentalen psychologischen Phänomene, während Freud in ihnen nur die sekundären Resultate aus Frustrationen oder Befriedigungen triebhafter Bedürfnisse sieht.

Der Unterschied zwischen Freuds biologischer und meiner gesellschaftlichen Orientierung ist von besonderer Bedeutung für die Probleme der Charakterologie. Freud - und auf Grund seiner Erkenntnisse auch Abraham, Jones und andere - nahmen an, dass das Kleinkind im Zusammenhang mit seiner Fütterung und Stuhlentleerung in den sogenannten erogenen Zonen von Mund und Anus Lustempfindungen hat, und dass diese erogenen Zonen infolge einer übermäßigen Stimulierung oder durch Frustration oder auch durch eine konventionell bedingte erhöhte Empfindlichkeit ihren libidinösen Charakter auch in späteren Jahren behalten, wenn bei einer normalen Entwicklung die genitale Zone primäre Bedeutung gewonnen haben sollte. Man nimmt an, dass die Fixierung auf der prägenitalen Ebene zu Sublimierungen und Reaktionsbildungen führt, die zu einem Teil der Charakterstruktur werden. So kann zum Beispiel jemand den Trieb haben, Geld oder andere Dinge anzuhäufen, weil er damit den unbewussten Wunsch sublimiert, seinen Stuhl zurückzuhalten. Oder jemand kann von anderen und nicht auf Grund eigener Bemühungen alles erwarten, weil er von dem unbewussten Wunsch getrieben wird, von anderen gefüttert zu werden, der in den Wunsch sublimiert wird, von anderen Hilfe, Wissen und so weiter zu erlangen.

Freuds Beobachtungen sind von großer Bedeutung, nur hat er sie falsch interpretiert. Was er richtig gesehen hat, war die leidenschaftliche und irrationale Eigenart dieser „oralen“ und „analen“ Charakterzüge. Er hat erkannt, dass solche Wünsche alle Bereiche der Persönlichkeit durchdringen, das sexuelle, emotionale und intellektuelle Leben eines Menschen, und dass sie auf alle seine Bestätigungen abfärben. Aber er hat die Kausalbeziehung zwischen den erogenen Zonen und den Charakterzügen genau umgekehrt verstanden, als sie in Wirklichkeit ist. Der Wunsch, alles was man haben möchte, nämlich Liebe, Schutz, Wissen und materielle Dinge, ohne eigenes Zutun von außen zu bekommen, entwickelt sich im Charakter des Kindes als Reaktion auf seine Erfahrungen mit anderen. Wenn derartige Erfahrungen auf Grund von Angst das Gefühl seiner eigenen Kraft beeinträchtigen, wenn seine Initiative und sein Selbstvertrauen gelähmt werden und wenn seine aufkommenden feindseligen [I-388] Empfindungen verdrängt werden und gleichzeitig der Vater oder die Mutter ihm Liebe oder Fürsorge bieten, sofern er sich ihnen unterordnet, dann führt diese Konstellation dazu, dass das Kind sich nicht mehr aktiv selbst bemüht, sondern seine gesamte Energie einer äußeren Instanz zuwendet, die ihm die Erfüllung aller seiner Wünsche zu versprechen scheint. Diese Haltung nimmt deshalb einen so leidenschaftlichen Charakter an, weil sie für einen solchen Menschen die einzige Möglichkeit darstellt, seine Wünsche erfüllt zu sehen. Dass solche Menschen oft Träume und Phantasien haben, gestillt oder gefüttert zu werden oder dergleichen, kommt daher, dass der Mund sich mehr als jedes andere Organ dazu eignet, diese rezeptive Haltung zum Ausdruck zu bringen. Aber die orale Empfindung ist nicht die Ursache dieser Einstellung, es handelt sich bei ihr vielmehr um eine in der Sprache des Körpers zum Ausdruck gebrachte Einstellung zur Welt.

Das gleiche gilt für den „analen“ Menschen, der sich auf Grund besonderer Erfahrungen mehr von anderen zurückzieht als der „orale“ Mensch, und der Sicherheit dadurch zu gewinnen sucht, dass er sich zu einem autarken, selbstgenügsamen System macht. Ein solcher Mensch empfindet die Liebe oder jede andere Art des Aus-sich-Herausgehens als Bedrohung seiner Sicherheit. Es trifft zwar zu, dass derartige Haltungen sich häufig zunächst im Zusammenhang mit dem Füttern oder der Stuhlentleerung entwickeln, was ja in der frühen Kindheit die Hauptbetätigung ist und außerdem den Hauptbereich darstellt, in dem sich die Liebe oder die Unterdrückung von Seiten der Eltern oder die Liebenswürdigkeit oder der Trotz von Seiten des Kindes geltend machen. Aber die übermäßige Stimulation oder Frustration im Zusammenhang mit den erogenen Zonen führt an und für sich noch nicht zur Fixierung derartiger Einstellungen im Charakter eines Menschen. Wenn das Kind im Zusammenhang mit dem Füttern und der Stuhlentleerung auch gewisse lustvolle Empfindungen hat, sind diese doch für die Charakterentwicklung nur dann von Bedeutung, wenn sie auf körperlicher Ebene Haltungen repräsentieren, die in der Gesamtstruktur des Charakters verwurzelt sind.

Für ein Kind, das Vertrauen zur bedingungslosen Liebe seiner Mutter hat, wird es keine ernsten charakterlichen Folgen haben, wenn es plötzlich von ihr nicht mehr gestillt wird. Dagegen kann ein Kind, das merkt, dass es sich auf die Liebe seiner Mutter nicht unbedingt verlassen kann, selbst dann „orale“ Wesenszüge entwickeln, wenn das Stillen ohne besondere Störungen erfolgt. Die „oralen“ oder „analen“ Phantasien oder körperlichen Empfindungen in späteren Jahren sind nicht deshalb von Interesse, weil lustvolle körperliche Empfindungen damit Hand in Hand gehen oder weil sie eine geheimnisvolle Sublimierung dieser Lustgefühle darstellen, sondern lediglich deshalb, weil darin eine besondere Art der Beziehung zur Welt zum Ausdruck kommt.

Nur unter diesem Gesichtspunkt können Freuds charakterologische Erkenntnisse für die Sozialpsychologie fruchtbar werden. Solange wir beispielsweise annehmen, dass der anale Charakter, wie er für das europäische Kleinbürgertum kennzeichnend ist, von frühen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Stuhlentleerung verursacht wird, haben wir kaum irgendwelche Anhaltspunkte dafür, weshalb eine bestimmte Bevölkerungsklasse gerade einen analen Gesellschafts-Charakter besitzt. Verstehen wir [I-389] ihn dagegen als eine Form der Bezogenheit auf andere, die in der Charakterstruktur wurzelt und aus Erfahrungen mit der Außenwelt resultiert, dann haben wir einen Schlüssel zum Verständnis in der Hand, weshalb die gesamte Lebensweise des Kleinbürgertums, seine Engherzigkeit, seine Isoliertheit und seine feindselige Einstellung zu dieser Art der Charakterstruktur geführt hat.[41]

Der dritte wichtige Unterscheidungspunkt hängt eng mit den vorigen zusammen. Freud neigt auf Grund seiner instinktivistischen Orientierung und auch auf Grund seiner Überzeugung von der Verderbtheit der menschlichen Natur dazu, alle „idealen“ Motive im Menschen als Resultat von etwas „Niederem“ zu interpretieren. Ein Beispiel hierfür ist seine Zurückführung des Gerechtigkeitsgefühls auf den ursprünglichen Neid des Kindes auf jeden, der mehr hat als es selbst. Wie bereits dargelegt, stehe ich auf dem Standpunkt, dass Ideale wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit zwar oft nur Phrasen oder Rationalisierungen sind, dass es sich bei ihnen aber auch um echte Strebungen handeln kann und dass jede Analyse, die diese Strebungen als dynamische Faktoren nicht in Rechnung zieht, sich auf einem Irrweg befindet. Diese Ideale sind nicht metaphysischer Art, sondern sie wurzeln in den Bedingungen des menschlichen Lebens und können auch in dieser Eigenschaft analysiert werden. Die Angst, in metaphysische oder idealistische Vorstellungen zurückzufallen, sollte einer solchen Analyse nicht im Wege stehen. Es ist die Aufgabe der Psychologie als einer empirischen Wissenschaft, die Motivation durch Ideale ebenso zu untersuchen wie die damit zusammenhängenden moralischen Probleme, um auf diese Weise unser Denken von unempirischen und metaphysischen Elementen freizumachen, welche die Probleme nur vernebeln, wenn man sie in der herkömmlichen Weise angeht.

Schließlich unterscheiden wir uns noch in einem anderen Punkt, nämlich in Bezug auf die psychologischen Phänomene des Mangels und des Überflusses. Der primitive Mensch führt ein durch Mangel gekennzeichnetes Dasein. Es gibt gebieterische Bedürfnisse, die vor allen anderen befriedigt werden müssen. Erst wenn dem Menschen nach der Befriedigung dieser primären Bedürfnisse noch Zeit und Kraft übrigbleibt, können sich Kultur und mit ihr jene Strebungen entwickeln, die mit dem Phänomen des Überflusses zusammenhängen. Freie (oder spontane) Akte sind stets Phänomene des Überflusses. Freuds Psychologie ist eine Psychologie des Mangels. Er definiert die Lust als die aus der Beseitigung einer schmerzhaften Spannung resultierende Befriedigung. Phänomene des Überflusses, wie zum Beispiel Liebe und Zärtlichkeit, spielen in seinem System praktisch keine Rolle. Er hat solche Phänomene nicht nur unberücksichtigt gelassen, er hatte sogar für das Phänomen, dem er soviel Aufmerksamkeit schenkte, nämlich für die Sexualität, nur ein beschränktes Verständnis. Entsprechend seiner gesamten Auffassung von Lust sah Freud in der Sexualität nur den physiologischen Zwang und in der sexuellen Befriedigung nur die Befreiung von einer [I-390] schmerzhaften Spannung. Der Sexualtrieb als ein Phänomen des Überflusses und die sexuelle Lust als spontane Freude, die ihrem Wesen nach keine negative Befreiung von einer Spannung ist, hatte in seiner Psychologie keinen Raum.

Welches Interpretationsprinzip haben nun wir in diesem Buch angewandt, um die menschliche Grundlage der Kultur zu verstehen? Bevor wir diese Frage beantworten, scheint es angebracht, noch einmal daran zu erinnern, worin sich andere Interpretationsweisen von der meinen unterscheiden.

1. Die „psychologistische“ Auffassung, welche für Freuds Denken charakteristisch ist, gründet sich auf der Annahme, dass kulturelle Phänomene in psychologischen Faktoren verwurzelt sind, die aus instinkthaften Trieben resultieren, welche ihrerseits von der Gesellschaft nur durch gewisse Unterdrückungsmaßnahmen beeinflusst werden. Entsprechend dieser Interpretation haben Freud-Anhänger den Kapitalismus als Folge der Analerotik und die Entwicklung des frühen Christentums als Folge einer ambivalenten Einstellung zum Vaterbild erklärt. (Ich habe diese Methode ausführlich erörtert in Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion, 1930a, GA VI, S. 11-68.)

2. Die „ökonomistische“ Auffassung, wie sie in der falschen Anwendung der Marxschen Geschichtsinterpretation zum Ausdruck kommt, führt kulturelle Phänomene wie Religion und politische Ideen auf subjektive ökonomische Interessen zurück. Von einem solchen pseudo-marxistischen Standpunkt aus[42] könnte man versucht sein, den Protestantismus ausschließlich als Antwort auf bestimmte wirtschaftliche Bedürfnisse des Bürgertums zu erklären.

3. Schließlich haben wir auch noch die „idealistische“ Einstellung, für die Max Webers Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1920) repräsentativ ist. Er vertritt den Standpunkt, dass die neuen religiösen Ideen für die Entwicklung eines neuen Typs des ökonomischen Verhaltens und für einen neuen Geist der Kultur verantwortlich sind, wenn er auch betont, dass dieses Verhalten niemals ausschließlich von religiösen Doktrinen bestimmt wird.

Im Gegensatz zu diesen Interpretationen vertrete ich die Auffassung, dass Ideologien und Kultur ganz allgemein im Gesellschafts-Charakter wurzeln, dass der Gesellschafts-Charakter selbst von der Lebensweise der jeweiligen Gesellschaft geprägt wird und dass die dominierenden Charakterzüge ihrerseits zu Produktivkräften werden, welche den Gesellschaftsprozess formen. In Bezug auf das Problem des Geistes des Protestantismus und des Kapitalismus habe ich zu zeigen versucht, dass der Zusammenbruch der mittelalterlichen Gesellschaft für die Mittelklasse eine Bedrohung ihrer Existenz darstellte, dass dies zu einem Gefühl der Machtlosigkeit und Isolierung und zu einer skeptischen Einstellung führte, dass Luthers und Calvins Lehren eben durch diese veränderte psychologische Einstellung so viele Anhänger [I-391] fanden, dass diese Lehren die charakterologischen Veränderungen intensivierten und stabilisierten und dass die sich so entwickelnden Charakterzüge dann zu Produktivkräften bei der Entwicklung des Kapitalismus wurden, der seinerseits auf inzwischen eingetretene wirtschaftliche und politische Veränderungen zurückzuführen war.

Den Faschismus habe ich auf eine im Prinzip ähnliche Weise zu erklären versucht: Das Kleinbürgertum reagierte auf bestimmte ökonomische Veränderungen wie die wachsende Macht der Monopolbetriebe, und auf die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, mit einer Intensivierung bestimmter Charakterzüge, nämlich seiner sadistischen und masochistischen Strebungen. Die Nazi-Ideologie entsprach diesen Wesenszügen und intensivierte sie noch, und die neuen Charakterzüge bewirkten dann ihrerseits eine weitere Ausdehnung des deutschen Imperialismus. In beiden Fällen sehen wir, dass immer dann, wenn eine bestimmte Klasse sich durch neue ökonomische Tendenzen bedroht fühlt, sie psychologisch und ideologisch auf diese Bedrohung reagiert, und dass die durch diese Reaktion bewirkten psychologischen Veränderungen die Entwicklung der neuen ökonomischen Kräfte fördern, und zwar selbst dann, wenn diese Kräfte den wirtschaftlichen Interessen dieser Klasse widersprechen. Wir erkennen, dass ökonomische, psychologische und ideologische Kräfte sich so auswirken, dass die Menschen auf Veränderungen in der äußeren Situation reagieren, indem sie sich selbst innerlich verändern, und dass diese psychologischen Faktoren ihrerseits dazu beitragen, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozess zu prägen. Ökonomische Kräfte üben eine starke Wirkung aus, aber man darf sie nicht als psychologische Motivationen, sondern muss sie als objektive Bedingungen verstehen. Psychologische Kräfte üben ihrerseits eine starke Wirkung aus, aber man muss sie selbst als historisch bedingt verstehen. Auch Ideen üben eine starke Wirkung aus, aber man muss erkennen, dass sie in der Gesamtstruktur des Charakters der Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe wurzeln. Aber trotz dieser wechselseitigen Abhängigkeit der wirtschaftlichen, psychologischen und ideologischen Kräfte besitzen sie auch sämtlich eine gewisse Unabhängigkeit. Dies gilt besonders für die ökonomische Entwicklung, welche zwar von objektiven Faktoren wie den naturgegebenen Produktivkräften, der Technik und geographischen Faktoren abhängt, aber doch nach ihren eigenen Gesetzen abläuft. Was die psychologischen Kräfte betrifft, so haben wir nachgewiesen, dass für sie das Gleiche gilt. Sie werden zwar von den äußeren Lebensbedingungen geprägt, haben aber ihre eigene Dynamik, das heißt, sie sind Ausdruck der menschlichen Bedürfnisse, die zwar formbar, aber nicht ausrottbar sind. Auch im ideologischen Bereich treffen wir auf eine ähnliche Autonomie, die auf logischen Gesetzen und auf dem überlieferten Wissensschatz beruht, der im Laufe der Geschichte erworben wurde.[43]

Das gleiche Prinzip können wir auch in Bezug auf den Gesellschafts-Charakter feststellen: Dieser resultiert aus der dynamischen Anpassung der menschlichen Natur an die Gesellschaftsstruktur. Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen sich ändern, so führt das zu Veränderungen im Gesellschafts-Charakter, das heißt zu neuen Bedürfnissen und Ängsten. Diese neuen Bedürfnisse lassen neue Ideen aufkommen und machen die Menschen empfänglich dafür. Diese neuen Ideen zeigen ihrerseits die Tendenz, den neuen Gesellschafts-Charakter zu stabilisieren und zu intensivieren und die [I-392] Menschen in ihrem Handeln zu bestimmen. Anders gesagt, beeinflussen die gesellschaftlichen Bedingungen die ideologischen Phänomene durch das Medium des Charakters. Andererseits ist der Charakter nicht das Ergebnis einer passiven Anpassung an gesellschaftliche Bedingungen, sondern eine dynamische Anpassung an grundlegende Elemente, welche entweder der menschlichen Natur biologisch mitgegeben sind oder ihr als Ergebnis der historischen Entwicklung inhärent wurden.

[1] [Anmerkung des Herausgebers: Erstveröffentlichung unter dem Titel Escape from Freedom 1941 bei Holt, Rinehart and Winston, New York; die englische Erstveröffentlichung 1942 im Vereinigten Königreich trug den Titel The Fear of Freedom. Eine erste deutsche Übersetzung von Rudolf Frank unter dem Titel Die Furcht vor der Freiheit erschien 1945 beim Steinberg Verlag, Zürich. 1966 wurde das Buch neu aufgelegt bei der Europäischen Verlagsanstalt, Frankfurt/Köln. Im Zusammenhang mit der Edition der Erich Fromm Gesamtausgabe wurde von Liselotte und Ernst Mickel eine neue Übersetzung angefertigt. Diese Übersetzung liegt auch der Einzelausgabe von Die Furcht vor der Freiheit zugrunde, die ab 1980 bei der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart, herauskam. - Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band I, S. 215-392. - Die Zahlen in eckigen Klammern (zum Beispiel: [I-250]) geben den Band und den Seitenwechsel auf die betreffende Seite in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder. Auf diese Weise lassen sich auch aus dem E-Book Zitate nach der Printversion nachweisen.

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[2] [Anmerkung des Herausgebers: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from Freedom) ist das erste Buch, mit der Fromm an die Öffentlichkeit trat. Es ist zugleich die erste größere Publikation in den USA und in englischer Sprache. Unter allen Veröffentlichungen nimmt sie - neben Die Kunst des Liebens (1956a, GA IX, S. 437-518) und Haben oder Sein (1976a, GA II, S. S. 269-414) - noch immer eine Vorrangstellung ein, und das mit Recht. Einerseits ist Die Furcht vor der Freiheit eine Zusammenfassung all jener Gedanken und Entwicklungen, die sich während seiner Mitarbeit im Institut für Sozialforschung herausbildeten, andererseits ist es aber auch ein Kompendium der wichtigsten Gedanken Fromms überhaupt. Fast alle Themen, die er in späteren Monographien entfaltete, sind hier bereits angesprochen: Mit dem „autoritären Charakter“ wird der Grundstein zu Fromms Charaktertheorie in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 1-157) gelegt; die Ausführungen zur Flucht ins Automatenhafte und Konformistische (1941a, GA I, S. 325-337) werden in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 47-56) und später in Haben oder Sein (1976a, GA II, S. 364-378) zum „Marketing-Charakter“ weiterentwickelt. Selbst die Dynamik des nekrophilen Charakters, wie sie in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 179-186) und in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 295-334) expliziert werden, findet sich bereits hier (1941a, GA I, S. 322-325). Die Analyse des Nazismus (1941a, GA I, S. 338-356) mit ausführlichen Belegen aus Hitlers Mein Kampf (1933) hatte eine große Wirkung auf die amerikanische Öffentlichkeit - Die Furcht vor der Freiheit wurde 1941 veröffentlicht. Darüber hinaus ist die Analyse der Persönlichkeit Hitlers als eines autoritären Charakters im Vergleich mit der Analyse des Charakters von Hitler in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 335-393) und einem Interview über die Persönlichkeit Hitlers aus dem Jahr 1974 (Hitler - wer war er und was heißt Widerstand gegen diesen Menschen?, 1974c, GA XI, S. 365-378) von besonderem Interesse.

Die für die Frommsche Anthropologie so zentralen Begrifflichkeiten des Bedürfnisses und der Charakter-Orientierung sind in Die Furcht vor der Freiheit (1941a) systematisch noch nicht erfasst. Eine Systematik der Bedürfnislehre wird erst in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 24-50) geboten. Dennoch wird der Gedanke von Bedürfnissen als direkte Folgen der „Natur des Menschen“ vorausgesetzt und wird mit solchen Bedürfnissen argumentiert. Der Weg zu den in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II) ausgeführten Charakter-Orientierungen ist bereits deutlich erkennbar: Die drei Fluchtmechanismen werden in Psychoanalyse und Ethik bei den Charakter-Orientierungen wieder aufgegriffen: Der Flucht ins Autoritäre entspricht der masochistische bzw. rezeptive Charakter einerseits und der sadistische bzw. ausbeuterische Charakter andererseits; die Flucht ins automatenhaft Konformistische findet sich wieder im Marketing-Charakter. Die Flucht ins Destruktive wird erst in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 179-185) und in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 254 ff. und S. 295 ff.) weiter differenziert und zum einen als sadistische Grausamkeit, zum anderen als nekrophile Destruktivität beschrieben.

Es gibt keine Schrift Fromms, die so intensiv rezipiert und kritisiert wurde wie Die Furcht vor der Freiheit. Nicht nur, dass von sehr namhaften Wissenschaftlern Rezensionen geschrieben wurden (in der Zeitschrift Psychiatry findet sich neben anderen auch eine von Ruth Benedict (1942), M. F. Ashley Montagu (1942) und Patrick Mullahy (1942); ansonsten rezensierten z.B. Otto Fenichel (1944), Ernest Schachtel (1941), Karl Menninger (1942); die Ausführungen zur Reformationszeit provozierten vor allem calvinistische Theologen zu scharf geführten Auseinandersetzungen, aber auch andere Autoren setzten sich in Monographien mit diesem Buch auseinander: A. M. Caligiuri (1966); J. S. Glen (1966); L. C. Lee (1963); K. L. Shell (1967); G. Meyer (2002), sowie das „Gegenbuch“ von John Homer Schaar, Escape from Authority (1961).

In einem zweiten Vorwort, das Erich Fromm 1965 zur Edition von Die Furcht vor der Freiheit als Avon Book schrieb, stellt er sich selbst nach 25 Jahren die Frage, ob die gesellschaftlichen und psychologischen Tendenzen, auf die sich die Analyse dieses Buches gründete, noch immer fortbestehen oder ob sie zurückgegangen sind“ (E. Fromm, 1965h, S. XI). Auf Grund der inzwischen eingetretenen atomaren Revolution und der kybernetischen Revolution kommt er zu dem Schluss: „Die gigantischen Kräfte in der Gesellschaft und die Gefahren, die dem Fortbestand der Menschheit drohen, sind in diesen 25 Jahren größer geworden, wodurch sich auch die Neigung der Menschen, vor ihrer Freiheit zu fliehen, verstärkt hat“ (E. Fromm, 1965h, S. XIII). Auf die (selbstgestellte) Frage, „ob ich meine theoretischen Schlussfolgerungen nach 25 Jahren nicht weitgehend revidieren müsste“, antwortet er, dass er „die wesentlichen Elemente“ seiner Analyse „noch immer für gültig“ halte (E. Fromm, 1965h, S. XV).]

Die Geschichte der Rezeption von Fromms Die Furcht vor der Freiheit zeigt eine Auffälligkeit: Wo immer auf der Erde die Frage der Individualisierung virulent oder neu aktuell wird und das Selbsterleben vieler Menschen sich anschickt, sich von Vorgaben des Kollektivs (der Tradition, Religion, Ethnie, Partei) und eines von einer Gemeinschaft definierten Lebens in Abhängigkeit freizumachen, um sich auf das Wagnis der Freiheit und einer gesellschaftlichen Individualität einzulassen, kommt es zur Publikation und einem Verkaufsboom von Fromms Die Furcht vor der Freiheit.

Wie kaum ein anderer Autor hat Erich Fromm in Die Furcht vor der Freiheit gezeigt, welche tief reichende Angst, alle Sicherheiten des Gebundensein zur verlieren und sich isoliert, abgetrennt und „bodenlos“ zu erleben, der Schritt von der Vormoderne in die Moderne mobilisieren kann und warum sich Menschen deshalb sekundär in neue Abhängigkeiten (von einer Autorität, dem konformistischen Man oder - heute - von den technischen Wunderwerken und medialen Wirklichkeiten) begeben. Dies ist denn auch die Grundthese von Die Furcht vor der Freiheit: den Blick auf die psychische Situation des modernen Menschen zu lenken und die Moderne (und Postmoderne) nicht nur als eine historische Epoche der Freiheit zu verstehen, sondern auch als eine von Fluchtbewegungen und Entfremdungserscheinungen gezeichnete Zeit.

Die mögliche und tatsächliche Flucht vor der Freiheit (Escape from Freedom) schärft zugleich den Blick auf die psychologischen Voraussetzungen für Autonomie und Freiheit. Es geht um die Entwicklung eines Selbst als innerer psychischer Strukturbildung, das auf ein soziales Miteinander zwar angewiesen ist, das aber eine weitgehende Unabhängigkeit des „Getragenseins“ durch eine Gemeinschaft schafft und so psychisch und psychologisch Freiheit erst ermöglicht. Dies ist Fromms „Credo“ als Psychoanalytiker und Sozialpsychologe, das er unter der Überschrift „Freiheit und Spontaneität“ (1941a, GA I, S. 367-378) gegen Ende des Buches skizziert. Die Fähigkeit, frei von... und frei für... zu sein, hat mit der Ausbildung eines Selbst und also mit Selbstverwirklichung zu tun: „Freiheit kann der Mensch dadurch erlangen, dass er sein Selbst verwirklicht, dass er er selbst ist.“ (1941a, GA I, S. 367.)

Die Furcht vor der Freiheit enthält noch in einer anderen Hinsicht einen für das Denken Fromms ganz zentralen Text: Dem Buch ist ein „Charakter und Gesellschaftsprozess“ betitelter Anhang angefügt (1941a, GA I, S. 379-392). Dieser Text signalisiert das Ende eines langen Theoriebildungsprozesses und beschreibt die sozial-psychoanalytische Methode, die Erich Fromm in den Dreißiger Jahren entwickelte. Seit seiner Dissertation im Jahr 1922 bewegte Fromm die Frage, was viele Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Eine erste psychologische Antwort formulierte er im Kontext des interdisziplinären Diskurses am Institut für Sozialforschung in Frankfurt: Die Gesellschaft müsse in jedem Einzelnen in einer eigenen libidinöse Struktur repräsentiert sein, so dass es zu einer sozialtypischen Charakterbildung in den vielen Einzelnen komme. Die zunächst im Rahmen der Freudschen Libidotheorie entwickelte sozialpsychologische Theorie und Methode (vgl. Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie: Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus (1932a, GA I, S. 37-57) wurde im Winter 1936/37 von Fromm noch einmal in einem umfangreichen Aufsatz überarbeitet. Dieser Aufsatz wurde damals wegen des Widerstands von Institutskollegen zwar nicht veröffentlicht (sondern erst posthum im Jahr 1992 unter dem Titel Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft. Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie (1992e), GA XI, S. 129-175"), der Anhang in Die Furcht vor der Freiheit gibt aber die entscheidenden Eckpunkte dieser Theoriebildung wieder und stellt ein unverzichtbares Dokument des wissenschaftlichen Denkens von Erich Fromm dar. Spätere Publikationen wie der Beitrag Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur (1949c), GA I, S. 207-214 und das Kapitel „Individueller Charakter und Gesellschafts-Charakter“ in Jenseits der Illusionen (1962a), GA IX, S. 85-95 bauen darauf auf.]

[3] [Anmerkung des Herausgebers: Im englischen Original folgt gemäß dem amerikanischen Copyright eine Liste der Schriften (mit Verlagen), aus denen längere Passagen zitiert wurden.]

[4] Eine psychoanalytische Methode, die sich zwar auf die grundsätzlichen Errungenschaften der Freudschen Theorie gründet, sich jedoch in vielen wichtigen Aspekten von Freud unterscheidet, findet sich bei Karen Horney (1939) und bei Harry Stack Sullivan (1940). Obwohl diese beiden Autoren in vielen Punkten anders denken als ich, hat doch der hier vertretene Standpunkt mit ihren Auffassungen viel gemein.

[5] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. hierzu E. Fromm, Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie (1935a), GA I, S. 115-138.]

[6] Vgl. die Beiträge der Soziologen J. Dollard et al. (1939) und H. D. Lasswell (1933); der Anthropologen R. Benedict (1934), A. I. Hallowell (1955), R. Linton (1936), M. Mead (1937) und E. Sapir (1921) sowie A. Kardiners (1940) Anwendung psychoanalytischer Begriffe auf die Anthropologie.

[7] Ich möchte an dieser Stelle vor einer Verwechslung warnen, der man häufig begegnet, wenn dieses Problem erörtert wird. Die ökonomische Struktur einer Gesellschaft, die die Lebensweise des Einzelnen bestimmt, stellt die Bedingung für die Persönlichkeitsentwicklung dar. Diese ökonomischen Bedingungen sind etwas ganz anderes als die subjektiven ökonomischen Motive, etwa das Streben nach materiellem Reichtum, worin viele Schriftsteller seit der Renaissance bis hin zu gewissen marxistischen Autoren, die die Grundbegriffe von Marx falsch verstanden haben, das dominierende Motiv menschlichen Verhaltens sahen. Tatsächlich ist das verzehrende Verlangen nach materiellem Reichtum nur eine Besonderheit bestimmter Kulturen, und andere ökonomische Verhältnisse können Persönlichkeitszüge erzeugen, die dazu führen, dass der Betreffende materiellen Reichtum verabscheut oder dass er ihm doch gleichgültig gegenübersteht. Ich habe dieses Problem ausführlich erörtert in Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie: Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus (1932a, GA I, S. 37-57).

[8] Nach Fertigstellung dieses Manuskripts ist eine Untersuchung über die verschiedenen Aspekte der Freiheit unter dem Titel Freedom. Its Meaning (R. N. Anshen, 1940) erschienen. Ich möchte hier besonders auf die Arbeiten von H. Berson, J. Dewey, R. M. MacIver, K. Riezler und P. Tillich hinweisen. Zu dieser Frage vgl. auch C. Steuermann, 1932.

[9] Hierzu ist zu bemerken, dass die Versagung von Triebbefriedigungen an sich noch keine Feindseligkeit hervorruft. Es ist die Beschneidung des Ausdehnungsdrangs, die Unterbindung der Versuche des Kindes sich durchzusetzen, die von den Eltern ausstrahlende feindselige Einstellung zum Kind - kurz die Atmosphäre von Unterdrückung -, die im Kinde das Gefühl der Machtlosigkeit hervorruft, welche die Quelle der Feindseligkeit bildet.

[10] Wenn hier von der „mittelalterlichen Gesellschaft“ und vom „Geist des Mittelalters“ im Gegensatz zur „kapitalistischen Gesellschaft“ die Rede ist, dann sprechen wir wie von Idealtypen. In Wirklichkeit war das Mittelalter natürlich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Ende, und auch die moderne Gesellschaft entstand nicht plötzlich. Sämtliche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte, die die moderne Gesellschaft kennzeichnen, haben sich schon in der Gesellschaft des Zwölften, Dreizehnten und Vierzehnten Jahrhunderts herausgebildet. Im ausgehenden Mittelalter begann bereits das Kapital eine wachsende Rolle zu spielen, und dementsprechend wuchs auch der Antagonismus zwischen den verschiedenen Klassen der städtischen Gesellschaft. Wie stets in der Geschichte hatten sich alle Elemente des neuen Gesellschaftssystems bereits in der älteren Gesellschaftsordnung entwickelt, die von der neuen verdrängt wurde. Aber wenn es auch wichtig ist zu erkennen, wie viele moderne Elemente bereits im Spätmittelalter vorhanden waren und wie viele mittelalterliche Elemente in der modernen Gesellschaft fortbestehen, so blockiert es doch jedes theoretische Verständnis des historischen Prozesses, wenn man unter Überbetonung der Kontinuität die fundamentalen Unterschiede zwischen der mittelalterlichen und der modernen Gesellschaft unterbewertet, oder wenn man Begriffe wie „mittelalterliche Gesellschaft“ und „kapitalistische Gesellschaft“ als unwissenschaftliche Konstrukte überhaupt ablehnt. Derartige Versuche, die sich als wissenschaftliche Objektivität und Exaktheit ausgeben, beschränken in Wirklichkeit die Sozialforschung auf das Sammeln zahlloser Einzelheiten und blockieren jedes Verständnis für die Struktur der Gesellschaft und ihrer Dynamik.

[11] Burckhardts Hauptthese ist von einigen Autoren bestätigt und erweitert, von anderen bestritten worden. Mehr oder weniger in gleicher Richtung bewegen sich W. Dilthey (1914) und E. Cassirer (1927). Von anderen Autoren ist Burckhardt dagegen scharf angegriffen worden. J. Huizinga (1930; vgl. 1924) behauptet, Burckhardt habe die Ähnlichkeit zwischen dem Leben der Massen in Italien und in anderen europäischen Ländern während des ausgehenden Mittelalters unterschätzt; er nehme den Beginn der Renaissance etwa um 1400 an, doch stamme das meiste Material, das er zur Veranschaulichung seiner These benutze, aus dem Fünfzehnten oder dem Anfang des Sechszehnten Jahrhunderts; ferner wirft er ihm vor, er unterschätze den christlichen Charakter der Renaissance und überschätze das Gewicht der heidnischen Elemente in ihr; er behaupte, der Individualismus sei das beherrschende Merkmal der Kultur der Renaissance gewesen, während er in Wirklichkeit nur ein Merkmal unter anderen gewesen sei. Es habe dem Mittelalter außerdem nicht in dem Maße, wie Burckhardt das annehme, an Individualität gefehlt, daher sei seine Methode, das Mittelalter mit der Renaissance zu kontrastieren, unrichtig; der Mensch der Renaissance habe sich nicht weniger der Autorität gebeugt als der Mensch des Mittelalters; die mittelalterliche Welt sei außerdem weltlichen Vergnügungen nicht so abhold und die Renaissance sei nicht so optimistisch gewesen, wie Burckhardt annehme. Die Einstellung des modernen Menschen mit seinem Streben nach persönlicher Vervollkommnung und der Entwicklung seiner Individualität sei in der Renaissance nur erst im Keime vorhanden gewesen, und bereits im Dreizehnten Jahrhundert hätten die Troubadoure die Idee vom Adel des Herzens vertreten, während andererseits die Renaissance nicht mit dem mittelalterlichen Begriff des persönlichen Treue- und Dienstverhältnisses gegenüber einem in der gesellschaftlichen Hierarchie Höherstehenden gebrochen hätte.

Mir scheint, dass diese Argumente, selbst wenn sie in ihren Einzelheiten richtig sind, Burckhardts Hauptthese nicht widerlegen. Huizinga argumentiert tatsächlich so: Burckhardt habe unrecht, weil ein Teil der Phänomene, die er für die Renaissance in Anspruch nehme, bereits im Spätmittelalter in West- und Mitteleuropa existiert hätten, während andere erst nach dem Ende der Renaissance aufgetreten seien. Es ist dies der gleiche Einwand, den man gegen alle Auffassungen vorbringt, welche die mittelalterliche Feudalgesellschaft der modernen kapitalistischen Gesellschaft gegenüberstellen. Dasselbe gilt auch für die Kritik an Burckhardt. Burckhardt hat den wesentlichen Unterschied zwischen der mittelalterlichen und der modernen Kultur erkannt. Vielleicht hat er die „Renaissance“ und das „Mittelalter“ zu sehr idealtypisch verstanden und deshalb die wesentlichen Unterschiede, die quantitativer Art sind, als qualitative angesehen. Doch scheint mir, dass er mit visionärer Klarheit die Besonderheit und Dynamik von Entwicklungstendenzen erkannte, bei denen sich dann im Verlauf der europäischen Geschichte nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Veränderungen zeigten. Zu diesem Gesamtproblem verweise ich auch auf die vorzügliche Abhandlung von Charles E. Trinkhaus (1940), die eine konstruktive Kritik an Burckhardts Werk enthält, indem sie die Ansichten der italienischen Humanisten über das Problem des Lebensglücks analysiert. Hinsichtlich der in unserem Buch erörterten Probleme sind seine Ausführungen über die Unsicherheit, die Resignation und Verzweiflung als Folge des zunehmenden Wettkampfes um den persönlichen Aufstieg von besonderem Interesse. (Vgl. a.a.O., S. 18.)

[12] Die nachfolgende Darstellung der ökonomischen Geschichte des ausgehenden Mittelalters und der Reformationszeit gründet sich im Wesentlichen auf die Veröffentlichungen von K. Lamprecht (1893); R. Ehrenberg (1896); W. Sombart (1921); G. von Below (1920); J. Kulischer (1928); W. Andreas (1932); M. Weber (1920); J. S. Schapiro (1909); R. Pascal (1933); R. H. Tawney (1926); L. J. Brentano (1923) und L. Kraus (1930).

[13] [Anmerkung des Herausgebers: Das amerikanische middle class kann im Deutschen nicht immer gleichlautend wiedergegeben werden. Im Folgenden werden die Begriffe „Mittelstand“ und „Mittelklasse“ bevorzugt. Wo es der Zusammenhang erlaubt, wird middle class auch mit „Bürgertum“ übersetzt. Für alle drei deutschen Wörter steht im amerikanischen Original immer middle class. (Siehe auch die Hinweise zur Übersetzung des Begriffs middle class.)]

[14] Die Theorie und Praxis des Ablasshandels illustriert besonders gut den wachsenden Einfluss des Kapitalismus. In dem Gedanken, dass man sich von Strafen freikaufen könne, kommt ein neues Gefühl für die eminente Bedeutung des Geldes zum Ausdruck, und auch aus der Bulle Unigenitus dei filius von Papst Clemens VI. aus dem Jahre 1343 zur Frage des Ablasswesens spricht der Geist kapitalistischen Denkens. Clemens betonte, „dass der von Christus und den Heiligen erworbene unendliche Schatz von den Päpsten verwaltet und den Gläubigen zuteil werde“ (R. Seeberg, 1930, S. 621). Wir haben hier also die Vorstellung vom Papst als einem Monopol-Besitzer, der über ein unermesslich großes moralisches Kapital verfügt und der seinen eigenen finanziellen Vorteil daraus zieht - zum moralischen Nutzen seiner „Kundschaft“.

[15] Ich bin Charles Trinkhaus zu Dank verpflichtet, der mich auf die Bedeutung der mystischen Schriften und der Predigtsammlungen aufmerksam machte und mir eine ganze Reihe von Anregungen zu dem hier behandelten Thema gab.

[16] [Anmerkung des Herausgebers: In der amerikanischen Ausgabe setzt sich Fromm mit der offiziellen Übersetzung Calvins ins Englische durch John Allan auseinander. Er hält diese Übersetzung für ungenau, da sie die Strengen Calvins zu mildern versuche und auf diese Weise Calvin modernisieren wolle. Darum übersetzt Fromm die betreffende Stelle selbst. Er benutzte eine von A. Tholuk besorgte Ausgabe aus dem Jahre 1835. Seine Kritik an der offiziellen englischen Übersetzung zu dieser Stelle lautet: „Allan übersetzt: ‘Denn da die Willfährigkeit, den eigenen Neigungen zu folgen, die Menschen höchstwahrscheinlich ins Verderben führt, sollten wir uns nicht auf unser eigenes Wissen oder Wollen verlassen, sondern nur der Leitung des Herrn zu folgen, ist der einzige Weg zur Sicherheit (des Heils).’ Aber das lateinische sibi ipsis obtemperant ist nicht dasselbe wie ‘den eigenen Neigungen folgen’, sondern es bedeutet ‘sich selbst gehorchen’. Das Verbot, den eigenen Neigungen zu folgen, entspricht der Milde der Ethik Kants, wenn dieser sagt, der Mensch solle seine natürlichen Neigungen unterdrücken und den Befehlen seines Gewissens folgen. Andererseits bedeutet das Verbot, sich selbst zu gehorchen, eine Leugnung der Autonomie des Menschen. Die gleiche subtile Veränderung der Bedeutung wird dadurch bewirkt, dass Allan ita unicus est salutis partis nihil nec sapere, nec velle per se ipsum mit ‘uns nicht von unserem Wissen oder Willen abhängig machen’ übersetzt. Während die Formulierung des Originals der Devise der Aufklärungsphilosophie sapere aude (‘wage zu wissen’) strikt widerspricht, warnt Allan in seiner Übersetzung nur davor, sich von seinem eigenen Wissen abhängig zu machen - eine Warnung, die weit weniger im Widerspruch zu unserem modernen Denken steht. Ich erwähne diese Abweichungen vom Sinn des Originals nur, weil sie uns veranschaulichen, dass der Geist eines Autors allein durch das Übersetzen ‘modernisiert’ und verfärbt wird - auch wenn dies sicher völlig unabsichtlich geschieht.“]

[17] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. hierzu E. Fromm, Selfishness and Self-Love (1939b), sowie die Erweiterung dieses Aufsatzes im Abschnitt „Selbstsucht, Selbstliebe, Selbstinteresse“ in Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 77-91.]

[18] Freud hat diese Feindseligkeit des Menschen gegen sich selbst erkannt und sie in das von ihm so benannte Über-Ich verlegt. Er erkannte auch, dass dieses Über-Ich ursprünglich die Verinnerlichung einer äußeren, als gefährlich empfundenen Autorität darstellt. Aber er hat nicht zwischen spontanen Idealen, die einen Teil des Selbst bilden, und den internalisierten Befehlen, die das Selbst beherrschen, unterschieden. Vgl. hierzu meine Ausführungen in Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil (1936a, GA I, S. 139-187), sowie den Aufweis des Zwangscharakters der Über-Ich-Befehle durch K. Horney, 1939.

[19] [Anmerkung des Herausgebers: Fromm gebraucht hier den Begriff des Selbstinteresses noch negativ im Sinne des Selbstsüchtigen. Im Abschnitt „Selbstsucht, Selbstliebe, Selbstinteresse“ in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA I, S. 77-91 ist das Selbstinteresse der positive Gegenbegriff zur Selbstsucht. Zum Begriff self-interest vgl. auch die Hinweise zur Übersetzung.]

[20] Sullivan kommt dieser Formulierung in seinen Vorlesungen nahe. Er stellt fest, dass die Zeit der Prä-Adoleszenz durch das Auftreten von Impulsen in zwischenmenschlichen Beziehungen gekennzeichnet ist, die nach einer neuen Art der Befriedigung anstelle der alten suchen (den Kumpel). Nach ihm ist die Liebe eine Situation, in welcher die Befriedigung der geliebten Person ebenso wichtig und wünschenswert ist wie die des Liebenden.

[21] [Anmerkung des Herausgebers: Zum Frommschen Verständnis von „Entfremdung“ vgl. Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a), GA IV, S. 88-109" sowie Die Pathologie der Normalität des heutigen Menschen (1991e), GA XI, S. 211-266; außerdem die Dissertation Das Konzept der Entfremdung im geschichtsphilosophischen Denken von Erich Fromm von Urs Aregger-Moros (1989). Zur Frage der Verdinglichung des Menschen und der menschlichen Beziehungen vgl. darüber hinaus E. Fromm, Der Mensch ist kein Ding (1957a), GA VIII, S. 21-26 und den Sammelband Der Mensch ist kein Ding! Das Gesundheitswesen zwischen Technik und Humanität (J. Meier and F. Bremer, 1996).]

[22] [Anmerkung des Herausgebers: Eine derartige Analyse der europäischen und amerikanischen Geschichte wurde von Fromm später nicht ausgeführt. Dennoch beschäftigte er sich in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 62 ff.) erneut mit der Zeit zwischen Reformation und Gegenwart, und zwar unter dem Aspekt der Kapitalismusentwicklung.]

[23] [Anmerkung des Herausgebers: Zu diesen Bestimmungen vgl. auch die weiterführenden Gedanken zur „gesunden“ und „kranken“ Gesellschaft in dem Beitrag Individuelle und gesellschaftliche Ursprünge der Neurose (1944a), GA XII, S. 123-129 sowie in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 7-19.]

[24] Von einem anderen Standpunkt aus gelangt Karen Horney (1939) mit ihrem Begriff der „neurotischen Tendenzen“ zu einer in gewisser Hinsicht ähnlichen Auffassung wie ich mit dem Begriff der „Fluchtmechanismen“. Die Hauptunterschiede zwischen beiden Begriffen sind folgende: Bei den neurotischen Tendenzen handelt es sich um die treibenden Kräfte bei Individualneurosen, während die Fluchtmechanismen die treibenden Kräfte beim normalen Menschen sind. Außerdem liegt bei Horney das Hauptgewicht auf der Angst und bei mir auf der Isolierung des Individuums.

[25] Der Marquis de Sade vertrat die Ansicht, dass die Beherrschung des anderen das Wesen des Sadismus ausmache, wie aus dem folgenden, seinem Roman Juliette ou la Suite de Justine (G. Gorer, 1934) entnommenen Zitat hervorgeht: „Nicht Lust willst du deinen Partner empfinden lassen, sondern Eindruck willst du auf ihn machen; der des Schmerzes ist weit stärker als der der Lust ... das merkt man; man nutzt ihn und findet Befriedigung.“ In seiner Analyse von de Sades Werk definiert Gorer den Sadismus als „die Lust, die der Beobachter dadurch empfindet, dass er die Veränderungen beobachtet, die er in der Außenwelt hervorgerufen hat“. Diese Definition kommt meiner Auffassung des Sadismus näher als die anderer Psychologen. Ich glaube jedoch, dass Gorer sich irrt, wenn er den Sadismus mit der Lust an der Beherrschung des anderen oder mit Produktivität gleichsetzt. Die sadistische Beherrschung des anderen ist dadurch gekennzeichnet, dass der Sadist sein Objekt zu einem willenlosen Werkzeug in seinen Händen macht, während die nicht-sadistische Freude am Einfluss auf andere deren Integrität respektiert und sich auf ein Gefühl der Gleichheit gründet. In Gorers Definition verliert der Sadismus seine spezifische Eigenschaft und wird mit jeder Art von Produktivität gleichgesetzt. - [Anmerkung des Herausgebers: Vgl: auch Fromms Buchbesprechung von Jeoffrey Gorer: „The Revolutionary Ideas of the Marquis de Sade“ (1934f, GA X, S. 53 f.).]

[26] [Anmerkung des Herausgebers: Zu dieser wichtigen Differenzierung vgl. vor allem die Ausführungen zum Sadismus bzw. zur Nekrophilie in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a). Im Unterschied zur hier getroffenen begrifflichen Unterscheidung zwischen Sadismus und Destruktivität, differenziert Fromm später eindeutiger zwischen Sadismus bzw. sadistischer Destruktivität und Nekrophilie bzw. nekrophiler Destruktivität. Die destruktive Handlung an sich sagt noch nichts darüber aus, ob sie sadistischen oder nekrophilen Strebungen entspringt.]

[27] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. das deutsche Wort „Beherrschung“ bzw. „beherrschen“. Es kann sowohl im autoritären und sadistischen Sinne als Herrschaft über andere und als Selbstbeherrschung verstanden, als auch im Sinne von „eine Fähigkeit und Kunst beherrschen“ gebraucht werden. Im ersten Sinn führt es zum Begriff des Lasters, im zweiten zu dem der Tugend. - Das privative powerlessness wird im Deutschen entsprechend der oben getroffenen Unterscheidung entweder mit „Machtlosigkeit“ oder mit „Ohnmacht“ wiedergegeben.]

[28] [Anmerkung des Herausgebers: Fromms Kritik an Freuds Lehre vom Ödipuskomplex und an der patriarchalen Interpretation des Ödipusmythos wurde später noch vertieft, so in: Einleitung zu: S. Mullahy: Oedipus Myth and Complex (1948a), GA VIII, S. 137-141, Märchen, Mythen, Träume (1951a), GA IX, 273-293, Der Ödipuskomplex. Bemerkungen zum „Fall des kleinen Hans“ (1966k), GA VIII, S. 143-151 und Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a), GA VIII, 281-290.]

[29] [Anmerkung des Herausgebers: Im Unterschied zur hier getroffenen Unterscheidung zwischen Sadismus und Destruktivität, differenziert Fromm später genauer zwischen Sadismus bzw. sadistischer Destruktivität und Nekrophilie bzw. nekrophiler Destruktivität. Entsprechend der Differenzierung in eine sadistische und eine nekrophile Destruktivität spricht Fromm dann in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 161 ff.) von drei Grundarten destruktiven Handelns: von der reaktiven, der sadistischen und der nekrophilen Destruktivität.]

[30] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. hierzu die Analysen von „nichtdestruktiven, jedoch aggressiven Gesellschaften“ in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 151).]

[31] [Anmerkung des Herausgebers: Diesen Fluchtmechanismus hat Fromm in Die Seele des Menschen (1964a), GA Il, S. 199-211) unter dem Begriff „Narzissmus“ erstmals ausgeführt. Vgl. auch den entsprechenden Abschnitt in Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a), GA VIII, 294-302.]

[32] [Anmerkung des Herausgebers: Die Bezeichnung „Automat“ gibt das englische automaton nur bedingt richtig wieder. Sachlich geht es um den für einen Automaten kennzeichnenden Aspekt: Ein Automat tut genau das, was man von ihm erwartet entsprechend seiner Programmierung. Diese Eigenart in der Bezogenheit zur Welt und zu anderen Menschen lässt sich auch mit dem - von Fromm ebenso gebrauchten - Begriff „Konformismus“ ausdrücken. Im Folgenden wird dieser Fluchtmechanismus deshalb zumeist „Konformismus“ genannt, und zwar zum Teil auch dort, wo im Englischen das Wort automaton steht.]

[33] Beim psychoanalytischen Verfahren handelt es sich im Wesentlichen um einen Prozess, bei dem der Betreffende sein ursprüngliches Selbst aufzudecken sucht. Unter „freiem Assoziieren“ versteht man, dass man seine ursprünglichen Gefühle und Gedanken äußert, dass man die Wahrheit sagt; aber Wahrheit in diesem Sinn heißt nicht, dass man sagt, was man denkt, sondern dass das Denken ursprünglicher Art ist und nicht Anpassung an das, was andere von einem erwarten. Freud hat besonders betont, dass „schlechte“ Dinge verdrängt werden; er scheint nicht genügend erkannt zu haben, in welchem Ausmaß auch die „guten“ Dinge der Verdrängung anheimfallen können. - [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. zu dieser Kritik am Freudschen Verständnis des Unbewussten und des Traumes auch die Ausführungen in Der Traum ist die Sprache des universalen Menschen (1972a), GA IX, S. 311-315) als auch die diesbezüglichen Aussagen zur Traumlehre in Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a), GA VIII, S. 320-327).]

[34] Die hier vertretene Auffassung gründet sich auf die Resultate einer noch unveröffentlichten Untersuchung über den „Charakter deutscher Arbeiter und Angestellter in den Jahren 1929/30“, die von A. Hartoch, E. Herzog, H. Schachtel und mir selbst durchgeführt wurde. - [Anmerkung des Herausgebers: Wolfgang Bonß hat im Auftrag von Erich Fromm Ende der Siebziger Jahre das Material bearbeitet und 1980 herausgegeben: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung (1980a, GA III, S. 1-230). Zu Aufbau und Bedeutung dieser Untersuchung vgl. die Einleitung von Wolfgang Bonß Kritische Theorie und empirische Sozialforschung. Anmerkungen zu einem Fallbeispiel (W. Bonß, 1980).] - Die historische Einführung dazu verfasste F. Neumann; die Untersuchung erfolgte im Auftrag des International Institute of Social Research der Columbia-Universität. Die Analyse der Antworten von 600 Personen auf einen detaillierten Fragebogen ergab, dass eine Minderheit der Antwortenden den autoritären Charakter aufwies, dass etwa die gleiche Anzahl hauptsächlich Freiheit und Unabhängigkeit anstrebten, während die allermeisten eine weniger ausgeprägte Mischung verschiedener Wesenszüge aufwiesen.

[35] Als aufschlussreiches Beispiel für die Kommerzialisierung der Freundlichkeit möchte ich einen Bericht über die „Howard Johnson Restaurants“ zitieren, der in der Septembernummer der Zeitschrift Fortune (S. 96) erschien. Johnson hat ein ganzes Regiment von Werkspionen (sogenannten shoppers) angestellt, die von Restaurant zu Restaurant gehen, um irgendwelche Missstände zu entdecken. „Da sämtliche Gerichte - so der Bericht - nach den Standard-Rezepten und Anweisungen der Zentrale zubereitet werden, weiß der Kontrolleur genau, wie groß das Steak zu sein hat, das ihm serviert wird, und wie die Gemüseeinlage zu schmecken hat. Er weiß auch, wie lange es dauern darf, bis er bedient wird, und wie liebenswürdig die Empfangsdame und die Bedienung zu sein haben.“

[36] [Anmerkung des Herausgebers: Dieser Aspekt des spontanen Tätigseins ist es, der Fromm veranlasst hat, in seiner Charakterologie die „Produktivität“ zum Kriterium für das zu machen, was den Menschen psychisch fördert und zur Entfaltung bringt. Vgl. hierzu besonders die Ausführungen zur „produktiven Orientierung“ in Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 56-71. Einen Überblick über die Entwicklung des Frommschen Konzepts der Produktivität gibt R. Funk, 2003a.]

[37] Das hier erörterte Problem berührt einen sehr wichtigen Punkt, den ich wenigstens erwähnen möchte: dass die dynamische Psychologie in der Lage ist, ethische Fragen zu klären. Der Psychologe kann hier aber nur helfen, wenn er einsieht, dass moralische Probleme für das Verständnis der Persönlichkeit relevant sind. Jede Psychologie - einschließlich der Freudschen -, welche derartige Probleme nur unter dem Aspekt des Lustprinzips behandelt, verkennt einen wichtigen Persönlichkeitssektor und überlässt dogmatischen und nicht-empirischen Moraldoktrinen das Feld. Die Analyse der Selbstliebe, des masochistischen Opfers und von Idealen, wie wir sie in diesem Buch beschrieben haben, zeigt, welche Aufgaben sich auf diesem Gebiet der Psychologie und Ethik anbieten, mit denen man sich unbedingt weiter beschäftigen sollte.

[38] [Anmerkung des Herausgebers: Im Folgenden wird die sozialpsychoanalytische Methode beschrieben, die Erich Fromm in den Dreißiger Jahren entwickelte. Seit seiner Dissertation im Jahr 1922 bewegte Fromm die Frage, was viele Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Eine erste psychologische Antwort formulierte er im Kontext des interdisziplinären Diskurses am Institut für Sozialforschung in Frankfurt: Die Gesellschaft müsse in jedem Einzelnen in einer eigenen libidinöse Struktur repräsentiert sein, so dass es zu einer sozialtypischen Charakterbildung in den vielen Einzelnen komme. Die zunhächst im Rahmen der Freudschen Libidotheorie entwickelte sozialpsychologische Theorie und Methode (vgl. Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie: Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus, 1932a, GA I, S. 37-57) wurde im Winter 1936/37 von Fromm noch einmal in einem umfangreichen Aufsatz überarbeitet. Dieser Aufsatz wurde damals wegen des Widerstands von Institutskollegen zwar nicht veröffentlicht (sondern erst posthum im Jahr 1992 unter dem Titel Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft. Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie (1992e), GA XI, S. 129-175), der Anhang in Die Furcht vor der Freiheit gibt aber die entscheidenden Eckpunkte dieser Theoriebildung wieder und stellt ein unverzichtbares Dokument des wissenschaftlichen Denkens von Erich Fromm dar. Spätere Publikationen wie der Beitrag Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur (1949c), GA I, S. 207-214 und das Kapitel „Individueller Charakter und Gesellschafts-Charakter“ in Jenseits der Illusionen (1962a), GA IX, S. 85-95 bauen darauf auf.]

[39] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. zu diesem Problem die große Felduntersuchung zum Gesellschafts-Charakter mexikanischer Bauern, die Erich Fromm zusammen mit Michael Maccoby zwischen 1957 und 1967 durchgeführt hat: Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis. Der Gesellschaft-Charakter eines mexikanischen Dorfes (1970b), GA III, S. 231-540.]

[40] [Anmerkung des Herausgebers: Dies war eine der wesentlichen Einsichten der Frommschen Untersuchung in den Dreißiger Jahren: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung (1980a), GA III, S. 1-230].

[41] Franz Alexander hat versucht, Freuds charakterologische Erkenntnisse auf eine Weise neu zu formulieren, die meiner Interpretation nahe kommt. (Vgl. F. Alexander, 1934.) Aber wenn auch seine Auffassung einen Fortschritt gegenüber Freud darstellt, ist es ihm doch nicht gelungen, die grundsätzlich biologische Orientierung zu überwinden und die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen als Grundlage und Wesen dieser „prägenitalen“ Triebe ganz zu erkennen.

[42] Ich bezeichne diesen Standpunkt als pseudo-marxistisch, weil er die Marxsche Theorie dahingehend interpretiert, dass die Geschichte von ökonomischen Motiven im Sinn des Strebens nach materiellem Gewinn bestimmt werde, und nicht - wie Marx es in Wirklichkeit meinte - von objektiven Bedingungen, die zu unterschiedlichen ökonomischen Einstellungen führen können, wobei das intensive Streben nach materiellem Besitz nur eine dieser Einstellungen unter anderen darstellt. (Ich habe hierauf bereits im ersten Kapitel hingewiesen. Eine ausführliche Erörterung dieses Problems findet sich in Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie: Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus (1932a, GA I, S. 37-57); vgl. auch R. S. Lynd, 1939, Kap. II.)

[43] [Anmerkung des Herausgebers: Die hier nur ansatzweise diskutierte Frage nach der Eigengesetzlichkeit der „psychologischen Kräfte“ wird von Fromm in Wege aus einer kranken Gesellschaft in der Lehre von den „existenziellen Bedürfnissen“ (1955a, GA IV, S. 20-50) ausführlich diskutiert und in Jenseits der Illusionen (1962a, GA IX, S. 93-95) zusammengefasst.]

Psychoanalyse und Ethik
Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie

(Man for Himself
An Inquiry into the Psychology of Ethics)

(1947a)[1]

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Paul Stapf und Ignaz Mühsam
überarbeitet von Rainer Funk

Inhalt

Seid euer eignes Licht.
Seid eure eigne Zuversicht.
Haltet euch an die Wahrheit in euch selbst
als das einzige Licht.
Buddha

Wahre Worte erscheinen immer widersinnig,
doch sind sie durch keine andere Lehrweise zu ersetzen.
Laotse

Wer sind die wahren Philosophen?
Die das Bild der Wahrheit lieben.
Platon

Mein Volk ist dahin,
darum dass es nicht lernen will.
Denn du verwirfest Gottes Wort,
darum will ich dich auch verwerfen.
Hosea

Wenn nun auch der Weg,
der, wie ich gezeigt habe, hierhin führt,
äußerst schwierig zu sein scheint,
lässt er sich doch finden.
Schwierig freilich muss sein,
was so selten erreicht wird.
Denn wie wäre es möglich,
wenn das Heil so zur Hand wäre
und ohne große Anstrengung
gefunden werden könnte,
dass fast alle es unbeachtet lassen?
Nein, alles Erhabene ist ebenso schwer wie selten.
Spinoza

Vorwort

Das vorliegende Buch[2] ist in mancher Hinsicht eine Fortsetzung von Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, 215-392). Wollte ich dort die Furcht des modernen Menschen vor sich selbst und vor der Freiheit analysieren, so erörtere ich hier das Problem der Ethik, der Normen und jener Werte, die dem Menschen zur Verwirklichung seines Selbst und seiner Möglichkeiten verhelfen sollen. Es ist unvermeidbar, dass einige Gedankengänge wiederkehren, die ich bereits in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, 215-392) entwickelt habe. Wiederholungen suchte ich so weit wie möglich zu verkürzen, ganz umgehen ließen sie sich nicht. In dem Kapitel Die Natur des Menschen und sein Charakter behandle ich charakterologische Fragen allgemeiner Art, die in dem vorhergehenden Buch noch nicht berührt wurden, und ich beziehe mich nur kurz auf die dort erörterten Probleme. Der Leser, der von meiner Charakterologie einen umfassenden Eindruck gewinnen will, müsste zweckmäßigerweise beide Bücher kennen. Unbedingt notwendig ist dies zum Verständnis der vorliegenden Arbeit jedoch nicht.

Dass ein Psychoanalytiker sich mit Problemen der Ethik beschäftigt, wird manchen überraschen. Noch überraschender ist sein Standpunkt, die Psychologie habe nicht nur die Pflicht, falsche ethische Urteile zu demaskieren, sondern sie könne auch bei der Aufstellung objektiver und gültiger Normen der Lebensführung als Grundlage dienen. Eine solche Auffassung steht im Widerspruch zur derzeit vorherrschenden Psychologie, die mehr auf „Anpassung“ ausgerichtet ist als auf die Frage nach dem „Guten“ und die deshalb zum ethischen Relativismus neigt. Die Erfahrungen meiner psychoanalytischen Praxis haben mich darin bestärkt, dass Probleme der Ethik bei der Erforschung der Persönlichkeit nicht ausgeschlossen werden dürfen. Das ist weder theoretisch noch bei der therapeutischen Behandlung möglich. Denn Werturteile, die wir fällen, bestimmen unsere Handlungen. Von ihrer Gültigkeit hängen Glück und seelische Gesundheit ab. Betrachten wir dagegen Werturteile nur als Rationalisierungen unserer unbewussten, irrationalen Wünsche - das können sie auch sein -, so würde dies unser Bild von der Gesamtpersönlichkeit einengen und verzerren. Letzten Endes ist die Neurose als solche Symptom eines moralischen Versagens (obwohl „Anpassung“ keinesfalls schon ein Zeichen für moralische Leistung ist). In vielen Fällen ist ein neurotisches Symptom die spezifische Erscheinungsform eines [II-004] moralischen Konflikts. Der Erfolg der therapeutischen Bemühung hängt davon ab, ob das moralische Problem erkannt und gelöst wird.

Die Trennung von Psychologie und Ethik ist vergleichsweise jung. Die großen humanistischen Ethiker der Vergangenheit, auf deren Werke sich dieses Buch stützt, waren Philosophen und Psychologen zugleich. Nach ihrer Auffassung ist ein Verstehen der menschlichen Natur und der für das menschliche Leben gültigen Werte und Normen unlösbar miteinander verbunden. Obwohl Freud und seine Schule für den Fortschritt des ethischen Denkens einen unschätzbaren Beitrag leisteten, indem sie irrationale Werturteile demaskierten, nahmen sie doch den Werten gegenüber einen relativistischen Standpunkt ein, was nicht nur für die Entwicklung der ethischen Theorie, sondern auch für den Fortschritt der Psychologie selbst einen negativen Effekt hatte.

Die wichtigste Ausnahme innerhalb dieses Trends der Psychoanalyse war C. G. Jung. Er erkannte die enge Verwandtschaft von Psychologie und Psychotherapie mit den philosophischen und ethischen Problemen des Menschen. Aber so wichtig Jungs Erkenntnis auch ist, so führte seine philosophische Orientierung doch nur zu einer Reaktion gegen Freud, nicht zu einer philosophisch orientierten Psychologie, die über Freud hinausgeht. Für Jung wurden das „Unbewusste“ und der Mythos zu neuen Quellen der Offenbarung, die ihres irrationalen Ursprungs wegen angeblich dem rationalen Denken überlegen sein sollen. Die Stärke der monotheistischen westlichen Religionen wie die der großen Religionen Indiens und Chinas beruhte darauf, dass sie die Wahrheit suchten und gleichzeitig den Anspruch erhoben, im Besitz des wahren Glaubens zu sein. Verursachte diese Überzeugung oft auch fanatische Intoleranz gegen andere Religionen, so flößte sie zugleich Anhängern wie Gegnern gleichermaßen Ehrfurcht vor der Wahrheit ein. In seiner eklektischen Bewunderung für jede Religion hat Jung diese Suche nach der Wahrheit in seiner Theorie aufgegeben. Jedes System, vorausgesetzt, es ist nicht-rational, jeder Mythos oder jedes Symbol ist ihm gleichwertig. Hinsichtlich der Religion ist er ein Relativist. Er bekämpft nicht den Relativismus als solchen, er negiert einen rationalen Relativismus. Dieser Irrationalismus ist kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt, gleichgültig, ob er sich in psychologische, philosophische, rassische oder politische Begriffe kleidet. Der Rationalismus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts versagte ja nicht wegen seines Vernunftglaubens, sondern wegen der Enge seiner Vorstellungen. Nicht weniger, sondern mehr Vernunft und ein unermüdliches Suchen nach der Wahrheit kann die Irrtümer eines einseitigen Rationalismus korrigieren, nicht aber ein pseudo-religiöser Obskurantismus.

Die Psychologie kann weder von der Philosophie und der Ethik noch von der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften getrennt werden. Die Tatsache, dass ich in diesem Buch die philosophischen Probleme der Psychologie betone, bedeutet nicht, dass ich zu der Überzeugung gekommen bin, die sozio-ökonomischen Faktoren seien weniger wichtig. Dieses einseitige Gewicht erklärt sich aus Gründen der Darstellung, und ich hoffe, einen weiteren Band zur Sozialpsychologie zu veröffentlichen, der sich mit der Wechselwirkung zwischen psychischen und sozio-ökonomischen Faktoren beschäftigen wird.[3]

Es könnte den Anschein haben, als ob der Psychoanalytiker, der die Zähigkeit und [II-005] Hartnäckigkeit irrationaler Strebungen beobachtet, pessimistisch sein müsste hinsichtlich der Fähigkeit des Menschen, sein eigener Herr zu sein und sich selbst aus den Fesseln irrationaler Leidenschaften zu befreien. Ich muss gestehen, dass ich im Verlauf meiner analytischen Arbeit in immer stärkerem Maße vom Gegenteil beeindruckt wurde, nämlich von der Stärke des Strebens nach Glück und nach Gesundheit, das zur Natur des Menschen gehört. „Heilen“ bedeutet nichts anderes, als die Widerstände aus dem Weg zu räumen, die verhindern, dass diese Strebungen wirksam werden können. In Wirklichkeit sollte man sich weniger darüber wundern, dass es so viele neurotische Menschen gibt, als über die Tatsache, dass die meisten Menschen trotz ungünstiger Einflüsse relativ gesund sind.

Eine Warnung scheint angebracht zu sein. Viele Menschen erwarten heute, in einem Buch über Psychologie Rezepte zu finden, wie man „Glück“ oder „Seelenfrieden“ erreichen könne. Dieses Buch enthält keine derartigen Anweisungen. Es ist ein theoretischer Versuch, das Problem von Ethik und Psychologie zu klären. Sein Ziel ist, den Leser in Frage zu stellen, nicht aber ihn zu beruhigen.

Wie sehr ich mich allen Freunden, Kollegen und Studenten verpflichtet fühle, die dieses Buch durch Ermunterung und Anregungen förderten, kann ich nur unvollkommen ausdrücken. Ich möchte denen meinen besonderen Dank aussprechen, die unmittelbar zur Vollendung dieses Buches beigetragen haben. Von unschätzbarem Wert war Patrick Mullahys Mitwirkung. Im Zusammenhang mit den hier erörterten philosophischen Fragen steuerten er und Dr. Alfred Seidemann wertvolle Anregungen und kritische Einwände bei. Professor David Riesman fühle ich mich für manche konstruktiven Vorschläge zutiefst verpflichtet, ebenso Donald Slesinger; der die Lesbarkeit des Manuskripts wesentlich verbesserte. Am meisten danke ich meiner Frau. Sie half bei der Durchsicht des Manuskripts und gab wichtige Hinweise für die Gliederung und den Inhalt des Buches; die Konzeption der positiven und negativen Aspekte der nicht-produktiven Orientierung verdankt viel ihren Anregungen.[4]

1. Die Fragestellung

Denn die Seele nährt sich doch wohl von Kenntnissen, sprach ich. Dass also nur nicht der Sophist uns betrüge, was er verkauft uns anpreisend, wie Kaufleute und Krämer mit den Nahrungsmitteln für den Körper tun. Denn auch diese verstehen selbst nicht, was wohl von den Waren, welche sie führen, dem Körper heilsam oder schädlich ist, loben aber alles, wenn sie es feil haben; noch auch verstehen es die, welche von ihnen kaufen, wenn nicht einer etwa ein Arzt ist oder ein Vorsteher der Leibesübungen. Ebenso auch die, welche mit Kenntnissen in den Städten umherziehn und jedem, der Lust hat, davon verkaufen und verhökern, loben freilich alles, was sie feil haben; vielleicht aber, mein Bester, mag auch unter ihnen so mancher nicht wissen, was wohl von seinen Waren heilsam oder schädlich ist für die Seele, und ebenso wenig wissen es die, welche von ihnen kaufen, wenn nicht etwa einer darunter in Beziehung auf die Seele ein Heilkundiger ist. Verstehst du dich nun darauf, was hievon heilsam oder schädlich ist, so kannst du unbedenklich Kenntnisse kaufen vom Protagoras sowohl als von jedem andern; wo aber nicht, so sieh wohl zu, du Guter, dass du nicht um dein Teuerstes würfelnd ein gefährliches Spiel machst. Denn überdies ist noch weit größere Gefahr beim Einkauf der Kenntnisse als bei dem der Speisen.

(Platon, Protagoras, übersetzt von Friedrich Schleiermacher)

Stolz und Optimismus kennzeichnen den Geist der westlichen Zivilisation in den letzten Jahrhunderten: Es ist der Stolz auf die Vernunft als das Instrument, mit dessen Hilfe der Mensch die Natur versteht und beherrscht; es ist der Optimismus, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl zu finden und damit die kühnsten Hoffnungen der Menschheit zu erfüllen.

Dieser Stolz des Menschen ist berechtigt. Kraft seiner Vernunft hat er eine materielle Welt aufgebaut, deren Wirklichkeit sogar die Träume und Visionen von Märchen und Utopien übersteigt. Er weiß Kräfte und Natur zu nutzen, die es der Menschheit [II-007] ermöglichen, die für ein würdiges und produktives Dasein unerlässlichen materiellen Voraussetzungen zu schaffen. Wenn von seinen Zielen auch viele noch nicht erreicht sind, so kann doch kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass sie realisierbar sind und dass das Problem der Produktion - das Problem der Vergangenheit - im Prinzip gelöst ist. Zum ersten Mal in seiner Geschichte vermag der Mensch jetzt wahrzunehmen, dass die Idee von der Einheit der menschlichen Rasse und der Eroberung der Natur im Dienste des Menschen nicht mehr länger ein Traum, sondern reale Möglichkeit ist. Hat er nicht allen Grund, darauf stolz zu sein und zu sich selbst und zur Zukunft der Menschheit Vertrauen zu haben?

Und doch fühlt sich der heutige Mensch unwohl und verunsichert. Er arbeitet und müht sich ab und verspürt doch ein Gefühl der Sinnlosigkeit bei all seinem Tun. Während seine Macht über die Materie immer größer wird, fühlt er sich in seinem individuellen Leben und in der Gesellschaft ohnmächtig. Während er neue und bessere Mittel zur Beherrschung der Natur erfindet, hat er sich in das Netz dieser Mittel verstrickt und den Blick auf das Ziel verloren, das allein diesen Mitteln Sinn geben kann: den Menschen. Aber während der Mensch sich zum Herrn der Natur machte, wurde er zum Sklaven der von ihm selbst geschaffenen Maschine. Trotz all seines Wissens um die Materie ist er in den wichtigsten und grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz unwissend: was der Mensch ist, wie er leben soll und wie er die in ihm schlummernden gewaltigen Kräfte freilegen und produktiv einsetzen kann.

Die gegenwärtige Krise der Menschheit hat zu einer Abkehr von den Hoffnungen und Ideen der Aufklärung geführt, unter deren Schirmherrschaft unser politischer und ökonomischer Fortschritt begann. Der Fortschrittsgedanke selbst wird als kindische Illusion abgetan. Stattdessen predigt man „Realismus“, doch dies ist nur ein neues Wort dafür, dass jeglicher Glaube an den Menschen fehlt. Die Idee von der Würde und der Macht des Menschen, die ihm die Kraft und den Mut zu den gewaltigen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte gab, ist durch die Annahme in Frage gestellt worden, dass der Mensch sich wieder damit abfinden müsse, im Letzten doch ohnmächtig und bedeutungslos zu sein. Dieser Gedanke droht sogar die Wurzeln zu zerstören, aus denen unsere Kultur gewachsen ist.

Die Ideen der Aufklärung lehrten den Menschen, dass er seiner eigenen Vernunft als Führer vertrauen könne, wenn er gültige ethische Normen aufstelle, und dass er sich auf sich selbst verlassen könne und weder einer Offenbarung noch der Autorität der Kirche bedürfe, wenn er wissen wolle, was gut und was böse sei. Das Motto der Aufklärung, sapere aude, was soviel heißt wie „habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant), wurde zur treibenden Kraft für alle Anstrengungen und Errungenschaften des modernen Menschen. Der wachsende Zweifel an der menschlichen Vernunft und Autonomie schuf jedoch einen Zustand moralischer Verwirrung, in dem der Mensch sowohl der Führung durch die Offenbarung als auch der Führung durch die Vernunft beraubt ist. Das Ergebnis ist die Einnahme eines relativistischen Standpunktes. Man behauptet, Werturteile und ethische Normen seien ausschließlich Angelegenheit des Geschmacks oder willkürliche Bevorzugungen, und deshalb könne man keine objektiv gültigen Aussagen machen. Doch ohne Werte und Normen vermag der Mensch nicht zu leben und fällt durch einen solchen Relativismus leicht [II-008] irrationalen Wertsystemen zum Opfer. Er wird auf einen Ausgangspunkt zurückgeworfen, den die griechische Aufklärung, das Christentum, die Renaissance und die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts bereits überwunden hatten. Die Forderungen des Staates, die Begeisterung für magische Eigenschaften mächtiger Führer, gewaltige Maschinen sowie materieller Erfolg sind die Quellen, aus denen der Mensch seine Normen und Werturteile schöpft. Sollen wir es dabei bewenden lassen? Sollen wir anerkennen, dass es nur diese eine Alternative zwischen Religion und Relativismus gibt? Sollen wir die Abdankung der Vernunft in Fragen der Ethik akzeptieren? Müssen wir glauben, die Entscheidung zwischen Freiheit und Sklaverei, Liebe und Hass, Wahrheit und Lüge, Integrität und Opportunismus, Leben und Tod sei nichts anderes als das Ergebnis irgendwelcher subjektiver Bevorzugungen? Es gibt eine Alternative. Gültige ethische Normen können von der menschlichen Vernunft, und zwar von ihr allein, aufgestellt werden. Der Mensch hat die Fähigkeit zu unterscheiden und Werturteile zu entwickeln, die genauso gültig sind wie alle anderen Urteile, die sich aus der Vernunft herleiten. Die große Tradition des humanistischen ethischen Denkens hat die Grundlage für Wertsysteme geschaffen, die auf der menschlichen Autonomie und Vernunft beruhen. Alle diese Systeme gingen von der Voraussetzung aus, man müsse die Natur des Menschen kennen, um zu wissen, was für ihn gut oder schlecht sei. Sie waren deshalb grundsätzlich auch psychologische Untersuchungen.

Wenn die humanistische Ethik auf der Erkenntnis der Natur des Menschen aufbaut, dann hätte die moderne Psychologie, insbesondere die Psychoanalyse, zu einem der stärksten Antriebe für die Entwicklung der humanistischen Ethik werden müssen. Während die Psychoanalyse zwar unser Wissen vom Menschen gewaltig bereicherte, hat sie dennoch unser Wissen darüber, wie wir leben und was wir tun sollen, um keinen Schritt weitergebracht. Ihre hauptsächliche Aufgabe bestand in der „Entlarvung“, im Aufweis, dass Werturteile und ethische Normen Rationalisierungen von irrationalen - und oft unbewussten - Wünschen und Ängsten sind, und dass sie deshalb keine objektive Gültigkeit beanspruchen können. War diese Desillusionierung an sich recht wertvoll, so wurde sie doch immer unfruchtbarer, je weniger es gelang, über die reine Kritik hinauszugehen.

Bei dem Versuch, Psychologie in eine Naturwissenschaft umzuwandeln, beging die Psychoanalyse den Fehler, die Psychologie von den Problemen der Philosophie und der Ethik loszulösen. Sie ignorierte die Tatsache, dass die Persönlichkeit des Menschen nicht verstanden werden kann, es sei denn, wir betrachten den Menschen in seiner Totalität, und dies bedeutet, dass er eine Antwort auf die Sinnfrage seiner Existenz braucht und dass er Normen entdecken muss, denen gemäß er leben soll. Freuds homo psychologicus ist eine ebenso wirklichkeitsfremde Konstruktion wie der homo oeconomicus der klassischen Nationalökonomie. Es ist unmöglich, den Menschen mit all seinen emotionalen und psychischen Störungen zu verstehen, wenn man sich nicht über das Wesen von Werten und moralischen Konflikten im Klaren ist. Der Fortschritt der Psychologie ist nicht in der Trennung eines vermeintlichen natürlichen Bereichs von einem vermeintlichen geistigen Bereich zu suchen, auch nicht in der Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf den ersteren, sondern in der Rückkehr zu [II-009] der großen Tradition der humanistischen Ethik. Diese betrachtet den Menschen in seiner physisch-geistigen Totalität und vertritt die Auffassung, es sei die Bestimmung des Menschen, er selbst zu sein, und die Voraussetzung dafür sei, dass der Mensch Selbstzweck sein kann (man for himself).

Ich habe dieses Buch in der Absicht geschrieben, die Gültigkeit der humanistischen Ethik erneut unter Beweis zu stellen, indem ich zeige, dass unsere Kenntnis der Natur des Menschen nicht zu einem ethischen Relativismus führt, sondern im Gegenteil zu der Überzeugung, dass die Quellen der Normen für eine sittliche Lebensführung in der Natur des Menschen selbst zu finden sind.[5] Ich versuche aufzuzeigen, dass ethische Normen in Qualitäten gründen, die dem Menschen innewohnen, und dass ihre Verletzung psychische und emotionale Desintegration zur Folge hat. Ich werde zu zeigen versuchen, dass die Charakterstruktur der reifen und integrierten Persönlichkeit, der produktive Charakter, der Ursprung und die Grundlage der „Tugend“ ist und dass „Laster“ letztlich Gleichgültigkeit gegen das eigene Selbst und deshalb Selbst-Verstümmelung ist. Die höchsten Werte der humanistischen Ethik sind nicht Selbstaufgabe oder Selbstsucht, sondern Selbst-Liebe, nicht die Verleugnung des individuellen Selbst, sondern die Bejahung des wahrhaft menschlichen Selbst. Soll der Mensch Vertrauen in Werte haben, dann muss er sich selbst und die Fähigkeit seiner Natur zum Guten und zur Produktivität kennen.

2. Humanistische Ethik als angewandte Wissenschaft der Kunst des Lebens

Sussja betete einst zu Gott: „Herr, ich liebe dich so sehr, und ich fürchte dich nicht genug! Herr, ich liebe dich so sehr, und ich fürchte dich nicht genug! Mache, dass ich dich fürchte wie einer deiner Engel, die dein furchtbarer Name durchfährt!“

Alsbald erhörte Gott das Gebet, und der Name durchfuhr dem Sussja das verborgene Herz, wie es den Engeln geschieht. Da kroch Sussja unter das Bett wie ein Hündchen, und die Angst des Tieres erschütterte ihn, bis er aufheulte: „Herr, lass mich dich wieder lieben wie Sussja!“

Und Gott erhörte ihn zum andernmal.

(Chassidische Legende, in: N. N. Glatzer, 1946, S. 62)

a) Humanistische Ethik im Gegensatz zu autoritärer Ethik

Wenn wir nicht wie der ethische Relativismus darauf verzichten wollen, nach objektiv gültigen Normen der Lebensführung zu suchen, welche Kriterien können wir dann für derartige Normen finden? Die Art der Kriterien hängt vom Typus des ethischen Systems ab, dessen Normen wir untersuchen. Notwendigerweise sind die Kriterien in einer autoritären Ethik grundsätzlich verschieden von denen in einer humanistischen Ethik. In einer autoritären Ethik bestimmt eine Autorität, was für den Menschen gut ist, und stellt die Gesetze und Normen der Lebensführung auf; in einer humanistischen Ethik gibt sich der Mensch seine Norm selbst und unterwirft sich ihr aus eigenem Willen. Er ist Ursache, Gestalter und Gegenstand der Norm.[6]

Die Verwendung des Ausdrucks „autoritär“ fordert eine Klärung des Begriffes Autorität.[7] In Bezug auf diesen Begriff herrscht eine derartige Verwirrung, dass weithin die Auffassung gilt, es existiere nur die Alternative zwischen diktatorischer, irrationaler Autorität und dem völligen Fehlen jeglicher Autorität. Diese Alternative ist jedoch falsch. Das eigentliche Problem besteht darin, von welcher Art die Autorität ist. Wenn wir von Autorität sprechen, meinen wir dann rationale oder irrationale [II-011] Autorität? Rationale Autorität hat ihren Ursprung in Kompetenz. Der Mensch, dessen Autorität respektiert wird, handelt kompetent in dem ihm zugewiesenen Bereich, den ihm andere anvertraut haben. Er braucht weder einzuschüchtern, noch muss er durch magische Eigenschaften Bewunderung erregen. Solange und in dem Maße, in dem er kompetente Hilfe leistet, anstatt auszubeuten, beruht seine Autorität auf rationalen Grundlagen und braucht keinerlei irrationale Furcht. Rationale Autorität lässt nicht nur ständige Prüfung und Kritik seitens derer zu, die ihr unterworfen sind, sondern fordert diese geradezu heraus.

Rationale Autorität ist immer zeitlich begrenzt. Ihre Anerkennung ist davon abhängig, wie die Aufgabe erfüllt wird. Irrationale Autorität dagegen hat ihren Ursprung stets in der Macht über Menschen. Diese Macht kann eine physische oder eine psychische sein, sie kann tatsächlich vorhanden sein oder aber in der Angst und Hilflosigkeit des Menschen, der sich dieser Autorität unterwirft, ihren Grund haben. Macht auf der einen, Furcht auf der anderen Seite, das sind stets die Stützen irrationaler Autorität. Kritik an dieser Art von Autorität ist nicht nur nicht erwünscht, sondern verboten. Rationale Autorität beruht auf der Gleichheit desjenigen, der die Autorität besitzt und dessen, der sich ihr unterstellt. Beide unterscheiden sich lediglich im Grad des Wissens oder in der Befähigung auf einem bestimmten Gebiet. Irrationale Autorität beruht ihrer Natur nach auf Ungleichheit und das heißt gleichzeitig, auf einem Wertunterschied. Der Begriff „autoritäre Ethik“ bezieht sich immer auf irrationale Autorität, gemäß dem herkömmlichen Sprachgebrauch des Wortes „autoritär“ als einem Synonym für totalitär und antidemokratisch. Der Leser wird bald erkennen, dass humanistische Ethik und rationale Autorität durchaus vereinbar sind.

Autoritäre Ethik unterscheidet sich von humanistischer Ethik durch zwei Kennzeichen, ein formales und ein materiales. In formaler Hinsicht leugnet autoritäre Ethik die Fähigkeit des Menschen, zu wissen, was gut und was böse ist. Der Normgeber ist stets eine Autorität, die das Individuum transzendiert. Ein solches System gründet nicht in Vernunft und Wissen, sondern in der Furcht vor der Autorität und in dem Gefühl der Schwäche und der Abhängigkeit des Untergebenen. Die magische Kraft der Autorität bewirkt, dass man es ihr überlässt, Entscheidungen zu treffen. Ihre Entscheidungen können und dürfen nicht in Frage gestellt werden. In materialer oder inhaltlicher Hinsicht beantwortet autoritäre Ethik die Frage nach Gut und Böse primär vom Standpunkt der Interessen der Autorität und nicht der Interessen des Individuums.

Sie beutet immer aus, auch dann, wenn der Untergebene beträchtlichen psychischen oder materiellen Gewinn aus ihr zu ziehen vermag.

Sowohl die formalen wie die materialen Kennzeichen der autoritären Ethik treten in der Genese ethischer Werturteile beim Kinde und unreflektierter Werturteile des durchschnittlichen Erwachsenen in Erscheinung.[8] Die Grundlagen unserer Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, werden im Kindesalter geschaffen. Dies gilt zunächst hinsichtlich physiologischer Funktionen, dann aber auch in Bezug auf komplexere Fragen des Verhaltens. Das Kind erwirbt bereits ein Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse, noch ehe es mit Hilfe der Vernunft zu unterscheiden lernt. Seine Werturteile sind das Ergebnis freundlicher oder unfreundlicher [II-012] Reaktionen jener Menschen, die für sein Leben bedeutungsvoll sind. In Anbetracht seiner völligen Abhängigkeit von der Fürsorge und Liebe der Erwachsenen kann es nicht überraschen, dass schon ein Ausdruck der Billigung oder Missbilligung im Gesicht der Mutter genügt, dem Kind den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen. In der Schule und in der Gesellschaft wirken ähnliche Faktoren. „Gut“ ist das, wofür man gelobt wird, „böse“ ist das, wofür man von gesellschaftlichen Autoritäten oder von der Mehrzahl seiner Mitmenschen missbilligend angesehen oder auch getadelt wird. In der Tat scheint es so zu sein, dass die Furcht vor Tadel und der Wunsch nach Anerkennung die mächtigste und beinahe ausschließliche Motivierung für ethisches Urteilen ist. Dieser intensive emotionale Druck hindert das Kind, später auch den Erwachsenen, kritisch zu fragen, ob „gut“ etwas Gutes für ihn selbst oder für die Autorität bedeutet. Diese Unterscheidung wird deutlich, wenn wir Werturteile in Bezug auf Dinge betrachten. Sage ich, ein Auto sei „besser“ als ein anderes, dann ist selbstverständlich, dass ich das eine Auto darum als „besser“ bezeichne, weil es mir mehr nützt als das andere. Gut oder schlecht bezieht sich hier auf den Gebrauchswert, den ein Gegenstand für mich hat. Hält der Besitzer eines Hundes seinen Hund für „gut“, dann bezieht er sich auf bestimmte Eigenschaften des Hundes, die für ihn von Nutzen sind, zum Beispiel, dass er den Ansprüchen des Besitzers an einen Wachhund, Jagdhund oder an ein anhängliches Schoßhündchen entspricht. Ein Ding wird dann als gut bezeichnet, wenn es für die Person gut ist, die es gebraucht. Das gleiche Wertkriterium lässt sich auch auf den Menschen anwenden. Der Arbeitgeber bezeichnet einen Arbeitnehmer als „gut“, wenn dieser ihm von Nutzen ist. Der Lehrer wird einen Schüler vermutlich dann „gut“ nennen, wenn er gehorsam ist, den Unterricht nicht stört und ihm alle Ehre macht. Ein Kind wird man gleichfalls „gut“ nennen, wenn es lernwillig und gehorsam ist. Das „gute Kind“ ist vielleicht eingeschüchtert und unsicher und hat nur das Bestreben, seinen Eltern zu gefallen, indem es sich ihrem Willen unterwirft, während das „böse Kind“ seinen eigenen Willen und eigene Interessen hat, die jedoch den Eltern missfallen.

Die formalen und materialen Aspekte der autoritären Ethik sind offensichtlich nicht voneinander zu trennen. Wenn die Autorität den ihr Unterworfenen nicht ausbeuten wollte, hätte sie keine Veranlassung, ihn durch Furcht und emotionale Unterwürfigkeit zu beherrschen. Sie könnte jedes vernunftmäßige Urteil und jede Kritik fördern, müsste dann aber das Risiko eingehen, als nicht kompetent befunden zu werden. Da jedoch ihre eigenen Interessen auf dem Spiel stehen, gilt für die Autorität das Gesetz, dass Gehorsam die höchste Tugend und Ungehorsam die Kardinalsünde ist. Rebellion ist in der autoritären Ethik eine unverzeihliche Sünde. Sie stellt das Recht der Autorität in Frage, Normen aufzustellen; und sie stellt ihr Axiom in Frage, dass die von ihr aufgestellten Normen den Interessen der ihr Unterworfenen am besten dienen. Ein Sünder wird dadurch, dass er die Strafe hinnimmt und sich schuldig fühlt, wieder ein „guter Mensch“, denn er beweist damit, dass er die Überlegenheit der Autorität anerkennt.

In den Erzählungen über die Anfänge der menschlichen Geschichte gibt das Alte Testament eine Illustration dessen, was autoritäre Ethik ist. Die Sünde von Adam und [II-013] Eva wird nicht durch die Tat als solche erklärt. Vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen war nicht an sich schlecht; tatsächlich stimmen sowohl die jüdische wie die christliche Religion darin überein, dass die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, eine Grundtugend ist. Die Sünde bestand im Ungehorsam, in der Herausforderung der göttlichen Autorität. Gott fürchtete deshalb: „Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!“ (Gen 3,2) Die humanistische Ethik kann ebenso wie die autoritäre Ethik mittels formaler und materialer Kriterien erfasst werden. In formaler Hinsicht beruht sie auf dem Prinzip, dass nur der Mensch selbst das Kriterium für Tugend und Sünde bestimmen kann, niemals aber eine Autorität, die ihn transzendiert. Materialiter basiert sie auf dem Prinzip: „Gut“ ist das, was für den Menschen gut ist, „böse“ ist das, was ihm schadet. Das Wohl des Menschen ist das einzige Kriterium für ein ethisches Werturteil.

Der Unterschied zwischen humanistischer und autoritärer Ethik zeigt sich in den verschiedenen Bedeutungen, die das Wort „Tugend“ hat. Aristoteles gebraucht „Tugend“, um eine „Vortrefflichkeit“ zu bezeichnen, nämlich die Vortrefflichkeit, die dem Menschen eigenen Möglichkeiten zu realisieren. Paracelsus zum Beispiel gebraucht das Wort „Tugend“ als Synonym für die individuellen Eigentümlichkeiten eines jeden Dinges, das heißt also, für seine Besonderheit. Ein Stein oder eine Blume, jedes hat seine Tugend, seine spezifischen Eigenschaften. So besteht auch die „Tugend“ des Menschen in jenen Eigenschaften, die für die Spezies Mensch charakteristisch sind, während die Tugend jedes Einzelnen in seiner einmaligen Individualität besteht.

Der Mensch ist „tugendhaft“, wenn er seine „Tugend“ zur Entfaltung bringt. Im Gegensatz hierzu ist „Tugend“ im heutigen Sinn ein Begriff der autoritären Ethik. Tugendhaft zu sein bedeutet hier Selbstverleugnung und Gehorsam, Unterdrückung der Individualität und nicht deren völlige Entfaltung.

Humanistische Ethik ist anthropozentrisch, freilich nicht in dem Sinne, dass der Mensch der Mittelpunkt des Universums ist, vielmehr in dem Sinne, dass seine Werturteile, wie alle anderen Urteile und Wahrnehmungen, in der Besonderheit seiner Existenz ihren Ursprung haben und nur in Beziehung zu dieser sinnvoll sind. Der Mensch ist tatsächlich „das Maß aller Dinge“. Vom humanistischen Standpunkt aus gibt es nichts Höheres und nichts Erhabeneres als die menschliche Existenz. Gegen diese Auffassung wurde eingewandt, dass es gerade im Wesen des ethischen Verhaltens liege, dass es auf etwas bezogen sei, was den Menschen transzendiere und dass deshalb ein System, das nur den Menschen und sein Interesse anerkenne, nicht wirklich ethisch sein könne, denn es könne lediglich das isolierte egoistische Individuum zum Gegenstand haben.

Dieses Argument beruht auf einem Fehlschluss. Es wird gewöhnlich vorgebracht, um die Fähigkeit des Menschen - und sein Recht - zu widerlegen, die für sein Leben gültigen Normen selbst erstellen und beurteilen zu können. Denn der Grundsatz, gut ist, was für den Menschen gut ist, bedeutet nicht, dass für ihn von Natur aus Egoismus und Isolierung gut sind. Folglich kann es auch nicht heißen, dass der Sinn des menschlichen Daseins in der Beziehungslosigkeit zur Welt außerhalb des eigenen Ich erfüllt [II-014] werden kann. Wie schon viele Verfechter der humanistischen Ethik dargelegt haben, besteht in der Tat eines der Charakteristika der menschlichen Natur darin, dass der Mensch Erfüllung und Glück nur in der Bezogenheit auf seine Mitmenschen und in der Solidarität mit ihnen findet. Seinen Nächsten zu lieben ist jedoch kein Phänomen, das den Menschen transzendiert.[9] Es ist vielmehr etwas, das ihm innewohnt und von ihm seinen Ausgang nimmt. Liebe ist keine höhere Macht, die von oben zum Menschen hinuntersteigt. Sie ist auch keine Pflicht, die ihm auferlegt wird. Sie ist eine dem Menschen eigene Kraft, durch die er sich zur Welt in Beziehung setzt und durch die er die Welt zu seiner Welt macht.

b) Subjektivistische Ethik im Gegensatz zu objektivistischer Ethik

Wenn wir vom Prinzip einer humanistischen Ethik ausgehen, was können wir dann jenen antworten, die dem Menschen die Fähigkeit abstreiten, zu normativen Grundsätzen zu gelangen, die objektiv gültig sind? Eine Richtung innerhalb der humanistischen Ethik lässt diesen Einwand tatsächlich gelten. Sie anerkennt, dass Werturteile keinerlei objektive Gültigkeit beanspruchen können, da sich in ihnen nur willkürliche Neigungen und Abneigungen des Einzelnen ausdrücken. So gesehen umschreibt beispielsweise der Satz „Freiheit ist besser als Sklaverei“ nur einen Unterschied in der persönlichen Bevorzugung. Objektive Gültigkeit kommt ihm jedoch nicht zu. In diesem Sinne wird der Wert als „irgendein gewünschtes Gutes“ definiert. Der Wunsch rechtfertigt den Wert, nicht aber der Wert den Wunsch. Ein so radikaler Subjektivismus ist seinem Wesen nach absolut unvereinbar mit dem Gedanken, dass ethische Normen universal gültig und auf jeden anwendbar sein sollten. Wäre dieser Subjektivismus die einzige Möglichkeit humanistischer Ethik, dann bliebe uns tatsächlich nur die Wahl zwischen einem autoritären ethischen Denken und dem Verzicht auf jeglichen Anspruch auf allgemein gültige Normen.

Ethischer Hedonismus ist das erste Zugeständnis, das dem Prinzip der Objektivität gemacht wird. Geht man von der Annahme aus, dass Lust für den Menschen gut und Unlust böse ist, dann setzt dies ein Prinzip voraus, nach dem Wünsche bemessen werden können. Es sind dann solche Wünsche wertvoll, deren Erfüllung Lust verursacht, andere nicht. Aber trotz Herbert Spencers Behauptung, die Lust habe im biologischen Entwicklungsprozess eine objektive Funktion, kann Lust dennoch kein Wertkriterium sein. Denn es gibt Menschen, die an der Unterwerfung und nicht an der Freiheit Lust empfinden, für die nicht Liebe, sondern Hass, nicht produktive Arbeit, sondern Ausbeutung Lust bedeutet. Ein derartiges Lustgefühl an dem, was objektiv schädlich ist, kennzeichnet den neurotischen Charakter. Dieser ist von der Psychoanalyse gründlich erforscht worden. Bei unserer Erörterung der Charakterstruktur werden wir auf dieses Problem zurückkommen, ebenso in dem Kapitel über Glück und Lust.

Den entscheidenden Schritt zu einem objektiveren Wertkriterium hat Epikur mit einer Modifikation des ethischen Prinzips gemacht. Er versuchte die Schwierigkeit dadurch zu meistern, dass er zwischen „höheren“ und „niederen“ Freuden [II-015] unterschied. Wenn damit die eigentliche Schwäche des Hedonismus auch erkannt wurde, so blieb der Versuch in seinem Ergebnis doch abstrakt und dogmatisch. Nichtsdestoweniger kann der Hedonismus ein großes Verdienst für sich beanspruchen. Da er nämlich das eigene Lust- und Glücksempfinden des Menschen zum einzigen Wertkriterium machte, schloss er von vornherein alle Versuche aus, eine Autorität einzuführen, die von sich aus bestimmt, was das Beste für den Menschen ist, ohne dem Menschen die Möglichkeit einer eigenen Entscheidung zu belassen, ob er das als das Beste empfindet, was ihm als das angeblich Beste vorgestellt wird. Daher kann die Tatsache nicht überraschen, dass eine hedonistische Ethik von fortschrittlichen Denkern, die ehrlich und leidenschaftlich für das Glück des Menschen eintraten, sowohl in Griechenland und Rom als auch in den modernen europäischen und amerikanischen Kulturen vertreten wurde.

Trotz seiner Verdienste konnte der Hedonismus jedoch keine Grundlage für objektiv gültige ethische Urteile schaffen. Müssen wir deshalb auf den Anspruch der Objektivität verzichten, wenn wir uns für den Humanismus entscheiden? Oder ist es möglich, Verhaltensnormen und Werturteile zu finden, die für alle Menschen gültig sind und die doch vom Menschen selbst und nicht von einer ihn transzendierenden Autorität aufgestellt werden? Ich glaube, dass dies möglich ist, und werde nun versuchen, eine solche Möglichkeit darzulegen.

Zunächst dürfen wir nicht vergessen, dass „objektiv gültig“ nicht mit „absolut“ identisch ist. Eine Behauptung über Wahrscheinlichkeit oder annähernde Gültigkeit irgendeiner Hypothese kann beispielsweise gültig und zugleich „relativ“ sein, und zwar in dem Sinn, dass sie auf Grund begrenzt gültiger Evidenz aufgestellt wurde und späteren Berichtigungen unterworfen ist, sofern Tatsachen oder Verfahrensweisen dies erforderlich machen. Die ganze Vorstellung von „relativ“ und „absolut“ wurzelt im theologischen Denken, in dem ein göttlicher Bereich als das „Absolute“ von dem unvollkommenen menschlichen Bereich unterschieden wird. Von diesem theologischen Zusammenhang abgesehen ist der Begriff „absolut“ bedeutungslos. In der Ethik wie im allgemeinen wissenschaftlichen Denken ist für ihn kein Raum.

Aber selbst dann, wenn wir in diesem Punkt einig sind, muss der Haupteinwand gegen die Möglichkeit objektiv gültiger Urteile in der Ethik noch geklärt werden: der Einwand nämlich, dass „Tatsachen“ deutlich von Werten unterschieden werden müssten. Seit Kant ist es eine weitverbreitete Auffassung, dass objektiv gültige Urteile nur über Tatsachen und nicht über Werte selbst gefällt werden könnten und dass der Ausschluss von Werturteilen ein Beweis für wissenschaftliches Denken sei.

Im Bereich der Künste („Kunst“ hier im alten Wortsinne, wie etwa Schmiedekunst, Heilkunst verstanden) haben wir uns daran gewöhnt, objektiv gültige Normen aufzustellen, die mit Hilfe wissenschaftlicher Prinzipien abgeleitet wurden, welche ihrerseits auf Grund der Beobachtung der Wirklichkeit und/oder in umfassenden mathematisch-deduktiven Verfahren gefunden wurden. Die reinen oder „theoretischen“ Wissenschaften befassen sich mit der Entdeckung von Tatsachen und Prinzipien, obwohl sogar in die Physik oder in die Biologie ein normatives Element eintritt, das ihre Objektivität jedoch nicht beeinträchtigt. Die angewandten Wissenschaften befassen sich primär mit praktischen Normen, auf Grund derer etwas getan werden soll - wobei [II-016] das „Sollen“ durch wissenschaftliche Erkenntnis von Tatsachen und Prinzipien bestimmt wird. Sich in einer der Künste zu betätigen, setzt bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten voraus. Während einige Künste nur „Kenntnisse“ erfordern, über die ein gesunder Menschenverstand verfügt, erfordern andere, wie etwa die Kunst des Ingenieurs oder die Heilkunst ein umfassendes theoretisches Wissen. Wer zum Beispiel eine Eisenbahnlinie bauen möchte, muss sie so anlegen, dass die Bauweise mit bestimmten physikalischen Grundgesetzen übereinstimmt. In allen „Künsten“ bildet ein System objektiv gültiger Normen die theoretische Grundlage für die Praxis (der angewandten Wissenschaft). Dieses System gründet sich seinerseits auf die theoretischen Wissenschaften. Mag es auch verschiedene Wege geben, um in irgendeiner Kunst Hervorragendes zu leisten, so sind doch die Normen keineswegs willkürlich. Ihre Missachtung zeitigt schlechte Resultate oder sogar einen absoluten Misserfolg auf dem Weg zum angestrebten Ziel.

Aber nicht nur Medizin, Technik und Malerei sind Künste; das Leben selbst ist eine Kunst[10] - in Wirklichkeit die wichtigste und zugleich schwierigste und vielfältigste Kunst, die der Mensch ausüben kann. Ihr Gegenstand ist nicht diese oder jene spezielle Verrichtung, sondern die „Verrichtung“ des Lebens selbst, der Entwicklungsprozess auf das hin, was der Mensch potenziell ist. Bei der Kunst des Lebens ist der Mensch sowohl der Künstler als auch der Gegenstand seiner Kunst. Er ist der Bildhauer und der Stein, der Arzt und der Patient.

Für die humanistische Ethik ist „gut“ gleichbedeutend mit „gut für den Menschen“ und „böse“ gleichbedeutend mit „schlecht für den Menschen“. Um zu wissen, was für den Menschen gut ist, müssen wir seine Natur kennen. Humanistische Ethik ist die angewandte Wissenschaft von der „Kunst des Lebens“. Sie beruht auf der theoretischen „Wissenschaft vom Menschen“. Hier wie in anderen „Künsten“ gilt: Das Maß an Vortrefflichkeit der Bemühungen eines Menschen („Tugend“) verhält sich proportional zu seinen Kenntnissen in der Wissenschaft vom Menschen und zu seinem Können und Tun.

Man kann jedoch nur dann Normen von Theorien ableiten, wenn man eine bestimmte Tätigkeit gewählt hat und ein bestimmtes Ziel angestrebt wird. Die Voraussetzung der Medizin ist der Wunsch, Krankheit zu heilen und Leben zu verlängern. Wäre dies nicht so, dann wären alle Regeln der Medizin ohne Bedeutung. Jede angewandte Wissenschaft gründet sich auf ein Axiom, das die Folge einer Entscheidung ist: dass der Zweck des Tuns wünschenswert ist. Ein Unterschied besteht allerdings zwischen dem Axiom, das der Ethik zugrunde liegt, und dem anderer „Künste“. Hypothetisch können wir uns eine Kultur vorstellen, in der die Menschen keinen Wunsch nach Gemälden oder Brücken haben, wir können uns jedoch keine vorstellen, in der die Menschen nicht gerne leben. Der Trieb zu leben wohnt jedem Organismus inne. Der Mensch kann daher gar nicht anders entscheiden als leben zu wollen, unabhängig davon, was für Gedanken er sich über das Leben selbst macht. (Der Suizid als pathologisches Phänomen widerspricht diesem allgemeinen Prinzip nicht.) Die Wahl zwischen [II-017] Leben und Tod ist eher ein scheinbares Problem als ein reales. Des Menschen wirkliche Wahl ist die zwischen einem guten Leben und einem schlechten.

Es ist interessant hier die Frage zu stellen, warum unsere Zeit die Auffassung vom Leben als einer Kunst verloren hat. Der moderne Mensch scheint zu glauben, Lesen und Schreiben seien Künste, die man erlernen müsse. Es bedürfe zwar umfassender Studien, um Architekt, Ingenieur oder gelernter Arbeiter zu werden, das Leben selbst jedoch sei etwas so Einfaches, dass keine besondere Anstrengung nötig sei, um es zu erlernen. Weil jeder auf irgendeine Weise „lebt“, sieht man das Leben als etwas an, das jeden berechtigt, sich als Lebenskünstler zu bezeichnen. Doch nicht deswegen, weil der Mensch die Kunst des Lebens in hohem Maße beherrscht, ging ihm das Gespür für ihre Schwierigkeit verloren. Das häufige Fehlen von echter Freude und echtem Glück im Vollzug des Lebens schließt offensichtlich eine solche Erklärung aus. Die moderne Gesellschaft hat den Menschen trotz aller Betonung von Glück, Individualität und Selbstinteresse gelehrt, sich bewusst zu werden, dass nicht sein Glück (oder um den theologischen Terminus zu gebrauchen, sein Heil) das Ziel des Lebens sei, sondern die Erfüllung seiner Pflicht zu arbeiten oder sein Erfolg. Geld, Prestige und Macht sind Triebfedern und Daseinszweck geworden. Der Mensch handelt in der Illusion, seine Handlungen nützten seinem Selbstinteresse, obgleich er in Wirklichkeit allem anderen dient, nur nicht seinen eigenen wahren Interessen. Alles ist ihm wichtig, nur nicht das eigene Leben und die Kunst des Lebens. Für alles ist er zu haben, nur nicht für sich selbst.

Wenn die Ethik die Normen aufstellt, die uns befähigen, Vortreffliches in der Kunst des Lebens zu erreichen, dann müssen sich ihre allgemeinsten Prinzipien aus der Natur des Lebens im allgemeinen und aus der menschlichen Existenz im besonderen herleiten. Allgemein gesprochen: Die Natur alles Lebendigen ist die Erhaltung und Bejahung der eigenen Existenz. Allen Organismen wohnt die Tendenz inne, ihre Existenz zu erhalten. Von dieser Tatsache ausgehend, haben die Psychologen einen Selbsterhaltungstrieb angenommen. Danach besteht die erste „Pflicht“ eines Organismus darin, lebendig zu sein.

„Lebendig sein“ ist eine dynamische, keine statische Größe. Die Existenz und die Entfaltung der spezifischen Kräfte eines Organismus sind ein und dasselbe. Allen Organismen wohnt die Tendenz inne, die ihnen eigenen Möglichkeiten zu verwirklichen. Demzufolge muss man das Ziel des menschlichen Lebens in der Entfaltung der menschlichen Kräfte entsprechend den Gesetzen der Natur des Menschen sehen.

Allerdings existiert der Mensch nicht „im allgemeinen“. Wenn er auch den Kern der menschlichen Eigenschaften mit allen Mitgliedern seiner Spezies gemeinsam hat, so ist er doch stets ein Individuum, ein einmaliges Wesen, das sich von jedem anderen Individuum unterscheidet. Er unterscheidet sich ebenso durch die besondere Mischung von Charakter, Temperament, Talenten, Dispositionen, wie durch die Form seiner Finger. Die ihm eigentümlichen menschlichen Möglichkeiten kann er nur verwirklichen, wenn er seine Individualität verwirklicht. Die Aufgabe, lebendig zu sein, ist identisch mit der Aufgabe, er selbst zu werden, sich zu dem Individuum zu entwickeln, das er potenziell ist.

Fassen wir zusammen: Gut im Sinne der humanistischen Ethik bedeutet Bejahung des [II-018] Lebens, Entfaltung der menschlichen Kräfte; Tugend heißt, sich der eigenen Existenz gegenüber verantwortlich zu fühlen. Das Böse führt zur Lähmung der menschlichen Kräfte; Laster ist Verantwortungslosigkeit sich selbst gegenüber.

Dies sind die ersten Prinzipien einer objektiven humanistischen Ethik. Wir können sie hier nicht näher erläutern und werden daher im vierten Kapitel nochmals darauf zurückkommen. Zuvor müssen wir allerdings die Frage aufwerfen, ob eine „Wissenschaft vom Menschen“, und zwar als theoretische Grundlage der angewandten Wissenschaft Ethik, überhaupt möglich ist.

c) Die Wissenschaft vom Menschen

Der Begriff einer Wissenschaft vom Menschen[11] setzt voraus, dass ihr Gegenstand, der Mensch, existiert und dass es so etwas wie eine menschliche Natur gibt, die für die menschliche Spezies charakteristisch ist. In dieser Frage zeigt die Geschichte des Denkens ihre besondere Ironie und enthält eigenartige Widersprüche. Autoritäre Denker haben es sich leicht gemacht, indem sie die Existenz einer nach ihrer Meinung starren und unveränderlichen menschlichen Natur voraussetzten. Diese Annahme sollte beweisen, dass die auf dieser vorausgesetzten Natur des Menschen beruhenden ethischen Systeme und gesellschaftlichen Institutionen notwendig und unwandelbar seien. Ihre Ansicht über die menschliche Natur war jedoch nur die Widerspiegelung ihrer Normen - und Interessen -, nicht jedoch das Ergebnis objektiver Forschung. So ist es denn auch begreiflich, dass fortschrittliche Denker jene Forschungsergebnisse der Anthropologie und Psychologie begrüßten, welche im Gegensatz dazu die unbegrenzte Formbarkeit der menschlichen Natur nachzuweisen schienen. Denn Formbarkeit sollte bedeuten, dass Normen und Institutionen, die eher eine vorausgesetzte Ursache der menschlichen Natur als deren Wirkung sind, ebenfalls formbar sein können. Während sie so der irrigen Annahme entgegentraten, dass bestimmte geschichtlich gewachsene Verhaltensmuster der Ausdruck einer starren und ewigen menschlichen Natur seien, kamen dennoch die Verfechter einer Theorie der unbegrenzten Formbarkeit der menschlichen Natur zu einer ebenso unhaltbaren Position. Zunächst einmal führt die Auffassung der unbegrenzten Formbarkeit der menschlichen Natur leicht zu Folgerungen, die genauso wenig befriedigen wie jene Auffassung, die eine starre und unveränderliche Natur des Menschen annimmt. Wäre der Mensch nämlich unbegrenzt formbar, dann könnte er tatsächlich durch Normen und Institutionen, die seinem Wohlergehen entgegenstehen, für immer geformt werden, ohne dass es eine Möglichkeit gäbe, die der menschlichen Natur innewohnenden Kräfte zu mobilisieren, um eine Veränderung der Verhältnisse zu erreichen. In diesem Falle wäre der Mensch nur eine Marionette irgendwelcher gesellschaftlicher [II-019] Zustände und nicht - wie er im Laufe der Geschichte unter Beweis gestellt hat - ein tätiges Wesen, dessen innere Eigenschaften heftig reagieren, wenn sie durch ungünstige gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen unter Druck gesetzt werden. Wäre der Mensch nichts anderes als eine Widerspiegelung kultureller Verhältnisse, dann könnte keine Gesellschaftsordnung vom Standpunkt des menschlichen Wohlergehens aus kritisiert und beurteilt werden, weil es keine Vorstellungen vom Wesen „Mensch“ gäbe.

Ebenso wichtig wie die politischen und moralischen Rückwirkungen der Theorie von der Formbarkeit sind theoretische Folgerungen. Wenn wir annehmen, es gäbe keine andere menschliche Natur (als die in Begriffen grundlegender physiologischer Bedürfnisse definierte), dann wäre die einzig vertretbare Psychologie ein radikaler Behaviorismus, der lediglich unzählige Verhaltensweisen beschreibt, oder eine Psychologie, die nur quantitative Aspekte menschlichen Verhaltens misst. Psychologie und Anthropologie hätten keine andere Aufgabe, als die verschiedenen Arten zu beschreiben, in welcher gesellschaftliche Institutionen und kulturelle Verhältnisse den Menschen formen. Die besonderen Erscheinungsformen des Menschlichen wären nichts anderes als der Ausdruck davon, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Menschen eingewirkt haben. In diesem Falle könnte es nur noch eine einzige Wissenschaft vom Menschen geben, nämlich die vergleichende Soziologie. Wollen jedoch Psychologie und Anthropologie gültige Behauptungen über die Gesetze aufstellen, die das menschliche Verhalten bestimmen, dann müssen sie auch von der Voraussetzung ausgehen, dass etwas, nennen wir es X, auf Einflüsse seiner Umgebung in einer feststellbaren Weise reagiert, die sich aus der Eigenart von X herleitet. Da die Natur des Menschen nicht starr ist, kann auch die Kultur nicht als das Ergebnis unwandelbarer menschlicher Instinkte verstanden werden. Ebenso wenig ist die Kultur etwas Feststehendes, dem sich die menschliche Natur passiv und in vollem Umfang anpasst. Zwar kann sich der Mensch unzulänglichen Verhältnissen anpassen, aber in diesem Prozess entwickelt er bestimmte seelische und emotionale Reaktionen, die aus den besonderen Eigenheiten seiner Natur heraus entstehen.

Der Mensch kann sich der Sklaverei anpassen, doch reagiert er darauf mit dem Nachlassen seiner intellektuellen und moralischen Fähigkeiten. Ebenso kann er sich einer Kultur anpassen, die von gegenseitigem Misstrauen und Feindseligkeit erfüllt ist, aber seine Reaktion auf diese Anpassung besteht darin, dass er schwach und unschöpferisch wird. Der Mensch kann sich auch kulturellen Verhältnissen anpassen, die von ihm die Verdrängung seiner Sexualität verlangen, aber seine Anpassung hat die Entstehung neurotischer Symptome zur Folge, wie Freud aufgewiesen hat. Der Mensch kann sich fast allen kulturellen Verhältnissen anpassen; stehen diese aber im Widerspruch zu seiner Natur, dann stellen sich seelische und emotionale Störungen ein, die ihn allmählich zwingen, diese Verhältnisse zu ändern, da er seine Natur nicht ändern kann.

Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, auf das erst die Kultur ihren Text schreibt. Er ist ein Wesen, das mit Energien ausgestattet und in besonderer Weise strukturiert ist. Er passt sich an und reagiert dabei in spezifischer und feststellbarer Weise auf äußere Bedingungen. Hätte sich der Mensch, wie es das Tier tut, durch eine [II-020] Veränderung seiner eigenen Natur, gleichsam autoplastisch, äußeren Bedingungen angepasst, und könnte er ausschließlich unter solchen spezifischen Bedingungen leben, für die er eine besondere Anpassungsfähigkeit entwickelt hat, dann wäre er in die Sackgasse jener Spezialisierung geraten, die das Schicksal jeder Tiergattung ist, und eine geschichtliche Entwicklung wäre ausgeschlossen. Wenn sich der Mensch andererseits allen Bedingungen anpassen könnte, ohne dass er gegen solche ankämpfen müsste, die seiner Natur nicht entsprechen, dann hätte es ebenfalls keine Geschichte gegeben. Die Evolution des Menschen setzt seine Anpassungsfähigkeit, gleichzeitig aber auch bestimmte unzerstörbare Eigenschaften seiner Natur voraus, die ihn zwingen, unablässig solche Bedingungen zu suchen, die den allein ihm eigenen Bedürfnissen besser entsprechen.

Der Gegenstand der Wissenschaft vom Menschen ist die menschliche Natur. Diese Wissenschaft geht aber nicht von einem vollständigen und adäquaten Bild dessen, was die menschliche Natur ist, aus. Eine befriedigende Definition ihres Gegenstandes ist ihr Ziel, nicht ihr Ausgangspunkt. Ihre Methode besteht darin, die Reaktionen des Menschen auf verschiedene individuelle und gesellschaftliche Bedingungen zu beobachten, um dann aus der Beobachtung eben dieser Reaktionen zu Schlussfolgerungen über die Natur des Menschen zu kommen.[12] Geschichte und Kulturanthropologie erforschen die Reaktionen des Menschen auf solche kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen, die sich von den unseren unterscheiden. Die Sozialpsychologie hingegen erforscht die Reaktionen der Menschen in verschiedenen gesellschaftlichen Konstellationen innerhalb unserer eigenen Kultur. Die Entwicklungspsychologie erforscht die Reaktionen des heranwachsenden Kindes auf verschiedene Situationen. Die Psychopathologie versucht, Aufschluss über die menschliche Natur zu finden, indem sie ihre Verzerrungen auf Grund von pathogenen Bedingungen untersucht. Man kann nicht die menschliche Natur als solche beobachten, sondern nur ihre spezifischen Manifestationen in spezifischen Situationen. Die menschliche Natur ist eine theoretische Konstruktion, die auf Grund der empirischen Erforschung des menschlichen Verhaltens erschlossen werden kann. In ihrem Bemühen, ein „Modell der menschlichen Natur“ zu konstruieren, unterscheidet sich die Wissenschaft vom Menschen in nichts von anderen Wissenschaften, die ebenso mit bestimmten Hypothesen operieren, welche nicht unmittelbar selbst beobachtet werden können, sondern sich aus beobachtbaren Daten erschließen lassen und sich an diesen bewahrheiten müssen. Trotz des umfangreichen Tatsachenmaterials, das Psychologie und Anthropologie liefern, haben wir nur ein unvollständiges und vorläufiges Bild von der Natur des Menschen. Wenn wir empirisch und objektiv feststellen wollen, was die menschliche Natur ausmacht, können wir noch immer von Shylock lernen und das im erweiterten Sinne für die ganze Menschheit gelten lassen, was er über Juden und Christen sagt:

Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht [II-021] rächen? Sind wir euch in Dingen ähnlich, so wollen wir’s euch auch darin gleich tun. (William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, 3. Akt, 1. Szene.)

d) Die Tradition der humanistischen Ethik

In der Tradition der humanistischen Ethik herrscht die Ansicht vor, die Kenntnis des Menschen sei die Voraussetzung dafür, Normen und Werte aufstellen zu können. Die ethischen Abhandlungen von Aristoteles, Spinoza und Dewey - Denker, deren Ansichten wir in diesem Kapitel skizzieren wollen - sind deshalb gleichzeitig Abhandlungen zur Psychologie. Ich will im Folgenden keinen Überblick über die Geschichte der humanistischen Ethik geben, sondern lediglich eine Veranschaulichung ihrer Grundsätze, wie sie bei einigen ihrer bedeutendsten Vertreter zu finden sind.

Aristoteles baut seine Ethik auf der Wissenschaft vom Menschen auf. Seine Psychologie untersucht die Natur des Menschen; die Ethik ist demzufolge angewandte Psychologie. Wie der Staatsmann, so muss auch der Ethiker „in gewissem Umfang vom Seelischen Kenntnis haben, genauso wie der Arzt, der die Augen heilen will, den Körper als Ganzes kennen soll... In den Reihen der Ärzte bemühen sich übrigens häufig gerade die geistig hochstehenden um theoretische Kenntnis des Leibes“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1102a). Von der Natur des Menschen deduziert Aristoteles die Norm, dass Tugend (Trefflichkeit) ein Tätigsein ist, womit er die Übung der Bestimmung und der Fähigkeit meint, die nur dem Menschen eigen ist. Glück, das Ziel des Menschen, ist die Folge von „Tätigsein“ und „Handeln“ und kein stiller Besitz oder ein Seelenzustand. Um seinen Begriff von Tätigsein zu erklären, gebraucht er die Olympischen Spiele als Analogie: „Wie bei den Festspielen von Olympia nicht die den Siegeskranz erringen, die am schönsten und stärksten aussehen, sondern die Kämpfer - denn aus ihren Reihen treten die Sieger -, so gelangen auch zu den Siegespreisen des Lebens nur die Menschen, die richtig handeln“ (a.a.O., 1099a). Der freie, vernünftige und tätige („kontemplative“) Mensch ist der gute und deshalb auch der glückliche Mensch. Wir haben hier also objektive Wertsätze, die auf den Menschen zentriert und humanistisch sind, und die gleichzeitig vom Verstehen der Natur und der Bestimmung des Menschen abgeleitet sind.

Wie Aristoteles, so fragt auch Spinoza nach der besonderen Bestimmung des Menschen. Er beginnt damit, dass er die Bestimmung und das Ziel von allem, was in der Natur ist, betrachtet und kommt zu dem Schluss: „Ein jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu beharren“ (Ethik, Teil III, 6. Lehrsatz). Die Bestimmung und das Ziel des Menschen können keine anderen sein als diejenigen eines jeglichen anderen Dinges, nämlich sich selbst und sein Leben zu erhalten. „Unbedingt aus Tugend handeln ist nichts anderes in uns, als nach Anleitung der Vernunft handeln, leben, sein Sein erhalten - diese drei Ausdrücke bedeuten dasselbe -, und zwar aus dem Grunde des Suchens nach dem eigenen Nutzen“ (Ethik, Teil IV, 24. Lehrsatz).

In seinem Sein zu beharren bedeutet für Spinoza, das zu werden, was man potenziell ist. Das gilt für alle Dinge. „Ein Pferd“, sagt Spinoza, „hört auf, ein Pferd zu sein, [II-022] ob es sich nun in einen Menschen oder in ein Insekt verwandelte“ (Ethik, Teil IV, Vorwort). In Übereinstimmung mit Spinoza könnten wir hinzufügen: Ein Mensch würde aufhören, ein Mensch zu sein, wenn er zu einem Engel oder zu einem Pferd werden würde. Tugend bedeutet die Entfaltung der spezifischen Möglichkeiten eines Organismus. Für den Menschen ist dies jener Zustand, in dem er ganz menschlich ist. Unter gut versteht Spinoza konsequenterweise das, „wovon wir sicher wissen, dass es ein Mittel ist, sich dem Modell der menschlichen Natur, das wir uns vorsetzen, mehr und mehr zu nähern. Unter schlecht dagegen (verstehe ich) dasjenige, wovon wir sicher wissen, dass es uns hindert, diesem Modell zu entsprechen“ (a.a.O.). Tugend ist demzufolge identisch mit der Realisierung der menschlichen Natur; die Wissenschaft vom Menschen ist jene theoretische Wissenschaft, auf die sich die Ethik gründet.

Die Vernunft zeigt dem Menschen, was er zu tun hat, um wahrhaft er selbst zu sein. Sie lehrt ihn, was gut ist. Die Tugend selbst kann der Mensch nur durch den tätigen Gebrauch seiner Kräfte erlangen. Stärke (potency) ist daher gleichbedeutend mit Tugend, Ohnmacht (impotence) mit Laster. Glück ist kein Selbstzweck, sondern geht einher mit der Erfahrung des Wachsens der eigenen Kräfte, während Ohnmacht mit Niedergeschlagenheit einhergeht. Stärke und Ohnmacht beziehen sich auf alle Kräfte, die dem Menschen eigen sind. Werturteile sind deshalb nur auf den Menschen und auf seine Interessen anwendbar. Trotzdem sind solche Werturteile nicht bloß Behauptungen über die Neigungen oder Abneigungen einzelner Individuen, denn die Eigentümlichkeiten des Menschen sind der ganzen Gattung und folglich allen Menschen eigen. Die Objektivität von Spinozas Ethik beruht auf der Objektivität seines Modells der menschlichen Natur, das in seinem Kern, obwohl es mannigfaltige individuelle Abwandlungen zulässt, für alle Menschen dasselbe ist. Spinoza ist ein radikaler Gegner der autoritären Ethik. Für ihn ist der Mensch Selbstzweck und nicht Mittel zum Zweck einer ihn transzendierenden Autorität. Ein Wert kann nur in Beziehung zu den wahren Interessen des Menschen bestimmt werden, das heißt in Bezug auf seine Freiheit und auf den produktiven Gebrauch seiner Kräfte.[13] [II-023]

Der hervorragendste zeitgenössische Vertreter einer wissenschaftlichen Ethik ist John Dewey, dessen Ansichten im Gegensatz zu einer autoritären und zu einer relativistischen Ethik stehen. Hinsichtlich der autoritären Ethik kommt er zu dem Ergebnis, das gemeinsame Merkmal jeder Berufung auf Offenbarung, auf gottgewollte Gesetze, auf Anordnungen des Staates, auf Konvention, Tradition usw. sei „die Voraussetzung einer Autorität, die jede Nachprüfung ausschließt“ (J. Dewey und J. H. Tufts, 1932, S. 364). In Bezug auf den Relativismus vertritt Dewey die Auffassung, allein die Tatsache, an etwas Freude zu empfinden, enthalte noch „kein Urteil über den Wert dessen, woran man sich erfreut“ (J. Dewey, 1946, S. 254). Die Freude ist etwas fundamental Gegebenes, aber sie muss „durch evidente Tatsachen verifiziert“ werden (a.a.O., S. 254). Wie Spinoza postuliert er, dass objektiv gültige Wertsetzungen kraft menschlicher Vernunft erlangt werden können. Auch für ihn ist das Ziel des menschlichen Lebens Wachstum und Entfaltung des Menschen gemäß seiner Natur und auf Grund seiner Konstitution.

Die Ablehnung aller festgelegten Zwecke führt ihn jedoch dazu, Spinozas wichtige Setzung eines „Modells der menschlichen Natur“ als einer wissenschaftlichen Vorstellung preiszugeben. In Deweys Lehre liegt der Hauptakzent auf der Beziehung zwischen Mitteln und Zwecken (oder Folgen) als Erfahrungsgrundlage für die Gültigkeit von Normen. Nach ihm findet eine Bewertung „nur dann statt, wenn es sich um etwas Bedeutsames handelt; wenn also eine Störung abgestellt, ein Bedürfnis befriedigt, ein Mangel behoben, eine Entbehrung beseitigt oder ein bestimmter Konflikt zwischen Neigungen mittels einer Veränderung der bestehenden Bedingungen gelöst werden muss. Damit wurde bewiesen, dass hier ein in Frage kommender Faktor immer gemeint ist, wenn es sich um eine solche Bewertung handelt. Der vorschwebende Zweck wird in Aussicht genommen und gestaltet, sofern man so handelt, dass ein bestehendes Bedürfnis befriedigt oder ein Mangel behoben, bzw. ein vorhandener Konflikt gelöst wird“ (J. Dewey, 1939, S. 34).

Für Dewey ist der Zweck „nur eine Folge von Handlungen, betrachtet im späteren Stadium; das Mittel ist nur eine Folge, betrachtet im vorausgegangenen Stadium. Die Unterscheidung von Mitteln und Zwecken erfolgt durch Betrachtung des Verlaufs einer angenommenen Tätigkeitskurve in Zusammenhängen der Zeitfolge. Der ‘Zweck’ ist der letzte in Aussicht genommene Akt; die Mittel sind Tätigkeiten, die zeitlich vor diesem auszuführen sind. (…) Mittel und Zwecke sind zwei Benennungen für die gleiche Wirklichkeit. Bezeichnet ist damit keine in der Wirklichkeit vollziehbare Trennung, sondern eine Unterscheidung im Urteil“ (J. Dewey, 1930, S. 34 f.).

Zweifellos ist Deweys Betonung der Wechselbeziehung zwischen Mitteln und Zwecken ein bedeutsamer Schritt für die Entwicklung der Theorie einer rationalen Ethik. Das gilt insbesondere für seine Warnung vor solchen Theorien, die Zwecke von Mitteln trennen und somit nutzlos werden. Und doch ist es allem Anschein nach unrichtig, dass wir „nicht wissen können, was wir in Wirklichkeit sind, ehe ein Tätigkeitsverlauf verstandesmäßig erfasst ist“ (J. Dewey, 1930, S. 36).

Zwecke können durch empirische Analyse des Gesamtphänomens „Mensch“ auch dann ermittelt werden, wenn wir die Mittel noch nicht kennen, um diese zu erreichen. Es gibt Zwecke, über die gültige Behauptungen aufgestellt werden können, obwohl [II-024] ihnen im Moment alles zu ihrer Verwirklichung fehlt. Die Wissenschaft vom Menschen ist in der Lage, uns einen Begriff vom „Modell der menschlichen Natur“ zu geben, von dem Zwecke abgeleitet werden können, noch bevor die Mittel gefunden worden sind, um diese Zwecke zu erreichen.[14]

e) Ethik und Psychoanalyse

Aus dem Vorhergehenden ergibt sich meiner Meinung nach eindeutig genug, dass die Entwicklung einer objektiven humanistischen Ethik als einer angewandten Wissenschaft von der Entwicklung der Psychologie als einer theoretischen Wissenschaft abhängt. Der Fortschritt von der aristotelischen Ethik zur Ethik Spinozas beruht weitgehend auf der Überlegenheit der dynamischen Psychologie Spinozas gegenüber der statischen des Aristoteles. Spinoza entdeckte die unbewusste Motivation, die Assoziationsgesetze und die Nachwirkung von Kindheitserfahrungen auf das ganze Leben. Sein Begriff der „Begierde“ ist ein dynamischer, und als solcher ist er dem aristotelischen Begriff der „Gewöhnung“ überlegen.[15] Wie jede andere Psychologie bis zum neunzehnten Jahrhundert blieb auch Spinozas Psychologie abstrakt. Sie entwickelte keine Methode, um ihre Theorien durch empirische Untersuchungen und Entdeckungen neuer Aussagen über den Menschen zu überprüfen.

In Deweys Ethik und Psychologie ist die empirische Forschung ein Schlüsselbegriff. Er anerkennt die unbewusste Motivation, und sein Begriff „habit“ unterscheidet sich von dem deskriptiven Habitus-Begriff des traditionellen Behaviorismus. Seine Behauptung, die moderne klinische Psychologie sei „wirklichkeitsnah, weil sie die tiefe Bedeutung unbewusster Kräfte betont, die nicht nur das sichtbare Verhalten bestimmen, sondern auch Wünsche und Urteile, den Glauben und die Entstehung von Ideen und Idealen“ (J. Dewey, 1930, S. 86), beweist, welche Bedeutung er allen unbewussten Faktoren beimisst, obwohl er in seiner ethischen Theorie noch längst nicht alle Möglichkeiten dieser neuen Methode ausschöpft.

Bisher sind nur wenige Versuche von philosophischer und psychologischer Seite unternommen worden, um die Ergebnisse der Psychoanalyse für die Ergebnisse einer ethischen Theorie auszuwerten.[16] Dies überrascht umso mehr, als gerade die psychoanalytische Theorie Beiträge geliefert hat, die besonders für eine ethische Theorie relevant sind. [II-025]

Als Wichtigstes muss wohl die Tatsache betrachtet werden, dass die Psychoanalyse als erstes modernes psychologisches System nicht voneinander isolierte Aspekte des Menschen, sondern seine ganze Persönlichkeit zum Gegenstand hat. Im Gegensatz zur Methode der herkömmlichen Psychologie, welche sich nur auf die Untersuchung solcher Phänomene beschränkt, die zu Zwecken der experimentellen Beobachtung hinlänglich voneinander isoliert werden können, entdeckte Freud eine neue Methode. Durch sie wurde es möglich, die Persönlichkeit als Ganzes zu erforschen. Gleichzeitig kann man verstehen, weshalb ein Mensch so und nicht anders handelt. Diese Methode, die Analyse von freien Assoziationen, von Träumen, Fehlleistungen und von Übertragungserscheinungen ist eine Beobachtungsweise, durch welche „private“ Daten, die nur der Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis zugänglich sind, in der Kommunikation zwischen Analysand und Analytiker „öffentlich“ gemacht und aufgewiesen werden können. Die psychoanalytische Methode hat hierdurch den Zugang zu solchen Phänomenen erschlossen, die bisher der Beobachtung unzugänglich waren. Zugleich enthüllte sie eine Fülle seelischer Inhalte, die nicht einmal durch Selbstbeobachtung erkannt werden konnten, weil sie verdrängt und vom Bewusstsein abgespalten waren. (Vgl. J. Dewey, 1946, S. 250-272, sowie Ph. B. Rice, 1935, S. 5-14 und 533-543.)

Während der Anfänge seiner Forschungen interessierte sich Freud hauptsächlich für neurotische Symptome. Je mehr die Psychoanalyse sich jedoch entwickelte, desto offensichtlicher wurde, dass ein neurotisches Symptom nur dann verstanden werden kann, wenn die Charakterstruktur, in die es eingebettet ist, verstanden wird. Statt des Symptoms wurde der neurotische Charakter zum wichtigsten Gegenstand der psychoanalytischen Theorie und Therapie. Im Verlauf der Erforschung des neurotischen Charakters schuf Freud die Basis für eine Wissenschaft vom Charakter (Charakterologie), die bis dahin Jahrhunderte lang von der Psychologie vernachlässigt und den Romanschriftstellern und Bühnenautoren überlassen worden war.

Obwohl die psychoanalytische Charakterologie noch in ihren Anfängen steckt, ist sie für die Entwicklung einer ethischen Theorie unentbehrlich. Die Begriffsbestimmung aller Tugenden und Laster muss in der herkömmlichen Ethik zweideutig bleiben, weil häufig genug mit dem gleichen Ausdruck verschiedene, ja zum Teil sogar gegensätzliche menschliche Haltungen bezeichnet werden. Ihre Zweideutigkeit verlieren diese Begriffe erst dann, wenn sie mit der Charakterstruktur derjenigen Person in Zusammenhang gebracht werden, der eine Tugend oder ein Laster zugeschrieben wird. Eine aus dem Zusammenhang mit dem Charakter herausgelöste „Tugend“ kann sich als etwas Nicht-Wertvolles herausstellen (so zum Beispiel „Demut“, wenn sie in Furcht oder in der Kompensierung unterdrückter Arroganz ihren Grund hat); ebenso kann auch ein „Laster“ in einem anderen Licht erscheinen, wenn es im Zusammenhang mit dem gesamten Charakter verstanden wird (so zum Beispiel „Arroganz“ als Ausdruck von Unsicherheit und Selbstunterschätzung). Für die Ethik ist eine solche Betrachtungsweise äußerst aufschlussreich. Es genügt nicht, und es ist irreführend, wenn man sich mit isolierten Tugenden und Lastern als Charakterzügen, die für sich betrachtet werden könnten, beschäftigt. Gegenstand der Ethik ist der Charakter, und nur in Bezug auf die Charakterstruktur als ganze können Wertsetzungen über [II-026] einzelne Charakterzüge oder Handlungen gemacht werden. Weit mehr als einzelne Tugenden oder Laster ist der tugendhafte oder lasterhafte Charakter der eigentliche Gegenstand der ethischen Forschung.

Nicht weniger aufschlussreich für die Ethik ist der psychoanalytische Begriff einer unbewussten Motivation. Dieser Begriff geht in seiner allgemeinen Form auf Leibniz und Spinoza zurück, doch Freud hat als erster die unbewussten Strebungen empirisch und bis ins einzelne untersucht. Er schuf damit die Grundlagen für eine Theorie der menschlichen Motivationen. Der Fortschritt des ethischen Denkens liegt in der Tatsache, dass nunmehr Werturteile über menschliche Verhaltensweisen hinsichtlich der Motivationen, die einer Handlung zugrunde liegen, gefällt werden konnten und nicht so sehr über die Handlung selbst. Das Verständnis für die unbewusste Motivation erschließt einen neuen Bereich der ethischen Forschung. Wie Freud bemerkt: „Nicht nur das Tiefste, auch das Höchste am Ich kann unbewusst sein“ (S. Freud, 1923b, S. 255) und zum ausschlaggebenden Motiv einer Handlung werden. Die ethische Forschung kann es sich nicht leisten, diese Tatsache zu übersehen.

Trotz vieler Möglichkeiten, welche die Psychoanalyse für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Werten bietet, haben Freud und seine Schule diese Methode für die Erforschung ethischer Probleme nicht genutzt; vielmehr trugen sie noch wesentlich zur Verwirrung in ethischen Fragen bei. Diese Verwirrung hat ihren Ursprung in Freuds relativistischer Einstellung, derzufolge uns die Psychologie zwar helfen könne, die Motivation für Werturteile zu begreifen, doch sei sie außerstande, die Gültigkeit der Werturteile selbst zu begründen.

Freuds Relativismus zeigt sich am deutlichsten in seiner Lehre vom Über-Ich (Gewissen). Entsprechend seiner Lehre kann alles zum Inhalt des Gewissens werden, sofern es zufällig dem System von Verboten und Geboten angehört, die im väterlichen Über-Ich und in der kulturellen Überlieferung enthalten sind. In solcher Sicht ist das Gewissen nichts anderes als internalisierte Autorität. Freuds Analyse des Über-Ichs ist lediglich eine Analyse des „autoritären Gewissens“ (vgl. unten das Kapitel „Gewissen“).

Eine gute Illustration für eine solche relativistische Betrachtungsweise ist der Aufsatz Haltung eines amoralischen Psychologen von T. Schroeder (1944). Der Verfasser kommt zu dem Schluss, jede moralische Wertung sei „das Produkt einer emotionalen Morbidität, also starker sich widersprechender Impulse, die auf frühere emotionale Erfahrungen zurückgehen“. Zum anderen will der amoralische Psychiater „moralische Maßstäbe, Werte und Urteile durch eine psychiatrische und psycho-evolutionäre Klassifizierung der Impulse und der intellektuellen Methoden des moralisch Wertenden ersetzen“. Der Autor stellt schließlich die konfuse Behauptung auf, „amoralisch evolutionäre Psychologen haben keine absoluten oder ewigen Regeln für das, was recht oder unrecht sei“. Es könnte danach den Anschein haben, als ob die Wissenschaft „absolute und ewig gültige“ Behauptungen aufstellen wollte.

Seine Auffassung, Moral sei im wesentlichen eine Reaktionsbildung gegen das dem Menschen innewohnende Böse, unterscheidet sich kaum von Freuds Theorie des Über-Ichs. Freud behauptete, das Sexualstreben des Kindes sei dem Elternteil zugewandt, der dem anderen Geschlecht angehöre. Demzufolge hasse das Kind den [II-027] gleichgeschlechtlichen elterlichen Rivalen, und Feindseligkeit, Angst und Schuldgefühl entstünden daher notwendig schon in dieser frühen Phase (Ödipus-Komplex). Diese Theorie ist die säkularisierte Version der Erbsündenlehre. Freud folgerte: Da diese inzestuösen und mörderischen Impulse integrierende Bestandteile der menschlichen Natur seien, müsste der Mensch ethische Normen entwickeln, um überhaupt ein gesellschaftliches Leben möglich zu machen. Der Mensch stelle Normen für sein soziales Verhalten auf, um den Einzelnen und die Gruppe vor den Gefahren solcher Triebe zu schützen. Der Mensch tue dies zunächst in einem System von Tabus, später in komplizierten ethischen Systemen.

Freuds Auffassung ist jedoch keineswegs durchgehend relativistisch. Er glaubt leidenschaftlich an die Wahrheit. Sie ist das Ziel, dem der Mensch zustreben muss. Der Mensch besitze die Fähigkeiten hierzu, weil er von Natur aus vernunftbegabt sei. Diese anti-relativistische Einstellung zeigt sich deutlich in Freuds Ausführungen zur Frage der „Weltanschauung“ (S. Freud, 1933a, S. 188-192). Er tritt hier jener Theorie entgegen, wonach Wahrheit „nur das Produkt unserer eigenen Bedürfnisse, wie sie sich unter den wechselnden äußeren Bedingungen äußern müssen“, sei (a.a.O., S. 190). Eine solche „anarchistische“ Theorie „versagt beim ersten Schritt ins praktische Leben“ (a.a.O., S. 191). Sein Glaube an die Kraft der Vernunft und ihre Fähigkeit, die Menschheit zu einen und aus den Fesseln des Aberglaubens zu befreien, ist von dem gleichen Pathos getragen wie die Philosophie der Aufklärung. Dieser Glaube an die Wahrheit liegt auch der Auffassung seiner psychoanalytischen Heilmethode zugrunde. Danach ist Psychoanalyse der Versuch, die Wahrheit über sich selbst aufzudecken. So gesehen, setzt Freud jene Tradition des Denkens fort, die seit Buddha und Sokrates an die Wahrheit als diejenige Kraft glaubt, die den Menschen tugendhaft und frei oder - um in Freuds Terminologie zu sprechen - „gesund“ macht. Das Ziel der analytischen Behandlung ist, das Irrationale. (das Es) durch Vernunft (das Ich) zu ersetzen. Unter solchen Voraussetzungen kann die analytische Situation als eine Situation definiert werden, in der zwei Personen, nämlich der Analytiker und der Patient, die Wahrheit erforschen wollen. Ziel der Behandlung ist die Wiederherstellung der Gesundheit, die Heilmittel sind Wahrheit und Vernunft. Eine Situation gefordert zu haben, die auf radikaler Ehrlichkeit basiert, ist in einer Kultur, in der solche Offenheit Seltenheitswert hat, vielleicht das bedeutendste Zeugnis für Freuds Größe.

Auch in seiner Charakterologie vertritt Freud, wenn auch nicht ausdrücklich, eine nicht-relativistische Position. Er nimmt an, dass sich die Libido vom oralen über das anale zum genitalen Stadium entwickelt und dass im gesunden Menschen die genitale Orientierung dominant wird. Obwohl sich Freud nicht ausdrücklich auf ethische Werte bezieht, gibt es doch eine indirekte Verbindung: Die prägenitalen Orientierungen, für die eine abhängige, gierige und geizige Einstellung charakteristisch sind, sind gegenüber dem genitalen, das heißt dem produktiven, reifen Charakter ethisch minderwertig. Damit ist angedeutet, dass „Tugend“ das natürliche Ziel der menschlichen Entwicklung ist. Diese Entwicklung kann durch besondere, meist äußere Umstände blockiert werden, so dass es zur Bildung des neurotischen Charakters kommt. Unter normalen Bedingungen entwickelt sich jedoch der reife, unabhängige und produktive [II-028] Charakter, der zu Liebe und Arbeit fähig ist: Letzten Endes sind Tugend und Gesundheit für Freud ein und dasselbe.

Dieser Zusammenhang von Charakter und Ethik ist jedoch bei Freud nicht deutlich ausgesprochen. Er musste unklar bleiben, zum Teil wegen des Widerspruchs zwischen Freuds Relativismus und der stillschweigenden Anerkennung humanistischer ethischer Werte, zum Teil auch deshalb, weil Freud sich hauptsächlich mit dem neurotischen Charakter beschäftigte und der Analyse und Beschreibung des genitalen und reifen Charakters kaum Beachtung schenkte.

Das folgende Kapitel zielt nach einer kritischen Betrachtung der „Situation des Menschen“ und deren Bedeutung für die Charakterbildung auf eine detaillierte Analyse dessen, was dem genitalen Charakter bei Freud entspricht: die „produktive Orientierung“.

3. Die Natur des Menschen und sein Charakter

Dass ich ein Mensch bin,
teile ich mit andern Menschen.
Dass ich sehe und höre,
dass ich esse und trinke,
haben alle Tiere mit mir gemein.
Aber dass ich bin, ist nur mir eigen
und gehört nur mir
und niemandem sonst;
keinem anderen Menschen,
keinem Engel und auch nicht Gott -
außer insofern,
als ich eins bin mit Ihm.
(Meister Eckhart, Fragmente)

a) Die Situation des Menschen

Der einzelne Mensch repräsentiert die ganze Menschheit. Er ist ein spezifisches Exemplar der Gattung Mensch. Er ist „er“, er ist aber auch „alle“. Er ist ein Individuum mit seinen Besonderheiten und in diesem Sinne einmalig. Zugleich repräsentiert er alle Eigenarten der Menschheit. Seine individuelle Persönlichkeit wird zwangsläufig durch jene Eigentümlichkeiten der menschlichen Existenz bestimmt, die allen Menschen gemeinsam sind. Aus diesem Grunde muss die Erörterung der Situation des Menschen der Erörterung seiner Persönlichkeit vorausgehen.

1. Die biologische Schwäche des Menschen

Was das menschliche Dasein vom tierischen unterscheidet, ist zunächst etwas Negatives: Die instinktive Regulation beim Prozess der Anpassung an die ihn umgebende [II-030] Welt ist beim Menschen relativ schwach. Die Art und Weise, in der sich das Tier seiner Umwelt anpasst, bleibt stets gleich. Reicht das, was es an Instinkt hat, nicht aus, um sich der wechselnden Umwelt gegenüber zu behaupten, so stirbt die Gattung aus. Das Tier kann sich wechselnden Bedingungen anpassen, indem es sich selbst ändert, also auf autoplastische Weise; es kann sich aber nicht anpassen, indem es seine Umwelt verändert, also auf alloplastische Weise. Es lebt harmonisch, aber nicht in dem Sinn, dass es keinen Kampf kennt, sondern in dem Sinn, dass die angeborene Ausstattung es zu einem festen, unveränderlichen Teil der Welt macht. Es passt sich an, oder es stirbt aus.

Je unvollständiger und schwächer die instinktive Ausstattung des Tieres ist, desto entwickelter ist das Gehirn und demzufolge auch die Lernfähigkeit. Der Mensch tritt an der Stelle im Evolutionsprozess auf, an der das instinktive Anpassungsvermögen sein Minimum erreichte. Aber der Mensch erscheint mit neuen Eigenschaften, die ihn vom Tier unterscheiden. Er ist sich seiner selbst als eines eigenständigen Wesens bewusst, er hat die Fähigkeit, sich an Vergangenes zu erinnern und kann sich Zukünftiges vorstellen; er kann Gegenstände und Handlungen mit Symbolen belegen, seine Vernunft kann die Welt erfassen und verstehen, und mit seinem Vorstellungsvermögen kann er die Grenze seiner Sinne überschreiten. Der Mensch ist das hilfloseste aller Tiere. Diese biologische Schwäche ist aber zugleich die Basis für seine Stärke, denn sie ist primär die Ursache für die Ausbildung seiner spezifischen menschlichen Qualitäten.

2. Die existenziellen und historischen Dichotomien im Menschen

Bewusstsein seiner selbst, Vernunftbegabung und Vorstellungsvermögen haben jene „Harmonie“ zerrissen, die für das tierische Dasein charakteristisch ist. Ihr Auftreten hat den Menschen zu einer Abnormität gemacht, zu einer Laune des Universums. Er ist ein Teil der Natur, ist ihren physikalischen Gesetzen unterworfen und kann diese Gesetze nicht ändern; dennoch transzendiert er die übrige Natur. Er ist von der Natur abgeteilt, und zugleich ein Teil von ihr; er ist heimatlos und ist trotzdem an die gleiche Heimat gebunden, die er mit allen Geschöpfen gemeinsam hat. An einem zufälligen Ort und zu einem zufälligen Zeitpunkt wird er in die Welt geworfen, ebenso zufällig wird er aus ihr vertrieben. Wenn er sich seiner selbst bewusst wird, erkennt er die eigene Ohnmacht und die Grenzen seiner Existenz. Er sieht sein Ende voraus: den Tod. Nie kann er sich von der Dichotomie der eigenen Existenz freimachen. Er kann sich nicht von seiner Geistigkeit befreien, auch wenn er es wollte; er kann nicht von seinem Körper frei werden, solange er lebt - und sein Körper veranlasst ihn, leben zu wollen.

Die Vernunftbegabung, des Menschen Segen, ist auch sein Fluch. Sie zwingt ihn, sich unablässig mit der Lösung seiner an sich unlösbaren Dichotomie zu beschäftigen. Darin unterscheidet sich die menschliche Existenz von der aller übrigen Organismen. Sie befindet sich in einem Zustand ständiger und unvermeidlicher Unausgeglichenheit. Das Leben des Menschen kann nicht gelebt werden, indem die [II-031] Verhaltensmuster der Gattung einfach nur wiederholt werden; jeder einzelne muss es selbst leben. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich langweilt, unzufrieden ist und sich aus dem Paradies ausgeschlossen glaubt. Die eigene Existenz ist ihm zu einem Problem geworden, das er lösen muss und dem er nicht entfliehen kann. Er kann nicht auf einen vormaligen Zustand der Harmonie mit der Natur regredieren; er muss vorwärtsschreitend seine Vernunft entwickeln, bis er selbst zum Herrn über die Natur und zum Herrn über sich selbst geworden ist.

Das Aufkommen der Vernunftbegabung hat eine Dichotomie im Menschen geschaffen, die ihn zwingt, unablässig nach neuen Lösungen zu suchen. Die Dynamik seiner Geschichte ist mit der Existenz der Vernunft unlösbar verknüpft. Sie veranlasst ihn, sich zu entwickeln und dadurch die ihm eigene Welt zu schaffen, in der er sich mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu Hause fühlen kann. Jede Stufe, die er erreicht, lässt ihn unbefriedigt und verwirrt ihn. Und diese Verwirrung zwingt ihn, neue Lösungen anzustreben. Einen angeborenen „Fortschrittstrieb“ gibt es beim Menschen nicht. Es ist der Widerspruch der eigenen Existenz, der den Menschen auf der begonnenen Bahn fortschreiten lässt. Da er das Paradies - die Einheit mit der Natur - verloren hat, wurde er zum ewigen Wanderer (Odysseus, Ödipus, Abraham, Faust). Er ist gezwungen, vorwärtszugehen und muss mit andauernder Anstrengung das Unbekannte zu erkennen suchen, indem er die Lücken seines Wissens mit Antworten ausfüllt. Über sich und den Sinn der eigenen Existenz muss er sich selbst Rechenschaft geben. Um diesen inneren Zwiespalt zu überwinden, drängt es ihn - getrieben von einem Willen nach „Absolutheit“ - eine andere Art von Harmonie zu finden, die den Fluch von ihm nimmt, durch den er von der Natur, seinen Mitmenschen und sich selbst getrennt wurde.

Diese Spaltung in der Natur des Menschen führt zu Dichotomien, die ich „existenzielle“[17] nenne, weil sie in der Existenz des Menschen selbst wurzeln. Es sind Widersprüche, die der Mensch nicht aufheben, auf die er aber entsprechend seinem Charakter und seiner Kultur verschieden reagieren kann.

Der grundlegende existenzielle Widerspruch ist der von Leben und Tod. Die Tatsache, dass wir sterben müssen, ist unabwendbar. Der Mensch ist sich dessen bewusst, und dieses Bewusstsein beeinflusst sein Leben entscheidend. Der Tod aber ist der absolute Gegensatz zum Leben. Er ist etwas ihm grundsätzlich Fremdes, das sich mit keiner Erfahrung von Leben vereinen lässt. Gleichgültig, was wir über den Tod wissen, es ändert nichts an der Tatsache, dass der Tod für das Leben selbst keine Bedeutung hat und dass uns nichts anderes übrigbleibt, als ihn als Tatsache anzunehmen, und das heißt - aus der Sicht des Lebens - als Niederlage. Für sein Leben gibt der Mensch alles, was er hat. „Der freie Mensch denkt über nichts weniger nach als über den Tod“ (Spinoza, Ethik, Teil IV, 67. Lehrsatz). Der Mensch hat immer wieder [II-032] versucht, diese Dichotomie mit Hilfe von Ideologien zu leugnen. Wenn das Christentum eine unsterbliche Seele fordert, dann leugnet es die tragische Tatsache, dass des Menschen Leben mit dem Tod endet.

Aus der Tatsache, dass der Mensch sterblich ist, folgt ein weiterer Widerspruch. Zwar trägt jedes menschliche Wesen die Fülle der menschlichen Möglichkeiten in sich, jedoch erlaubt seine kurze Lebensspanne auch unter den günstigsten Bedingungen nicht ihre volle Verwirklichung. Erst dann, wenn die Lebensspanne des Einzelnen mit derjenigen der Menschheit identisch wäre, könnte er auch an der menschlichen Entwicklung teilhaben, die sich im Gesamtprozess der Geschichte vollzieht. Da das Leben eines Menschen an einem zufälligen Punkt im Entwicklungsprozess der Menschheit beginnt und endet, gerät es in einen tragischen Konflikt mit dem Anspruch jedes Einzelnen, all seine Möglichkeiten verwirklichen zu können. Was ein Mensch verwirklichen könnte, und was er tatsächlich verwirklicht - diesen Widerspruch ahnt er zumindest. Aber auch hier versuchen Ideologien, den Widerspruch aufzulösen oder zu verleugnen, indem sie behaupten, die Erfüllung des Lebens erfolge erst nach dem Tod, oder aber die eigene geschichtliche Periode sei die letzte und der krönende Abschluss der Menschheitsentwicklung. Eine andere Ideologie sieht den Sinn des Lebens nicht in seiner vollsten Entfaltung, sondern im Dienst an der Gesellschaft und in gesellschaftlichen Pflichten. Entwicklung, Freiheit und Glück des Einzelnen sind hier untergeordnet oder werden als bedeutungslos betrachtet im Vergleich mit dem Wohl des Staates, der Gemeinschaft oder wie auch immer diese ewige Macht symbolisiert wird, die das Individuum transzendiert.

Der Mensch ist allein und zugleich steht er in Beziehung. Er ist insofern allein, als er ein einmaliges Wesen ist, das mit keinem anderen identisch ist und das sich seiner selbst als einer selbständigen Größe bewusst ist. Er muss allein sein, wenn er ausschließlich kraft seiner Vernunft Urteile fällen oder Entscheidungen treffen soll. Und doch kann er es nicht ertragen, allein zu sein und ohne Beziehung zu seinen Nächsten. Sein Glück hängt von der Solidarität ab, die er mit seinen Mitmenschen, mit vergangenen und zukünftigen Generationen empfindet.

Existenzielle Widersprüche unterscheiden sich grundsätzlich von den vielen historischen Widersprüchen im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft. Historische Dichotomien gehören nicht notwendig zur menschlichen Existenz. Der Mensch hat sie geschaffen, er kann sie sogleich oder zu einem späteren Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte lösen. So ist auch der gegenwärtige Widerspruch zwischen dem Überfluss technischer Möglichkeiten zur Befriedigung materieller Bedürfnisse und der Unfähigkeit, diese Möglichkeiten ausschließlich für friedliche Zwecke und zum Wohle der Menschen zu nutzen, lösbar. Es ist kein notwendiger Widerspruch; vielmehr ist er auf einen Mangel an Mut und Einsicht zurückzuführen. Ein weiteres Beispiel für einen scheinbar unlösbaren Widerspruch ist die Einrichtung der Sklaverei im alten Griechenland. Ihre Abschaffung wurde erst zu dem geschichtlichen Zeitpunkt möglich, als die materielle Basis für die Gleichberechtigung aller Menschen erreicht war.

Die Unterscheidung zwischen existenziellen und historischen Widersprüchen ist äußerst wichtig, da ihre Verwechslung weitreichende Folgen hat. Diejenigen, die am Fortbestehen historischer Widersprüche interessiert waren, suchten zu beweisen, dass [II-033] es sich hier um existenzielle und demzufolge um unabänderliche Widersprüche handle. Sie wollten die Menschen überzeugen, dass das, „was nicht sein darf, auch nicht sein kann“; folglich müsse sich der Mensch mit seinem tragischen Schicksal abfinden. Aber trotz der Vermischung dieser beiden Arten von Widersprüchen suchte der Mensch für beide eine Lösung. Es ist eine der seltsamen Eigenschaften des menschlichen Geistes, dass er sich nicht passiv verhalten kann, sobald er einem Widerspruch gegenübersteht. Er will jeden Widerspruch überwinden. Dieser Tatsache entspringt der gesamte menschliche Fortschritt. Will man den Menschen daran hindern, handelnd auf das Wahrnehmen von Widersprüchen zu reagieren, so muss das Vorhandensein der Widersprüche selbst bestritten werden. Widersprüche zu harmonisieren und auf diese Weise zu leugnen, ist die Funktion der Rationalisierungen im Leben des Einzelnen und die Funktion der Ideologien (der gesellschaftlich geformten Rationalisierungen) im Leben der Gesellschaft. Wenn jedoch der menschliche Geist nur durch rationale Antworten, nur durch die Wahrheit allein befriedigt werden könnte, so würden diese Ideologien wirkungslos bleiben. Aber es gehört zu seinen Eigentümlichkeiten, das als Wahrheit hinzunehmen, was in seinem Kulturkreis von der Mehrheit gedacht oder von mächtigen Autoritäten gefordert wird. Sobald die harmonisierenden Ideologien durch den Konsens einer Mehrheit oder durch eine Autorität gestützt werden, wird der menschliche Geist zwar beschwichtigt, jedoch der Mensch selbst ist nicht vollkommen zufrieden.

Der Mensch kann auf historische Widersprüche reagieren, indem er sie durch sein eigenes Handeln auflöst. Existenzielle Dichotomien dagegen kann er nicht auflösen, sondern nur in verschiedener Weise auf sie reagieren. Er kann sie durch beruhigende und beschönigende Ideologien beschwichtigen. Er kann seiner Ruhelosigkeit durch rastlosen Aktivismus, sei es in Vergnügungen oder in der Arbeit, zu entfliehen suchen. Er kann seine Freiheit aufzugeben suchen, indem er sich zu einem Instrument außer ihm liegender Mächte macht und sein Selbst in diesen aufgehen lässt.

Trotzdem bleibt er unzufrieden, angsterfüllt und ruhelos. Es gibt nur eine Lösung: der Wahrheit ins Auge zu sehen und sein fundamentales Alleinsein und seine Einsamkeit in einem Universum, das dem menschlichen Schicksal gegenüber gleichgültig ist, anzuerkennen und zu erkennen, dass es keine den Menschen transzendierende Macht gibt, die sein Problem für ihn lösen kann. Der Mensch muss die Verantwortung für sich selbst akzeptieren und sich damit abfinden, dass er seinem Leben nur durch die Entfaltung seiner eigenen Kräfte Sinn geben kann. Aber dieser Sinn bedeutet nicht Gewissheit; das Suchen nach einem Sinn wird durch den Wunsch nach Gewissheit sogar erschwert. Ungewissheit ist gerade die Bedingung, die den Menschen zur Entfaltung seiner Kräfte zwingt. Sieht er der Wahrheit furchtlos ins Auge, dann erfasst er, dass sein Leben nur den Sinn hat, den er selbst ihm gibt, indem er seine Kräfte entfaltet: indem er produktiv lebt. Nicht nur ständige Wachsamkeit, Tätigsein, und unermüdliches Bemühen bewahren uns davor, in der wesentlichen Aufgabe zu versagen: in der Aufgabe nämlich, unsere Kräfte innerhalb der Grenzen, die durch die Gesetze unserer Existenz gezogen sind, voll zu entwickeln. Der Mensch wird nie aufhören, immer wieder verwirrt zu sein, sich zu wundern und neue Fragen zu stellen. Nur wenn er die Situation des Menschen, die seiner Existenz innewohnenden Widersprüche und [II-034] seine Fähigkeit zur Entfaltung seiner Kräfte erfasst, kann er seine Aufgabe lösen: er selbst und um seiner selbst willen zu sein und glücklich zu werden durch die volle Verwirklichung der ihm eigenen Möglichkeiten - seiner Vernunft, seiner Liebe und produktiven Arbeit.

Nachdem wir die Widersprüche erörtert haben, die der menschlichen Existenz innewohnen, können wir uns der am Anfang dieses Kapitels aufgestellten Behauptung zuwenden, die Erörterung der Situation des Menschen müsse der Erörterung seiner Persönlichkeit vorangehen. Der genauere Sinn dieser Behauptung kann mit der Aussage verdeutlicht werden, dass sich die Psychologie auf eine philosophisch-anthropologische Anschauung der menschlichen Existenz gründen muss.

Das Erstaunlichste am menschlichen Verhalten ist die ungeheure Intensität der Leidenschaften und Strebungen. Freud erkannte dies schärfer als andere und versuchte es mit den Begriffen des mechanistisch-naturalistischen Denkens seiner Zeit zu erklären. Er nahm an, dass auch jene Leidenschaften, die nicht direkt als Ausdruck des Selbsterhaltungstriebes und des Sexualtriebes (später formulierte er: des Eros und des Todestriebes) zu erkennen wären, doch nur indirekte und verwickelte Manifestationen dieser instinktiven biologischen Triebe seien. So bestechend seine Annahmen auch waren, so überzeugen sie jedoch nicht, wenn die Tatsache geleugnet wird, dass ein großer Teil der leidenschaftlichen Strebungen des Menschen nicht mit der Kraft seiner Triebe erklärt werden kann. Selbst wenn Hunger, Durst und Sexualtrieb vollkommen befriedigt sind, so ist doch der Mensch selbst nicht befriedigt. Im Gegensatz zum Tier sind seine dringendsten Probleme dann noch nicht gelöst, sondern sie beginnen erst. Er strebt nach Macht oder nach Liebe oder nach Zerstörung, er setzt sein Leben für religiöse, politische, humanistische Ideale ein, und diese Bestrebungen begründen und charakterisieren das Besondere des menschlichen Lebens. Der Mensch lebt tatsächlich „nicht vom Brot allein“.

Im Unterschied zu Freuds mechanistisch-naturalistischer Erklärung wurde diese Tatsache auch in dem Sinn interpretiert, dass der Mensch ein ihm innewohnendes religiöses Bedürfnis habe, das nicht durch seine natürliche Existenz bedingt sei, sondern durch etwas, das ihn transzendiere und das von übernatürlichen Mächten herrühre. Letztere Annahme ist jedoch unnötig, da das volle Verständnis der Situation des Menschen genügt, um dieses Phänomen zu erklären.

Die Disharmonie der Existenz des Menschen erzeugt Bedürfnisse, die weit über jene hinausgehen, die in seinem animalischen Ursprung begründet liegen.[18] Diese Bedürfnisse bewirken einen drängenden Wunsch, die Einheit und das Gleichgewicht zwischen sich und der übrigen Natur wiederherzustellen. Der Mensch macht den Versuch, diese Einheit und dieses Gleichgewicht vor allem gedanklich wieder zu erreichen. Er konstruiert ein umfassendes Weltbild, das ihm als Bezugsrahmen dient, von dem er eine Antwort auf die Fragen nach seinem Platz in der Welt und seinen Aufgaben ableiten kann. Derartige Gedankensysteme sind jedoch nicht ausreichend. Wenn der Mensch nur körperloser Intellekt wäre, könnte er sein Ziel durch ein umfassendes Gedankensystem erreichen. Da er aber ein Wesen ist, das sowohl Körper wie Geist besitzt, muss er auf die Widersprüche seiner Existenz nicht nur denkend reagieren, sondern auch im Lebensvollzug, in seinem Fühlen und Handeln. Er muss [II-035] danach streben, Einheit und Einssein auf allen Ebenen seines Seins zu erfahren, um so ein neues Gleichgewicht zu finden. Deshalb erfordert ein befriedigendes Orientierungssystem nicht nur intellektuelle Elemente, sondern auch solche des Gespürs und des Gefühls, die in allen Bereichen des menschlichen Lebens aktiv zu verwirklichen sind. Die Hingabe an ein Ziel, an eine Idee oder an eine Macht, die den Menschen transzendiert, wie zum Beispiel Gott, ist der Ausdruck dieses Bedürfnisses nach Ganzheitlichkeit im Lebensvollzug.[19]

Die Antworten auf das menschliche Bedürfnis nach einer Orientierung und nach Hingabe[20] unterscheiden sich dem Inhalt und der Form nach weitgehend. Es gibt primitive Systeme, wie etwa den Animismus und Totemismus, bei denen Naturgegenstände und Ahnen die Antworten für den nach Sinn Suchenden sind. Es gibt nicht-theistische Systeme, wie den Buddhismus, die zumeist als religiös bezeichnet werden, obwohl ihre ursprüngliche Form keinen Gottesbegriff enthält. Es gibt philosophische Systeme wie die Stoa, und es gibt monotheistische Religionen, die sich auf eine Gottesvorstellung berufen. Die Untersuchung dieser verschiedenen Systeme wird durch eine terminologische Schwierigkeit behindert. Man könnte alle diese Systeme als „religiös“ bezeichnen, wenn dieses Wort nicht aus historischen Gründen mit einem theistischen System gleichgesetzt würde, einem System, das Gott zum Mittelpunkt hat. Es gibt in unserer Sprache kein Wort, um das Gemeinsame der theistischen und der nicht-theistischen Systeme zu bezeichnen - das Gemeinsame aller Denksysteme, die auf die menschliche Frage nach Sinn und auf den menschlichen Versuch, dem Leben Sinn zu geben, antworten wollen. In Ermangelung eines besseren Wortes nenne ich solche Systeme hier „Rahmen der Orientierung und Hingabe“.[21]

Vor allem möchte ich betonen, dass es noch viele andere Strebungen gibt, die zwar als völlig weltlich angesehen werden, nichtsdestoweniger aber in dem gleichen Bedürfnis wurzeln, aus dem religiöse und philosophische Systeme erwachsen. Betrachten wir unsere gegenwärtige Zeit: Es gibt in unserem eigenen Kulturraum Millionen Menschen, die sich dem Streben nach Erfolg und Prestige hingegeben haben. In anderen Kulturräumen sahen und sehen wir eine fanatische Hingabe an diktatorische Systeme, die auf Eroberung und Beherrschung hinzielen. Erstaunlich ist die Intensität dieser Leidenschaften, die oft sogar stärker ist als der Selbsterhaltungstrieb. Oft täuschen die weltlichen Inhalte dieser Ziele, so dass wir sie als Folgen sexueller oder anderer quasi-biologischer Strebungen erklären. Ist es jedoch nicht auffällig, dass diese weltlichen Ziele mit der gleichen Intensität und dem gleichen Fanatismus verfolgt werden, wie wir es in den Religionen beobachten können; dass also zwar die Inhalte dieser weltlichen Systeme der Orientierung und Hingabe verschieden sind, nicht aber das ihnen zugrunde liegende Bedürfnis, auf das sie Antwort zu geben versuchen? In unserem Kulturraum täuscht das Bild besonders, weil die meisten Menschen sich zum Monotheismus „bekennen“, während ihre tatsächliche Hingabe Systemen gilt, die dem Totemismus oder der Götzenanbetung näherstehen als irgendeiner Form des Christentums.

Aber wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Das Verständnis der „religiösen“ Natur dieser kulturell bedingten weltlichen Strebungen ist der Schlüssel zum Verständnis der Neurosen und irrationalen Strebungen. Die letzteren haben wir als [II-036] Antworten - individuelle Antworten - auf das menschliche Suchen nach Orientierung und Hingabe zu betrachten. Ein Mensch, dessen Erfahrung durch seine Fixierung an seine Familie bestimmt ist, huldigt in Wahrheit einem primitiven Ahnenkult. Der einzige Unterschied zwischen ihm und Millionen von Ahnenanbetern besteht darin, dass sein System privaten Charakter hat und nicht kulturell bedingt ist. Freud erkannte den Zusammenhang zwischen Religion und Neurose und erklärte die Religion als eine Form der Neurose. Demgegenüber folgern wir, dass eine Neurose als eine besondere Form der Religion erklärt werden kann, die sich von dieser vor allem dadurch unterscheidet, dass sie individuell ist und keine vorgeprägten Merkmale hat. Wir kommen daher in Bezug auf das allgemeine Problem der menschlichen Motivation zu dem Ergebnis, dass zwar das Bedürfnis nach einem System der Orientierung und Hingabe allen Menschen gemeinsam ist, dass aber die Inhalte der Systeme, welche diesem Bedürfnis entgegenkommen, verschieden sind. Diese Unterschiede sind Unterschiede im Wert. Der reife, produktive, vernünftige Mensch wird sich für ein System entscheiden, das ihm erlaubt, reif, produktiv und vernünftig zu sein. Der in seiner Entwicklung Gehemmte muss auf primitive und irrationale Systeme zurückgreifen, die seine Abhängigkeit und Irrationalität verfestigen. Er bleibt auf einer Stufe stehen, die die besten Repräsentanten bereits vor Tausenden von Jahren überwunden hatten.

Da das Bedürfnis nach einem System der Orientierung und Hingabe einen wesentlichen Bestandteil des menschlichen Daseins ausmacht, ist die Intensität dieses Bedürfnisses zu verstehen. Tatsächlich gibt es keine stärkere Energiequelle im Menschen. Der Mensch kann nicht frei entscheiden, ob er „Ideale“ haben will oder nicht, aber er hat die freie Wahl zwischen verschiedenen Arten von Idealen, zwischen der Möglichkeit, Macht und Destruktion zu verehren oder sich Vernunft und Liebe hinzugeben. Alle Menschen sind „Idealisten“ und suchen etwas, das über die Befriedigung des rein Körperlichen hinausgeht. Sie unterscheiden sich nur in den Idealen, an die sie glauben. Sowohl die höchsten wie auch die ganz teuflischen Manifestationen des menschlichen Geistes sind nicht Ausdruck des Fleisches, sondern des Geistes, das heißt, dieses „Idealismus“. Gefährlich und irreführend ist deshalb die relativistische Auffassung, das bloße Vorhandensein eines Ideals oder eines religiösen Gefühls sei an sich schon wertvoll. Wir müssen alle Ideale, einschließlich derjenigen, die in weltlichen Ideologien in Erscheinung treten, als Ausdruck desselben menschlichen Bedürfnisses betrachten und sie danach beurteilen, wieviel Wahrheit sie enthalten, in welchem Maße sie der Entfaltung menschlicher Kräfte dienen und bis zu welchem Grade sie dem menschlichen Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und Harmonie in seiner Welt tatsächlich entgegenkommen. Abschließend sei wiederholt, dass die Beweggründe menschlichen Handelns nur aus der Situation des Menschen verstanden werden können.

b) Die Persönlichkeit

Alle Menschen sind gleich, da sie alle in der gleichen „menschlichen Situation“ mit den ihr innewohnenden existenziellen Dichotomien stehen. Jeder unterscheidet sich [II-037] vom anderen durch die Art und Weise, in der er sein menschliches Problem löst. Charakteristisch für die menschliche Existenz ist die unbegrenzte Verschiedenheit der Persönlichkeiten.

Unter Persönlichkeit verstehe ich die Totalität ererbter und erworbener psychischer Eigenschaften, die den Einzelnen charakterisieren und das Einmalige dieses Einzelnen ausmachen. Der Unterschied zwischen ererbten und erworbenen Eigenschaften entspricht im Großen und Ganzen dem Unterschied zwischen Temperament, Begabung und allen konstitutionellen psychischen Eigenschaften einerseits und dem Charakter andererseits. Während Temperamentsunterschiede für die Ethik bedeutungslos sind, bilden Charakterunterschiede das eigentliche Problem der Ethik. Sie zeigen den Grad an, bis zu welchem der einzelne in der Kunst des Lebens erfolgreich war. Um Missverständnisse hinsichtlich des Begriffs „Temperament“ und „Charakter“ auszuschließen, beginnen wir einleitend mit einer kurzen Erörterung des Begriffs „Temperament“.

1. Das Temperament

Hippokrates unterschied vier Temperamente: das cholerische, sanguinische, melancholische und phlegmatische. Das sanguinische und das cholerische Temperament sind Reaktionsweisen, die durch leichte Erregbarkeit und schnellen Interessenwandel gekennzeichnet sind. Das Interesse ist beim Sanguiniker schwach, beim Choleriker stark. Im Gegensatz hierzu zeichnet sich das phlegmatische und das melancholische Temperament durch eine zwar beharrliche, jedoch langsame Erregbarkeit des Interesses aus; es ist beim Phlegmatiker schwach, beim Melancholiker stark.[22] Hippokrates sah diese verschiedenen Reaktionsweisen als Ausdruck verschiedener somatischer Quellen. (Interessanterweise haben sich im populären Gebrauch nur die negativen Aspekte dieser Temperamente erhalten: Cholerisch heißt soviel wie leicht verärgert, melancholisch soviel wie niedergeschlagen, sanguinisch soviel wie leichtsinnig und phlegmatisch soviel wie träge.) Diese Einteilung der Temperamente wurde bis zur Zeit von Wundt von den meisten Erforschern der Temperamente übernommen. Die wichtigsten modernen Darstellungen der verschiedenen Temperamente sind jene von Jung, Kretschmer und Sheldon (vgl. auch Charles William Morris’ Anwendung der Temperamente auf kulturelle Größen in Ch. W. Morris, 1942).

Über die Wichtigkeit weiterer Forschungen auf diesem Gebiet kann kein Zweifel bestehen, insbesondere hinsichtlich der Wechselbeziehung zwischen Temperament und somatischen Prozessen. Unbedingt notwendig ist jedoch eine klare Unterscheidung zwischen Charakter und Temperament, denn die Verwechslung der beiden Begriffe hat sowohl auf dem Gebiet der Charakterologie als auch auf dem der Temperamentforschung weitere Erkenntnisse verhindert. [II-038]

Das Temperament bezieht sich auf die Art und Weise einer Reaktion; es ist konstitutionell und nicht änderbar. Der Charakter dagegen ist wesentlich durch die Erfahrungen geprägt, besonders durch solche aus der Kindheit; er ist bis zu einem gewissen Grade durch neue Einsichten und neue Arten von Erfahrungen änderbar. Hat jemand zum Beispiel ein cholerisches Temperament, dann wird die Art und Weise seiner Reaktion „schnell und stark“ sein. Auf was er jedoch schnell und stark reagiert, hängt von seiner Art der Bezogenheit, von seinem Charakter ab. Ist er ein produktiver, gerechter, liebender Mensch, dann wird er schnell und stark reagieren, wenn er liebt, wenn er durch eine Ungerechtigkeit erzürnt oder wenn er von einer neuen Idee beeindruckt wird. Ist er aber ein destruktiver oder sadistischer Charakter, wird er in seiner Destruktivität oder in seiner Grausamkeit schnell und stark reagieren.

Die Verwechslung von Temperament und Charakter hat für die ethische Theorie schwerwiegende Folgen. Die Vorliebe für ein bestimmtes Temperament ist eine Frage des Geschmacks, der Charakter hingegen ist ethisch gesehen von größter Wichtigkeit. Ein Beispiel mag helfen, dies zu klären: Göring und Himmler waren Menschen verschiedenen Temperaments; Göring war zyklothym, Himmler schizothym. Vom Standpunkt des persönlichen Geschmacks mochte jemand, der sich durch ein zyklothymes Temperament angezogen fühlte, Göring „sympathischer“ finden als Himmler und umgekehrt. Vom Charakter her beurteilt hatten beide Männer eine Eigenschaft gemeinsam: Sie waren ehrgeizige Sadisten. Deshalb waren beide ethisch gesehen gleich böse. Umgekehrt könnte jemand unter Menschen mit produktiven Charakteren ein cholerisches Temperament dem sanguinischen vorziehen; aber ein solches Urteil könnte kein Werturteil über diese beiden Menschen sein.[23]

Bei der Anwendung von C. G. Jungs Temperamentsbegriffen des „Introvertierten“ und „Extrovertierten“ beobachten wir häufig die gleiche Verwechslung. Diejenigen, die dem Extrovertierten den Vorzug geben, beschreiben den Introvertierten als gehemmt und neurotisch; die anderen, die den Introvertierten vorziehen, beschreiben den Extrovertierten als oberflächlich, flach und unstetig. Der Fehler liegt darin, dass [II-039] man einen „guten“ Menschen des einen Temperaments mit einem „schlechten“ des anderen vergleicht und den Wertunterschied dem Temperamentsunterschied zuschreibt.

Es ist offensichtlich, dass die Verwechslung von Temperament und Charakter die Ethik beeinflussen musste. Sie verdammte ganze Rassen, deren Temperament sich von dem unsrigen unterscheidet; sie hat andererseits den Relativismus gefördert, indem sie annahm, dass der Charakter ebenso Geschmackssache sei wie das Temperament.

Bevor wir die ethische Theorie erörtern, wollen wir uns dem Charakterbegriff zuwenden. Er ist zugleich Gegenstand der ethischen Beurteilung wie auch der ethischen Entwicklung des Menschen. Wir müssen uns aber auch hier erst von althergebrachten Verwechslungen freimachen, die sich in diesem Falle auf die Unterschiede zwischen einem dynamischen und einem behavioristischen Charakterbegriff konzentrieren.

2. Der Charakter
Der dynamische Charakterbegriff

Charakterzüge wurden und werden von behavioristisch orientierten Psychologen so angesehen, als seien sie dasselbe wie Verhaltensweisen. Charakter wird folglich definiert als „die Art und Weise des Verhaltens, die ein bestimmtes Individuum charakterisiert“ (L. E. Hinsie und J. Shatzky, 1940), während andere Autoren, wie W. McDougall, R. G. Gordon und E. Kretschmer, den Akzent auf das dynamische und zielstrebige Element der Charakterzüge legen.

Freud entwickelte nicht nur die erste, sondern auch die konsequenteste und umfassendste Charaktertheorie. Für ihn ist Charakter ein System von Strebungen, die das Verhalten bestimmen, mit ihm jedoch nicht identisch sind. Um Freuds dynamischen Charakterbegriff zu würdigen, ist ein Vergleich zwischen Verhaltensweisen und Charakterzügen hilfreich. Verhaltensweisen sind Handlungen, die von einem Dritten beobachtet werden können. So wurde beispielsweise die Verhaltensweise „Mutigsein“ als ein Verhalten definiert, das auf ein Ziel gerichtet ist, dies erreichen will und sich nicht durch Gefahren abschrecken lässt, die der eigenen Bequemlichkeit, der Freiheit oder auch dem eigenen Leben erwachsen könnten. Sparsamkeit - ein weiteres Beispiel - wurde als Verhaltensweise definiert, die darauf hinzielt, Geld oder andere materielle Werte zu sparen. Fragt man jedoch nach der Motivation, insbesondere nach der unbewussten Motivation solcher Verhaltensweisen, so kommt man zu dem Schluss, dass einer bestimmten Verhaltensweise zahlreiche und von Grund auf verschiedene Charakterzüge zugrunde liegen können. Mutiges Verhalten kann durch Ehrgeiz motiviert sein, so dass jemand in bestimmten Situationen sein Leben aufs Spiel setzt, nur um sein Verlangen nach Bewunderung zu befriedigen. Mutiges Verhalten kann durch selbstmörderische Impulse ausgelöst werden, die jemanden dazu bringen, sich einer Gefahr auszusetzen, weil ihm bewusst oder unbewusst nichts an seinem Leben liegt und er sich selbst zerstören will. Ferner kann das völlige Fehlen von Einschätzungsfähigkeit die eigentliche Ursache sein, so dass einer mutig handelt, weil [II-040] er sich die Gefahren nicht vorstellen kann, die ihn erwarten. Und schließlich kann Mutigsein ein Verhalten sein, das auf einer tiefen Hingabe an eine Idee oder ein Ziel beruht, für die sich ein Mensch einsetzt. Diese Motivation wird meistens als Grund eines mutigen Verhaltens angenommen. Oberflächlich betrachtet ist das Verhalten trotz der Verschiedenartigkeit der Motivationen in allen Fällen das gleiche. Wie gesagt, nur „oberflächlich“! Wer das Verhalten genauer beobachtet, wird feststellen, dass der Unterschied in der Motivation auch feine Unterschiede im Verhalten bedingt. Ein Offizier z. B. wird in der Schlacht anders handeln, je nachdem, ob sein Mut durch die Hingabe an eine Idee oder durch seinen Ehrgeiz motiviert ist: Im ersteren Fall würde er nicht angreifen, wenn das Risiko in keinem Verhältnis zum erreichbaren taktischen Ziel steht. Ist er aber von Ehrgeiz getrieben, dann kann ihn diese Leidenschaft allen Gefahren gegenüber blind machen, die ihm und seinen Soldaten drohen. In diesem Fall hätte sein mutiges Verhalten offensichtlich etwas recht Zweideutiges an sich. Als zweites Beispiel nannte ich „Sparsamkeit“. Jemand kann sparsam sein, weil seine wirtschaftlichen Verhältnisse es erfordern; oder er kann sparsam sein, weil er einen geizigen Charakter hat, wobei dann das Sparen ungeachtet seiner Notwendigkeit zum Selbstzweck wird. Auch hier würde die Motivation verschiedene Verhaltensweisen bewirken. Im ersten Fall wäre der Betreffende durchaus fähig, eine Situation, in der Sparen notwendig ist, von einer anderen zu unterscheiden, in der es klüger ist, Geld auszugeben; im letzteren wird er ungeachtet der objektiven Notwendigkeit sparen. Ein weiterer Faktor, der durch die Verschiedenheit der Motivation bestimmt wird, zeigt sich in der Möglichkeit, ein Verhalten vorauszusagen. Von einem „mutigen“ Soldaten, der ehrgeizig ist, können wir annehmen, dass er nur dann mutig sein wird, wenn sein Mut Anerkennung finden wird. Von einem Soldaten, der aus Hingabe an eine Sache mutig ist, können wir voraussagen, dass die Frage, ob sein Mut anerkannt wird oder nicht, sein Verhalten kaum beeinflusst.

Mit dem Freudschen Begriff der unbewussten Motivation eng verwandt ist seine Lehre von der triebhaften Natur der Charakterzüge. Freud sah, was große Romanciers und Dramatiker seit jeher wussten: dass man es nämlich - wie Balzac es formulierte - bei der Erforschung des Charakters „mit Kräften zu tun hat, die für den Menschen bestimmend sind“. Die Art und Weise, wie jemand denkt, fühlt und handelt, ist nicht nur das Ergebnis vernunftbestimmter Antworten auf die Realität, sondern wird weitgehend durch die Eigenart seines Charakters bestimmt: „Des Menschen Schicksal ist sein Charakter.“ Freud erkannte die dynamische Qualität der Charakterzüge, und dass die Charakterstruktur eines Menschen die besondere Richtung anzeigt, in die seine Energie im Vollzug des Lebens gelenkt wird.

Diese dynamische Eigenart der Charakterzüge suchte Freud zu erklären, indem er seine Charakterologie mit seiner Libido-Theorie verband. Die in den Naturwissenschaften des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts vorherrschende materialistische Denkweise setzte voraus, dass bei Natur- und psychischen Phänomenen die Energie als eine Substanz und nicht als eine Beziehungsgröße aufzufassen sei. Im Einklang mit dieser Auffassung hielt Freud den Sexualtrieb für die Energiequelle des Charakters. Die verschiedenen Charakterzüge erklärte er mit Hilfe einiger komplizierter und geistreicher Hypothesen als „Sublimierungen“ des Sexualtriebs, oder als [II-041] „Reaktionsbildungen“ gegen die verschiedenen Formen des Sexualtriebs. Er interpretierte die dynamische Natur der Charakterzüge als Ausdruck ihrer libidinösen Quelle. Entsprechend der neuen Erkenntnisse der Natur- und Sozialwissenschaften kam die Psychoanalyse zu einer Auffassung, die nicht mehr von der Vorstellung eines primär isolierten Individuums ausging, sondern von der Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen, zur Natur und zu sich selbst. Man nahm an, dass gerade diese Beziehung die Energien lenkt und leitet, die sich in den leidenschaftlichen Strebungen des Menschen manifestieren. H. S. Sullivan, einer der Pioniere dieser neuen Sicht, definierte die Psychoanalyse dementsprechend als „Erforschung der zwischenmenschlichen Beziehungen“.

Die auf den folgenden Seiten entwickelte Theorie folgt Freuds Charakterologie in wesentlichen Punkten. Zunächst in der Annahme, dass jedem Verhalten Charakterzüge zugrunde liegen, die aus eben diesem Verhalten gefolgert werden müssen. Ferner, dass dies Kräfte sind, deren sich der Betreffende - seien sie auch noch so stark - nicht bewusst zu sein braucht. Meine Theorie folgt Freud auch darin, dass nicht der einzelne Charakterzug das ist, was den Charakter bestimmt, sondern die gesamte Charakterorganisation, von der die einzelnen Charakterzüge sich herleiten lassen. Diese Charakterzüge müssen als ein Syndrom aufgefasst werden, das aus einer spezifischen Organisation oder, wie ich es nenne, aus einer spezifischen Orientierung des Charakters folgt. Ich werde mich nur mit einigen wenigen Charakterzügen beschäftigen, die sich unmittelbar aus der ihnen zugrunde liegenden Orientierung herleiten lassen. Andere Charakterzüge könnte man ähnlich behandeln. Es würde sich zeigen, dass auch sie unmittelbare Ergebnisse von Grundorientierungen oder von Mischungen solcher primärer Charakterzüge mit Zügen des Temperaments sind. Bei vielen anderen, die man gemeinhin ebenfalls als Charakterzüge bezeichnet, würde sich jedoch zeigen, dass sie keine Charakterzüge in unserem Sinne sind, sondern reine Temperamentszüge oder bloße Verhaltensweisen.

Der Hauptunterschied zwischen der hier vorgetragenen und der Freudschen Theorie besteht darin, dass die eigentliche Basis des Charakters nicht in den verschiedenen Formen der Libidoorganisation gesehen wird, sondern in den verschiedenen Arten, in denen sich ein Mensch zur Welt in Beziehung setzt. Im Vollzug des Lebens bezieht sich der Mensch auf folgende Weisen zur Welt: (1) durch Aneignung und Assimilierung der Dinge und (2) indem er sich zu den Menschen (und zu sich selbst) in Beziehung setzt. Ersteres nenne ich den Assimilierungsprozess, letzteres den Sozialisationsprozess. Beide Formen des Bezogenseins sind „offen“ und nicht wie beim Tier instinktiv determiniert. Der Mensch kann Dinge erwerben, indem er sie von einer außerhalb seiner selbst liegenden Quelle erhält oder sie sich von dort nimmt oder indem er sie durch eigene Anstrengung hervorbringt. Wie immer er sich zu der Welt in Beziehung setzt, er muss es in irgendeiner Weise tun, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Der Mensch kann nicht allein und ohne Beziehung zu anderen leben. Er muss sich mit anderen zusammenschließen, um sich zu verteidigen, um arbeiten zu können, zum Zwecke der sexuellen Befriedigung, um zu spielen, um Kinder aufzuziehen und um sein Wissen und seinen materiellen Besitz weitergeben zu können. Aber außerdem ist es für ihn lebensnotwendig, mit anderen in Beziehung zu stehen, [II-042] mit ihnen eins zu sein, als Teil einer Gruppe. Absolute Isolation ist unerträglich und unvereinbar mit seelischer Gesundheit. Auch in dieser Hinsicht kann sich der Mensch in verschiedenen Weisen zu anderen in Beziehung setzen. Er kann lieben oder hassen, wetteifern oder kooperieren; er kann ein gesellschaftliches System aufbauen, das auf Gleichheit oder auf Autorität, auf Freiheit oder auf Unterdrückung beruht. In irgendeiner Weise muss er sich jedoch in Beziehung setzen, und sein Charakter drückt die besondere Form seiner Bezogenheit aus.

Diese Orientierungen, in denen sich der einzelne zu seiner Umwelt in Beziehung setzt, bilden den Kern seines Charakters. Charakter kann also definiert werden als die (relativ) gleichbleibende Form, in die die menschliche Energie im Prozess der Assimilierung und Sozialisation kanalisiert wird. Diese Kanalisierung der psychischen Energie hat eine wichtige biologische Funktion. Da das Handeln des Menschen nicht durch angeborene instinktive Verhaltensmuster determiniert wird, wäre das Leben gefährdet, wenn der Mensch bei jeder Handlung und bei jedem Schritt von neuem eine freie Entscheidung fällen müsste. Im Gegenteil, er muss viele Handlungen schneller ausführen, als es die bewusste Überlegung erlaubt. Wäre jedes Verhalten eine Folge freier und überlegter Entscheidungen, so würde so widerspruchsvoll gehandelt werden, dass nichts mehr richtig funktionieren könnte. Nach behavioristischer Auffassung lernt der Mensch halb-automatisch zu reagieren, indem er Handlungs- und Denkgewohnheiten entwickelt, die man als bedingte Reflexe auffassen kann. Obwohl dies bis zu einem gewissen Grade stimmt, wird doch übersehen, dass die am tiefsten wurzelnden Gewohnheiten und Meinungen, die für einen Menschen charakteristisch sind und die sich jeder Veränderung gegenüber als resistent erweisen, aus seiner Charakterstruktur erwachsen: Sie sind der Ausdruck jener spezifischen Form, in die die Energie in der Charakterstruktur kanalisiert wurde. Das Charaktersystem kann als menschlicher Ersatz für den Instinktapparat des Tieres angesehen werden.[24] Ist die Energie einmal in einer bestimmten Weise „kanalisiert“, dann vollzieht sich das Handeln „getreu dem Charakter“. Dieser oder jener Charakter mag vom moralischen Standpunkt aus unerwünscht sein, seinem Träger jedoch ermöglicht er ein folgerichtiges Handeln und befreit ihn von der Bürde, jedesmal eine neue und durchdachte Entscheidung treffen zu müssen. Er kann sein Leben so einrichten, wie es seinem Charakter entspricht, und kann dadurch einen gewissen Ausgleich zwischen der inneren und der äußeren Situation schaffen. Überdies hat der Charakter eine selektive Funktion in Bezug auf die Ideen und Werte eines Menschen. Da viele sich einreden, ihre Ideen seien von ihren Gefühlen und Wünschen unabhängig und seien das Ergebnis logischer Deduktion, glauben sie, dass ihre Weltanschauung sich in ihren Ideen und Urteilen bestätigt, während diese in Wirklichkeit, ebenso wie ihre Handlungen, aus ihrem Charakter stammen. Diese Bestätigung stabilisiert ihrerseits wiederum die Charakterstruktur, da sie die Charakterstruktur als richtig und vernünftig erscheinen lässt.

Der Charakter hat jedoch nicht nur die Funktion, dem Einzelnen ein konsistentes und „vernünftiges“ Handeln zu ermöglichen. Er ist gleichzeitig die Basis für dessen Anpassung an die Gesellschaft. Der Charakter des Kindes wird durch den Charakter der Eltern geformt, denen entsprechend das Kind sich entwickelt. Der Charakter der [II-043] Eltern und ihre Erziehungsmethoden werden ihrerseits durch die Gesellschaftsstruktur ihres Kulturraumes geprägt. Die durchschnittliche Familie ist die psychologische Agentur der Gesellschaft.[25] Indem sich das Kind seiner Familie anpasst, erwirbt es den Charakter, der es später zu seinen Aufgaben im gesellschaftlichen Leben befähigt. Das Kind eignet sich den Charakter an, durch den es das tun will, was es tun muss, und dessen innersten Kern es mit den meisten Gliedern seiner gesellschaftlichen Klasse oder des Kulturbereichs teilt, in dem es lebt. Bis zu welchem Grade der Charakter durch gesellschaftliche oder kulturelle Vorbilder geformt wird, zeigt sich darin, dass die meisten Angehörigen einer gesellschaftlichen Klasse oder eines Kulturbereichs bestimmte Charakterelemente gemeinsam haben, so dass man von einem „Gesellschafts-Charakter“ sprechen kann, der den Kern der Charakterstruktur repräsentiert, der den meisten Menschen in einer bestimmten Kultur gemeinsam ist.[26] Vom Gesellschafts-Charakter getrennt müssen wir jedoch den individuellen Charakter betrachten, durch den sich innerhalb des gleichen Kulturkreises ein Mensch vom anderen unterscheidet. Diese Unterschiede gehen zum Teil auf die Unterschiede der Persönlichkeiten der Eltern zurück, zum anderen auf die psychischen und materiellen Unterschiede der besonderen sozialen Umwelt, in der das Kind aufwächst. Aber sie sind auch durch konstitutionelle Unterschiede des Einzelnen bedingt, insbesondere durch solche des Temperaments. Genetisch wird die Formung des individuellen Charakters durch die Wirkung bestimmt, welche die aus dem individuellen und kulturellen Bereich erwachsenen Lebenserfahrungen auf das Temperament und die physische Konstitution ausüben. Die gleiche Umwelt ist für zwei Menschen nie dieselbe, weil beide diese Umwelt durch ihre verschiedene Konstitution mehr oder minder verschieden erleben. Bloße Gewohnheiten des Denkens und Handelns, die nur eine Folge der menschlichen Anpassung an kulturelle Vorbilder sind, aber nicht im Charakter wurzeln, können sich unter dem Einfluss neuer gesellschaftlicher Vorbilder leicht verändern. Wurzelt dagegen das Verhalten eines Menschen in seinem Charakter, so ist es mit Energie geladen und nur dann veränderlich, wenn ein Wandel in der Charakterstruktur selbst stattfindet.

In der folgenden Analyse wird der Unterschied zwischen nicht-produktiven Orientierungen und produktiven Orientierungen aufgezeigt (vgl. hierzu auch das Diagramm unten S. 73). Bei diesen Begriffen handelt es sich um „Idealtypen“, nicht um die Beschreibung von Charakteren bestimmter Individuen. Aus didaktischen Gründen werden diese Idealtypen gesondert besprochen, obwohl der Charakter eines bestimmten Menschen meist eine Mischung aller oder einiger dieser Orientierungen ist, wobei allerdings eine dominiert. Ich möchte bemerken, dass bei der Beschreibung der nicht-produktiven Orientierungen nur deren negative Aspekte ausgeführt werden; ihre positiven Aspekte sollen ganz am Ende dieses Kapitels behandelt werden.[27]

Die nicht-produktiven Charakterorientierungen

Die rezeptive Orientierung

Bei der rezeptiven Orientierung hat der Mensch das Empfinden, dass die „Quelle alles Guten“ außerhalb seiner selbst liegt. Er glaubt, das Erwünschte (gleichgültig, ob es sich um etwas Materielles handelt oder um Zuneigung, Liebe, Wissen, Vergnügen) nur von diesem außer ihm Liegenden empfangen zu können. Liebe ist für ihn fast ausschließlich eine Frage von „Geliebtwerden“ und nicht von Lieben. Menschen solcher Art neigen hinsichtlich ihrer Liebesobjekte zur Wahllosigkeit. Von irgendjemandem geliebt zu werden, bedeutet für sie ein so überwältigendes Erlebnis, dass sie jedem „zufliegen“, der ihnen Liebe gibt oder doch etwas, das wie Liebe aussieht. Sie sind äußerst empfindlich, wenn die geliebte Person sich zurückzieht oder sie abweist. Ihr Denken zeigt dieselbe Orientierung. Sind sie intelligent, dann geben sie die besten Zuhörer ab, da sie selber keine Ideen haben, sondern nur welche aufnehmen wollen. Sobald sie sich selbst überlassen sind, fühlen sie sich gelähmt. Es ist bezeichnend, dass sie lieber auf jemanden warten, um eine nötige Information zu bekommen, als von sich aus die geringste Anstrengung zu unternehmen. Sofern sie religiös sind, haben sie ein Gottesbild, bei dem sie alles von Gott erwarten und nichts von ihrem eigenen Tätigsein. Sind sie nicht religiös, so ist ihr Verhalten Menschen oder Institutionen gegenüber ähnlich; sie sind stets auf der Suche nach einem „magischen Helfer“.[28] Sie beweisen eine besondere Art von Treue, der die Dankbarkeit für die Hände, die sie versorgen, und die Angst, sie für immer zu verlieren, zugrunde liegt. Die Anhänglichkeit müssen sie vielen bezeugen, da sie viele brauchen, um das Gefühl der Sicherheit zu haben. Sie können schwer nein sagen und geraten leicht in Konflikte zwischen verschiedenen Treueverpflichtungen und -versprechen. Da sie nicht nein sagen können, sagen sie zu allem und jedem ja, und die daraus resultierende Lähmung ihrer kritischen Fähigkeiten bringt sie in ein immer stärker werdendes Abhängigkeitsverhältnis zu anderen.

Sie sind nicht nur von Autoritäten, die mehr wissen als sie und ihnen helfen können, abhängig, sondern überhaupt von Menschen, die in irgendeiner Weise als Stütze dienen können. Da sie ohne fremde Hilfe nicht imstande sind, etwas zu tun, fühlen sie sich verloren, sobald sie allein sind. Diese Hilflosigkeit ist von besonderer Bedeutung in den Angelegenheiten, die jeder Mensch nur allein erledigen kann, wie zum Beispiel das Treffen von Entscheidungen und das Übernehmen von Verantwortung. In ihrem persönlichen Leben suchen sie oft Rat gerade bei den Menschen, in Bezug auf die sie selbständig entscheiden sollten.

Der rezeptive Mensch liebt Essen und Trinken. Er neigt dazu, Angst und Niedergeschlagenheit auf diese Weise zu überbrücken. Der Mund ist bei diesen Menschen besonders auffällig, häufig sogar am ausdrucksvollsten; die Lippen sind offen, als ob sie ständig auf Fütterung warteten. Gefüttert zu werden ist in ihren Träumen ein häufiges Symbol für Geliebtwerden; ausgehungert zu werden ist Sinnbild für Frustrationen und Enttäuschungen.

Im allgemeinen sind Menschen dieser rezeptiven Orientierung optimistisch und freundlich. Sie haben Vertrauen zum Leben und zu dessen Gaben, werden aber [II-045] ängstlich und erregt, wenn ihrer „Versorgungsquelle“ Gefahr droht. Oft besitzen sie echte Wärme und möchten anderen helfen, wobei allerdings ihre Hilfsbereitschaft für andere auch den Zweck hat, sich deren Wohlwollen zu sichern.

Die ausbeuterische Orientierung

Die ausbeuterische Orientierung setzt wie die rezeptive voraus, die Quelle alles Guten liege außerhalb des eigenen Ichs, und dass deshalb alles, was jemand wünscht, von dorther kommen muss, da man nichts aus sich selbst erschaffen kann. Der Unterschied zwischen beiden Orientierungen besteht jedoch darin, dass der ausbeuterische Mensch nicht erwartet, etwas geschenkt zu bekommen. Er nimmt es sich mit List oder Gewalt. Diese Orientierung erstreckt sich auf alle Ebenen des Tätigseins.

Auf dem Gebiet der Liebe und Zuneigung besteht bei diesen Menschen die Tendenz, an sich zu reißen und zu stehlen. Sie fühlen sich nur zu Menschen hingezogen, die sie einem anderen wegnehmen können. Sie finden deshalb einen anderen nur dann attraktiv, wenn dieser schon an jemanden gebunden ist. Selten verlieben sie sich in einen Menschen, der ungebunden ist.

Die gleiche Haltung finden wir im Denken und im intellektuellen Bereich. Sie stehlen Ideen, schaffen aber keine. Das ist in der Form des Plagiats möglich, oder, weniger auffallend, indem Ideen, die von anderen ausgesprochen wurden, in abgewandelter Form wiederkehren und als neue und eigene ausgegeben werden. Erstaunlich ist der hohe Prozentsatz intelligenter Menschen, die diesen Weg wählen, obgleich sie selbst schöpferisch sein könnten, wenn sie sich nur auf ihre eigenen Fähigkeiten einließen. Der Mangel an eigenen Ideen oder selbständiger Produktion bei sonst fähigen Menschen erklärt sich oft nur aus dieser Charakterorientierung, nicht aber aus einem angeborenen Mangel an Originalität. Dasselbe trifft bei materiellen Dingen zu. Was sie dem anderen wegnehmen können, verlockt mehr als alles, was sie sich selbst schaffen könnten. Sie nützen und beuten aus, wo immer nur irgendjemand und irgendetwas sich ausnutzen und ausbeuten lässt. „Gestohlene Früchte sind die süßesten“ ist ihr Motto. Und da sie ausnutzen und ausbeuten wollen, „lieben“ sie auch nur den, bei dem die Möglichkeit des Ausbeutens gegeben ist, oder werden derjenigen „überdrüssig“, bei denen nichts mehr zu holen ist. Ein extremes Beispiel ist der Kleptomane, der sich nur dann eines Gegenstandes erfreut, wenn er ihn stehlen kann, obgleich er das Geld zum Kauf hat.

Für Menschen dieser Orientierung ist oft ein bissiger Gesichtsausdruck typisch. Es ist nicht nur ein Wortspiel, darauf hinzuweisen, dass sie oft „bissige“ Bemerkungen über andere machen. Ihre Haltung ist eine Mischung von offen zur Schau getragener Feindschaft und geschickten Umgangsformen. Jeder ist Objekt ihrer Ausbeutung und wird nur nach seiner Brauchbarkeit hierfür eingeschätzt. Statt Vertrauen und Optimismus, die den rezeptiven Menschen kennzeichnen, findet man Misstrauen und Zynismus, Neid und Eifersucht. Da ihnen nur Dinge Freude machen, die sie anderen wegnehmen können, überschätzen sie fremden Besitz und unterschätzen den eigenen. [II-046]

Die hortende Orientierung

Rezeptive und ausbeuterische Orientierung ähneln sich insofern, als beide von der außer ihnen liegenden Welt etwas erhalten wollen. Anders die hortende Orientierung. Menschen dieses Typs haben weniger Vertrauen in etwas Neues, das sie von der Außenwelt bekommen könnten. Sie schaffen sich ein Gefühl der Sicherheit, indem sie etwas horten und aufbewahren, empfinden es aber als Bedrohung, wenn sie etwas hergeben sollen. So umpanzern sie sich mit einem Schutzwall, hinter dessen Befestigung so viel wie möglich gestapelt und so wenig wie möglich herausgegeben wird. Sie geizen mit Geld und materiellen Werten ebenso wie mit Gefühlen und Gedanken. Sie geben keine Liebe, sondern versuchen, Liebe zu bekommen, indem sie die geliebte Person in Besitz nehmen. Eine eigenartige Treue zeigt der hortende Charakter gegenüber seinen Mitmenschen, oft auch gegenüber Erinnerungen. Seine Sentimentalität lässt die Vergangenheit in einem goldenen Licht erscheinen; er klammert sich an sie und schwelgt in der Erinnerung an einstige Gefühle und Erlebnisse. Er weiß alles, obgleich er selbst unschöpferisch und keines produktiven Gedankens fähig ist.

Auch diese Menschen sind an ihrem Gesichtsausdruck und an bestimmten Gesten zu erkennen. Ihre Lippen sind verkniffen, die Gesten sind charakteristisch für ihr Bestreben, sich Menschen oder Dingen zu entziehen. Während die Gesten des rezeptiven Charakters einladend und abgerundet sind, die des ausbeuterischen aggressiv und spitz, sind die des hortenden Charakters steif, so als wollte er ausdrücklich auf die Grenzlinie hinweisen, die zwischen ihm und der äußeren Welt besteht. Ein anderes für diese Orientierung ebenso bezeichnendes Merkmal ist eine pedantische Ordnungsliebe. Dinge, Gedanken, Gefühle - alles muss „in Ordnung sein“, aber diese Ordnungsliebe ist ebenso unfruchtbar und starr wie das Gedächtnis dieser Menschen. Sie können es nicht ertragen, wenn Dinge nicht an ihrem Platz liegen, und werden ganz automatisch versuchen, sie wieder an ihren Platz zu bringen. Für den hortenden Charakter droht die äußere Welt in seine gefestigte Bastion einzubrechen; seine Ordentlichkeit zeigt an, dass er die äußere Welt dadurch beherrschen will, dass er ihr einen bestimmten Platz zuweist und sie dort festhält, um jede Gefahr des Eindringens zu vermeiden. Seine zwanghafte Reinlichkeit ist ein anderer Ausdruck für sein Bedürfnis, jeden Kontakt mit der äußeren Welt ungeschehen zu machen. Dinge, die jenseits seiner eigenen Grenzen liegen, werden als gefährlich und „unrein“ empfunden. Den bedrohlichen Kontakt hebt er durch seinen Waschzwang auf; sein Verhalten erinnert an religiöse Waschungen, die vom Ritus nach der Berührung unreiner Dinge oder Menschen vorgeschrieben sind. Dinge brauchen jedoch nicht nur ihren eigenen Ort, sondern auch ihre eigene Zeit. Deshalb ist für den hortenden Charakter eine zwanghafte Pünktlichkeit charakteristisch. Sie ist eine weitere Form, die äußere Welt zu beherrschen. Wenn die Außenwelt als Bedrohung der eigenen gefestigten Bastion erlebt wird, dann ist Eigensinn eine logische Reaktion. Ein permanentes „Nein“ ist eine beinahe automatische Verteidigung gegen jede Einmischung. Wie angewachsen festzusitzen ist die Antwort auf die Gefahr, von seinem Platz verdrängt zu werden. Solche Menschen neigen dazu zu glauben, sie besäßen nur ein bestimmtes Quantum an Kraft, Energie und seelischem Leistungsvermögen, und dieser Bestand [II-047] vermindere oder erschöpfe sich bei Gebrauch und könne nie mehr ergänzt werden. Sie begreifen nicht, dass jede lebendige Substanz sich selbsttätig wieder ergänzt und dass Tätigsein und der Gebrauch der eigenen Kräfte die eigene Stärke mehrt, während Stagnation sie lähmt. Tod und Zerstörung ist für sie etwas Wirklicheres als Leben und Wachstum. Der schöpferische Akt ist ein Wunder, von dem sie hören, ohne daran glauben zu können. Ihre höchsten Werte heißen „Ordnung“ und „Sicherheit“. „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, das ist ihr Wahlspruch. In ihrer Beziehung zu anderen Menschen betrachten sie ein intimeres Verhältnis als Bedrohung. Nur Unnahbarkeit oder aber der Besitz eines anderen gibt ihnen das Gefühl von Sicherheit. Sie sind argwöhnisch und haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, der im Endeffekt darauf hinausläuft: „Mein ist mein und dein ist dein“.

Die Marketing-Orientierung

Die Marketing-Orientierung entwickelt sich erst in der Gegenwart zu einer dominanten Orientierung. Um ihre Eigenart zu verstehen, muss man die ökonomische Funktion sehen, die der Markt für die moderne Gesellschaft hat. Sie ist nicht nur dieser Charakterorientierung analog, sondern die Basis und die entscheidende Voraussetzung für deren jetzige Entwicklung.

Der Tausch ist einer der ältesten Mechanismen der Wirtschaft. Der herkömmlich an einen bestimmten Ort gebundene Markt unterscheidet sich wesentlich vom Markt, wie er sich im modernen Kapitalismus herausgebildet hat. Der an einen bestimmten Ort gebundene Tauschhandel bot die Möglichkeit, sich zum Zwecke des Warenaustausches zu treffen. Produzenten und Verbraucher lernten sich dabei kennen. Beide waren verhältnismäßig kleine Gruppen. Der Bedarf war mehr oder weniger bekannt, so dass der Produzent entsprechend dem gegebenen Markt produzieren konnte.

Der moderne Markt stellt keinen Treffpunkt mehr dar, sondern ist ein Mechanismus, bei dem die Frage des Bedarfs unabhängig vom Menschen gelöst wird (zur Geschichte und Funktion des modernen Marktes vgl. K. Polanyi, 1944). Man produziert für diesen Markt, nicht aber für einen bekannten Kreis von Verbrauchern. Die Entscheidung hängt von Angebot und Nachfrage ab. Danach richtet es sich, ob und zu welchem Preis eine Ware verkauft werden kann. Es ist belanglos, welchen Gebrauchswert beispielsweise ein Paar Schuhe hat; wenn das Angebot größer ist als die Nachfrage, wird ein Teil der Schuhe wirtschaftlich gesehen wertlos. Sie hätten genauso gut auch nicht produziert werden können. Solange der Tauschwert für den Wert einer Ware ausschlaggebend ist, ist der Markttag zugleich auch der „Tag des Gerichts“.

Der Leser mag einwenden, dass eine solche Beschreibung des Marktes die Dinge allzu sehr vereinfacht. Der Produzent versuche ja, den Bedarf im Voraus richtig zu schätzen, wozu ihm unter den Bedingungen des Monopols sogar gewisse Kontrollmöglichkeiten gegeben sind. Dennoch war und ist noch immer die regulative Funktion des Marktes dominant genug, um einen tiefen Einfluss auf die Charakterbildung des städtischen Bürgertums und - durch den gesellschaftlichen und kulturellen Einfluss - der gesamten Bevölkerung auszuüben. Der Begriff des Marktwertes, bei dem der Tauschwert einer Ware wichtiger ist als ihr Gebrauchswert, führte zu einer ähnlichen [II-048] Wertauffassung bezüglich des Menschen und besonders der eigenen Person. Die Charakterorientierung, die in der Erfahrung wurzelt, dass man selbst eine Ware ist und einen Tauschwert hat, nenne ich Marketing-Orientierung.

In unserer Zeit wuchs die Marketing-Orientierung rapide an, und zwar zusammen mit der Entwicklung eines neuen Marktes, der sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat: des Personalmarktes. Angestellte und Vertreter, Geschäftsführer und Ärzte, Anwälte und Künstler, alle treten auf diesem Markt in Erscheinung. Ihr legaler Status und ihre wirtschaftliche Position sind zwar verschieden: Die einen sind Freischaffende, die sich ihre Dienstleistung bezahlen lassen, die anderen sind Arbeitnehmer und als solche Lohn- und Gehaltsempfänger. Aber für alle ist der materielle Erfolg davon abhängig, ob sie persönlich von denen anerkannt werden, die ihre Dienste in Anspruch nehmen oder sie beschäftigen.

Das Prinzip für die Bewertung ist auf beiden Märkten, dem Personal- und dem Warenmarkt, dasselbe. Dort wird die Person angeboten, hier die Ware. Der Wert entspricht beide Male dem Tauschwert, für dessen Festsetzung der Gebrauchswert eine zwar notwendige, doch keineswegs hinreichende Bedingung ist. Tatsächlich könnte unser Wirtschaftssystem nicht funktionieren, wenn die Menschen, statt Fachkenntnisse zu besitzen, nur liebenswürdig wären. Selbst das taktvollste Benehmen und das eleganteste Konsultationszimmer an der Park Avenue würde keinem New Yorker Arzt zum Erfolg verhelfen, wenn er nicht ein Minimum an medizinischen Kenntnissen und Erfahrungen mitbrächte. Der größte Charme würde keine Sekretärin vor dem Verlust ihrer Stelle schützen, wenn sie nicht einigermaßen schreiben könnte. Wenn wir jedoch untersuchen, welches Gewicht das Können und welches die Persönlichkeit als Erfolgsbedingung hat, dann zeigt sich, dass Erfolg nur in Ausnahmefällen vorwiegend auf fachlichem Können und auf gewissen menschlichen Werten wie Ehrlichkeit, Anstand und Integrität beruht. Obwohl hinsichtlich der Erfolgsaussichten das Verhältnis zwischen Können und menschlichen Qualitäten einerseits und der „Persönlichkeit“ andererseits variiert, spielt doch der „Persönlichkeitsfaktor“ immer eine entscheidende Rolle. Erfolg hängt weitgehend davon ab, wie gut sich jemand auf dem Markt verkauft, wie gut er seine Persönlichkeit einbringt, sich in netter „Aufmachung“ präsentiert: ob er freundlich, tüchtig, aggressiv, zuverlässig, ehrgeizig ist, welche Familie hinter ihm steht, welchen Clubs er angehört und ob er mit den richtigen Leuten bekannt ist. Der jeweils geforderte Typ ist bis zu einem gewissen Grad von dem speziellen Bereich abhängig, in dem jemand arbeitet. Ein Börsenmakler, ein Vertreter, ein Sekretär, ein Bahnbeamter, ein Universitätsprofessor oder ein Hoteldirektor, jeder von ihnen muss eine andere Art von Persönlichkeit anzubieten haben. Ungeachtet dieser Unterschiede müssen aber alle die eine Bedingung erfüllen: Sie müssen gefragt sein.

Die Tatsache, dass die Fähigkeiten für eine bestimmte Aufgabe noch nicht als Erfolgsaussicht genügen, sondern dass man auch imstande sein muss, seine Persönlichkeit im Konkurrenzkampf gegen viele andere „durchzusetzen“, diese Tatsache wirkt auf die Haltung ein, die man sich selbst gegenüber einnimmt. Dürfte man sich nur auf das verlassen, was man weiß und kann, so stünde die eigene Bewertung im proportionalen Verhältnis zu den eigenen Fähigkeiten, das heißt zum eigenen Gebrauchswert. [II-049] Da Erfolg aber weitgehend davon abhängt, wie man die eigene Persönlichkeit verkauft, erlebt man sich selbst als Ware. Oder, genauer gesagt, zugleich als Verkäufer und als Ware. Der Mensch ist mehr an seiner Verkäuflichkeit als an seinem Leben oder seinem Glück interessiert. Dieses Gefühl könnte man mit einer Ware, zum Beispiel mit einigen auf dem Ladentisch liegenden Handtaschen vergleichen, sofern diese fühlen und denken könnten. Um Kunden anzulocken, würde jede Handtasche sich so „attraktiv“ wie möglich machen, und um einen höheren Preis als die Rivalinnen zu erzielen, so „kostbar“ wie möglich geben. Die zum höchsten Preis verkaufte Handtasche wäre stolz, weil sie die „wertvollste“ ist; die nicht verkaufte wäre traurig und von der eigenen Wertlosigkeit überzeugt. So könnte es einer Handtasche ergehen, die gut aussähe und praktisch wäre, doch unmodern geworden ist, weil die Mode sich geändert hat.

Auch auf dem „Personal-Markt“ muss man in Mode sein, und um in Mode zu sein, muss man wissen, nach welcher Art Persönlichkeit die größte Nachfrage besteht. Diese Kenntnis wird dem Menschen in allgemeinen Zügen schon während des gesamten Erziehungsprozesses beigebracht, beginnend im Kindergarten und endend auf der Universität. Die Familie vervollständigt sie. Das im Jugendalter erworbene Wissen ist noch unzureichend, denn es weist lediglich auf einige allgemeine Qualitäten hin, zum Beispiel auf Anpassungsvermögen, Ehrgeiz, Fingerspitzengefühl, die den wechselnden Erwartungen anderer Menschen entsprechen sollen. Ein detailliertes Bild des Erfolgsmenschen wird anderenorts vermittelt. Magazine, Zeitungen und Wochenschauen bringen in mannigfachen Variationen Bilder und Lebensgeschichten der Erfolgreichen. Bildinserate haben die gleiche Wirkung. Der erfolgreiche Geschäftsmann, der im Inserat eines Konfektionshauses abgebildet ist, demonstriert, wie man sich geben und wie man aussehen muss, um auf dem derzeitigen Personalmarkt big money zu machen.

Das wichtigste Medium, das dem Durchschnittsmenschen einen Begriff gibt, wie die erfolgreiche Persönlichkeit auszusehen hat, ist der Film. Das junge Mädchen sucht Gesichtsausdruck, Frisur und Gesten des hoch bezahlten Stars zu imitieren, weil das anscheinend den größten Erfolg verspricht. Der junge Mann will so aussehen und sich so aufführen wie das Modell auf der Leinwand. Der Durchschnittsmensch hat nur selten Kontakt mit den Erfolgreichsten. Anders dagegen sein Verhältnis zum Filmstar. Zwar hat er auch mit ihm keinen Kontakt, aber er kann ihn, sooft er will, auf der Leinwand sehen, kann ihm schreiben und Photographien mit Autogramm von ihm erhalten. Früher wurde der Schauspieler gesellschaftlich nicht anerkannt, aber er war der Vermittler aller großen dramatischen Werke. Die heutigen Filmstars vermitteln keine großen Werke und keine großen Ideen, aber dafür sind sie das Bindeglied zwischen dem Durchschnittsmenschen und der Welt „der Großen“. Das ist ihre eigentliche Funktion. Auch wenn der Durchschnittsmensch nicht damit rechnen kann, den gleichen Erfolg zu erreichen, wie diese „Großen“, so kann er wenigstens versuchen, sie nachzuahmen. Für ihn sind sie Heilige, und da sie Erfolg haben, verkörpern sie die Lebensnormen.

Da der moderne Mensch sich gleichzeitig als Ware auf einem Markt und als Verkäufer dieser Ware empfindet, ist seine Selbstachtung von Voraussetzungen abhängig, die [II-050] sich seiner Kontrolle entziehen. Hat er Erfolg, dann ist er wertvoll, wenn nicht, ist er wertlos. Das hieraus entstehende Gefühl der Unsicherheit kann kaum überschätzt werden. Wenn man glaubt, der eigene Wert sei nicht von eigenen menschlichen Qualitäten abhängig, sondern von dem Erfolg bei ständig wechselnden Marktbedingungen, dann muss die Selbstachtung unsicher werden und ein ständiges Bedürfnis nach Bestätigung durch andere entwickeln. Man jagt unablässig dem Erfolg nach, weil jedes Zurückgesetztwerden eine schwere Belastung für die Selbstachtung ist. Hilflosigkeit, Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle sind das Ergebnis. Misst man den eigenen Wert an den Wechselfällen des Marktes, so geht jegliches Empfinden für Würde und Stolz verloren.

Das alles ist jedoch nicht nur ein Problem der Selbst-Beurteilung und der Selbstachtung, sondern es handelt sich darum, ob man sich als unabhängiges Wesen erlebt - ob man mit sich selbst identisch ist. Wie wir noch sehen werden, leitet der reife und produktive Mensch das Gefühl seiner Identität davon her, dass er sich als ein Handelnder erlebt, der im Tun mit seinen Kräften eins ist. „Ich bin, was ich tue“, das ist, kurz gesagt, der Inhalt dieses Selbstgefühls. Bei der Marketing-Orientierung aber steht der Mensch seinen eigenen Kräften als einer ihm fremden Ware gegenüber. Er ist nicht mit ihnen eins, vielmehr treten sie ihm gegenüber in einer Rolle auf; denn es kommt nicht mehr auf seine Selbstverwirklichung durch ihren Gebrauch an, sondern auf seinen Erfolg bei ihrem Verkauf. Beides, die Kräfte und das, was sie hervorbringen, sind nichts Eigenes mehr, sondern etwas, das andere beurteilen und gebrauchen können. Daher wird das Identitätsgefühl ebenso schwankend wie die Selbstachtung; es wird durch die Summe der Rollen bestimmt, die ein Mensch spielen kann: „Ich bin so, wie ihr mich wünscht.

Ibsen hat diese Art der Selbstachtung symbolisch im Peer Gynt dargestellt. Peer sucht sich zu erkennen und muss feststellen, dass er einer Zwiebel gleicht. Eine Schicht löst sich nach der anderen, der Kern ist unauffindbar. Da der Mensch nicht leben kann, wenn er an der eigenen Identität zweifelt, muss er in der Marketing-Orientierung die Gewissheit der eigenen Identität nicht in sich oder in seinen Kräften suchen, sondern in dem, was andere über ihn denken. Prestige, Stellung, Erfolg und die Tatsache, dass er anderen als eine bestimmte Person bekannt ist, sind der Ersatz für das echte Identitätsgefühl. In dieser Situation wird er gänzlich davon abhängig, wie andere ihn einschätzen und sehen. Das zwingt ihn, die gleiche Rolle weiterzuspielen, mit der er einmal Erfolg hatte. Wenn ich und meine Kräfte zweierlei sind, dann bestimmt sich mein Selbst von dem Preis her, den ich erzielen kann.

Das Erlebnis anderer und die Art, wie man sie einschätzt und wertet, unterscheiden sich in nichts von dem, wie man sich selbst erlebt und einschätzt.[29] So wie man sich selbst als Ware sieht, so sieht man auch die anderen als Ware. Auch sie stellen nicht sich selbst dar, sondern nur den Teil, den sie verkaufen. Die Menschen unterscheiden sich nur noch quantitativ voneinander, also darin, ob sie mehr oder weniger Erfolg haben und attraktiv sind und dementsprechend mehr oder weniger wertvoll sind. [II-051]

Diese Bewertung ist dieselbe, die für Waren auf dem Markt gilt. Sowohl ein Gemälde wie ein Paar Schuhe können nach ihrem Tauschwert beurteilt werden; das ist der Preis, auf den ihr Wert reduziert wird. Soundso viele Paar Schuhe „entsprechen“ dem Wert eines Gemäldes. In gleicher Weise werden Menschen gewertet: Ihr Wert wird auf den Nenner reduziert, der für jeden gilt, auf seinen Markt-Wert. Die Individualität, das Besondere und Einmalige, ist wertlos, ein unnötiger Ballast. Höchst bezeichnend hierfür ist die Bedeutung, die das Wort „besonders“ angenommen hat. Es bezeichnet nicht mehr die größtmögliche Leistung eines Menschen, die Entwicklung und Entfaltung seiner Individualität, sondern ist fast schon zu einem Synonym für sonderbar oder seltsam geworden. Auch das Wort Gleichheit hat eine andere Bedeutung angenommen. Die Idee, alle Menschen seien gleich geschaffen, bedeutete, dass alle Menschen das gleiche fundamentale Recht haben, als Selbstzweck und nicht als Mittel angesehen zu werden. Heute bedeutet Gleichheit soviel wie Austausch- oder Auswechselbarkeit und ist damit gerade die Negierung der Individualität. Gleichheit sollte die Voraussetzung sein, dass der einzelne sich in seiner Eigenart entfalten kann. Stattdessen heißt Gleichheit heute soviel wie „Auslöschung der Individualität“, womit jene für die Marketing-Orientierung typische „Selbst-Losigkeit“ gemeint ist. Die Begriffe „Gleichheit“ und „Verschiedenheit“ standen einst in einem ursächlichen Zusammenhang. Heute ist „Gleichheit“ synonym mit „Indifferenz“, „Unterschieds-Losigkeit“, und diese Indifferenz oder Gleichgültigkeit, sich vom anderen nicht zu unterscheiden, charakterisiert das Verhältnis des modernen Menschen zu sich und zu anderen.

Dieser Umstand wirkt sich zwangsläufig auf alle menschlichen Beziehungen aus. Wird das Selbst der Einzelnen missachtet, dann müssen auch die Beziehungen der Menschen untereinander oberflächlich werden. Sie stehen nicht mehr als Einzelpersönlichkeit, sondern als austauschbare Ware miteinander in Beziehung und sind weder gewillt noch imstande, das Einmalige und Besondere des anderen zu erfassen. Der Markt schafft jedoch eine Kameradschaft eigener Prägung. Jeder steht im gleichen Konkurrenzkampf und strebt in gleicher Weise nach Erfolg. Alle unterliegen den gleichen Marktbedingungen (oder glauben es wenigstens), und da alle im gleichen Boot sitzen, weiß jeder, was der andere fühlt und empfindet: Er ist nur auf sich gestellt, lebt in ständiger Angst zu versagen und möchte vor allem gefallen. Ein „Pardon“ wird in diesem Kampf nicht gegeben und nicht erwartet.

Die Oberflächlichkeit menschlicher Beziehungen verleitet manchen zu der Hoffnung, er werde ein tieferes und intensiveres Gefühl in der individuellen Liebe finden. Aber die Liebe zu einem einzelnen Menschen ist mit der Liebe zu den Nächsten untrennbar verknüpft; in jedem Kulturkreis drücken die Liebesbeziehungen nur in deutlicherer Form aus, welche allgemein menschlichen Beziehungen vorherrschen. Die Annahme, die in der Marketing-Orientierung wurzelnde Einsamkeit eines Menschen könne durch individuelle Liebe geheilt werden, ist daher eine Illusion.

Die Marketing-Orientierung beeinflusst Denken und Fühlen. Das Denken bekommt die Funktion, Dinge rasch zu begreifen, um sie mit Erfolg verwenden zu können. Wird diese Einstellung durch umfassende und wirksame Erziehungsmethoden gefördert, so führt sie zu einem hohen Intelligenzquotienten, nicht aber zu Vernunft. (Zum [II-052] Unterschied zwischen „Intelligenz“ und „Vernunft“ siehe unten beim Abschnitt über „produktives Denken“.) Für bloße Verwendungszwecke genügt es, die Außenseite, die Oberfläche der Dinge zu kennen. Die Wahrheit, die sich nur enthüllt, wenn man zum Wesen einer Erscheinung vordringt, gerät als Begriff in Vergessenheit. Hiermit ist weniger die „absolute“ Wahrheit im vorwissenschaftlichen Sinn gemeint, die ohne Bezug auf Erfahrungstatsachen dogmatisch verfochten wird, sondern die Wahrheit, die ein Mensch findet und die für Revisionen offen ist, indem er seine Vernunft auf seine Beobachtungen anwendet. Die meisten Intelligenztests sind auf die oben genannte Denkweise abgestimmt. Sie messen nicht so sehr die Fähigkeiten, die ein Mensch in Bezug auf Vernunft und Verstehenkönnen besitzt, als vielmehr sein rasches Anpassungsvermögen an eine gegebene Situation; „geistige Anpassungstests“ wäre die zutreffende Bezeichnung (vgl. E. G. Schachtel, 1937). Als wesentlich betrachtet diese Denkart die Anwendung von Vergleichskategorien und quantitativen Maßstäben, nicht die gründliche Analyse eines gegebenen Phänomens und seiner Qualität. Sämtliche Probleme sind gleichermaßen „interessant“; Unterschiede in ihrer tatsächlichen Bedeutung werden kaum beachtet. Das Wissen selbst wird zur Ware. Auch hier ist der Mensch seinen eigenen Kräften entfremdet; Denken und Wissen empfindet er nur als Werkzeuge für irgendwelche Zwecke. Sogar das Wissen über den Menschen, die Psychologie, die in der großen Tradition westlichen Denkens immer als Voraussetzung galt, um den Weg zur Tugend, zum rechten Leben und zum Glück zu finden, ist zu einem bloßen Instrument entartet, mit dem man zum Zwecke der Marktforschung, der politischen Propaganda, der Reklame usw. sich selbst und andere besser manipulieren kann.

Dieses Denken hat ohne Zweifel großen Einfluss auf unser Erziehungssystem. Von der Grundschule bis zur Universität wird mit dem Lernen nur der Zweck verfolgt, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, die sich für Marktzwecke als brauchbar erweisen können. Die Schüler sollen so vielerlei lernen, dass ihnen kaum noch Zeit und Kraft zum Denken bleibt. Der Grund, dass man eine bessere und umfassendere Erziehung fordert, ist nicht das Interesse am Lehrstoff, am Wissen oder an der Erkenntnis als solcher, sondern der höhere Tauschwert, den das Wissen vermittelt. Erziehung und Wissen gelten heute sehr viel. Gleichzeitig beobachtet man tiefe Skepsis und Missachtung einem Denken gegenüber, das sich „nur“ um die Erkenntnis der Wahrheit bemüht. Ein solches Denken wird als unpraktisch und nutzlos bezeichnet, weil es für den Markt keinen Tauschwert repräsentiert.

Ich habe die Marketing-Orientierung als eine der nicht-produktiven Orientierungen dargestellt. Sie unterscheidet sich jedoch von diesen in so vieler Hinsicht, dass sie eigentlich in eine eigene Kategorie gehört. Die rezeptive, die ausbeuterische und die hortende Orientierung haben eines gemeinsam: Jede stellt eine Form der menschlichen Bezogenheit dar, die, sofern sie vorherrschend ist, einen Menschen charakterisiert. (Ganz zum Schluss dieses Kapitels werde ich zeigen, dass diese vier Orientierungen nicht unbedingt die bisher aufgezeigten negativen Eigenschaften haben müssen.) Die Marketing-Orientierung aber entwickelt nichts, was in einem Menschen potenziell vorhanden ist (es sei denn, wir würden die absurde Behauptung aufstellen, dass auch „Nichts“ zur menschlichen Ausstattung gehöre). Ihr wirkliches Wesen besteht [II-053] darin, dass keine spezifische und dauerhafte Form der Bezogenheit entwickelt wird; die Auswechselbarkeit der Haltungen ist das einzig Beständige einer solchen Orientierung. Es werden nur diejenigen Eigenschaften entwickelt, die sich am besten verkaufen lassen. Dominant ist keine besondere Haltung, sondern das Vakuum, das sich am schnellsten mit der jeweils gewünschten Eigenschaft ausfüllen lässt. Dies ist jedoch nicht mehr eine Eigenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes. Es ist höchstens eine Rolle oder die Vorspiegelung einer Eigenschaft, die in dem Augenblick ausgewechselt wird, in dem größerer Bedarf nach einer anderen besteht. So ist zum Beispiel Ehrbarkeit zuweilen erwünscht. Vertreter gewisser Branchen sollen das Publikum durch Zuverlässigkeit, Besonnenheit und Ehrbarkeit beeindrucken, also durch Eigenschaften, die bei manchem Geschäftsmann des neunzehnten Jahrhunderts echt waren. Heute dagegen sucht man einen Vertreter, der Vertrauen einflößt, weil er so aussieht, als ob er diese Eigenschaften besäße. Was der Betreffende auf dem Personalmarkt verkauft, ist seine Befähigung, diese Rolle zu spielen. Welcher Mensch dahintersteht, ist unwichtig und uninteressant; auch er selbst interessiert sich nicht für seine Ehrlichkeit, sondern nur für ihren Marktwert. Voraussetzung für die Marketing-Orientierung ist innere Leere, das Fehlen jeder spezifischen Qualität, die unauswechselbar wäre, denn jeder bestimmte Charakterzug könnte eines Tages mit den Anforderungen des Marktes in Widerspruch geraten. Der Betreffende wird feststellen, dass einige Rollen nicht zu seinen Eigenheiten passen. Also muss er sie ablegen, das heißt, nicht die Rollen, sondern seine Eigenheiten. Denn die Marketing-Persönlichkeit muss frei sein, frei von jeglicher Individualität.

Die bisher beschriebenen Charaktereigenschaften treten keineswegs so getrennt auf, wie es nach dieser Skizzierung scheinen könnte. Beispielsweise mag die rezeptive Orientierung bei jemandem dominieren, doch meistens ist sie mit einer oder mit allen anderen Orientierungen gemischt. Während ich die verschiedenen Mischungen später darstellen werde, möchte ich an dieser Stelle betonen, dass alle Orientierungen zur Anlage des Menschen gehören. Das Vorherrschen einer besonderen Orientierung hängt weitgehend von den Besonderheiten der Kultur ab, in der das Individuum lebt. Obwohl eine eingehende Analyse der Beziehung zwischen den verschiedenen Orientierungen und den gesellschaftlichen Vorbildern nur in einer Studie möglich ist, die sich vor allem mit Problemen der Sozialpsychologie beschäftigt, möchte ich doch hypothetisch andeuten, inwiefern gesellschaftliche Bedingungen eine der vier nichtproduktiven Orientierungen dominant werden lässt. Das Studium des Zusammenhanges zwischen Charakterorientierung und Gesellschaftsstruktur ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil es uns einige der entscheidendsten Triebkräfte der Charakterbildung erkennen lässt, sondern auch deshalb, weil spezifische Orientierungen - soweit diese den meisten Gliedern einer kulturellen Gruppe oder einer sozialen Klasse gemein sind - gewaltige Gefühlskräfte sind, deren Wirkung man kennen muss, um das Funktionieren der Gesellschaft zu verstehen. Hinsichtlich der zur Zeit vorherrschenden Überbewertung des kulturellen Einflusses auf die Einzelpersönlichkeit möchte ich feststellen, dass das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum nicht einfach so verstanden werden darf, als ob kulturelle und gesellschaftliche Vorbilder das Individuum „beeinflussten“. Die Wechselwirkung geht tiefer. Die [II-054] Gesamtpersönlichkeit des durchschnittlichen Individuums wird durch die Art der Beziehungen geformt, die zwischen den einzelnen Menschen bestehen. Sie wird außerdem bis zu einem solchen Grad durch die politische und sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft bestimmt, dass man prinzipiell von der Analyse eines Einzelnen auf die Totalität der Gesellschaftsstruktur, in der dieser lebt, schließen kann.

Die rezeptive Orientierung ist häufig in Gesellschaften anzutreffen, in denen eine Gruppe das Recht hat, eine andere auszubeuten. Da die ausgebeutete Gruppe keine Möglichkeiten besitzt, ihre Situation zu ändern, vielleicht auch gar nicht an eine Änderung denkt, wird diese Gruppe dahin tendieren, in den Ausbeutern die Ernährer zu sehen, von denen sie alles erhält, was das Leben bieten kann. Wie wenig es auch sein mag, was der Sklave bekommt: Er meint, dass er mit eigener Anstrengung noch weniger erreichen würde, da ihn die Struktur seiner Gesellschaft darin überzeugt, dass er unfähig ist, sie mitzubestimmen und er sich nicht auf seine eigene Kraft und Vernunft verlassen könne. Im heutigen Amerika will es auf den ersten Blick scheinen, als gäbe es hier die rezeptive Haltung überhaupt nicht. Unsere Kultur, ihre Ideen und deren praktische Anwendung wirken auf diese Orientierung entmutigend. Weist man doch immer wieder darauf hin, dass jeder für sich einstehen müsse, jeder für sich selbst verantwortlich sei und dass es nur von der eigenen Initiative abhänge, wenn man zu etwas kommen wolle. Aber auch bei uns gibt es die rezeptive Orientierung. Die Notwendigkeit sich anzupassen und zu gefallen, die im Vorhergehenden erörtert wurde, schafft ein Gefühl der Hilflosigkeit. Für den modernen Menschen ist dieses Gefühl die Wurzel einer verdeckten Rezeptivität. Sie tritt besonders in der Einstellung gegenüber „Experten“ und der „öffentlichen Meinung“ in Erscheinung. Heute will man auf jedem Gebiet einen Experten haben, der jedem sagen kann, wie sich irgendetwas verhält oder wie etwas getan werden muss. Die eigene Aufgabe besteht nur noch darin, dem Experten zuzuhören und sich das Gesagte einzuverleiben. Es gibt wissenschaftliche Experten oder Experten für die Frage, wie man glücklich wird. Schriftsteller werden zu Experten für die „Kunst des Lebens“, weil sie die Autoren von Bestsellern sind. Durch die Reklamemethoden begünstigt, äußert sich diese verdeckte, aber weitverbreitete Rezeptivität in der modernen „Folklore“ oft in grotesker Weise. Jeder weiß zwar, dass alle Schemata, wie man schnell reich werden kann, in Wirklichkeit nicht stimmen, aber trotzdem verbreitet sich der Tagtraum von einem Leben ohne Anstrengung. Zum Teil drückt er sich im Gebrauch praktischer Erfindungen aus: ein Auto, bei dem man nicht zu schalten braucht, eine Füllfeder, bei der kein Abnehmen der Kappe nötig ist - um nur wahllos zwei Beispiele zu nennen. Vor allem aber dominiert dieser Traum in den Schemata, die sich auf „ Glück“ beziehen. Folgendes Zitat ist besonders charakteristisch:

Dieses Buch sagt Ihnen, wie Sie viel mehr werden können, als Sie jemals waren. Glücklich, gesund, energiegeladen, voller Selbstvertrauen, tüchtig und sorgenfrei. Sie brauchen kein Programm zu befolgen, das Sie körperlich oder geistig anstrengt. Es ist viel einfacher. (...) Der hier beschriebene Weg zum Erfolg erscheint nur deshalb merkwürdig, weil wenige sich vorstellen können, dass man auch mühelos alles erhält. (...) Aber es ist so, Sie werden es selbst sehen. (H. Falvey, 1946)

Der ausbeuterische Charakter mit seiner Lebensregel „nimm, was du brauchst“, geht [II-055] bis auf den Feudalismus und die Raubritterzeit zurück und führt von da zu den Räuberbaronen des neunzehnten Jahrhunderts, welche die Rohstoffquellen unserer Kontinente ausbeuteten. Der „Paria“ und „Abenteurer“-Kapitalist - um Max Webers Begriffe zu gebrauchen - sind Männer dieses Schlags. Sie zogen in der Welt umher, um Profit zu machen. Sie wollten billig erwerben und teuer verkaufen und jagten erbarmungslos nach Macht und Reichtum. Der freie Markt, wie er sich im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert nach den Regeln des freien Wettbewerbs entwickelte, züchtete solche Typen. Wir selbst haben die Wiedergeburt dieses brutalen Ausbeutertums in den autoritären Systemen erlebt. Sie beuteten nicht einmal so sehr die Menschen- und Rohstoffreservoire ihrer eigenen Länder aus, als vielmehr die aller anderen Länder, für deren Invasion sie stark genug waren. Sie proklamierten das Recht des Stärkeren und rationalisierten dies damit, dass sie auf Naturgesetze hinwiesen, wonach der Stärkere den Schwächeren überlebt. Liebe und Anstand galten als Schwäche; das Denken wurde als Beschäftigung für Feiglinge und Degenerierte angesehen.

Neben der ausbeuterischen Orientierung gab es im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert auch die hortende Orientierung. Der hortende Typ war konservativ und interessierte sich weniger für das rücksichtslose Verdienen als für Geschäfte, die sinnvoll und wirtschaftlich aufgebaut waren. Die Geschäftsprinzipien mussten gesund sein, denn das einmal Erworbene sollte erhalten werden. Sein Besitz war für ihn das Symbol seiner Persönlichkeit, die Verteidigung seines Besitzes von höchster Bedeutung. Diese Orientierung gab ihm große Sicherheit. Vermögen und Familie, geschützt durch die relativ stabilen Verhältnisse des neunzehnten Jahrhunderts, stellten seine Welt dar. Sie war sicher und konnte von ihm gelenkt werden. Eine puritanische Ethik, für die Erfolg und Arbeit als Beweis für Tugend galt, stützte dieses Gefühl der Sicherheit und gab dem Leben einen Sinn und die religiöse Gewissheit seiner Erfüllung. Diese Verbindung von gesicherter Welt, gesichertem Besitz und gesicherter Sittlichkeit gab dem Bürgertum das Bewusstsein von Wohlstand, Selbstvertrauen und Stolz.

Die Marketing-Orientierung gab es im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert noch nicht. Sie ist zweifellos ein Ergebnis unserer Zeit. Es liegt noch gar nicht lange zurück, dass Verpackung, Etikettierung und Qualitätsbezeichnung sowohl für Menschen wie für Waren wichtig wurden. Das Evangelium der Arbeit verlor an Wert, das Evangelium des Verkaufs nahm den obersten Rang ein. Im Feudalismus hatte der einzelne noch wenig Spielraum, um seine gesellschaftliche Position zu verändern, und er konnte zum Vorwärtskommen nicht seine Persönlichkeit verwerten. Dagegen war diese Möglichkeit zu Zeiten des freien Wettbewerbes relativ groß, vor allem in den Vereinigten Staaten. Wer seine Ware anbrachte, kam vorwärts. Heute sind die Möglichkeiten des Einzelnen, sich allein ein Vermögen zu schaffen, wesentlich geringer. Wer jetzt vorwärtskommen will, muss sich einer großen Organisation einfügen, und seine Fähigkeit, die erwartete Rolle zu spielen, ist eine seiner wichtigsten Vorzüge.

Die Entpersönlichung, die Leere, die Bedeutungslosigkeit des Lebens, die Automatisierung des Individuums bewirken eine ständig wachsende Unzufriedenheit und auch das immer stärker werdende Bedürfnis nach einer dem Menschen angemesseneren Lebensweise. Der Mensch sucht nach Normen, die es ihm möglich machen sollen, [II-056] dieses Ziel zu erreichen. Die produktive Orientierung, die ich im Folgenden behandeln will, zeigt uns den Charakter, der das Reifen und Entfalten aller seiner Möglichkeiten zum Ziel hat und diesem Ziel alle anderen Tätigkeiten unterordnet.

Die produktiven Charakterorientierungen

Allgemeine Kennzeichen

In der klassischen und mittelalterlichen Literatur bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde in vielen Darstellungen gezeigt, wie ein guter Mensch und eine gute Gesellschaft aussehen sollten. Ihre Form war die des philosophischen und theologischen Traktats oder der Utopie. Im zwanzigsten Jahrhundert gibt es auffälligerweise keine derartigen visionären Darstellungen. Die Betonung liegt auf der kritischen Analyse des Menschen und der Gesellschaft. Was der Mensch sein sollte, wird in ihr höchstens angedeutet. Solche kritischen Untersuchungen sind zweifellos von größter Wichtigkeit und bilden auch die Voraussetzung für jede Verbesserung der Gesellschaft; aber das Fehlen von Visionen einer „besseren“ Gesellschaft und eines „besseren“ Menschen hatte zur Folge, dass es den Glauben des Menschen an sich selbst und an seine Zukunft lähmte (gleichzeitig ist dieses Fehlen von Visionen auch die Folge der Lähmung).

Die heutige Psychologie, insbesondere die Psychoanalyse, macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Freud und seine Schüler gaben eine glänzende Analyse des neurotischen Charakters. Ihre klinische Beschreibung des nicht-produktiven (oder um mit Freud zu sprechen: des prägenitalen) Charakters ist erschöpfend und präzise - obwohl die von ihnen gebrauchten theoretischen Begriffe einer Revision bedürfen. Aber der Charakter der normalen, reifen und gesunden Persönlichkeit wurde kaum beachtet. Dieser Charakter, von Freud als genitaler Charakter bezeichnet, blieb ein vages und abstraktes Gebilde. Freud definiert ihn als diejenige Charakterstruktur, bei der die orale und die anale Libido ihre dominierende Stellung und Funktion zugunsten der genitalen Libido eingebüßt haben, die auf die geschlechtliche Verbindung mit einem Angehörigen des entgegengesetzten Geschlechtes ausgeht. Die Freudsche Beschreibung des genitalen Charakters bietet kaum mehr als die Feststellung, dass es sich um die Charakterstruktur eines Menschen handle, der sich sexuell und gesellschaftlich normal verhalte.

In meiner Untersuchung des produktiven Charakters wage ich mich über eine bloß kritische Analyse hinaus. Ich will das Wesen des vollentwickelten Charakters untersuchen, der das Ziel jeder menschlichen Entwicklung ist und zugleich dem Ideal der humanistischen Ethik entspricht. Vorerst mag es genügen, den Zusammenhang zwischen meinem Begriff der produktiven Orientierung und Freuds genitalem Charakter darzulegen. Wenn wir Freuds Begriff, wie er ihn in seiner Lehre von der Libido gebraucht, nicht wörtlich, sondern symbolisch nehmen, dann ist damit schon ziemlich genau umschrieben, was ich unter Produktivität verstehe. Die geschlechtliche Reife befähigt den Menschen zur natürlichen Zeugung. Durch die Vereinigung von Sperma und Ei wird ein neues Leben geschaffen. Diese Art der „Produktion“ haben Mensch [II-057] und Tier gemeinsam. Die Fähigkeit zur Produktion materieller Werte ist dagegen eine Besonderheit des Menschen. Der Mensch ist nicht nur ein vernunftbegabtes und soziales Lebewesen. Er kann auch als produzierendes Lebewesen begriffen werden, das dank seiner Vernunftbegabung und seines Vorstellungsvermögens Stoffe umformen kann. Er kann nicht nur produzieren, er muss produzieren, um überhaupt leben zu können. Die materielle Produktion ist jedoch nur das häufigste Kennzeichen für Produktivität als einen Aspekt des Charakters.[30] Die produktive Orientierung bezieht sich auf eine fundamentale Haltung, nämlich auf die Form der Bezogenheit in allen Bereichen menschlicher Erfahrung. Sie betrifft geistige, gefühlsmäßige und sensorische Antworten auf Menschen, Gegenstände und auf sich selbst. Produktivität ist die Fähigkeit des Menschen, seine Kräfte zu gebrauchen und die in ihm liegenden Möglichkeiten zu verwirklichen. Wenn wir sagen, der Mensch muss seine Fähigkeiten gebrauchen, so heißt dies, dass er frei sein muss und von niemandem abhängen darf, der ihn und seine Kräfte beherrscht. Es bedeutet ferner, dass er von Vernunft geleitet ist, da er seine Kräfte nur dann gebrauchen kann, wenn er weiß, worin sie bestehen, wie sie gebraucht werden müssen und wofür sie dienen sollen. Produktivität bedeutet, dass der Mensch sich selbst als Verkörperung seiner Kräfte und als Handelnder erlebt; dass er sich mit seinen Kräften eins fühlt und dass sie nicht vor ihm verborgen und ihm entfremdet sind.

Um Missverständnissen vorzubeugen, zu denen das Wort „Produktivität“ verleiten könnte, mag es angebracht sein, kurz auf das einzugehen, was nicht unter Produktivität verstanden wird.

Allgemein verbindet sich das Wort „Produktivität“ mit Kreativität, insbesondere mit künstlerischer Kreativität. Der echte Künstler ist tatsächlich der überzeugendste Repräsentant von Produktivität. Doch nicht alle Künstler sind produktiv. Ein konventionelles Gemälde kann z. B. nichts anderes als die technische Fähigkeit zum Ausdruck bringen, auf ein Stück Leinwand die Ähnlichkeit eines Menschen in der Art einer Photographie zu reproduzieren. Ein Mensch kann aber auch produktiv erleben, sehen, fühlen und denken, ohne deshalb die Gabe zu besitzen, etwas Sichtbares oder Mitteilbares zu schaffen. Produktivität ist eine Haltung, zu der jeder Mensch fähig ist, sofern er nicht geistig oder seelisch verkrüppelt ist.

Der Ausdruck „produktiv“ wird leicht mit „aktiv“ verwechselt, ebenso „Produktivität“ mit „Aktivität“. Beide Worte können synonym gebraucht werden (z.B. bei Aristoteles). Im modernen Sprachgebrauch bezeichnet „Aktivität“ jedoch häufig das strikte Gegenteil von „Produktivität“. Gemeinhin wird „Aktivität“ als eine Verhaltensweise definiert, die mittels eines Energieaufwandes eine bestehende Situation verändert. Im Gegensatz hierzu wird ein Mensch als passiv bezeichnet, der eine bestehende Situation nicht ändern oder sichtbar beeinflussen kann, sondern durch außer ihm liegende Kräfte beeinflusst oder geschoben wird. Dieser geläufige Begriff der Aktivität zieht lediglich den tatsächlichen Energieverbrauch und die hierdurch [II-058] bewerkstelligte Veränderung in Betracht. Ein Unterschied zwischen den vorhandenen psychischen Umständen, die diese Aktivität bestimmen, wird nicht gemacht.

Ein, wenn auch etwas abwegiges, Beispiel nicht-produktiver Aktivität ist die Aktivität eines unter Hypnose stehenden Menschen. Ein solcher kann im Trancezustand die Augen offenhalten, er kann gehen, reden und handeln: er „ist aktiv“. Auf ihn würde die allgemeine Definition des Begriffes „Aktivität“ zutreffen, denn er verbraucht Energie, und eine Veränderung wird ebenfalls herbeigeführt. Betrachten wir jedoch den besonderen Charakter und die Art dieser Aktivität, so kommen wir zu dem Ergebnis, dass nicht der Hypnotisierte der eigentliche Akteur ist, sondern der Hypnotiseur, der mit Hilfe der Suggestion durch ihn aktiv ist. Die hypnotische Trance ist zwar ein künstlicher Zustand, aber sie bietet trotz ihrer Außergewöhnlichkeit ein gutes Beispiel für eine Situation, in der ein Mensch aktiv ist, ohne in Wirklichkeit der Akteur zu sein. Seine Aktivität wird durch Kräfte hervorgerufen, die sich seiner Kontrolle entziehen.

Ein häufiger Fall nicht-produktiver Aktivität ist die Reaktion auf eine akute oder chronische, bewusste oder unbewusste Angst, die oft die Ursache der wilden Geschäftigkeit des heutigen Menschen ist. Im Unterschied zu dieser durch Angst motivierten Aktivität gibt es, wenn auch oft mit ihr vermischt, eine andere Form der Aktivität, die auf Unterwerfung unter eine Autorität oder auf Abhängigkeit von einer Autorität beruht. Diese Autorität kann gefürchtet, bewundert oder „geliebt“ werden (meist trifft das eine wie das andere zu); die eigentliche Ursache der Aktivität aber ist formal wie inhaltlich der Befehl der Autorität. Der Mensch ist aktiv, weil es die Autorität von ihm fordert, und er tut, was die Autorität ihm zu tun befiehlt. Diese Aktivität findet man beim autoritären Charakter. Für ihn heißt Aktivität, im Auftrage eines anderen zu handeln, der mehr als er selbst ist. Dies kann im Namen Gottes, der Vergangenheit, der Pflicht geschehen, aber nie in seinem eigenen Namen. Den Antrieb zum Handeln erhält er von einer höheren Macht, die weder angreifbar noch änderbar ist; daher kann er keine spontanen Impulse aus seinem eigenen Innern beachten.[31]

Der unterwürfigen Aktivität ähnelt die Automaten-Aktivität. Man findet hier zwar kein Abhängigkeitsverhältnis von einer äußeren Autorität, dafür aber von einer anonymen Autorität, wie etwa der öffentlichen Meinung, kulturellen Verhaltensmustern, dem gesunden Menschenverstand oder der Wissenschaft. Der Mensch fühlt oder tut, was er tun und fühlen soll. Seiner Aktivität fehlt es an Spontaneität, und zwar insofern, als diese Aktivität ihren Ursprung nicht in seiner eigenen geistigen und seelischen Erfahrung hat, sondern von einer außerhalb von ihm liegenden Quelle herrührt.

Eine der stärksten Quellen der Aktivität sind irrationale Leidenschaften. Der Mensch, der von Geiz, Masochismus, Neid, Eifersucht oder anderen Formen der Gier getrieben wird, handelt unter Zwang. Sein Handeln ist weder frei noch vernünftig, [II-059] es steht vielmehr im Widerspruch zur Vernunft und zu den Interessen, die er als menschliches Wesen hat. Ein Mensch, der von solchen Trieben besessen ist, wiederholt sich selbst; sein Verhalten wird mehr und mehr starr und stereotyp. Er ist zwar aktiv, aber doch nicht produktiv.

Obwohl der Ursprung dieser Aktivität irrational ist und die Handelnden in ihrem Tun weder frei noch vernünftig sind, führt ihr Handeln doch oft zu wichtigen praktischen Ergebnissen, sogar zu materiellen Erfolgen. Bei dem Begriff „Produktivität“ haben wir es nicht mit Aktivität zu tun, die unbedingt zu praktischen Ergebnissen führen muss, sondern mit einer Haltung, einer Reaktions- und Orientierungsweise der Welt und sich selbst gegenüber im Prozess des Lebens. Wir beschäftigen uns also mit dem Charakter des Menschen, nicht mit seinem Erfolg.[32]

Produktivität ist die Realisierung der dem Menschen eigenen Möglichkeiten, also der Gebrauch der eigenen Kräfte. Doch was ist „Kraft“ (power)? Es wirkt wie Ironie, dass dieses Wort zwei sich widersprechende Bedeutungen hat: Kraft zu etwas = Fähigkeit (capacity) und Kraft über etwas = Beherrschung (domination). Dieser Widerspruch ist jedoch von besonderer Art. „Kraft“ = „Beherrschung“ resultiert aus der Lähmung von „Kraft“ = „Fähigkeit“. „Kraft über etwas“ ist die Verkehrung (perversion) von „Kraft zu etwas“. Die Befähigung des Menschen, seine Kräfte produktiv zu gebrauchen, ist seine Stärke (potency), die Unfähigkeit hierzu seine Ohnmacht (impotence). Seine Verstandeskraft kann das Außen der Erscheinungen durchdringen und ihr Wesen begreifen. Seine Liebeskraft kann die Wand einreißen, die den einen Menschen vom anderen trennt. Seine Kraft zur Imagination kann Dinge schauen, die noch nicht existieren; er kann planen und damit zu schaffen beginnen. Wo diese Stärke fehlt, verkehrt sich die Bezogenheit des Menschen zur Welt in den Wunsch, sie zu beherrschen, über andere Macht zu haben, als ob sie Gegenstände wären. Beherrschung ist mit Tod verbunden, Stärke mit Leben. Beherrschung hat ihren Ursprung in Ohnmacht und verstärkt diese; denn wenn ein Mensch einen anderen zu Dienstleistungen zwingen kann, wird sein eigener Antrieb zur Produktivität immer noch mehr gelähmt.

Wie setzt sich der Mensch zur Welt in Beziehung, wenn er seine Kräfte produktiv gebraucht?

Der Mensch kann das außerhalb des eigenen Ich Liegende auf zweierlei Art erleben: reproduktiv, indem er die Wirklichkeit so wahrnimmt, wie es der Film tut, der eine genaue Reproduktion der photographierten Wirklichkeit zeigt (allerdings erfordert auch eine rein reproduktive Wahrnehmung die aktive Teilnahme des Geistes); generativ, indem er die Wirklichkeit aufnimmt, belebt und durch die spontane Tätigkeit der eigenen Geistes- und Gefühlskräfte neu erschafft. Jeder Mensch reagiert bis zu einem gewissen Grade sowohl auf die eine wie auf die andere Weise, aber es bestehen [II-060] große Unterschiede in Bezug auf das Gewichtsverhältnis der beiden Erfahrungsweisen. Manchmal ist eine der beiden verkümmert; das Studium derart extremer Fälle, bei denen entweder die reproduktive oder die generative Art kaum vorhanden ist, bietet die beste Möglichkeit, jedes der beiden Phänomene für sich zu verstehen.

Die relative Verkümmerung der generativen Art ist in unserer Kultur häufig. Ein Mensch kann durchaus befähigt sein, Dinge zu erkennen, wie sie sind oder wie sie seiner Kultur entsprechend angeblich sind, aber nicht imstande sein, seine Wahrnehmung von innen heraus neu zu beleben. Das ist der perfekte „Realist“. Er sieht alles, was an der Oberfläche zu erkennen ist, ist aber unfähig, zum Wesentlichen vorzudringen und kann sich nichts vorstellen, was noch nicht offensichtlich ist. Er sieht das Einzelne, nicht aber das Ganze; sieht die Bäume, nicht aber den Wald. Realität ist für ihn lediglich die Summe dessen, was sich schon vergegenständlicht hat. Einem solchen Menschen fehlt es nicht an Einbildungskraft, aber seine Einbildungskraft ist berechnend, weil sie alle bekannten und existierenden Faktoren zusammenfasst und daraus die zukünftige Auswirkung folgert.

Dagegen ist ein Mensch geistesgestört, der nicht mehr fähig ist, die Wirklichkeit zu sehen. Der psychotische Mensch baut sich eine innere Wirklichkeit, in die er volles Vertrauen zu haben scheint. Er lebt in dieser eigenen Welt, und die üblichen Wirklichkeitsfaktoren, die von allen Menschen wahrgenommen werden, sind für ihn unwirklich. Wenn ein Mensch Dinge sieht, die in der Wirklichkeit nicht existieren, sondern ausschließlich das Produkt seiner Einbildungskraft sind, hat er Halluzinationen; er legt die Ereignisse entsprechend seinen eigenen Gefühlen aus, ohne Bezug oder wenigstens ohne eigentliches Verhältnis zu dem, was in Wirklichkeit vor sich geht. Ein Paranoiker kann sich verfolgt glauben und in einer zufälligen Bemerkung die Absicht hören, dass er gedemütigt oder beseitigt werden soll. Das Fehlen eindeutiger Bekundungen dieser Absicht bedeutet für ihn keinen Gegenbeweis; er ist fest davon überzeugt, dass der wahre Sinn der Bemerkung klar ersichtlich sei, wenn man näher hinsehe, obwohl ihre Oberfläche harmlos erscheinen mag. Für den psychotischen Menschen ist die tatsächliche Wirklichkeit ausgelöscht und eine innere Wirklichkeit ist an ihre Stelle getreten.

Der „Realist“ sieht nur die Oberfläche der Dinge; er sieht die äußere Welt, kann sie geistig mit photographischer Genauigkeit reproduzieren und kann handeln, indem er Menschen und Dinge so behandelt, wie sie auf dieser Reproduktion abgebildet sind. Der Geisteskranke aber ist unfähig, die Realität wirklichkeitsgemäß zu sehen; er nimmt die Wirklichkeit nur als Symbol und Widerspiegelung seiner inneren Welt wahr. Beide Menschen sind krank. Die Krankheit des Psychotikers, der den Kontakt mit der Realität verloren hat, ist der Art, dass er für die Gesellschaft untauglich wird. Die Krankheit des „Realisten“ lässt ihn als menschliches Wesen verarmen. Zwar wird er in seinen gesellschaftlichen Funktionen nicht beeinträchtigt; aber da seiner Auffassung der Wirklichkeit jede Tiefe und Perspektive fehlt, ist sie derart entstellend, dass er irren muss, wenn es sich um mehr handelt, als um das Fertigwerden mit unmittelbar gegebenen Tatsachen und naheliegenden Zielen. „Realismus“ scheint das gerade Gegenteil von Geistesgestörtheit zu sein, und doch ist er nur dessen Komplementärerscheinung. [II-061]

Das wirkliche Gegenteil von „Realismus“ und Geistesgestörtheit ist Produktivität. Der normale Mensch kann sich zur Welt in Beziehung setzen, indem er sie so wahrnimmt, wie sie ist, und sie zugleich dank seiner eigenen Kräfte belebt und bereichert. Ist eine dieser beiden Fähigkeiten verkümmert, so ist der Betreffende krank. Der normale Mensch aber hat beide, wobei allerdings die eine oder die andere überwiegen kann. Das Vorhandensein beider Fähigkeiten, der reproduktiven und der generativen, ist eine Voraussetzung für „Produktivität“; es sind die beiden Pole, deren dynamische Wechselwirkung die Quelle der Produktivität ist. Mit dieser Feststellung möchte ich darauf hinweisen, dass Produktivität nicht die Summe oder Kombination beider Fähigkeiten ist, sondern etwas Neues, das aus dieser Wechselwirkung entsteht.

Im Vorhergehenden habe ich Produktivität als eine besondere Weise der Bezogenheit zur Welt beschrieben. Nun erhebt sich die Frage, ob es etwas gibt, was der produktive Mensch produziert. Wenn ja, was? Der Mensch kann zwar dank seiner Produktivität materielle Dinge, Kunstwerke und Gedankensysteme erzeugen, aber der wichtigste Gegenstand der Produktivität ist der Mensch selbst.

Die Geburt ist nur ein bestimmter Punkt innerhalb eines Kontinuums, das mit der Empfängnis einsetzt und mit dem Tode endet. Was sich dazwischen abspielt, ist ein Prozess, in dem die eigenen Möglichkeiten geboren werden, in dem alles, was in den beiden Zellen potenziell gegeben ist, zum Leben erweckt wird. Während das physische Wachstum selbsttätig abläuft, sofern die entsprechenden Bedingungen bestehen, entwickelt sich das Geistig-Seelische nicht selbsttätig. Damit die emotionalen und intellektuellen Möglichkeiten des Menschen zum Leben kommen und sein Selbst geboren wird, ist produktives Tätigsein erforderlich. Dass die Entwicklung des Selbst niemals endet, gehört zur Tragödie der Situation des Menschen. Selbst unter günstigsten Bedingungen wird immer nur ein Teil der vorhandenen Möglichkeiten realisiert. Jeder Mensch stirbt, bevor er ganz geboren ist.

Ich will keine Geschichte des Begriffs „Produktivität“ geben, aber ich möchte einige besonders charakteristische Beispiele anführen, weil sie zur Klärung des Begriffes beitragen können.[33] Produktivität ist einer der zentralen Begriffe der Aristotelischen Ethik. Man kann Tugend bestimmen, sagt Aristoteles, indem man die Funktion des Menschen bestimmt. Wie man bei einem Flötenspieler, einem Bildhauer oder einem anderen Künstler voraussetzt, das Gute beruhe auf der spezifischen Funktion, die diesen Menschen von einem anderen unterscheidet und ihn zu dem macht, der er ist, so beruht beim Menschen das Gute auf seiner spezifischen Funktion, die ihn von anderen Gattungen unterscheidet und ihn zu dem macht, der er ist. Eine solche Funktion ist „ein Tätigsein der Seele gemäß dem rationalen Element oder jedenfalls nicht ohne dieses“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098a).

Der Unterschied ist gewiss nicht klein: ob man das oberste Gut im Besitzen oder Benützen, in einem Zustand oder in aktiver Verwirklichung erkennt. Denn ein Zustand kann vorhanden sein, ohne dass etwas Wertvolles dabei herauskommt, z.B. bei einem Menschen, der schläft oder sonstwie in völliger Dumpfheit dahinvegetiert. Beim aktiven Verwirklichen dagegen kann das nicht vorkommen, denn dies heißt: mit Notwendigkeit handeln, wertvoll handeln (a.a.O., 1098b-1099a).

Für Aristoteles ist der gute Mensch derjenige, der [II-062] durch sein vernunftgemäßes Tätigsein den spezifisch menschlichen Möglichkeiten zum Leben verhilft.

„Unter Tugend und Kraft verstehe ich ein und dasselbe“, sagt Spinoza (Ethik, Teil IV, Definition 8). Freiheit und Glück beruhen darauf, dass der Mensch sich selbst begreift, um das zu werden, was er potenziell ist. Er kann sich „dem Modell der menschlichen Natur (...) mehr und mehr (...) nähern“ (a.a.O., Vorwort). Spinoza versteht Tugend in dem Sinne, dass der Mensch seine Kräfte gebraucht; Laster ist die Unfähigkeit, sich dieser Kräfte zu bedienen. Das Wesen des Bösen besteht für Spinoza in der Ohnmacht (vgl. a.a.O., Definition 20).

In dichterischer Form fand das, was produktives Tätigsein ist, bei Goethe und Ibsen den schönsten Ausdruck. Faust ist ein Symbol für das ewige Suchen des Menschen nach dem Sinn des Lebens. Weder Wissenschaft, Lust, Macht, ja nicht einmal die Schönheit kann Fausts Frage beantworten. Goethe sagt, die einzige Antwort sei jenes produktive Tätigsein, das identisch mit dem Guten ist.

Im Prolog im Himmel sagt der Herr, es wäre nicht der Irrtum und das Irren, das den Menschen behindert, sondern seine Nicht-Aktivität:

Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen.
Doch ihr, die echten Göttersöhne,
Erfreut euch der lebendig reichen Schöne!
Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,
Umfass’ euch mit der Liebe holden Schranken,
Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
Befestiget mit dauernden Gedanken!

Am Schluss des zweiten Teiles hat Faust seine Wette mit Mephistopheles gewonnen. Er hat geirrt und ist sündig geworden. Die eigentliche Sünde aber hat er nicht begangen: die der Nicht-Produktivität. Fausts letzte Worte drücken diesen Gedanken deutlich aus und versinnbildlichen ihn durch das fruchtbare Land, das er dem Meere abringen will:

Eröffn’ ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft.
Im Innern hier ein paradiesisch Land:
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand!
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.
Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muss!
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
„Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn.“
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.

Während Goethes Faust von jenem Glauben an den Menschen getragen ist, der für die fortschrittlichen Denker des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts charakteristisch war, gibt Ibsens Peer Gynt, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben wurde, schon eine kritische Analyse des modernen Menschen und seiner Nicht-Produktivität. „Der moderne Mensch auf der Suche nach seinem Ich“, so etwa könnte der Untertitel des Dramas lauten. Peer glaubt zugunsten seines Ichs zu handeln, wenn er sich dafür einsetzt, Geld zu verdienen und Erfolg zu haben. „Sei du dir genug“, nach diesem Prinzip (dargestellt durch die Trolle) lebt er. Er lebt aber nicht nach dem menschlichen Prinzip: „Sei dir selber treu“. Am Ende seines Lebens muss er entdecken, dass sein Suchen und sein Eigennutz ihn gehindert haben, er selbst zu werden. Alle Möglichkeiten, die er nicht realisiert hat, treten auf und klagen ihn seiner Sünde an. Sie zeigen ihm den wirklichen Grund seines menschlichen Versagens - seinen Mangel an Produktivität.

Die Knäuel (am Boden)
Wir sind Gedanken;
Hast Du gedacht uns,
Tanzen auf schlanken
Füßen gemacht uns?
Wir hätten sollen
Wie Vögel ins Blaue, -
Statt hier zu rollen
Als Garnknäuel, graue.

Welke Blätter
Wir sind eine Losung;
Hast Du gesprochen uns? -
Des Staubs Liebkosung
Hat kläglich gebrochen uns.
Der Wurm zerfraß uns.
Bis zu Skeletten;
Dein Geiz vergaß, uns
Um die Früchte zu betten.

Sausen in den Lüften
Wir sind Lieder;
Hast Du gesungen uns? -
Tausendmal nieder
Hast Du gezwungen uns.
In Deiner Seele
Lagen und harrten wir; -
Nimmer nun warten wir.
Gift in Deine Kehle!

Tautropfen
Wir sind Zähren; -
Hast Du vergossen uns?
Winter zu wehren,
War einst erschlossen uns.
Dein Herz rief leise; -
Du bliebest achtlos.
Nun starrt’s von Eise, -
Und wir sind machtlos.

Gebrochene Halme
Wir sind Taten; -
Hast Du bestellt uns?
Weh, nur verraten,
Geknickt und zerspellt uns!
Am Jüngsten Tage
Kommen wir allzusamt
Und führen Klage, -
So wirst Du verdammt.
(5. Akt, 6. Szene)

Bisher haben wir uns den allgemeinen Charakteristika der produktiven Orientierung gewidmet. Nun wollen wir untersuchen, wie sich Produktivität in den einzelnen Formen des Tätigseins bekundet, da man das Allgemeine nur durch die Erforschung des Konkreten und Besonderen ganz verstehen kann.

Produktive Liebe und produktives Denken

Die menschliche Existenz ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch allein und von der Welt getrennt ist. Da er die Trennung nicht ertragen kann, muss er nach Bezogenheit und Einssein streben. Das kann auf mannigfaltige Weise geschehen. Es gibt aber nur eine Möglichkeit, bei der er als einmaliges Wesen unangetastet bleibt, nur eine, bei der sich die eigenen Kräfte im Vollzug des Bezogenseins entfalten. Es ist das [II-065] Paradoxe der menschlichen Existenz, dass der Mensch zugleich Nähe und Unabhängigkeit suchen muss, zugleich das Einssein mit anderen und das Bewahren seiner Einmaligkeit und Besonderheit.[34] Wie wir gezeigt haben, ist Produktivität die Antwort auf dieses Paradox - und auf die moralische Frage des Menschen.

Man kann produktiv zur Welt bezogen sein durch Tätigsein und Verstehen. Der Mensch produziert Dinge, und im Prozess der Erschaffung wendet er seine Kräfte auf die Materie an. Durch Liebe und durch seine Vernunft begreift er die Welt geistig und emotional. Seine Verstandeskräfte befähigen ihn, durch die Oberfläche zu dringen und das Wesen eines Gegenstandes zu verstehen, indem er sich tätig zu ihm in Beziehung setzt. Seine Liebeskräfte befähigen ihn, die Wand, die ihn von einem anderen Menschen trennt, einzureißen und ihn zu verstehen. Obwohl Liebe und Vernunft nur zwei verschiedene Formen der Möglichkeit sind, die Welt zu begreifen, und obwohl keine ohne die andere bestehen kann, sind sie doch Ausdruck verschiedener Kräfte (des Gefühls und des Denkens) und müssen daher gesondert untersucht werden.

Der Begriff der produktiven Liebe unterscheidet sich grundlegend von dem, was häufig Liebe genannt wird. Es gibt wohl kein Wort, das vieldeutiger und verwirrender ist als das Wort „Liebe“. Es bezeichnet fast jedes Gefühl, ausgenommen Hass und Ekel. Von der Liebe für Eiscreme bis zur Liebe für eine Symphonie, von der mildesten Sympathie bis zum stärksten Gefühl innerer Verbundenheit schließt der Begriff „Liebe“ alles ein. Man glaubt zu lieben, wenn man sich in jemanden verliebt hat. Abhängigkeit bezeichnen die Menschen als Liebe; für ihre Gier, jemanden besitzen zu wollen, gebrauchen sie dasselbe Wort. Sie glauben, nichts sei einfacher und leichter als zu lieben, die einzige Schwierigkeit bestehe darin, das passende Objekt zu finden, und sie hätten in der Liebe nur deshalb kein Glück, weil ihnen der richtige Partner nicht begegnet sei. Aber im Gegensatz zu all diesen verwirrenden und wunschbedingten Vorstellungen ist Liebe ein durchaus spezifisches Gefühl, und obwohl jedes menschliche Wesen zur Liebe fähig ist, ist ihre Verwirklichung eines der schwierigsten Ziele. Echte Liebe wurzelt in Produktivität. Sie kann daher auch als „produktive Liebe“ bezeichnet werden. Ihrem Wesen nach bleibt sie sich immer gleich, ob es sich nun um die Liebe der Mutter zu ihrem Kind, um die Liebe zu einem anderen Menschen oder um das erotische Verhältnis zwischen zwei Partnern handelt.[35] Die Gegenstände unserer Liebe differieren, demzufolge ändert sich auch die Intensität und Qualität. Gewisse Grundelemente aber sind für alle Formen produktiver Liebe charakteristisch. Es sind Fürsorge für den andern, Verantwortungsgefühl für den andern, Achtung vor dem andern und Erkenntnis.[36]

Fürsorge und Verantwortungsgefühl zeigen an, dass Liebe Tätigsein bedeutet, nicht aber eine Leidenschaft, die den Menschen überwältigt, und ebenso wenig ein Affekt, durch den man mitgerissen wird. Was Fürsorge und Verantwortungsgefühl heißt, ist im Buche Jona wunderbar beschrieben. Gott fordert Jona auf, nach Ninive zu gehen. [II-066] Er soll die Einwohner dieser Stadt warnen. Sie würden bestraft werden, wenn sie das Böse nicht ließen. Jona aber flieht vor seiner Mission, weil er fürchtet, dass die Einwohner von Ninive bereuen könnten und Gott ihnen vergeben würde. Jona hat einen strengen Sinn für Recht und Ordnung; aber was Liebe ist, weiß er nicht. Er flieht und findet sich im Bauche eines Walfisches wieder. Das symbolisiert den Zustand der Isolierung und Gefangenschaft - heraufbeschworen, weil es ihm an Liebe und an Verständnis für seine Mitmenschen fehlte. Gott rettet ihn, und Jona geht nach Ninive.

Er predigt den Einwohnern, wie Gott ihn geheißen. Was er befürchtete, tritt ein. Die Menschen von Ninive bereuen ihre Sünden, bessern sich, und Gott vergibt ihnen und beschließt, ihre Stadt nicht zu zerstören. Jona wird darüber zornig und ist enttäuscht. Er wollte Gerechtigkeit, nicht Gnade. Schließlich findet er Trost im Schatten eines Baumes, den Gott für ihn wachsen ließ, um ihn vor den sengenden Strahlen der Sonne zu schützen. Als Gott den Baum verdorren lässt, ist Jona betrübt. Er beklagt sich bei Gott, und Gott antwortet ihm: „Dir ist es leid um den Rizinusstrauch, für den du nicht gearbeitet und den du nicht großgezogen hast. Über Nacht war er da, über Nacht ist er eingegangen. Mir aber sollte es nicht leid sein um Ninive, die große Stadt, in der mehr als 120 000 Menschen leben, die nicht einmal rechts und links unterscheiden können - und außerdem noch so viel Vieh?“ (Jon 4,10 f.). Gottes Antwort an Jona ist ebenfalls sinnbildlich gemeint. Gott erklärt ihm, das Wesen der Liebe bestehe darin, für etwas zu arbeiten, etwas großzuziehen - Liebe und Arbeit seien untrennbar miteinander verbunden. Man liebt das, wofür man arbeitet, und man arbeitet für das, was man liebt.

Die Geschichte von Jona bedeutet auch, dass Liebe nicht von Verantwortungsgefühl getrennt werden kann. Jona fühlt sich für das Leben seiner Brüder nicht verantwortlich. Er könnte wie Kain fragen: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9). Verantwortungsgefühl ist keine Pflicht, die dem Menschen von außen aufgezwungen wird, sondern die Antwort auf etwas, von dem man fühlt, dass es einen angeht. Verantwortung und Antwort haben die gleiche Wurzel: Verantwortlich sein heißt, zum Antworten bereit sein.

Mutterliebe ist das häufigste und am leichtesten verständliche Beispiel produktiver Liebe. Ihr eigentliches Wesen ist Fürsorge und Verantwortungsgefühl. Bis zur Geburt arbeitet der Körper der Mutter für das Kind, nach der Geburt besteht ihre Liebe in ihrem Bemühen, das Kind wachsen zu lassen. Mutterliebe ist an keine Bedingung geknüpft, die das Kind erfüllen muss, um geliebt zu werden. Sie ist unbedingt und beruht lediglich auf der Forderung des Kindes und der Antwort der Mutter.[37] Kein Wunder, dass Mutterliebe in Kunst und Religion zum Symbol für die reinste Form der Liebe geworden ist. Das hebräische Wort, mit dem Gottes Liebe zu den Menschen und die [II-067] Liebe des Menschen zu seinem Nächsten bezeichnet wird, heißt rachamim. Die Wortwurzel von rachamim ist rechem = Mutterschoß.

Nicht ganz so augenscheinlich ist der Zusammenhang von Fürsorge und Verantwortungsgefühl mit individueller Liebe. Man nimmt oft an, sich zu verlieben sei schon der Höhepunkt der Liebe. Tatsächlich ist es nur der Anfang, nur eine Gelegenheit, zur Liebe zu kommen. Auch glaubt man, Liebe sei das Ergebnis einer mysteriösen Anziehung zwischen zwei Menschen, ein Ereignis, das ohne Anstrengung eintritt. Die Verlassenheit des Menschen und sein Geschlechtstrieb machen es ihm tatsächlich leicht, sich zu verlieben; etwas Mysteriöses ist dabei nicht im Spiel. Aber der Gewinn verschwindet ebenso rasch, wie er entstand. Man wird nicht zufällig geliebt. Die eigene Liebesfähigkeit erzeugt Liebe - so wie man auch interessant wird, indem man Interesse zeigt. Die Menschen beschäftigen sich mit der Frage, ob sie „anziehend“ sind, und vergessen, dass ihre Anziehungskraft von ihrer eigenen Liebesfähigkeit abhängt. Einen Menschen produktiv lieben heißt, dass man für ihn sorgt und sich für sein Leben verantwortlich fühlt, nicht nur für seine physische Existenz, sondern auch für das Reifen und Wachsen aller seiner menschlichen Kräfte. Produktiv lieben ist unvereinbar damit, dass man sich passiv verhält und dem Leben des geliebten Menschen lediglich zuschaut; produktives Lieben schließt Arbeit, Fürsorge und Verantwortungsgefühl für sein Wachstum ein. Trotz allem Universalismus der monotheistischen Religionen des Westens und der fortschrittlichen politischen Programme, die davon ausgehen, „dass alle Menschen zur Gleichheit geschaffen sind“, ist die Liebe zur Menschheit noch keine allen gemeinsame Erfahrung geworden. Die Liebe zur Menschheit wird als etwas betrachtet, das günstigstenfalls der Liebe zu einem Einzelwesen entspricht, oder als etwas Abstraktes, das sich erst in der Zukunft verwirklichen lässt. Aber die Liebe zur Menschheit ist untrennbar mit der Liebe zum Einzelwesen verbunden. Einen Menschen produktiv lieben heißt, mit seinem menschlichen Kern, mit ihm, sofern er die Menschheit repräsentiert, in Beziehung zu stehen. Die Liebe zum Einzelnen muss zufällig und oberflächlich bleiben, wenn sie die Liebe zur Menschheit ausschließt. Diese Liebe zur Menschheit unterscheidet sich von der Mutterliebe insofern, als das Kind hilflos ist, der Erwachsene dagegen nicht. Aber auch dieser Unterschied ist nur relativ, denn jeder braucht Hilfe, und jeder ist vom anderen abhängig. Ein menschliches Zusammengehörigkeitsgefühl ist die notwendige Voraussetzung für die Entfaltung der Individualität.

Fürsorge und Verantwortung sind zwar wesentliche Elemente der Liebe, aber ohne Achtung (respect) für den geliebten Menschen und ohne Erkenntnis artet Liebe in Herrschsucht und Besitzgier aus. Achtung bedeutet nicht Furcht oder Ehrfurcht. Entsprechend seiner Wurzel (respicere = hinschauen) bedeutet „Respekt“ die Fähigkeit, einen Menschen so zu sehen, wie er ist, sich seiner Individualität und Einzigartigkeit bewusst zu werden. Man kann einen Menschen nicht respektieren, ohne ihn zu kennen. Fürsorge und Verantwortungsgefühl wären blind, wenn die Erkenntnis der Individualität des anderen sie nicht leiten würde.

Und nun zum Begriff des produktiven Denkens, dem wir uns annähern wollen, indem wir den Unterschied zwischen Vernunft (reason) und Intelligenz (intelligence) untersuchen. [II-068]

Die Intelligenz ist ein Werkzeug des Menschen für praktische Ziele; sie hat den Zweck, die Aspekte einer Sache zu erforschen, die zu deren Gebrauch bekannt sein müssen. Die Ziele selbst, oder, was dasselbe ist, die Prämissen, auf die sich das „intelligente“ Denken bezieht, werden nicht in Frage gestellt, sondern als erwiesen angenommen, sie können rational sein oder nicht. Diese besondere Eigenschaft der Intelligenz lässt sich an einem extremen Beispiel verdeutlichen, nämlich am paranoiden Menschen. Seine Voraussetzung, alle seien gegen ihn verschworen, ist irrational und unzutreffend, aber seine Denkprozesse, die auf dieser Voraussetzung aufgebaut sind, können ein beachtliches Maß an Intelligenz zeigen. Um die Richtigkeit seiner paranoiden These zu beweisen, verknüpft der Kranke Beobachtungen und führt logische Konstruktionen aus, die oft so überzeugend sind, dass sich die Irrationalität seiner Voraussetzung schwer aufdecken lässt. Natürlich beschränkt sich die Anwendung der Intelligenz nicht nur auf pathologische Phänomene. Meistens und notwendigerweise befasst sich unser Denken mit dem Erreichen irgendwelcher praktischer Ergebnisse, mit den quantitativen und Oberflächenaspekten der Phänomene, nicht aber mit der Gültigkeit der dazugehörigen Zwecke und Prämissen oder dem Versuch, die Natur und die jeweilige Qualität der Phänomene zu verstehen.

Vernunft schließt eine dritte Dimension ein, die Tiefendimension, die zum Wesen der Dinge und Prozesse hinführt. Die Vernunft ist zwar nicht von praktischen Lebenszwecken abgetrennt (ich werde im Folgenden darlegen, in welchem Sinne dies gilt), ist aber doch kein bloßes Werkzeug für sofortiges Handeln. Sie hat die Aufgabe, etwas zu wissen, zu verstehen, zu erfassen und den Menschen durch dieses Begreifen zu den Dingen in Beziehung zu setzen. Die Vernunft durchdringt das Außen der Dinge, um deren Wesen zu entdecken, ihre verdeckten Zusammenhänge, ihren tieferen Sinn, ihre „Vernunft“. Sie ist - um mit Nietzsche zu sprechen - nicht zweidimensional, sondern „perspektivisch“, das heißt, sie erfasst alle vorstellbaren Perspektiven und Dimensionen, nicht nur die praktisch relevanten. Sich mit dem Wesen der Dinge zu beschäftigen, bedeutet nicht, sich mit etwas zu befassen, das „hinter“ den Dingen liegt, sondern vielmehr, sich mit den der Gattung immanenten, universellen, allgemeinsten und alles durchdringenden Eigenschaften der Phänomene zu beschäftigen, losgelöst von deren nur oberflächlichen und zufälligen (logisch irrelevanten) Aspekten.

Gehen wir dazu über, einige spezifischere Charakteristika des produktiven Denkens zu untersuchen. Im produktiven Denken ist das Subjekt dem Objekt gegenüber nicht gleichgültig. Das Objekt wirkt auf das Subjekt, und das Subjekt befasst sich mit ihm. Das Objekt wird nicht als etwas Totes verstanden, als etwas, das von einem selbst und vom eigenen Leben losgelöst ist, oder als etwas, über das man nachdenkt, indem man es von sich selbst isoliert. Im Gegenteil, das Subjekt ist an seinem Objekt interessiert, und je enger die Bindung, desto fruchtbarer das Denken. Diese Beziehung zwischen Subjekt und Objekt regt sein Denken vor allem an. Ein Mensch oder ein beliebiges anderes Phänomen wird deswegen zum Objekt des Denkens, weil er Gegenstand des Interesses ist und weil er für das individuelle Leben und das der menschlichen Existenz bedeutungsvoll ist. Die Erzählung von Buddhas Entdeckung der „vierfachen Wahrheit“ illustriert das sehr schön. Buddha sah einen toten, einen [II-069] kranken und einen alten Mann. Er, der junge Mann, war tief vom unentrinnbaren menschlichen Schicksal betroffen. Er reagierte auf diese Beobachtung, indem er darüber nachdachte. Die Lehre von der Natur, dem Leben und den Wegen zur menschlichen Erlösung war das Ergebnis seines Denkens. Sicherlich war die Art und Weise, in der er reagierte, nicht die einzig mögliche. In der gleichen Situation würde vielleicht ein moderner Arzt darüber nachdenken, wie man am wirksamsten Alter, Krankheit und Tod bekämpfen könne, aber sein Denken wäre ebenfalls durch seine umfassende Reaktion auf sein Objekt bestimmt.

Im Vollzug produktiven Denkens wird der Nachdenkende durch sein Interesse für das Objekt angeregt. Er ist von ihm betroffen und reagiert darauf; er nimmt teil und antwortet. Aber auch Objektivität charakterisiert das produktive Denken: der Respekt des Denkenden für sein Objekt, und die Fähigkeit, das Objekt so zu sehen, wie es ist, und nicht so, wie es nach seinem Wunschbilde sein sollte. Diese Polarität zwischen Objektivität und Subjektivität ist für das produktive Denken ebenso charakteristisch wie für Produktivität schlechthin.

Objektiv können wir nur dann sein, wenn wir die Dinge, die wir beobachten, auch respektieren: wenn wir imstande sind, sie in ihrer Einmaligkeit und in ihrer gegenseitigen Verbindung zu sehen. Dieser Respekt unterscheidet sich nicht wesentlich von der Achtung, über die wir im Zusammenhang mit der Liebe sprachen. Wenn ich etwas verstehen will, muss ich fähig sein, es so zu sehen, wie es seiner eigenen Natur gemäß existiert. Obgleich dies für alle Denkobjekte gilt, ist es ein besonderes Problem bei der Erforschung der menschlichen Natur.

Für das produktive Denken über lebende und nichtlebende Gegenstände muss ein anderer Aspekt von Objektivität gegenwärtig sein: Man muss eine Erscheinung in ihrer Totalität sehen. Wenn der Beobachtende einen Aspekt des Objekts isoliert, ohne das Ganze zu sehen, wird er nicht einmal diesen einen Aspekt richtig verstehen. Dieses Charakteristikum ist von Max Wertheimer als wichtigstes Element des produktiven Denkens bezeichnet worden. „Produktive Prozesse“, schreibt er, „haben häufig folgende Eigenschaften: Um etwas wirklich zu verstehen, fragt und untersucht man immer wieder aufs Neue. Schließlich konzentriert man sich auf einen bestimmten Punkt innerhalb eines bestimmten Bereiches; aber er wird dadurch nicht etwa isoliert. Es entwickelt sich vielmehr eine neue und tiefere strukturelle Sicht des Gesamten, die Veränderungen im funktionellen Sinne, in der Gruppierung der Einzelheiten usw. einbezieht. Indem man sich also in Bezug auf einen bestimmten Bereich davon leiten lässt, was die Struktur einer Situation fordert, kommt man zu einer vernunftgemäßen Vorhersage, die - ebenso wie die anderen Teile der Struktur - direkt oder indirekt verifiziert werden muss. Zweierlei ist notwendig: einerseits ein zusammenhängendes Bild zu erlangen, andererseits das zu sehen, was die Gesamtstruktur für die einzelnen Teile erfordert“ (M. Wertheimer, 1945, S. 167; vgl. auch S. 192).

Objektivität verlangt nicht nur, dass man das Objekt so sieht, wie es ist, sondern auch, dass man sich selbst so sieht, wie man ist: dass man sich der besonderen Konstellation bewusst wird, in der man als Beobachtender dem Objekt gegenübersteht. Produktives Denken wird somit durch die Natur des Objekts wie auch durch die Natur des Subjekts bestimmt, das sich während des Denkvorganges zu seinem Objekt in Beziehung [II-070] setzt. Objektivität gründet sich auf diese zweifache Determination. Im Gegensatz hierzu steht die falsche Subjektivität, bei der das Denken nicht vom Objekt kontrolliert wird und daher zu Vorurteilen, Wunschvorstellungen und Phantasien entartet. Aber Objektivität ist auch nicht, wie oft fälschlicherweise der „wissenschaftlichen“ Objektivität unterstellt wird, synonym mit Gleichgültigkeit, Abwesenheit von Interesse und Fürsorge. Wie sollte man das verhüllende Außen der Dinge durchdringen und ihre Ursachen und Beziehungen erforschen können, wenn kein vitales Interesse den Antrieb zu einer so schwierigen Aufgabe böte? Wie könnten die Forschungsziele bestimmt werden, wenn nicht in Bezug auf die Interessen des Menschen? Objektivität heißt nicht Gleichgültigkeit, sondern Achtung. Sie ist die Fähigkeit, Menschen, Dinge und sich selbst nicht zu entstellen und zu verfälschen. Sind aber die subjektiven Elemente im Beobachtenden, seine Interessen, nicht so stark, dass sie sein Denken entstellen müssen, um zum gewünschten Resultat zu kommen? Ist nicht das Fehlen jeden persönlichen Interesses eine Voraussetzung wissenschaftlicher Forschung? Die Auffassung, dass kein Interesse vorhanden sein dürfe, damit die Wahrheit erkannt werden könne, ist falsch. (Vgl. auch K. Mannheim, 1929.) Es hat kaum jemals eine bedeutsame Entdeckung oder Erkenntnis gegeben, für die das Interesse des Forschenden nicht der unmittelbare Anlass gewesen wäre. Jedes Denken, dem ein solches Interesse fehlt, ist zur Unfruchtbarkeit und Geistlosigkeit verurteilt. Und doch kommt es nicht nur darauf an, ob ein Interesse schlechthin besteht oder nicht. Wichtig ist, welcher Art das Interesse ist und in welchem Verhältnis es zur Wahrheit steht. Anlass jedes produktiven Denkens ist das Interesse des Beobachtenden. Ideen werden niemals durch ein Interesse an sich entstellt, sondern nur durch solche Interessen, die der Wahrheit entgegenstehen, und mit der Entdeckung der Eigenart des Objekts unvereinbar sind.

Unsere Feststellung, Produktivität sei eine im Menschen angelegte Fähigkeit, widerlegt die Annahme, der Mensch sei von Natur aus faul und müsse zur Aktivität gezwungen werden. Diese Auffassung ist uralt. Als Moses den Pharao bat, er möge das jüdische Volk ziehen lassen, damit es Gott in der Wüste diene, war seine Antwort: „Faul seid ihr, faul! Nur deshalb sagt ihr: Wir wollen gehen und Jahwe Schlachtopfer darbringen“ (Ex 5,17). Wie ein Sklave zu arbeiten, war für den Pharao dasselbe wie „etwas zu tun“, Gott zu verehren dasselbe wie „faul zu sein“. Alle, die von der Arbeit anderer leben wollten, teilten diese Auffassung mit ihm. Eine Produktivität, die sich nicht ausbeuten ließ, war für sie wertlos.

Unsere heutige Kultur scheint das Gegenteil zu beweisen. Der abendländische Mensch war in den letzten Jahrhunderten besessen von der Idee der Arbeit, von dem Verlangen nach ständiger Aktivität. Kaum einen Augenblick kann er untätig bleiben. Dieser Gegensatz ist jedoch nur ein scheinbarer. Faulheit und zwanghafter Aktivismus sind nicht Gegensätze, sondern zwei Symptome, die auf Störungen der menschlichen Funktionen hinweisen. Das wichtigste Symptom bei Neurotikern ist oft seine Arbeitsunfähigkeit; beim sogenannten Angepassten besteht es darin, dass er keine Freude in Entspannung und Ruhe finden kann. Zwanghafter Aktivismus ist nicht das Gegenteil von Faulheit, sondern deren Komplementärerscheinung; das Gegenteil von beiden ist Produktivität.

Die Verkümmerung der produktiven Aktivität (produktives Tätigsein) führt zu [II-071] Inaktivität oder zu Überaktivität. Hunger und Gewalt können niemals Voraussetzung zu produktivem Tätigsein sein. Dagegen sind Freiheit, wirtschaftliche Sicherheit und eine Gesellschaftsorganisation, in der Arbeit zum sinnvollen Ausdruck menschlicher Fähigkeiten wird, diejenigen Faktoren, die entscheidend dazu beitragen, dass der Mensch seinen natürlichen Neigungen folgt, indem er seine Kräfte produktiv gebraucht. Produktives Tätigsein drückt sich im rhythmischen Wechsel von Aktivität und Entspannung aus. Produktive Arbeit, produktive Liebe und produktives Denken sind nur dann möglich, wenn der Mensch auch ruhig und mit sich allein sein kann. Auch sich selbst hören zu können, ist eine Vorbedingung dafür, dass man auf andere hören kann; bei sich selbst zu Hause zu sein, ist die notwendige Voraussetzung, damit man sich zu anderen in Beziehung setzen kann.

Orientierungen im Sozialisationsprozess

Wie zu Beginn dieses Kapitels dargelegt wurde, gibt es im Vollzug des Lebens zwei Formen der Bezogenheit zur Welt: die der Assimilierung und die der Sozialisation. Erstere wurde bereits eingehend erörtert, einschließlich der Liebe, die im Zusammenhang mit den anderen Manifestationen der Produktivität behandelt wurde, um das Wesen der Produktivität umfassender zu beschreiben. Letztere habe ich ausführlich in meinem Buch Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 215-392) behandelt. Ich werde deshalb an dieser Stelle nur eine kurze Zusammenfassung geben.[38]

Wir unterscheiden folgende Arten zwischenmenschlicher Bezogenheit: die symbiotische Bezogenheit, die destruktive Bezogenheit, die Rückzug und Distanz beinhaltet, und die liebende Bezogenheit.

Bei der symbiotischen Bezogenheit verbindet sich der Mensch mit anderen, verliert aber seine Unabhängigkeit oder erreicht sie niemals. Um der Gefahr des Alleinseins auszuweichen, wird er zum Bestandteil eines anderen, von dem er sich „verschlingen“ lässt, oder den er selber „verschlingt“. Das Erstere ist die Wurzel dessen, was man klinisch als Masochismus bezeichnet. Masochismus ist der Versuch, sein individuelles Selbst loszuwerden. Man läuft vor der Freiheit davon und sucht Sicherheit, indem man sich einem anderen anhängt. Die Formen eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses sind mannigfaltig. Der Betreffende kann sie rational als Opfer, Pflicht oder Liebe erklären, besonders dann, wenn kulturelle Vorbilder eine solche Rationalisierung legitimieren. Manchmal mischt sich Masochismus mit sexuellen Trieben und Lustgefühlen (masochistische Perversion). Oft auch geraten die masochistischen Triebe so stark in Konflikt mit den anderen Teilen der Persönlichkeit, die Freiheit und Unabhängigkeit anstreben, dass sie als quälend empfunden werden.

Der Trieb, andere verschlingen zu wollen, die sadistische, aktive Form der symbiotischen Bezogenheit, wird in verschiedenster Weise rationalisiert: als „Liebe“, Überbehütung, als „gerechtfertigte“ Beherrschung oder „gerechtfertigte“ Rache usw. Mit Sexualtrieben vermischt, tritt sie als sexueller Sadismus auf. Alle Formen des sadistischen Triebes beruhen auf dem Wunsch, einen anderen Menschen vollständig zu beherrschen, ihn zu „verschlingen“ und ihn zum hilflosen Objekt des eigenen Willens [II-072] zu machen. Totale Beherrschung eines ohnmächtigen Menschen ist das Wesen der aktiven symbiotischen Bezogenheit. Die beherrschte Person wird als Ding betrachtet und behandelt, das man benützen und ausbeuten kann, nicht als ein menschliches Wesen und um seiner selbst willen. Je mehr sich diese Sucht mit Destruktivität vermischt, umso grausamer ist sie; aber auch die wohlwollende Herrschsucht, die sich oft als „Liebe“ maskiert, ist eine Form von Sadismus. Der wohlwollende Sadist wünscht, dass sein Objekt reich und mächtig wird und Erfolg hat; eines aber will er mit allen Mitteln verhindern: Das Objekt darf nicht frei und unabhängig werden, weil es dann nicht mehr dem Beherrscher gehören würde.

In den Verlorenen Illusionen gibt Balzac ein bezeichnendes Beispiel von wohlwollendem Sadismus.[39] Er beschreibt das Verhältnis zwischen dem jungen Lucien und dem Bagnosträfling, der sich als Abbé ausgibt. Kurz nachdem er dem jungen Lucien begegnet ist, der Selbstmord begehen wollte, sagt der Abbé zu ihm:

„Ich habe Sie aufgefischt, ich habe Ihnen das Leben zurückgegeben, und Sie gehören mir, wie das Geschöpf dem Schöpfer gehört, wie im Märchen Ifrit dem Geist, Itschoglan dem Sultan gehört, wie der Körper der Seele gehört! Ich werde Sie mit mächtiger Hand auf dem Weg der Macht halten, und ich verspreche Ihnen nichtsdestoweniger ein Leben der Vergnügen, der Ehren und ständigen Feste. (...) Nie wird es Ihnen an Geld fehlen... Sie werden glänzen und paradieren, während ich, über den Schlamm der Grundmauern gebeugt, den strahlenden Bau Ihres Glücks sichern werde. Ich liebe die Macht um der Macht willen! Ich werde stets glücklich sein über Ihre Freuden, die mir versagt sind. Kurzum, ich werde durch Sie leben!“ (...) „Ich will mein Geschöpf lieben, es bilden und für meinen Umgang formen, um es zu lieben, wie ein Vater ein Kind liebt. Ich werde in Ihrem Tilbury fahren, mein Junge, ich werde mich über Ihre Erfolge bei den Frauen freuen, ich werde sagen: Dieser schöne junge Mann bin ich“ (H. de Balzac, 1965, S. 701 f., 707).

Die symbiotische Bezogenheit beruht auf Nähe zum Objekt und auf Intimität mit dem Objekt, allerdings auf Kosten der Freiheit und Integrität. Das ist die eine Möglichkeit; eine zweite zeichnet sich durch Distanz, Sich-Zurückziehen und Destruktivität aus. Das Gefühl individueller Machtlosigkeit kann überwunden werden, indem man sich von denen zurückzieht, die man als Bedrohung empfindet. In begrenztem Umfang gehört das Sich-Zurückziehen zum normalen Rhythmus in der Verbindung eines Menschen mit der Welt. Es ermöglicht Kontemplation, das Studium von Material, Gedanken und Haltungen. Bei dem hier beschriebenen Phänomen wird das Sich-Zurückziehen jedoch die vorherrschende Form der Bezogenheit, eine negative Bezogenheit. Der ihm entsprechende Gefühlswert ist Gleichgültigkeit den anderen gegenüber, oft begleitet und kompensiert durch ein Überheblichkeitsgefühl. Das kann, braucht aber nicht bewusst zu sein, ja es wird in unserem Kulturkreis häufig durch oberflächliche Geselligkeit verdeckt.

Die aktive Form des Sich-Zurückziehens ist Destruktivität: der Impuls, andere zu vernichten, aus Furcht, von ihnen vernichtet zu werden. Da das Sich-Zurückziehen und die Destruktivität die passive und aktive Form der gleichen Bezogenheit zur Umwelt sind, treten sie oft in verschiedenen Proportionen vermischt auf. Ihr Unterschied ist jedoch größer als der zwischen der aktiven und der passiven Form der [II-073] symbiotischen Bezogenheit. Destruktivität entsteht durch eine stärkere und vollständigere Blockierung der Produktivität als das Sich-Zurückziehen. Sie ist die Perversion des Willens zum Leben. Es ist die Energie ungelebten Lebens, die sich in eine Energie umwandelt, die auf Zerstörung des Lebens ausgeht.[40]

Liebe ist die produktive Form der Bezogenheit zu anderen und zu sich selbst. Sie zeichnet sich aus durch Verantwortungsgefühl, Fürsorge, Achtung und Erkenntnis und den Wunsch, dass der andere Mensch wachsen und sich entfalten möge. Sie ist der Ausdruck von Vertrautheit zwischen zwei Menschen unter der Voraussetzung, dass die Persönlichkeit beider unangetastet bleibt.

Aus dem Dargelegten ergibt sich, dass im Assimilierungs- und Sozialisationsprozess eine gewisse Verwandtschaft zwischen den verschiedenen Formen der Orientierungen bestehen muss. Die folgende Tabelle veranschaulicht die bisher behandelten Orientierungen und ihre Affinität. (Die Bedeutung der in Klammern gesetzten Begriffe wird im Folgenden erläutert.)

Nicht-produktive Orientierungen
im Assimilierungsprozess im Sozialisationsprozess
rezeptive Orientierung
(empfangen)
masochistische Orientierung
(Treue)
⇒ Symbiose
ausbeuterische Orientierung
(nehmen)
sadistische Orientierung
(Autorität)
hortende Orientierung
(aufbewahren)
destruktive Orientierung
(Selbstbehauptung)
⇒ Sich-Zurück-ziehen
Marketing-Orientierung
(tauschen)
indifferente Orientierung
(Fairness)
Produktive Orientierung
Arbeiten Liebe, vernunftgemäßes Denken

Nur wenige Erläuterungen sind notwendig. Die rezeptive und die ausbeuterische Orientierung schließen zwischenmenschliche Beziehungen anderer Art ein als die hortende Orientierung. Die rezeptive und die ausbeuterische Haltung bewirken eine Art Intimität und Nähe mit jenen, von denen man auf friedliche oder aggressive Weise erhalten will, was man braucht. Bei der rezeptiven Einstellung dominiert das Unterwürfige, das Masochistische: Der Stärkere wird mir alles geben, wenn ich mich ihm unterwerfe. Der andere wird zur Quelle alles Guten, und in der symbiotischen Verbindung wird er mir alles geben, was ich brauche. Die ausbeuterische Orientierung dagegen führt meist zu einer sadistischen Art der Bezogenheit. Nehme ich das, was ich brauche, dem anderen mit Gewalt, dann muss ich ihn beherrschen und ihn zum machtlosen Objekt meiner Beherrschung machen.

Im Gegensatz zur rezeptiven und zur ausbeuterischen Orientierung bedingt die hortende Orientierung, sich von anderen fernzuhalten. Sie beruht nicht auf der Erwartung, von einer außerhalb liegenden Quelle alles zu bekommen, sondern darauf, dass man etwas besitzt, indem man es hortet und nicht verbraucht. Ein vertrautes Verhältnis zur Umwelt wäre eine Bedrohung dieses autarken Sicherheitssystems. Der hortende Charakter neigt dazu, sich von den anderen zurückzuziehen oder - falls er sie als zu bedrohlich empfindet - sie zu vernichten. [II-074] Für die Marketing-Orientierung ist dieses distanzierende Verhalten ebenfalls charakteristisch, aber im Gegensatz zur hortenden Orientierung ist es eher von einer freundlichen als von einer destruktiven Art. Das Prinzip der Marketing-Orientierung verlangt umgängliche Formen, oberflächliches Kontaktnehmen, und bedeutet nur in tieferer seelischer Hinsicht Beziehungslosigkeit.

Mischungen der verschiedenen Orientierungen

Bisher haben wir die verschiedenen Formen der nicht-produktiven Orientierungen und der produktiven Orientierung so behandelt, als wären es getrennte und deutlich voneinander unterschiedene Größen. Eine solche Verfahrensweise scheint aus methodischen Gründen gerechtfertigt, denn wir müssen das Wesen jeder einzelnen Orientierung verstehen, ehe wir zu ihren Mischungen übergehen können. Da ein Charakter jedoch niemals ausschließlich nur eine der nicht-produktiven oder die produktive Orientierung repräsentiert, haben wir es in Wirklichkeit stets mit Mischungen zu tun.

Bei den für die verschiedenen Orientierungen möglichen Kombinationen müssen wir unterscheiden zwischen einer Mischung nicht-produktiver Orientierungen untereinander und zwischen der Mischung einer nicht-produktiven mit einer produktiven Orientierung. Einige der nicht-produktiven Orientierungen zeigen gewisse Affinitäten zueinander. So mischt sich zum Beispiel die rezeptive Orientierung öfter mit der ausbeuterischen als mit der hortenden Orientierung. Der rezeptiven und der ausbeuterischen Orientierung ist die Nähe zum Objekt gemeinsam. Im Gegensatz hierzu steht die hortende Orientierung, die sich vom Objekt distanziert. Aber sogar eine Mischung zwischen Orientierungen geringerer Affinität ist häufig zu beobachten. Will man einen Menschen charakterisieren, so muss dies meist mit den Begriffen der in ihm dominanten Orientierung geschehen.

Die Mischung zwischen der nicht-produktiven und der produktiven Orientierung erfordert eine eingehendere Untersuchung.[41] Es gibt keinen Menschen, dessen Orientierung rein produktiv wäre, und keinen, dem jede Produktivität abgeht. Ob jedoch die produktive oder die nicht-produktive Orientierung in der Charakterstruktur des Einzelnen überwiegt, ist unterschiedlich und für die Qualität der nicht-produktiven Orientierungen ausschlaggebend. Unsere bisherige Darstellung der nicht-produktiven Orientierungen ging von der Annahme aus, dass diese Orientierungen in einer Charakterstruktur dominant sind. Wir müssen unsere Beschreibung nun erweitern, indem wir die Qualitäten der nicht-produktiven Orientierungen einer Charakterstruktur betrachten, bei der die produktive Orientierung dominiert. In einem solchen Fall haben die nicht-produktiven Orientierungen keineswegs die negative Bedeutung, die sie haben, wenn sie in einer Charakterstruktur dominant sind, sondern sie nehmen hier eine andere, konstruktive Qualität an. Tatsächlich muss unsere bisherige Beschreibung der nicht-produktiven Orientierungen als eine Entstellung von Orientierungen angesehen werden, die an sich normal und notwendig sind. Um überhaupt leben zu können, muss jeder von anderen Menschen auch etwas empfangen können, [II-075] nehmen können, aufbewahren und tauschen können. Auch muss er einer Autorität folgen, andere leiten, allein sein und sich behaupten können. Erst dann, wenn die Art des Bezugs zu den Dingen und die Beziehung zu Menschen vorwiegend nicht-produktiv ist, verwandelt sich die Fähigkeit, etwas zu empfangen, zu nehmen, aufzubewahren oder zu tauschen in die Gier, etwas erhalten zu wollen, auszubeuten, zu horten oder sich den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen. Die nicht-produktiven Formen sozialen Bezogenseins bei einem vorwiegend produktiven Menschen - also Treue, Autorität, Selbstbehauptung und Fairness - verwandeln sich bei einem vorwiegend nicht-produktiven Menschen in Unterwürfigkeit, Herrschsucht, Sich-Zurückziehen und Destruktivität. Jede der nicht-produktiven Orientierungen hat demnach einen positiven und einen negativen Aspekt, entsprechend dem Grad der Produktivität innerhalb der gesamten Charakterstruktur. Die nachfolgende Zusammenstellung der positiven und negativen Aspekte der verschiedenen Orientierungen soll dies verdeutlichen.

Rezeptive Orientierung (Empfangen)

Positiver Aspekt   Negativer Aspekt
Aktiv  ⇔ ausbeuterisch
Initiativ  ⇔ aggressiv
selbstbehauptend  ⇔ egozentrisch
Stolz  ⇔ eingebildet
impulsiv  ⇔ unbesonnen
selbstsicher  ⇔ arrogant
gewinnend  ⇔ verführerisch

Ausbeuterische Orientierung (Nehmen)

Positiver Aspekt   Negativer Aspekt
Praktisch  ⇔ Phantasielos
ökonomisch denkend  ⇔ Geizig
Besonnen  ⇔ Misstrauisch
reserviert  ⇔ Kalt
geduldig  ⇔ Lethargisch
vorsichtig  ⇔ Ängstlich
standhaft, zäh  ⇔ Eigensinnig
gelassen  ⇔ Träge
gefasst  ⇔ Schwerfällig
ordentlich  ⇔ Pedantisch
methodisch  ⇔ Zwanghaft
treu  ⇔ Vereinnahmend

Hortende Orientierung (Aufbewahren)

Positiver Aspekt   Negativer Aspekt
Zielbewusst  ⇔ Opportunistisch
Wandlungsfähig  ⇔ unbeständig
Jugendlich  ⇔ kindisch
Zuversichtlich  ⇔ zukunfts- und vergangenheitslos
Aufgeschlossen  ⇔ grundsatzlos, ohne Gefühl für Werte
Gesellig  ⇔ zum Alleinsein unfähig
Experimentierend  ⇔ ziellos
Undogmatisch  ⇔ relativistisch
Tüchtig  ⇔ geschäftig
Wissbegierig  ⇔ neugierig
Intelligent  ⇔ intellektualistisch
Anpassungsfähig  ⇔ wahllos
Tolerant  ⇔ gleichgültig
Witzig  ⇔ töricht
Großzügig  ⇔ verschwenderisch

Marketing-Orientierung (Tauschen)

Positiver Aspekt   Negativer Aspekt
Zielbewusst  ⇔ Opportunistisch
Wandlungsfähig  ⇔ unbeständig
Jugendlich  ⇔ kindisch
Zuversichtlich  ⇔ zukunfts- und vergangenheitslos
Aufgeschlossen  ⇔ grundsatzlos, ohne Gefühl für Werte
Gesellig  ⇔ zum Alleinsein unfähig
Experimentierend  ⇔ ziellos
Undogmatisch  ⇔ relativistisch
Tüchtig  ⇔ geschäftig
Wissbegierig  ⇔ neugierig
Intelligent  ⇔ intellektualistisch
Anpassungsfähig  ⇔ wahllos
Tolerant  ⇔ gleichgültig
Witzig  ⇔ töricht
Großzügig  ⇔ verschwenderisch

Die positiven und negativen Aspekte sind nicht voneinander getrennte Gruppen. Entsprechend der jeweils vorherrschenden produktiven Orientierung kann jeder dieser Charakterzüge als Punkt innerhalb eines Kontinuums beschrieben werden. Ist die Produktivität groß, wird man - um nur ein Beispiel anzuführen - eine vernünftige und systematische Ordnungsliebe finden; bei abnehmender Produktivität entartet [II-077] diese mehr und mehr zu unvernünftiger, pedantischer und zwanghafter „Ordnungsliebe“, die ihren eigentlichen Zweck verfehlt. Dasselbe gilt für den Wechsel von jugendlich zu kindisch, von Stolz zu Überheblichkeit usw. Schon jede Grundorientierung lässt in jedem Menschen die vielfältigen Möglichkeiten erkennen, die durch folgende Faktoren entstehen:

  1. Die nicht-produktiven Orientierungen mischen sich entsprechend der Stärke jeder einzelnen Orientierung auf verschiedene Weise.
  2. Jede Qualität ändert sich entsprechend dem Grade der gegebenen Produktivität.
  3. Die verschiedenen Orientierungen können sich im materiellen, emotionalen oder intellektuellen Bereich des Tätigseins jeweils verschieden auswirken.

Berücksichtigt man außerdem die verschiedenen Temperamente und Begabungen, so ist leicht ersichtlich, dass die Konfiguration dieser Grundelemente unzählige Variationsmöglichkeiten der Persönlichkeit zulässt.

4. Probleme der humanistischen Ethik

Gegen den Grundsatz der humanistischen Ethik, wonach Tugend identisch ist mit der Erfüllung der Verbindlichkeiten, die der Mensch sich selbst gegenüber hat, und Laster dasselbe wie Selbstverstümmelung bedeutet - gegen diesen Grundsatz kann als nächstliegendes Argument eingewendet werden, dass wir den Egoismus oder die Selbstsucht zur Norm der Lebensführung machen, während das Ziel der Ethik darin bestehen sollte, ihn zu bekämpfen; ferner, dass wir die angeborene Bosheit des Menschen übersehen, die nur durch Angst vor Strafe und Ehrfurcht vor Autoritäten gezügelt werden könne. Andere mögen behaupten, der Mensch sei zwar von Natur aus nicht böse, aber vergnügungssüchtig, und das Vergnügen selbst widerspreche schon den ethischen Prinzipien oder stehe ihnen zumindest gleichgültig gegenüber. Ist nicht das Gewissen - so lautet der Einwand - die einzige Kraft im Menschen, die ihn zu tugendhaftem Handeln veranlasst, und hat nicht das Gewissen seinen Platz in der humanistischen Ethik eingebüßt? Auch der Glaube hat offenbar keinen Platz mehr; ist aber nicht der Glaube die nötige Grundlage jedes sittlichen Verhaltens?

Derartige Fragestellungen enthalten bestimmte Auffassungen über die menschliche Natur und fordern den Psychologen zur Auseinandersetzung heraus, wenn ihm daran liegt zu erfahren, wie der Mensch Glück und Entfaltung finden kann und welche moralischen Normen zu diesem Ziel führen. Ich werde in diesem Kapitel versuchen, diese Probleme im Lichte der psychoanalytischen Daten zu behandeln, für die bereits im Kapitel „Die Natur des Menschen und sein Charakter“ die theoretische Grundlage geschaffen wurde.

a) Selbstsucht, Selbstliebe, Selbstinteresse

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. (Lev 19,18)

Selbstsucht[42] ist heute tabu. Man lehrt, dass Selbstsucht eine Sünde sei und Nächstenliebe eine Tugend. Die Lehre steht allerdings in krassem Widerspruch zur Praxis der [II-079] heutigen Gesellschaft, von der die „Selbstsucht“ als mächtigster und durchaus zu Recht bestehender Trieb anerkannt wird: Der einzelne, der diesem Trieb nachgebe, leiste den besten Beitrag zum Gemeinwohl.

Aber auch die Lehre, welche die Selbstsucht als Grundübel und die Liebe als höchste Tugend erklärt, besitzt noch immer eine gewaltige Wirkungskraft. Selbstsucht wird hier fast als Synonym für Selbstliebe gebraucht. Die Alternative besteht darin, dass man entweder andere lieben könne, was eine Tugend sei, oder sich selbst, was Sünde sei.

Dieses Prinzip fand seine klassische Prägung in der Calvinischen Theologie, für die der Mensch ein von Grund auf böses und ohnmächtiges Wesen ist. Auf Grund eigener Kraft und eigenen Verdienstes kann der Mensch absolut nichts erreichen, was gut ist. „Wir sind nicht unsere eigenen Herren“, sagt Calvin, „also darf bei unseren Plänen und Taten weder unsere Vernunft noch unser Wille die Herrschaft führen. Wir sind nicht unsere eigenen Herren - also dürfen wir uns nicht das Ziel setzen, danach zu suchen, was uns nach dem Fleische nütze! Wir sind nicht unsere eigenen Herren - also sollen wir uns und alles, was wir haben, soweit irgend möglich, vergessen! Wir sind Gottes Eigentum - also sollen wir Ihm leben und sterben! Denn die schädlichste Pestilenz, die die Menschen nur zugrunde richten kann, herrscht da, wo der Mensch sich selber gehorcht - und der einzige Hafen des Heils liegt dementsprechend darin, dass wir von uns aus nichts denken, von uns aus nichts wollen, sondern einzig dem Herrn folgen, wie er uns vorangeht!“ (J. Calvin, 1955, S. 446).

Der Mensch soll nicht nur von seiner absoluten Nichtigkeit überzeugt sein, er soll alles tun, um sich selbst zu demütigen.

Denn ich nenne es nicht Demut, wenn wir meinen, uns bliebe noch etwas übrig. (...) Wir können aber nicht die rechte Meinung von uns haben, ohne dass alles zerschmettert wird, was an uns rühmenswert erscheint. (...) Die hier geforderte Demut ist die ungeheuchelte Niedrigkeit unseres Herzens, das vor dem ernsten Empfinden seines Elends und seiner Armut erschrocken ist (J. Calvin, 1955, S. 446).

Dieser ausdrückliche Hinweis auf die Nichtigkeit und das Elend des Einzelnen besagt, dass es nichts gibt, was der Mensch an sich lieben und achten sollte. Selbstverachtung und Selbsthass sind die Wurzeln einer solchen Doktrin. Calvin spricht das sehr deutlich aus: Er nennt die Eigenliebe „eine Pestilenz“. Wenn der Mensch etwas entdeckt, durch das er an sich selbst Gefallen findet, kommt seine sündige Selbstliebe an den Tag. Diese Verliebtheit wird ihn verführen, über andere zu richten und sie zu verachten. Es ist daher eine der größten Sünden, in sich selbst verliebt zu sein oder irgendetwas an sich selber zu lieben. Nach Calvin schließt das die Liebe zu anderen aus[43] und ist identisch mit Selbstsucht.[44] [II-080]

Diese von Calvin und Luther vertretene Auffassung hatte einen ungeheuren Einfluss auf die Entwicklung der modernen westlichen Gesellschaft. Sie gaben damit die Grundlagen für eine Einstellung, die das Glück des Menschen nicht als Lebenszweck betrachtet. Der Mensch wird zum Mittel und zum Gehilfen von Zwecken, die jenseits seiner selbst liegen: eines allmächtigen Gottes oder nicht weniger mächtiger verweltlichter Autoritäten und Normen, wie Staat, Wirtschaft, Erfolg. Kant, der in Bezug auf seine Auffassung, dass der Mensch Selbstzweck sei und niemals nur Mittel sein dürfe, vielleicht der einflussreichste ethische Denker der Aufklärung war, verdammte trotzdem die Selbstliebe in gleicher Weise wie Luther und Calvin. Für ihn heißt Tugend, anderen Glück zu wünschen; sich selbst Glück zu wünschen, sei vom ethischen Standpunkt aus belanglos, weil der Mensch von Natur aus danach strebe; ein naturbedingtes Streben könne jedoch keinen positiven ethischen Wert haben. (Vgl. I. Kant, 1908, S. 83-85.)

Nach Kants Auffassung soll der Mensch seinen Anspruch auf Glück zwar nicht aufgeben; unter gewissen Umständen könne das Streben nach Glück sogar zur Pflicht werden: einmal, weil Gesundheit, Reichtum und dergleichen unerlässliche Mittel zur Erfüllung der Pflichten sein können; zum anderen, weil das Fehlen von Glück - also Armut - jemanden von der Erfüllung seiner Pflicht abhalten kann. Doch Liebe zu sich selbst, Streben nach eigenem Glück, könne niemals tugendhaft sein. Als sittliches Prinzip ist das Streben nach eigener Glückseligkeit „am meisten verwerflich, nicht bloß deswegen, weil es falsch ist (...), sondern weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten (...)“ (I. Kant, 1933, S. 69).

Kant unterscheidet bei der Selbstsucht (Solipsismus) die Glückseligkeit „der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst (philautia)“, und die Glückseligkeit „des Wohlgefallens an sich selbst (arrogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel“ (I. Kant, 1908, S. 73). Aber sogar die „vernünftige Selbstliebe“ (a.a.O.) muss durch das Sittengesetz eingeschränkt, das Gefallen an sich selbst muss ausgelöscht werden und der einzelne muss sich gedemütigt fühlen, wenn er sich an den unabdingbaren göttlichen Gesetzen misst. Sein höchstes Glück soll der Mensch in der Erfüllung seiner Pflicht finden. Die Verwirklichung des sittlichen Prinzips (und demzufolge auch des individuellen Glücks) ist nur im allgemeinen Ganzen möglich, sei es der Nation oder des Staates. In der Vereinigung der drei Staatsgewalten „besteht das Heil des Staats (salus rei publicae suprema lex est); worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit verstehen muss“ (I. Kant, 1907a, S. 318).

Obgleich Kant die Integrität des Einzelnen stärker respektiert als Calvin und Luther, so bestreitet er dem Individuum doch das Recht, sich auch unter der größten Tyrannei auflehnen zu dürfen. „Der geringste Versuch hierzu ist Hochverrat, und der Verräter dieser Art kann als einer, der sein Vaterland umzubringen versucht, nicht minder als mit dem Tode bestraft werden“ (a.a.O., S. 320). „Der Mensch ist von Natur böse“ (I. Kant, 1907, S. 32). Damit er nicht zur Bestie wird und die menschliche Gesellschaft nicht in Anarchie endet, muss dieses Böse unterdrückt werden. Der Mensch kann es, indem er dem Sittengesetz, dem kategorischen Imperativ, folgt. [II-081]

Andere Repräsentanten der Aufklärungsphilosophie, beispielsweise Helvetius, betonen das Recht des Einzelnen auf Glück weit stärker als Kant. In der modernen Philosophie sind Stirner und Nietzsche die radikalsten Verfechter dieses Rechtes.[45] Während sie jedoch in der Bewertung der Selbstsucht im Widerspruch zu Kant und Calvin stehen, stimmen sie darin mit ihnen überein, dass Nächstenliebe und Selbstliebe als Alternative zu betrachten sei. Nächstenliebe stellen sie als Schwäche und Selbstaufgabe dar; Egoismus, Selbstsucht und Selbstliebe dagegen bedeute eine Tugend. Ihre Fragestellung ist insofern unklar, als sie zwischen den beiden letztgenannten nicht eindeutig genug differenzieren. Stirner schreibt:

Hier muss der Egoismus, der Eigennutz entscheiden, nicht das Prinzip der Liebe, nicht die Liebesmotive, wie Barmherzigkeit, Mildtätigkeit, Gutmütigkeit oder selbst Gerechtigkeit und Billigkeit (denn auch die iustitia ist ein Phänomen der - Liebe, ein Liebesprodukt): Die Liebe kennt nur Opfer und fordert „Aufopferung“ (M. Stirner, 1893, S. 300).

Die Liebe, von der Stirner spricht, ist jene masochistische Abhängigkeit, durch die das Individuum sich zum Mittel macht, um etwas Bestimmtes von irgendjemandem oder von irgendetwas zu erreichen, das außerhalb des eigenen Ichs liegt. In der Ablehnung dieses Begriffes von Liebe wählte Stirner eine polemische Formulierung, die übertrieben war. Das positive Prinzip, das er meinte[46], richtete sich gegen die Haltung, welche die christliche Theologie seit Jahrhunderten einnahm und die auch im deutschen Idealismus seiner Zeit vorherrschte: nämlich die Auffassung, der einzelne habe sich einer Macht oder einem Prinzip außerhalb seiner selbst zu beugen und dort sein Zentrum zu finden. Stirner war zwar kein Philosoph vom Range eines Kant oder Hegel, aber er hatte den Mut, sich radikal gegen jenen Idealismus aufzulehnen, für den es kein wirklich existierendes Einzelwesen gab und der also den absolutistischen Staat darin unterstützte, das Einzelwesen zu unterdrücken und zu erniedrigen.

Trotz vieler Unterschiede ähneln sich die Auffassungen Nietzsches und Stirners in dieser Hinsicht weitgehend. Auch für Nietzsche ist Liebe und Altruismus ein Ausdruck von Schwäche und Selbstverneinung: Den Wunsch nach Liebe betrachtet er als typisch für Sklavennaturen, die nicht imstande sind, für das, was sie haben möchten, zu kämpfen, und es deshalb durch Liebe zu bekommen suchen. Altruismus und Menschenliebe sind daher Degenerationserscheinungen. (Vgl. F. Nietzsche, 1911, Nr. 246, 326, 369, 373 und 728.) [II-082] Eine gute und gesunde Aristokratie ist für Nietzsche dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren Interessen Unzählige opfert, ohne ein Schuldgefühl zu empfinden. Die Gesellschaft soll das Fundament und das Gerüst sein, an dem eine Elite zu ihren höheren Pflichten und ganz allgemein zu einer höheren Existenz heranwachsen kann. Für diese Menschenverachtung und diesen Egoismus könnten noch viele Stellen angeführt werden. Diese Ideen wurden oft für die eigentliche Philosophie Nietzsches gehalten. Sie sind jedoch nicht der wahre Kern seiner Philosophie. (Vgl. G. A. Morgan, 1943.)

Nietzsche äußerte sich aus verschiedenen Gründen in dem angedeuteten Sinne. Erstens ist seine Philosophie, ebenso wie die Stirners, eine Reaktion und Auflehnung gegen jene philosophische Tradition, wonach sich das Einzelwesen Mächten und Prinzipien zu unterwerfen hatte, die außerhalb seiner selbst lagen. Seine Neigung zu Übertreibungen deutet auf diese reaktive Eigenart seiner Philosophie hin. Zweitens zeigt sich in Nietzsches Persönlichkeit eine gewisse Unsicherheit und Ängstlichkeit. Seine Betonung des „starken“ Menschen ist eine Reaktion darauf. Drittens war Nietzsche von der Evolutionstheorie beeindruckt, die das „Überleben des Stärkeren“ betonte. Diese Interpretation ändert nichts an der Tatsache, dass Nietzsche von dem Widerspruch zwischen der Liebe zu anderen und der Liebe zu sich selbst überzeugt war; seine Ansichten enthalten jedoch den Kern, von dem aus dieser vermeintliche Widerspruch gelöst werden kann. Die „Liebe“, gegen die Nietzsche sich wendet, wurzelt nicht in der eigenen Stärke, sondern in der eigenen Schwäche. „Eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber. Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer ‘Selbstloses’“. Ausdrücklich stellt er fest: „Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug“ (F. Nietzsche, 1910, S. 88). Für Nietzsche hat das Individuum eine „ungeheuer große Bedeutung“ (F. Nietzsche, 1911, S. 216). Den „vornehmen Menschen“ schildert er als folgenden „Typus: Die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichtum heraus: welche nicht gibt um zu nehmen, - welche sich nicht damit erheben will, dass sie gütig ist; die Verschwendung als Typus der wahren Güte, der Reichtum an Person als Voraussetzung“ (F. Nietzsche, 1911 (Nr. 935), S. 326). Den gleichen Gedanken äußert Nietzsche in Also sprach Zarathustra (F. Nietzsche, 1910, S. 89): „Der Eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht, und der Andere, weil er sich verlieren möchte.“

Das Entscheidende an dieser Auffassung ist: Liebe ist ein Zeichen des Überflusses. Ihre Voraussetzung ist die Kraft des Einzelnen, der verschenken kann. Liebe ist Bejahung und Produktivität, „denn sie will das Geliebte schaffen!“ Einen anderen lieben, ist nur dann eine Tugend, wenn es dieser inneren Kraft entspringt. Es ist aber ein Laster, wenn der Mensch nicht er selbst sein kann. (Vgl. F. Nietzsche, 1906, S. 142 f.; F. Nietzsche, 1911a, S. 16.) Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe für Nietzsche eine unlösbare Antinomie.

Die Doktrin, Selbstsucht sei ein Grundübel, und die Liebe zu sich selbst schließe die Liebe zu anderen aus, beschränkt sich nicht nur auf Theologie und Philosophie. Sie wurde eine der Ideen, die man in der Familie und in der Schule, im Film und in Büchern immer wieder verkündete, überall dort, wo eine gesellschaftliche Beeinflussung [II-083] denkbar war. „Du darfst nicht selbstsüchtig sein“ ist ein Satz, der Millionen von Kindern von Generation zu Generation eingehämmert wurde. Seine Bedeutung ist vage. Die meisten Leute würden ihn damit erklären: Sei nicht egoistisch, nichtrücksichtslos. In Wirklichkeit aber besagt er mehr. „Sei nicht selbstsüchtig“ schließt ein: Tu nicht, was du selbst möchtest, gib deinen eigenen Willen zugunsten einer Autorität auf. Im letzten hat der Satz „sei nicht selbstsüchtig“ den gleichen Doppelsinn, den er schon im Calvinismus besaß. Von seinem offenkundigen Sinn abgesehen, bedeutet er „liebe dich nicht“, „sei nicht du selbst“, sondern unterwirf dich einem Etwas, das wichtiger ist als du selbst, unterwirf dich einer außer dir liegenden Macht oder ihrem inneren Gegenstück, der „Pflicht“. Der Satz „sei nicht selbstsüchtig“ wird zu einem der mächtigsten ideologischen Werkzeuge, um die Spontaneität und die freie Entwicklung der Persönlichkeit zu unterdrücken. Man wird damit zu jedem Opfer und zur absoluten Unterwerfung aufgefordert: Nur jene Handlungen gelten als „selbstlos“, die nicht dem Handelnden nützen, sondern jemandem oder irgendetwas außerhalb seiner selbst.

Wie gesagt, dieses Bild ist in gewissem Sinn einseitig. Denn neben der Doktrin, man solle nicht selbstsüchtig sein, wird in der heutigen Gesellschaft auch deren Gegenteil propagiert: Sei auf deinen Vorteil bedacht und handle so, wie es für dich am besten ist; tust du das, dann handelst du auch zum Vorteil aller anderen. Dieser Gedanke, Egoismus sei die Basis des Allgemeinwohls, ist das Prinzip, auf dem die Wettbewerbsgesellschaft aufbaut. Es ist erstaunlich, dass zwei sich anscheinend derart widersprechende Prinzipien in einem einzigen Kulturbereich nebeneinander bestehen können, aber die Tatsache ist nicht anzuzweifeln. Eine Folge dieses Widerspruchs ist Verwirrung im einzelnen Menschen. Er wird zwischen zwei Doktrinen hin und her gerissen und in seiner Entwicklung zu einem Ganzen ernstlich gehindert. Diese Verwirrung ist eine der wichtigsten Ursachen der Verwirrung und Hilflosigkeit des heutigen Menschen. (Vgl. hierzu bes. K. Horney, 1937; ebenso R. S. Lynd, 1939.)

„Liebe zu sich selbst“ sei identisch mit Selbstsucht und bilde die Alternative zur „Liebe für andere“: Diese Auffassung hat sich in der Theologie, Philosophie und auch im populären Denken eingenistet. In Freuds Narzissmustheorie wird sie wissenschaftlich ausgedrückt.[47] Freud setzt ein bestimmtes Maß an Libido voraus. Beim Kind ist das Objekt der gesamten Libido die Person des Kindes selbst. Freud bezeichnet dieses Stadium als „primären Narzissmus“. Im Laufe seiner Entwicklung überträgt das Ich die Libido von der eigenen Person auf andere Objekte. Sofern nun ein Mensch in seiner Objektbeziehung blockiert ist, wendet er die Libido wieder vom Objekt ab und der eigenen Person zu. Dieses Stadium bezeichnet Freud als „sekundären Narzissmus“. Nach Freud verhält es sich so: Je mehr Liebe ich der äußeren Welt zuwende, desto weniger bleibt für mich, und umgekehrt. Auf diese Weise erklärt er das Phänomen „Liebe“ als Schwächung der Selbsthilfe, weil sich die gesamte Libido einem Objekt zuwendet, das außerhalb der eigenen Person liegt.

Folgende Fragen ergeben sich: Bestätigt die psychologische Beobachtung die These, nach der grundsätzlich ein gegenseitig sich ausschließendes Auftreten von „Liebe zu sich“ und „Liebe zu anderen“ besteht? Ist „Liebe zu sich“ dasselbe wie Selbstsucht, oder sind es Gegensätze? Ist die Selbstsucht des heutigen Menschen etwas, das [II-084] wirklich ihn als Einzelwesen mit seinen intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten betrifft? Ist er nicht ein Zubehör seiner sozial-ökonomischen Rolle geworden? Ist Selbstsucht identisch mit Selbstliebe, oder ist vielmehr der Mangel an Selbstliebe die eigentliche Ursache der Selbstsucht?

Ehe wir uns mit den psychologischen Gesichtspunkten des Problems „Selbstsucht“ und „Selbstliebe“ auseinandersetzen, muss auf den logischen Fehlschluss hingewiesen werden, dass „Liebe zu anderen“ und „Liebe zu sich“ einander ausschließen. Ist es eine Tugend, wenn ich meinen Nächsten als ein menschliches Wesen liebe, so muss es auch eine Tugend, nicht aber ein Laster sein, wenn ich mich selbst liebe, da auch ich ein menschliches Wesen bin. Es gibt keinen Begriff des „Menschen“, der mich selbst nicht einschließt. Eine Doktrin, die mich ausschließen würde, beweist, dass sie in sich widersprüchlich ist. Der Gedanke „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ wie er in der Bibel steht (Lev 19,18), bedeutet nichts anderes, als dass Achtung vor der eigenen Integrität und Einmaligkeit, Liebe zu sich selbst und ein Begreifen der eigenen Person nicht trennbar sind von der Achtung vor dem anderen, der Liebe zum anderen und dem Begreifen des anderen. Die Liebe zu mir selbst ist untrennbar mit der Liebe zu jedem anderen Menschen verbunden.

Somit sind wir zu der grundlegenden psychologischen Voraussetzung gekommen, auf der die Schlussfolgerung unserer Beweisführung aufgebaut ist. Ganz allgemein ist es folgende Voraussetzung: Nicht nur die anderen, sondern auch wir selbst sind das „Objekt“ unserer Gefühle und Haltungen. Zwischen der Einstellung zu uns selbst und der Einstellung anderen gegenüber besteht kein Widerspruch, sondern ein fundamentaler Zusammenhang. In Bezug auf unser Problem heißt das: Liebe zu anderen und Liebe zu uns selbst ist keine Alternative. Vielmehr wird man eine sich selbst gegenüber liebevolle Haltung bei denjenigen feststellen, die zur Liebe zu anderen fähig sind. Im Prinzip ist Liebe unteilbar, soweit es den Zusammenhang zwischen anderen „Objekten“ und dem eigenen Ich betrifft. Echte Liebe ist Ausdruck von Produktivität und bedeutet Fürsorge, Achtung, Verantwortungsgefühl und Erkenntnis. Liebe ist kein „Affekt“ in dem Sinne, dass man von jemandem „angetan“ ist. Sie ist ein tätiges Streben, das in der eigenen Liebesfähigkeit wurzelt und auf die Entfaltung und das Glück der geliebten Person bedacht ist.

Liebe ist somit ein Ausdruck der eigenen Liebesfähigkeit, und die Liebe zu jemandem ist die Verwirklichung und Konzentration dieser Fähigkeit in Bezug auf eine Person. Die romantische Vorstellung ist unrichtig, dass es auf der ganzen Welt nur einen einzigen Menschen gebe, den man lieben könnte, und dass es die große Chance im Leben sei, diesem einen zu begegnen. Unrichtig ist auch die Annahme, die Liebe zu diesem einen Menschen müsste dann zur Folge haben, dass man die Liebe von den anderen Menschen abziehe. Eine Liebe, die nur in Bezug auf einen einzigen Menschen erlebt werden kann, beweist sich gerade durch diese Tatsache nicht als Liebe, sondern als symbiotische Beziehung. Die in der Liebe enthaltene Bejahung gilt dem geliebten Menschen als einer Inkarnation wesentlich menschlicher Eigenschaften. Die Liebe zu einem einzigen bedeutet Liebe zum Menschen an sich. Die „Arbeitsteilung“ - wie William James es nennt - bei der man die eigene Familie liebt, für „Fremde“ aber nichts übrig hat, ist das Kennzeichen für eine fundamentale Liebesunfähigkeit. Die [II-085] Liebe zur Menschheit ist nicht, wie man häufig annimmt, eine Abstraktion, die auf die Liebe zu einem bestimmten Menschen folgt, sondern sie ist deren Voraussetzung, obwohl sie - genetisch betrachtet - durch die Liebe zu bestimmten Individuen erworben wird. Daraus folgt, dass ich selbst prinzipiell ebenso Objekt meiner Liebe sein muss wie ein anderer Mensch. Die Bejahung des eigenen Lebens, des Glückes, des Wachstums und der Freiheit wurzelt in meiner eigenen Liebesfähigkeit: in meiner Fürsorge, meiner Achtung, meinem Verantwortungsgefühl und meiner Erkenntnis. Ein Mensch, der produktiv lieben kann, liebt auch sich selbst. Kann er nur andere lieben, so kann er überhaupt nicht lieben. Vorausgesetzt, dass Liebe zu sich selbst und Liebe zu anderen prinzipiell zusammengehören, wie erklärt sich dann das Phänomen „Selbstsucht“, das ja offensichtlich jedes echte Interesse am anderen ausschließt? Der Selbstsüchtige ist nur an sich interessiert, will alles für sich und hat nur am Nehmen Freude, nicht aber am Geben. Seine Umwelt betrachtet er nur daraufhin, was sich aus ihr herausholen lässt. Die Bedürfnisse der anderen interessieren nicht, es fehlt ihm an Achtung vor der Würde des Menschen und seiner Integrität. Er sieht nur sich selbst; alles und jedes beurteilt er nach dem Nutzen, den er für sich hat. Er ist zutiefst liebesunfähig. Beweist dies nicht, dass Interesse für andere und Interesse für sich selbst eine unumgängliche Alternative ist? Es träfe zu, wenn Selbstsucht und Selbstliebe identisch wären. Aber gerade darin besteht der Fehlschluss, der hinsichtlich unseres Problems zu so vielen falschen Folgerungen führen musste. Selbstsucht und Selbstliebe sind nicht identisch, sondern sind in Wirklichkeit Gegensätze. Sich selbst liebt der Selbstsüchtige nicht etwa zu sehr, sondern zu wenig; tatsächlich hasst er sich selber. Dieser Mangel an Liebe und Fürsorge für sich selbst, der nur ein Ausdruck seines Mangels an Produktivität ist, macht ihn leer und unbefriedigt. Er ist zwangsläufig unglücklich und ängstlich darauf bedacht, dem Leben die Befriedigung zu entreißen, die er nicht aus sich selbst erreichen kann. Scheinbar ist er zu sehr um sich selbst besorgt, aber in Wahrheit versucht er damit nur auf erfolglose Weise zu bemänteln und zu kompensieren, dass er unfähig ist, wirklich für sich zu sorgen. Nach Freud ist der Selbstsüchtige narzisstisch, weil er seine Liebe von anderen weggezogen und sie auf sich selber konzentriert hat. Richtig ist, dass selbstsüchtige Menschen niemanden lieben können, aber auch sich selbst gegenüber sind sie keiner Liebe fähig.

Selbstsucht wird klarer verständlich, wenn man sie mit der Besitz ergreifenden Fürsorge vergleicht, die wir zum Beispiel bei einer überbesorgten, herrschsüchtigen Mutter finden. Während sie bewusst glaubt, dass sie ihr Kind ganz besonders liebe, fühlt sie unbewusst eine verdrängte Feindseligkeit gegen das Objekt der Fürsorge. Sie ist nicht deshalb überbesorgt, weil sie ihr Kind zu sehr liebt, sondern weil sie ihre Liebesunfähigkeit zu kompensieren sucht.

Diese Theorie über die Natur der Selbstsucht ergibt sich aus psychoanalytischen Erfahrungen mit neurotischer „Selbstlosigkeit“: Dieses Neurosesymptom wird an zahlreichen Menschen beobachtet, die zwar meistens nicht an dem Symptom selbst leiden, sondern an anderen, damit zusammenhängenden Symptomen, wie Depression, Müdigkeit, Arbeitsunlust, Misserfolg in Liebesbeziehungen usw. Die Selbstlosigkeit wird nicht als „Symptom“ empfunden; häufig ist sie sogar der einzige schöne Charakterzug, auf den der Patient besonders stolz ist. Der „Selbstlose“ will nichts für sich; er [II-086] lebt „nur für andere“ und bildet sich etwas darauf ein, dass er sich selbst nicht wichtig nimmt. Nur kann er nicht verstehen, warum er trotz aller Selbstlosigkeit unglücklich ist und warum ihn das Verhältnis zu seinen Nächsten nicht befriedigt. Er möchte die Beschwerden loswerden, die er als Symptome ansieht - aber nicht seine Selbstlosigkeit. Die Analyse zeigt, dass seine Selbstlosigkeit nicht für sich steht, sondern zu den anderen Symptomen gehört, oft sogar das wichtigste von allen ist: dass seine Fähigkeit, Liebe oder Freude zu empfinden, gelähmt ist; dass er von Feindseligkeit gegen das Leben erfüllt ist und dass sich hinter der Fassade von Selbstlosigkeit eine subtile, aber darum nicht weniger intensive Ich-Bezogenheit verbirgt. Der Betreffende wird nur geheilt, wenn seine Selbstlosigkeit ebenfalls als Symptom aufgedeckt wird, so dass sein Mangel an Produktivität, der sowohl seiner Selbstlosigkeit wie seinen übrigen Beschwerden zugrunde liegt, korrigiert werden kann.

Besonders deutlich wird die Natur der Selbstlosigkeit durch ihre Wirkung auf andere, zum Beispiel - was in unserer Kultur am häufigsten ist - durch die Wirkung, die eine „selbstlose“ Mutter auf ihre Kinder ausübt. Sie bildet sich ein, die Kinder müssten an ihrer Selbstlosigkeit erleben, was Geliebtwerden heißt, und müssten daraus ihrerseits lernen, was Lieben heißt. Das Resultat entspricht jedoch keineswegs den mütterlichen Erwartungen. Die Kinder wirken nicht wie glückliche Menschen, die davon überzeugt sind, dass sie geliebt werden; sie sind ängstlich und gespannt, fürchten den Tadel ihrer Mutter und sind ängstlich darauf bedacht, ihre Erwartungen zu erfüllen. Meist stehen sie unter dem Einfluss der heimlichen Lebensfeindlichkeit ihrer Mutter, die sie eher spüren als erkennen und von der sie allmählich selbst durchdrungen werden. Im Ganzen besteht kein großer Unterschied zwischen der Wirkung einer „selbstlosen“ und der Wirkung einer selbstsüchtigen Mutter; tatsächlich ist die Selbstlosigkeit oft weit schlimmer, weil sie verhindert, dass die Kinder an ihrer Mutter Kritik üben. Sie stehen unter der Verpflichtung, die Mutter nicht zu enttäuschen; unter einer tugendhaften Maske wird ihnen Abneigung gegen das Leben beigebracht. Wer die Wirkung einer von echter Selbstliebe erfüllten Mutter beobachten kann, wird feststellen, dass es für ein Kind keine günstigeren Bedingungen gibt, um zu erfahren, was Liebe, Freude und Glück ist, als wenn es von einer Mutter geliebt wird, die sich selbst liebt.

Nach der Analyse der „Selbstsucht“ und „Selbstliebe“ können wir den Begriff „Selbstinteresse“ (self-interest) behandeln[48], der für die heutige Gesellschaft ein Schlüsselbegriff geworden ist. Er ist noch zweideutiger als die Begriffe „Selbstsucht“ und „Selbstliebe“. Diese Zweideutigkeit wird nur dann ganz verständlich, wenn wir die geschichtliche Entwicklung des Begriffs „Selbstinteresse“ berücksichtigen. Die Frage lautet: Worin besteht das „Selbstinteresse“ und wie kann man es definieren?

Zwei von Grund auf verschiedene Betrachtungsweisen sind möglich. Die eine kann man als „ objektivistisch“ bezeichnen und sie wurde von Spinoza äußerst klar formuliert. Für ihn ist Selbstinteresse - oder das Interesse, „das dem Menschen Nützliche zu suchen“ - identisch mit Tugend. „Je mehr irgendjemand danach strebt und dazu imstande ist, das ihm Nützliche zu suchen, das heißt sein Sein zu erhalten, desto mehr ist er mit Tugend (Tüchtigkeit) ausgestattet; und umgekehrt, sofern jemand es unterlässt, das ihm Nützliche, das heißt sein Sein, zu erhalten, insofern ist er untüchtig“ [II-087] (Spinoza, Ethik, Teil IV, 20. Lehrsatz). Nach Spinoza ist der Mensch an der Erhaltung seines Daseins interessiert und - was damit identisch ist - an der Verwirklichung der ihm gegebenen Möglichkeiten. Dieser Begriff von „Selbstinteresse“ ist insofern „objektivistisch“, als er nicht berührt, was ein Mensch subjektiv an Interesse empfindet, sondern was objektiv das Wesen des Menschen ausmacht. Der Mensch hat nur ein einziges wirkliches Interesse: die vollkommene Entfaltung der Möglichkeiten, die ihm als menschlichem Wesen gegeben sind. So wie man einen anderen Menschen und seine wahren Bedürfnisse kennen muss, um ihn zu lieben, so muss man auch sich selbst kennen, um zu verstehen, wo die eigenen Interessen liegen und wie ihnen gedient werden kann. Daher wird man sich über seine wahren Interessen täuschen, wenn man sich selbst und seine wirklichen Bedürfnisse nicht kennt. Die Wissenschaft vom Menschen ist also die Basis, um bestimmen zu können, worin dieses Selbstinteresse besteht.

Der Begriff „Selbstinteresse“ wurde im Laufe der letzten drei Jahrhunderte so eingeengt, dass er heute fast das Gegenteil von dem bedeutet, was Spinoza darunter verstand. Selbstinteresse wurde identisch mit Selbstsucht, mit Interesse an materiellen Gewinnen, an Macht und Erfolg. Es galt nicht mehr als Synonym für Tugend, im Gegenteil, seine Überwindung wurde zum sittlichen Gebot.

Möglich wurde eine solche Erwartung nur, weil die objektivistische durch eine falsche subjektivistische Betrachtungsweise verdrängt wurde. Man leitete Selbstinteresse nicht mehr vom Wesen des Menschen und seinen Bedürfnissen ab - und demzufolge wurde auch nicht mehr in Erwägung gezogen, dass man sich in der Auslegung des Begriffs irren könnte. Stattdessen bürgerte sich die Auffassung ein, dass dasjenige, was ein Mensch als sein Interesse empfindet, tatsächlich auch seinem wahren Selbstinteresse entspreche.

Diese moderne Auffassung ist eine höchst merkwürdige Mischung zweier sich widersprechender Begriffe: der Calvinischen und der Lutherischen Definition einerseits, und andererseits der Definition, die von allen fortschrittlichen Denkern seit Spinoza angewendet wurde. Calvin und Luther lehren, der Mensch müsse seinen „Eigennutz“ unterdrücken und sich nur als Werkzeug Gottes empfinden. Fortschrittliche Denker dagegen lehren, der Mensch dürfe seine Bestimmung nur in sich suchen und dürfe sich nicht als Mittel einer ihn transzendierenden Macht ansehen. Folgendes geschah: Man akzeptierte den Inhalt der Calvinischen Doktrin, ließ aber deren religiöse Formulierung fallen. Der Mensch machte sich zwar nicht zum Instrument Gottes, aber zu einem Instrument der Wirtschaft oder des Staates. Er fand sich mit der Rolle eines Werkzeugs ab, nicht für Gott, sondern für den industriellen Fortschritt; er arbeitete und häufte Geld an, aber gerade nicht, um es auszugeben und sich des Lebens zu erfreuen, sondern um es zu sparen, zu investieren und erfolgreich zu sein. An die Stelle einer mönchischen Askese trat, wie Max Weber es bezeichnete, eine innerweltliche Askese, die Freude und persönliches Glück nicht mehr als Lebensziel betrachtete. Diese Haltung entfernte sich jedoch mehr und mehr von der Calvinischen und vermischte sich mit dem fortschrittlichen Begriff von Selbstinteresse, wonach der Mensch das Recht und die Verpflichtung hat, die Verfolgung seines Selbstinteresses zur höchsten Norm seines Lebens zu machen. Die Folge ist, dass der heutige Mensch [II-088] nach den Prinzipien der Selbstverleugnung lebt, aber in den Begriffen des Selbstinteresses denkt. Er glaubt in seinem Interesse zu handeln, wenn er in Wirklichkeit nur Geld und Erfolg anstrebt. Er täuscht sich über die Tatsache hinweg, dass seine wichtigsten menschlichen Möglichkeiten unverwirklicht bleiben und dass er sich selbst verliert, während er das angeblich Beste sucht.

Dieser Bedeutungswandel des Begriffes „Selbstinteresse“ ist eng mit dem Wandel der Vorstellung von sich selbst verknüpft. Der mittelalterliche Mensch sah sich als Glied der sozialen und religiösen Gemeinschaft; in Verbindung mit ihr empfand er sich als er selbst, solange er sich als Individuum noch nicht ganz aus dieser Gruppe gelöst hatte. Mit Beginn der Neuzeit sah sich der Mensch vor die Aufgabe gestellt, sich selbst als ein unabhängiges Wesen erleben zu müssen; damit wurde die eigene Identität zum Problem. Im Laufe des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts wurde das Verständnis von sich selbst mehr und mehr eingeengt. Man nahm an, dass man sich durch den Besitz, den man habe, definiere. Die Definition lautete nicht mehr „Ich bin, was ich denke“, sondern „Ich bin, was ich habe“. Und das hieß: „Ich bin, was ich besitze.“[49]

Unter dem immer stärker werdenden Einfluss des Marktes wandelte sich das Selbstverständnis des Menschen in den letzten Generationen von der Vorstellung „Ich bin, was ich besitze“ zur Vorstellung „Ich bin, wie ihr mich wünscht“.[50] Derjenige, der in einem marktwirtschaftlichen System lebt, empfindet sich selber als Ware. Er ist von sich abgetrennt, ähnlich wie der Verkäufer von der Ware, die er an den Mann bringen will. Gewiss ist er an sich selber interessiert, ja in höchstem Maße an seinem Markt-Erfolg interessiert, aber „ er“ ist es nur als Manager, Auftraggeber, Verkäufer und [II-089] - Ware. Sein Selbstinteresse ist das Interesse, das er sich selbst als einem Gegenstand entgegenbringt: Er stellt sich selbst an und gebraucht sich selbst als eine Ware, die den höchstmöglichen Preis auf dem „Personal-Markt“ erzielen soll.

Nirgends ist dieser Fehlbegriff von Selbstinteresse im modernen Menschen klarer ausgesprochen als in Ibsens Peer Gynt. Peer glaubt, dass er sein ganzes Leben den Interessen seines Ichs widme. Er beschreibt dieses Ich (in der 1. Szene des 4. Aktes) als:

Das Gyntsche Ich - das ist das Heer
Von Wünschen, Lüsten und Begehr -
Das Gyntsche Ich, das ist der Reihn
Von Forderungen, Phanthasien -
Kurz alles, was just meine Brust hebt
Und macht, dass Gynt als solcher just lebt.

Am Ende seines Lebens erkennt er, dass er sich selbst betrogen hat: dass er, während er dem Grundsatz des „Selbstinteresses“ folgte, die Interessen seines wahren Ich nicht erkannte und damit das Ich verlor, das er hatte bewahren wollen. Er war niemals er selbst und wird nun wie ein Rohstoff in den Schmelztiegel zurückgeworfen. Er entdeckt, dass er gemäß dem Grundsatz der Trolle gelebt hat: „Sei du dir genug“, was das Gegenteil des menschlichen Prinzips „Sei dir selber treu“ ist. Es packt ihn das Entsetzen vor der Nichtigkeit, dem er, da er nicht er selbst ist, verfallen muss, sobald ihm Erfolg und Besitz, die dieses Pseudo-Ich stützen, genommen und ernsthaft in Frage gestellt werden. Er ist gezwungen zu erkennen, dass er bei dem Versuch, den ganzen Reichtum der Welt zu gewinnen und unablässig das zu verfolgen, was er als sein Interesse ansah, seine Seele verlor - oder wie ich es lieber ausdrücken würde - sein Selbst (self).

Der entstellte Begriff des Selbstinteresses drang in die heutige Gesellschaft ein, und hatte zur Folge, dass die Demokratie von den verschiedensten Formen totalitärer Ideologien angegriffen wurde. Sie bezeichnen den Kapitalismus als unmoralisch, weil er vom Prinzip der Selbstsucht beherrscht sei; dagegen betonen sie die moralische Überlegenheit des eigenen Systems, da es die selbstlose Unterwerfung des Einzelnen unter die „höheren“ Zwecke des Staates, der Rasse oder des „sozialistischen Vaterlandes“ verlange. Viele werden von dieser Kritik beeindruckt, denn sie fühlen, dass selbstsüchtige Interessen kein Glück bringen, und sind - wenn auch vage - von dem Wunsch nach stärkerer Solidarität und gegenseitigem Verantwortungsgefühl unter den Menschen beseelt.

Wir brauchen nicht viel Zeit zu verlieren, um diese totalitären Behauptungen zu widerlegen. Erstens sind sie unaufrichtig, da sie die krasseste Selbstsucht einer „Elite“ verdecken wollen, die die Macht über die Majorität der Bevölkerung erobern und sichern will. Ihre Ideologie hat nur den Zweck, diejenigen zu täuschen, die der Kontrolle dieser Elite unterstellt sind, um damit ihre Ausbeutung und Ausnutzung zu erleichtern. Außerdem tun die totalitären Ideologien so, als ob sie die Verkörperung der Selbstlosigkeit wären, wenn sie in Wirklichkeit den Grundsatz rücksichtsloser Selbstsucht auf die Gesamtheit des Staates übertragen. Jeder hat sich dem [II-090] Allgemeinwohl unterzuordnen, aber dem Staat ist es erlaubt, seine Interessen ohne Rücksicht auf das Wohl anderer Völker durchzusetzen. Doch ganz abgesehen davon, dass der Totalitarismus mit seinen Doktrinen nur die extremste eigene Selbstsucht verheimlichen will, stellen diese - in weltlicher Form - ein Wiederaufleben der religiösen Idee dar, die den Menschen von seiner eigenen Machtlosigkeit und seinem Unvermögen überzeugte und daraus folgend sein Bedürfnis nach Unterwerfung hervorrief: eine Idee, deren Überwindung der Kern des modernen politischen und geistigen Fortschritts war. Die autoritären Ideologien bedrohen jedoch nicht nur die kostbarsten Errungenschaften des Abendlandes, die Achtung vor der Einmaligkeit und Würde des Individuums; sie verbauen auch den Weg zu konstruktiver Kritik an der modernen Gesellschaft und damit den Weg zu nötigen Veränderungen. Das Versagen unserer Kultur liegt nicht im Individualismus und nicht in dem Glauben, dass moralische Tugend und das Verfolgen des Selbstinteresses identisch sind, sondern in der Entstellung dessen, was Selbstinteresse bedeutet; nicht darin, dass sich die Menschen zu sehr mit ihren Selbstinteressen beschäftigen, sondern dass sie sich nicht genug mit den Interessen ihres wahren Ich beschäftigen; nicht darin, dass sie zu selbstsüchtig sind, sondern dass sie sich selbst nicht genug lieben.

Wurzeln die Gründe dafür, dass einer unrichtigen Auffassung von Selbstinteresse nachgelebt wird, tatsächlich so tief in der heutigen Gesellschaft, wie wir es hier andeuteten, dann würden nur sehr geringe Aussichten auf eine Veränderung der Bedeutung des Begriffes Selbstinteresse bestehen - wenn man nicht auf besondere Faktoren hinweisen könnte, die auf eine Veränderung hinwirken.

Der vielleicht wichtigste Faktor ist die innere Unzufriedenheit, die der heutige Mensch in Bezug auf die Resultate seines „Selbstinteresses“ empfindet. Die Religion des Erfolges bricht zusammen und wird zur bloßen Fassade. Der soziale Spielraum wird immer begrenzter. Die gescheiterten Hoffnungen auf eine bessere Welt nach dem Ersten Weltkrieg, die Wirtschaftskrise gegen Ende der zwanziger Jahre, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auftauchende Drohung eines neuen vernichtenden Krieges und die aus dieser Bedrohung entstehende tiefe Unsicherheit erschüttern das Vertrauen in die bisherige Form des Selbstinteresses. Auch abgesehen von diesen Faktoren vermochte die Vergötterung des Erfolgs das unausrottbare Streben des Menschen nicht zu befriedigen, das ihn danach suchen lässt, er selbst zu sein. Wie so viele Phantasien und Tagträume erfüllte der Erfolg seine Funktion nur so lange, als sein Reiz stark genug war, um den Menschen vom Nachdenken abzuhalten. Immer größer wird die Zahl derjenigen, denen alles, was sie tun, sinnlos erscheint. Noch stehen sie unter dem Zauber der Schlagworte, die den Glauben an ein irdisches Paradies von Glanz und Erfolg verkünden. Aber der Zweifel, diese fruchtbare Voraussetzung für jeden Fortschritt, hat sie zu quälen begonnen und in ihnen die Frage geweckt, worin das wahre Selbstinteresse des Menschen besteht.

Diese innere Desillusionierung und die Bereitschaft zu einer Neubewertung des Selbstinteresses könnte sich kaum auswirken, wenn die wirtschaftlichen Bedingungen unseres Kulturraums es nicht begünstigten. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Konzentration aller menschlichen Energien auf Arbeit und Erfolg eine der notwendigen Voraussetzungen für die enormen Leistungen des modernen Kapitalismus war; [II-091] jetzt ist ein Stadium erreicht, wo das Problem der Produktion im wesentlichen gelöst und die Organisation des gesellschaftlichen Lebens zur wichtigsten Aufgabe der Menschheit geworden ist. Der Mensch hat solche mechanischen Energien erschlossen, die ihn von der Notwendigkeit befreien, seine ganzen menschlichen Energien für die materiellen Lebensbedingungen einzusetzen. Einen großen Teil seiner Energien könnte er jetzt der Aufgabe des Lebens selbst widmen.

Erst wenn diese beiden Voraussetzungen - die subjektive Enttäuschung über ein kulturell bedingtes Ziel und die sozio-ökonomische Basis für dessen Änderung - vorhanden sind; kann vernünftige Einsicht als dritter entscheidender Faktor wirksam werden. Dies gilt für gesellschaftliche und psychologische Veränderungen im allgemeinen und für den Bedeutungswandel des Begriffes Selbstinteresse im Besonderen. Die Zeit ist reif, das narkotisierte Streben nach den wirklichen Interessen des Menschen erwacht wieder zum Leben. Sobald der Mensch erfasst, was sein Selbstinteresse ist, hat er den ersten und schwierigsten Schritt zur Verwirklichung getan.

b) Das Gewissen - der Ruf des Menschen zu sich selbst

Wer ein Übel, das er getan hat, immerzu beredet und besinnt, hört nicht auf, das Gemeine, das er tat, zu denken, und was man denkt, darin liegt man, mit der Seele liegt man ganz und gar darin, was man denkt - so liegt er doch in der Gemeinheit: der wird gewiss nicht umkehren können, denn sein Geist wird grob und sein Herz stockig werden, und es mag noch die Schwermut über ihn kommen. Was willst du? Rühr’ her den Kot, rühr’ hin den Kot, bleibt’s doch immer Kot. Ja gesündigt, nicht gesündigt, was hat man im Himmel davon? In der Zeit, wo ich darüber grüble, kann ich doch Perlen reihen, dem Himmel zur Freude. Darum heißt es: „Weiche vom Bösen und tue das Gute“ - wende dich vom Bösen ganz weg, sinne ihm nicht nach und tue das Gute. Unrechtes hast du getan? Tue Rechtes ihm entgegen. (Jizchak Meir von Ger, zit. nach M. Buber, 1949, S. 826 f.)

Kein stolzeres Bekenntnis gibt es für einen Menschen, als wenn er sagt: „Ich handle so, wie mein Gewissen es von mir verlangt.“ Wie die Geschichte lehrt, gab es seit jeher Menschen, die gegen jeden Zwang, der ihnen auferlegt wurde, damit sie ihr Wissen und ihren Glauben aufgäben, die Grundsätze der Gerechtigkeit, Liebe und Wahrheit verteidigten. Die Propheten, die den Untergang ihres Landes vorhersagten, weil Korruption und Rechtlosigkeit herrschten, handelten ihrem Gewissen gemäß. Sokrates zog den Tod einem Zustand vor, in dem er durch einen Kompromiss mit der Wahrheit sein Gewissen verraten hätte. Gäbe es kein Gewissen, so wäre die Menschheit auf ihrem gefährlichen Weg schon längst im Schlamm versunken.

Aber auch andere behaupten, ihr Tun werde durch das Gebot ihres Gewissens bestimmt: die Männer der Inquisition, die gewissenstreue Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannten; oder die räuberischen Kriegsstifter, die im Namen ihres Gewissens zu handeln vorgaben, wenn sie rücksichtslos ihrer Machtgier folgten. Es gibt [II-092] wohl kaum eine Grausamkeit oder Gleichgültigkeit gegen andere oder sich selbst, die nicht als Gebot des Gewissens rationalisiert wurde - woraus hervorgeht, wie gebieterisch das Gewissen beruhigt zu werden verlangt.

Das Gewissen ist in der Vielzahl seiner empirischen Manifestationen tatsächlich etwas Verwirrendes. Sind diese verschiedenen Arten des Gewissens immer ein und dasselbe Gewissen, das sich lediglich seinem Gehalt nach unterscheidet? Sind es verschiedene Phänomene, denen nur die Bezeichnung „Gewissen“ gemeinsam ist? Oder sollte die Annahme, es gäbe ein Gewissen, sich als unrichtig erweisen, wenn wir das Phänomen empirisch als ein Problem der menschlichen Motivation untersuchen?

Die philosophische Literatur gibt uns für die Beantwortung dieser Fragen manchen Anhaltspunkt. Cicero und Seneca sprechen vom Gewissen als einer inneren Stimme, die unser Verhalten in Bezug auf dessen ethischen Wert anklagt oder verteidigt. Die Stoa verbindet es mit der Selbsterhaltung (auf sich selber achten), und bei Chrysipp ist es als Bewusstwerdung der Harmonie mit sich selbst beschrieben. Die Scholastik wiederum betrachtete das Gewissen (conscientia) als Vernunftgesetz (lex rationis), das dem Menschen letztlich von Gott gegeben ist. Es wird von der synderesis unterschieden: Während letztere als allgemeines Wertbewusstsein einen habitus naturalis bezeichnet, mit dem der Mensch fähig wird, etwas zu beurteilen und das Rechte zu wollen, bedeutet conscientia die Anwendung des allgemeinen Wertbewusstseins auf die einzelne menschliche Handlung. Der Begriff synderesis[51] wurde zwar von neueren Schriftstellern fallengelassen, aber der Ausdruck „Gewissen“ wurde häufig im Sinne der scholastischen synderesis gebraucht, nämlich als das innere Gewahrwerden moralischer Prinzipien. Englische Schriftsteller betonten den starken Anteil, den das Gefühl bei diesem Gewahrwerden hat. Shaftesbury zum Beispiel setzte beim Menschen einen „moralischen Sinn“ voraus, einen Sinn für Recht und Unrecht; diese gefühlsmäßige Reaktion beruhe auf der Tatsache, dass der menschliche Geist mit der kosmischen Ordnung harmonisch verbunden sei. Butler behauptete, moralische Grundsätze seien ein Bestandteil der menschlichen Konstitution, und erklärte das Gewissen als den dem Menschen innewohnenden Willen zu guten Taten. Nach Adam Smith sind die Gefühle, die wir für andere empfinden, und unsere Reaktion auf deren Billigung oder Missbilligung der Kern des Gewissens. Kant abstrahierte das Gewissen von allen spezifischen Inhalten und setzte es mit dem Pflichtgefühl als solchem gleich. Nietzsche, ein bissiger Kritiker des religiösen „schlechten Gewissens“, sah das echte Gewissen in der Selbstbejahung, in der Fähigkeit, „zu sich selber Ja zu sagen“. Max Scheler hielt das Gewissen für ein Merkmal vernunftgemäßen Urteilens, jedoch eines gefühls- und nicht eines verstandesbedingten Urteilens.

Wichtige Probleme bleiben trotz dieser Antworten unberührt: Probleme der Motivation, für die uns die Fakten psychoanalytischer Untersuchung einige Erklärungsmöglichkeiten geben könnten. Im Folgenden werden wir zwischen „autoritärem“ und „humanistischem“ Gewissen unterscheiden, eine Differenzierung, die der Unterscheidung zwischen autoritärer und humanistischer Ethik folgt. [II-093]

1. Das autoritäre Gewissen

Das autoritäre Gewissen ist die Stimme einer nach innen verlegten äußeren Autorität, also der Eltern, des Staates oder was immer in einer bestimmten Kultur als Autorität gelten mag. Solange das Verhältnis des Menschen zur Autorität äußerlich bleibt und keine moralischen Sanktionen daraus abgeleitet werden, kann man kaum von einem Gewissen sprechen. Ein solches Verhalten wird nur von Nützlichkeitserwägungen, von der Furcht vor Strafe oder der Hoffnung auf Belohnung bestimmt und ist immer von der unmittelbaren Gegenwart dieser Autoritäten abhängig: davon, dass diese Autoritäten wissen, was man tut, und dass sie die vermeintliche oder wirkliche Macht haben zu strafen oder zu belohnen. Was die Menschen als ein dem Gewissen entstammendes Schuldgefühl empfinden, ist oft nur Furcht vor der Autorität. Sie fühlen im Grunde nicht Schuld, sondern Angst. Bei der Bildung des Gewissens werden jedoch Autoritäten wie Eltern, Kirche, Staat, öffentliche Meinung bewusst oder unbewusst als ethische und moralische Gesetzgeber angesehen, deren Gesetze und Sanktionen man annimmt und sie damit internalisiert. So werden die Gesetze und Sanktionen der äußeren Autorität zu einem Teil des Menschen selber. Man fühlt sich nicht mehr verantwortlich gegenüber etwas, das außerhalb liegt, sondern gegenüber etwas, das in einem selbst ist: gegenüber seinem Gewissen. Das Gewissen ist ein wirksamerer Regulator des Verhaltens als alle Furcht vor äußeren Autoritäten. Denn vor der äußeren Autorität kann man davonlaufen, vor sich selbst jedoch nicht und daher auch nicht vor einer nach innen verlegten Autorität, die zu einem Teil des Selbst geworden ist. Das autoritäre Gewissen entspricht dem, was Freud als Über-Ich beschrieben hat. Wie ich noch zeigen werde, ist dies aber nur eine Form des Gewissens, möglicherweise sogar nur eine Vorstufe in der Entwicklung des Gewissens.

Während das autoritäre Gewissen sich von der bloßen Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Belohnung unterscheidet, da das Verhältnis zur Autorität nach innen verlegt wurde, ist der Unterschied in anderen wesentlichen Punkten nicht sehr groß. Die wichtigste Gemeinsamkeit besteht darin, dass auch die Vorschriften des autoritären Gewissens nicht durch eigene Werturteile bestimmt werden, sondern ausschließlich dadurch, dass seine Forderungen und Tabus durch die Autorität selbst ausgesprochen werden. Sind diese Vorschriften zufällig gut, so wird das Gewissen das Tun des Menschen zum Guten lenken. Diese Vorschriften wurden aber nicht deswegen Gewissensvorschriften, weil sie gut sind, sondern weil es Vorschriften sind, die von der Autorität gesetzt wurden. Sie würden auch dann vom Gewissen aufgenommen, wenn sie schlecht wären. Jemand, der beispielsweise an Hitler glaubte, bildete sich ein, nach seinem eigenen Gewissen zu handeln, wenn er menschenunwürdige Taten beging.

Aber auch wenn die Beziehung zur Autorität internalisiert wurde, darf man sich dies nicht so vorstellen, als ob damit das Gewissen vollständig von der äußeren Autorität getrennt wäre. Eine vollständige Trennung, wie wir sie bei Zwangsneurosen beobachten, ist eher die Ausnahme als die Regel. Normalerweise fühlt sich ein Mensch mit autoritärem Gewissen sowohl an die äußere Autorität als auch an ihr inneres Echo gebunden. Es besteht also eine ständige Wechselwirkung zwischen beiden. Die Gegenwart einer äußeren Autorität, die einem Menschen Furcht einflößt, ist die Quelle, [II-094] aus der die nach innen verlagerte Autorität, das Gewissen, ständig gespeist wird. Wenn die Autorität nicht wirklich existierte, das heißt, wenn der Mensch sie nicht zu fürchten brauchte, würde das autoritäre Gewissen schwächer werden und an Macht verlieren. Zugleich aber beeinflusst das Gewissen auch die Vorstellung, die sich der Mensch von der äußeren Autorität macht. Denn ein solches Gewissen wird stets von dem Bedürfnis gefärbt, etwas zu bewundern, ein Ideal zu haben (diese Seite hat Freud besonders in seiner frühen Auffassung vom „Ich-Ideal“ betont), nach etwas Vollkommenem zu streben, und diese Vorstellung der Vollkommenheit wird auf die äußeren Autoritäten übertragen. So wird das Bild dieser Autoritäten umgekehrt durch den Aspekt des „Ideals“ beim Gewissen gefärbt. Das ist von großer Bedeutung, weil die Vorstellung, die ein Mensch von den Eigenschaften der Autorität hat, von deren tatsächlichen Eigenschaften abweicht; sie wird mehr und mehr idealisiert und infolgedessen immer geeigneter, wieder nach innen zurückverlegt zu werden. (Vgl. die detaillierte Analyse der Beziehung zwischen Gewissen und Autorität in Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil (1936a, GA I, S. 145 f.]). Sehr oft hat diese Wechselwirkung von Internalisierung und Projektion einen unerschütterlichen Glauben an den Idealcharakter der Autorität zur Folge, eine Überzeugung, die gegen jeden ihr widersprechenden empirischen Beweis immun ist.

Die Inhalte des autoritären Gewissens werden aus Geboten und Tabus der Autorität abgeleitet. Seine Stärke wurzelt in Angstgefühlen vor der Autorität und in Bewunderung für sie. Ein gutes Gewissen ist das Bewusstsein, der (äußeren und internalisierten) Autorität zu gefallen, ein schlechtes Gewissen, ihr zu missfallen. Das gute (autoritäre) Gewissen ruft ein Gefühl des Wohlbehagens und der Sicherheit hervor, denn es bedeutet die Zustimmung seitens der Autorität und eine nähere Verbindung zu ihr. Das schlechte Gewissen ruft Furcht und Unsicherheit hervor, weil ein Handeln gegen den Willen der Autorität die Gefahr einschließt, bestraft oder - was weit schlimmer ist - von der Autorität verlassen zu werden.

Um diese Feststellung in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen, müssen wir uns nochmals die Charakterstruktur des autoritären Menschen vergegenwärtigen. Innere Sicherheit fand er, indem er symbiotisch zum Teil einer Autorität wurde, die er als größer und stärker empfand als sich selbst. Solange er - auf Kosten der eigenen Integrität - ein Teil dieser Autorität ist, glaubt er, an ihrer Stärke teilzuhaben. Sein Gefühl der Sicherheit und Identität hängt von dieser Symbiose ab. Von der Autorität verstoßen zu werden, ist dasselbe wie ins Leere gestoßen zu werden und dem Schrecken des Nichts ins Auge zu sehen. Alles erscheint ihm besser als diese Verlassenheit. Gewiss bedeutet ihm die Liebe und Zustimmung der Autorität die größte Befriedigung, aber selbst Strafe ist besser, als verstoßen zu sein, denn auch die strafende Autorität hält noch zu ihm. Hat er „gesündigt“, so ist die Bestrafung doch wenigstens ein Beweis, dass die Autorität sich noch immer um ihn kümmert. Die Sünde wird getilgt, indem er die Strafe hinnimmt, und die Sicherheit des Zugehörigkeitsgefühls ist wieder hergestellt.

Die biblische Erzählung von Kains Verbrechen und Bestrafung ist eine klassische Schilderung der Tatsache, dass der Mensch das Verstoßenwerden mehr fürchtet als die Strafe. Gott nahm Abels Opfer an, nicht aber Kains Opfer. Ohne dass Gott einen Grund angab, fügte er Kain das Schlimmste zu, was es für einen Menschen gibt, der [II-095] ohne das Wohlwollen einer Autorität nicht leben kann. Gott schlug Kains Opfer aus und verstieß ihn damit. Kain konnte das nicht ertragen. So tötete er den Rivalen, der ihm das Unentbehrliche genommen hatte. Worin bestand Kains Strafe? Er wurde nicht getötet, ihm widerfuhr kein Leid, vielmehr verbot Gott jedermann, ihn zu töten (das Kainsmal sollte ihn schützen). Er wurde ausgestoßen. Das war seine Strafe, und nachdem Gott ihn verstoßen hatte, wurde er auch von seinen Mitmenschen verstoßen. Und Kain sagt: „Zu groß ist meine Schuld, als dass man sie wegnehmen könnte“ (Gen 4,13).

Bisher habe ich mich mit der formalen Struktur des autoritären Gewissens beschäftigt. Ich habe dargelegt, dass das gute Gewissen das Bewusstsein bedeutet, den (äußeren und verinnerlichten) Autoritäten zu gefallen; das schlechte Gewissen ist das Bewusstsein, ihnen zu missfallen. Worin bestehen nun die Inhalte des guten oder schlechten autoritären Gewissens? Es ist augenscheinlich, dass jede Übertretung einer von der Autorität gegebenen Vorschrift Ungehorsam und demzufolge auch Schuld ist, ob diese Vorschriften nun gut oder schlecht sind; aber es gibt auch Vergehen, die für die autoritäre Situation selbst eigentümlich sind.

Das schlimmste Vergehen in der autoritären Situation ist Auflehnung gegen die Herrschaft der Autorität. Ungehorsam wird zur „Kardinalsünde“, Gehorsam zur Kardinaltugend. Gehorsam schließt die Anerkennung der überlegenen Macht und Weisheit der Autorität ein, ihr Recht, entsprechend ihren Machtansprüchen zu befehlen, zu belohnen oder zu strafen. Die Autorität fordert Unterwerfung, und zwar nicht nur aus Furcht vor ihrer Macht, sondern auch aus der Überzeugung ihrer moralischen Überlegenheit und ihres Rechtes. Der Respekt, den man der Autorität schuldet, schließt jeden Zweifel an ihr aus. Die Autorität mag sich zu Erklärungen ihrer Befehle und Verbote, ihrer Belohnungen und Strafen herablassen oder von Erklärungen absehen - aber das Individuum hat niemals das Recht, eine Frage zu stellen oder Kritik zu üben. Sollte eine Kritik an der Autorität begründet erscheinen, so kann der Fehler nur bei dem der Autorität unterstellten Individuum liegen, und die bloße Tatsache, dass dieses Individuum Kritik zu üben wagt, ist eo ipso der Beweis seiner Schuld.

Die Pflicht, eine Überlegenheit der Autorität anzuerkennen, schließt eine Reihe von Verboten ein. Das umfassendste ist das Tabu, sich der Autorität gegenüber als gleichwertig zu empfinden oder das Gefühl zu haben, dass man es werden könnte, denn das widerspräche ihrer unvergleichlichen Überlegenheit und Einmaligkeit. Adam und Evas Sünde bestand darin, dass sie Gott gleich zu werden versuchten. Für diese Herausforderung wurden sie bestraft, und zugleich sollte die Strafe vor einer Wiederholung abschrecken: Deshalb wurden sie aus dem Garten Eden verbannt.[52] In allen autoritären Systemen wird die Autorität als etwas dargestellt, das sich von den Untergebenen von Grund auf unterscheidet. Sie hat Kräfte, die kein anderer besitzt: Magie, Weisheit, Stärke. Die ihr Unterworfenen besitzen nichts Gleichwertiges. [II-096]

Gleichgültig, welche Vorrechte die Autorität besitzt, ob sie der Beherrscher des Universums oder ein vom Schicksal gesandter einzigartiger Führer ist, die prinzipielle Ungleichheit zwischen ihr und dem Menschen ist die wichtigste Grundlage des autoritären Gewissens. Ein besonderes Kennzeichen ihrer Einmaligkeit besteht in dem Privileg, die einzige Instanz zu sein, die keinem anderen Willen zu folgen braucht. Sie hat ihren eigenen Willen; sie ist nicht Mittel, sondern Selbstzweck; sie schafft, wird aber nicht geschaffen. Für die autoritäre Orientierung ist die Kraft, zu wollen und zu schaffen, das Privileg der Autorität. Die Untertanen sind Mittel zu den Zwecken der Autorität, sind folglich deren Eigentum und können entsprechend benützt werden. Die Überlegenheit der Autorität wird in Frage gestellt, sobald das Geschöpf nicht mehr nur Gegenstand der Schöpfung sein, sondern selber Schöpfer werden will.

Aber der Mensch wollte von jeher produktiv und schöpferisch sein, weil Produktivität die Quelle seiner Stärke, seiner Freiheit und seines Glückes ist. In dem Maße jedoch, als er sich von den ihn transzendierenden Mächten als abhängig empfindet, ruft seine Produktivität, der Ausdruck seines Willens, Schuldgefühle in ihm hervor. Die Menschen von Babel wurden bestraft, weil sie mit der Kraft einer vereinigten Menschheit eine Stadt bauen wollten, die bis an den Himmel reichte. Prometheus wurde an den Felsen geschmiedet, weil er den Menschen das Geheimnis des Feuers verriet: Das Feuer symbolisiert Produktivität. Der Stolz auf die Macht und Stärke des Menschen wurde von Luther und Calvin als sündiger Hochmut gegeißelt; politische Diktatoren verdammten ihn als verbrecherischen Individualismus. Der Mensch suchte die Götter für das Verbrechen seiner Produktivität durch Opfer zu versöhnen. Er gab ihnen das Beste der Ernte oder der Herde. Auch die Beschneidung ist ein solcher Versöhnungsversuch; ein Teil des Phallus, der das Symbol der männlichen Schöpferkraft ist, wird Gott geopfert, damit der Mensch das Recht behält, sich seiner zu bedienen. Außer den Opfern, mit denen der Mensch - wenn auch nur symbolisch - das Monopol der Götter über die Produktivität anerkennt, zügelt er seine eigenen Kräfte durch Schuldgefühle. Sie wurzeln in der autoritären Überzeugung, dass ein eigener Wille und der Gebrauch der eigenen schöpferischen Kraft einer Rebellion gegen die Vorrechte der Autorität gleichkommt, die als einzige das Recht hat, Schöpfer zu sein, während die Pflicht des Untertanen darin besteht, „Geschöpf“ zu sein. Ein solches Schuldgefühl schwächt den Menschen, vermindert seine Kraft und verstärkt den Wunsch nach Unterwerfung, um damit zu sühnen, dass er sein „eigener Schöpfer und Bildner“ sein wollte.

Paradoxerweise geht das autoritäre schlechte Gewissen auf das Gefühl der Stärke, der Unabhängigkeit, der Produktivität und des Stolzes zurück, während das autoritäre gute Gewissen dem Gefühl des Gehorsams, der Abhängigkeit, der Ohnmacht und Sündhaftigkeit entspringt. Der Apostel Paulus, Augustinus, Luther und Calvin haben dieses gute Gewissen in nicht misszuverstehender Weise beschrieben. Sich der eigenen Ohnmacht bewusst zu sein, sich zu verachten, das Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und Schlechtigkeit auf sich lasten zu fühlen, sind Zeichen der Tugend. Um tugendhaft zu sein, muss man daher ein schlechtes Gewissen haben, denn das schlechte Gewissen ist ein Symptom, dass der Mensch die Autorität fürchtet und vor ihr erzittert. Das paradoxe Resultat ist also, dass das (autoritäre) schlechte Gewissen [II-097] zur Vorbedingung des „guten“ Gewissens wird, während das gute Gewissen, falls man ein solches hätte, ein Schuldgefühl auslösen müsste.

Die Internalisierung der Autorität schließt zweierlei ein. Einmal, dass der Mensch sich der Autorität unterwirft, wie gerade aufgezeigt wurde; zum anderen, dass er die Rolle der Autorität selbst übernimmt, indem er sich mit der gleichen Strenge und Grausamkeit behandelt. Der Mensch wird also nicht nur zum gehorsamen Sklaven, sondern auch zum strengen Zuchtmeister, der sich wie seinen eigenen Sklaven behandelt. Die letzte Folgerung ist für das Verständnis des psychologischen Mechanismus des autoritären Gewissens äußerst wichtig. Der in seiner Produktivität mehr oder weniger gehemmte autoritäre Charakter entwickelt ein bestimmtes Maß an Sadismus und Destruktivität. (Vgl. F. Nietzsche, 1910a, S. 378-381.) Diese destruktiven Energien werden entladen, indem man die Rolle der Autorität übernimmt und sich selbst als Sklaven beherrscht. In seiner Analyse des Über-Ichs gab Freud eine Beschreibung dieser destruktiven Komponenten. Sie wurde durch klinische Beobachtungen, die von anderen gemacht wurden, hinlänglich bestätigt. Es ist unwichtig, ob man nun annimmt (wie Freud das in seinen früheren Schriften tat), der Ursprung der Aggression sei in einem unbefriedigten Triebleben zu suchen, oder - wie er später annahm - im „Todestrieb“. Wichtig aber ist, dass das autoritäre Gewissen von Destruktivität gegen die eigene Person genährt wird; destruktive Tendenzen können sich daher unter der Maske der Tugend auswirken. Die psychoanalytische Forschung - insbesondere die Forschung über den Zwangscharakter - vermittelte entscheidende Einblicke, welche Grausamkeit und Destruktivität vom Gewissen ausgehen kann und wie es einem Menschen ermöglicht, verdrängte Hassgefühle auszuleben, indem er sie gegen sich selbst richtet. Freud wies überzeugend die Richtigkeit der Behauptung von Nietzsche nach, Freiheitsberaubung führe dazu, dass die menschlichen Triebe „sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst“ wendeten. „Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung - Alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des ‘schlechten Gewissens’“ (F. Nietzsche, 1910a, S. 380).

Die meisten politischen und religiösen Systeme, die es in der Geschichte der Menschheit gegeben hat, könnten als Illustrationen des autoritären Gewissens dienen. Da ich in meinem Buche Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 215-392) Protestantismus und Faschismus bereits unter diesem Gesichtspunkt analysiert habe, werde ich hier keine historischen Beispiele anführen, sondern mich auf die Untersuchung einiger Aspekte des autoritären Gewissens beschränken, die man in unserer Kultur im Eltern-Kind-Verhältnis beobachten kann.

Hinsichtlich unserer eigenen Kultur mag die Anwendung des Begriffs „autoritäres Gewissen“ den Leser überraschen, denn wir haben uns an die Auffassung gewöhnt, dass eine autoritäre Haltung lediglich autoritäre, nicht-demokratische Kulturen charakterisiere. Eine solche Ansicht unterschätzt jedoch die Stärke autoritärer Elemente, insbesondere die Rolle, welche die anonyme Autorität in unserer heutigen Familie und im gesellschaftlichen Leben spielt. (Vgl. hierzu bes. Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, S. 300-322.)

Das psychoanalytische Interview bietet die beste Gelegenheit zur Erforschung des [II-098] Problems des autoritären Gewissens, wie es sich im städtischen Mittelstand äußert. Die elterliche Autorität und die Art und Weise, in der die Kinder mit ihr fertigwerden, wird als das entscheidende Problem der Neurose enthüllt. Der Analytiker stellt fest, dass viele Patienten überhaupt nicht imstande sind, ihre Eltern zu kritisieren. Ferner gibt es solche, die ihre Eltern zwar kritisieren, doch halten sie plötzlich inne, wenn es sich um solche Eigenschaften handelt, unter denen sie selber leiden. Wieder andere fühlen sich schuldig und sind verängstigt, wenn sie begründete Kritik oder auch Wut gegen einen der Elternteile äußern. Oft ist eine umfangreiche analytische Arbeit notwendig, um einen Menschen überhaupt zu bewegen, sich derjenigen Vorfälle zu erinnern, die ihn zu Kritik und Wut veranlassten.[53]

Subtiler und noch verborgener sind jene Schuldgefühle, die von dem Erlebnis herrühren, dass das Missfallen der Eltern erregt wurde. Manchmal steht das Schuldgefühl des Kindes damit in Zusammenhang, dass es seine Eltern nicht genug liebt, vor allem dann, wenn die Eltern erwarten, der Mittelpunkt der kindlichen Gefühlswelt zu sein. Gelegentlich hat ein solches Schuldgefühl seinen Ursprung auch in der Furcht, die elterlichen Erwartungen enttäuscht zu haben. Letzteres ist besonders wichtig, weil es auf eines der für die elterliche Einstellung in der autoritären Familie entscheidendsten Momente hinweist. Trotz des großen Unterschieds zwischen dem römischen pater familias, dessen Familie sein Besitz war, und dem heutigen Vater, ist noch immer das Gefühl weit verbreitet, dass Kinder in die Welt gesetzt werden, um den Eltern Befriedigung zu geben und ihnen einen Ausgleich für die Enttäuschungen des eigenen Lebens zu schaffen. Diese Einstellung fand ihren klassischen Ausdruck in Sophokles’ Antigone, und zwar in Kreons berühmter Rede über die elterliche Autorität:

Wohl Sohn. So auch muss in der Brust es seyn,
Dass väterlicher Meinung alles nachgeht.
Darum auch wünschete zuerst der Mann
Ein fromm Geschlecht, und häuslich zu gewohnen,
Dass es mit Schaden fern hält einen Feind,
Den Freund hingegen ehrt, so wie den Vater.
Wenn aber untaugliche Kinder einer zeugt,
Von dem sprichst du auch wohl nichts anderes,
Als dass er Mühe nur sich selbst, und viel
Gelächter für die Feinde sich gezeuget.
(Sophokles, 1952)

Sogar in unserer nicht-autoritären Kultur kommt es vor, dass Eltern für das, was ihnen im Leben entging, von ihren Kindern gleichsam als Ersatz erwarten, sie müssten ihnen „tauglich sein“. Sind die Eltern nicht erfolgreich, dann sollen es die Kinder werden, um ihnen den Ersatz für das eigene Versagen zu schaffen. Fühlen sie sich nicht geliebt (besonders wenn die Eltern einander nicht lieben), dann sollen die Kinder dafür [II-099] aufkommen; falls sie sich im gesellschaftlichen Leben machtlos fühlen, wollen sie die Genugtuung haben, ihre eigenen Kinder beherrschen zu können. Aber selbst wenn die Kinder diese Erwartungen erfüllen, haben sie noch Schuldgefühle, weil sie nicht genug zu tun glauben und ihre Eltern zu enttäuschen fürchten.

Eine besonders heikle Form des Gefühls, die Eltern zu enttäuschen, ist das Gefühl der Andersartigkeit. Herrschsüchtige Eltern verlangen, dass ihre Kinder ihnen in Temperament und Charakter gleichen. Der cholerische Vater zum Beispiel hat keinerlei Sympathie für einen phlegmatischen Sohn. Der Vater, der an praktischen Leistungen interessiert ist, wird über einen Sohn enttäuscht sein, dessen Interesse dem reinen Denken und theoretischen Untersuchungen gilt, und umgekehrt. Ist der Vater auf Besitz bedacht, interpretiert er die Andersartigkeit seines Sohnes als Minderwertigkeit. Auch der Sohn selbst fühlt sich wegen seiner Andersartigkeit schuldig und minderwertig und versucht, sich zu dem zu machen, der er nach dem Willen des Vaters sein sollte; aber er kann es nur dahin bringen, dass er seine eigene Entfaltung lähmt und zu einer höchst unvollkommenen Kopie des Vaters wird. Da er in dem Glauben lebt, er müsste so wie der Vater sein, verursacht ihm sein Versagen ein schlechtes Gewissen. Wenn er sich von diesen Verpflichtungsgefühlen freizumachen und er selbst zu werden versucht, wird der Sohn häufig durch dieses „Verbrechen“ wie von einer schweren Bürde niedergedrückt, so dass er am Wege liegen bleibt, noch ehe er das Ziel der Freiheit erreicht. Diese Bürde ist so schwer, weil er sich ja nicht nur mit den Eltern auseinandersetzen muss, mit ihren Enttäuschungen, Anschuldigungen und Bitten, sondern auch mit der ganzen Kultur, in der es etwas Selbstverständliches ist, dass Kinder ihre Eltern „lieben“. Obwohl sie auf die autoritäre Familie passt, scheint die vorhergehende Beschreibung nicht korrekt zu sein, was die heutige amerikanische, insbesondere die städtische Familie betrifft, in der offene Autorität nur selten zu finden ist. Das Bild, das ich gezeichnet habe, trifft jedoch auch hier in wesentlichen Punkten zu. Statt einer offenen finden wir eine anonyme Autorität, die sich zwar nicht in ausdrücklichen Befehlen äußert, aber in stark gefühlsbetonten Erwartungen. Außerdem empfinden die Eltern sich selbst nicht als Autorität; trotzdem repräsentieren sie die anonyme Autorität des Marktes. Sie erwarten, dass ihre Kinder sich gewissen Anforderungen anpassen, denen sich beide - Eltern und Kinder - unterwerfen.

Schuldgefühle sind nicht nur eine Folge der Abhängigkeit von einer irrationalen Autorität und von dem Pflichtgefühl, dieser Autorität zu gefallen, sondern das Schuldgefühl verstärkt auch seinerseits wieder die Abhängigkeit. Schuldgefühle haben sich als wirksames Mittel erwiesen, um Abhängigkeit zu schaffen und zu stärken. Darin liegt eine der gesellschaftlichen Funktionen, welche die autoritäre Ethik im Lauf der Geschichte gehabt hat. Die Autorität als Gesetzgeber lässt ihre Untergebenen wegen ihrer vielen und unvermeidlichen Überschreitungen Schuldgefühle empfinden. Das Bedürfnis, Vergebung für unvermeidliche Überschreitungen zu erhalten, schafft eine endlose Kette von Vergehen, Schuldgefühl und Bedürfnis nach Absolution; sie hält den Untertan in Knechtschaft und macht ihn eher dankbar für die Vergebung als kritisch gegenüber den Forderungen der Autorität. Diese Wechselwirkung zwischen Schuldgefühl und Abhängigkeit fördert die Zuverlässigkeit und Stärke der [II-100] autoritären Beziehung. Die Abhängigkeit von einer irrationalen Autorität führt zu einer Schwächung des Willens beim Abhängigen, und was den Willen schwächt, steigert zugleich die Abhängigkeit. Auf diese Weise bildet sich ein Teufelskreis.

Ein Schuldgefühl zu wecken, ist das wirkungsvollste Mittel, um den Willen des Kindes zu schwächen. Das geschieht schon in den ersten Jahren, indem man dem Kind zu verstehen gibt, dass seine sexuellen Strebungen und deren frühe Manifestationen „etwas Böses“ sind. Da das Kind nicht umhin kann, sexuelle Strebungen zu haben, wird diese Methode, Schuldgefühle zu wecken, kaum fehlgehen. Ist es den Eltern (und der durch sie repräsentierten Gesellschaft) gelungen, die Verbindung von Sexualität und Schuld zu einer dauerhaften zu machen, entstehen im gleichen Maße und ebenso konstant Schuldgefühle, wie Sexualimpulse auftreten. Aber auch noch andere physische Funktionen werden durch „moralische“ Erwägungen verdorben. Geht das Kind nicht in vorgeschriebener Weise auf die Toilette, ist es nicht so sauber, wie man erwartet, isst es nicht das, was es essen sollte - dann ist es böse. Mit fünf oder sechs Jahren hat das Kind ein alles umfassendes Schuldgefühl erworben, da der Konflikt zwischen seinen natürlichen Impulsen und deren moralischer Bewertung durch die Erzieher zu einer Quelle ständiger Schuldgefühle wird.

Liberale und „fortschrittliche“ Erziehungssysteme haben diese Situation wider Erwarten nicht entscheidend verändert. Offene Autorität wurde durch anonyme ersetzt, offene Befehle durch „wissenschaftlich“ begründete Formeln. Es heißt also nicht mehr „tu das nicht“, sondern „du tust das sicher nicht gern“. In Wirklichkeit dürfte diese anonyme Autorität in mancherlei Hinsicht einen weit stärkeren Druck ausüben als die offene. Das Kind merkt nicht, dass es geleitet wird (und die Eltern nicht, dass sie befehlen); es kann nicht zurückschlagen und dadurch ein Gefühl der Unabhängigkeit entwickeln. Im Namen der Wissenschaft, des gesunden Menschenverstandes und der Zusammenarbeit wird auf das Kind eingeredet und es überredet. Wer könnte sich gegen solche objektiven Prinzipien wehren?

Ist der Wille des Kindes erst einmal gebrochen, so wird sein Schuldgefühl noch auf andere Weise verstärkt. Dunkel wird es sich seiner Unterwerfung und Niederlage bewusst und muss einen Sinn darin suchen. Es braucht eine Erklärung, weil es sich mit einer verwirrenden und schmerzlichen Erfahrung nicht abfinden kann. Im Prinzip ist seine Erklärung in diesem Falle die gleiche wie die des unberührbaren Inders oder des leidenden Christen: Seine Niederlage und Schwäche wird als gerechte Strafe für seine Sünden „erklärt“. Der Freiheitsverlust wird als Beweis der Schuld angesehen, und diese Überzeugung steigert das durch kulturelle und elterliche Wertsysteme hervorgerufene Schuldgefühl.

Die natürliche Reaktion des Kindes auf den Druck der elterlichen Autorität ist die Rebellion, die das Kernproblem von Freuds „ Ödipuskomplex“ bildet. Freud nahm an, dass der kleine Junge wegen seiner sexuellen Regungen, die er der Mutter gegenüber empfindet, zum Rivalen des Vaters wird und dass die neurotische Entwicklung in dem Unvermögen besteht, mit der Angst, die in dieser Rivalität ihren Ursprung hat, fertigzuwerden. Mit dem Hinweis auf diesen Konflikt zwischen Kind und elterlicher Autorität und dem Unvermögen des Kindes, diesen Konflikt zufriedenstellend zu lösen, rührte Freud an die eigentlichen Wurzeln der Neurose. Nach meiner [II-101] Auffassung wird dieser Konflikt allerdings nicht in erster Linie durch die geschlechtliche Rivalität verursacht, sondern erfolgt aus der Reaktion des Kindes gegen den Druck der elterlichen Autorität, die als solche ein wesentlicher Bestandteil der patriarchalischen Gesellschaft ist.

Insofern gesellschaftliche und elterliche Autorität den Willen, die Spontaneität und das Unabhängigkeitsbestreben des Kindes zu brechen suchen, wird sich das Kind gegen die durch seine Eltern repräsentierte Autorität zur Wehr setzen. Denn es ist nicht auf die Welt gekommen, um sich brechen zu lassen. Es kämpft nicht nur um seine Befreiung vom Druck, sondern auch für seine Freiheit, es selbst zu sein. Es will ein vollkommen selbständiges menschliches Wesen sein und kein Automat. Für manche Kinder ist dieser Kampf um die Freiheit erfolgreicher als für andere, aber nur wenige können sich vollständig durchsetzen. Die Narben, welche die Niederlage des Kindes im Kampf gegen irrationale Autorität zurücklässt, sind auf dem Grund jeder Neurose zu finden. Sie bilden ein Syndrom, dessen wichtigste Merkmale folgende sind: Schwächung oder Lähmung der Originalität und Spontaneität; die Schwächung des Selbst und die Einsetzung eines Pseudo-Selbst, in welchem das Gefühl des „Ich bin“ abgestumpft und durch die Erfahrung ersetzt wird, die Totalsumme dessen zu sein, was andere erwarten; ferner die Ersetzung der Autonomie durch Heteronomie, die Undurchsichtigkeit oder - um H. S. Sullivans Ausdruck zu gebrauchen - die parataktische Entstellung aller zwischenmenschlichen Erfahrungen. Das wichtigste Symptom der Niederlage im Kampf um das eigene Ich ist das schlechte Gewissen. War der Versuch, dem autoritären Netz zu entschlüpfen, erfolglos, dann ist dieser erfolglose Fluchtversuch ein Beweis der Schuld. Das gute Gewissen kann nur durch abermalige Unterwerfung wiedergewonnen werden.

2. Das humanistische Gewissen

Das humanistische Gewissen ist nicht die nach innen verlegte Stimme einer Autorität, der wir gefallen wollen und der zu missfallen wir fürchten; es ist die eigene Stimme, die in jedem Menschen gegenwärtig ist und die von keinen äußeren Strafen und Belohnungen abhängt. Worin besteht das Wesen dieser Stimme? Weshalb hören wir sie, und weshalb können wir gegen sie taub werden?

Das humanistische Gewissen ist die Reaktion unserer Gesamtpersönlichkeit auf deren richtiges oder gestörtes Funktionieren. Es ist keine Reaktion auf das Funktionieren dieser oder jener Fähigkeit, sondern auf die Totalität der Fähigkeiten, die unsere menschliche und individuelle Existenz ausmacht. Das Gewissen beurteilt, ob wir als menschliche Wesen „funktionieren“. Gewissen ist (wie die Wortwurzel con-scientia anzeigt) die Kenntnis über uns selbst, die Kenntnis über den Erfolg oder über das Versagen in der Kunst des Lebens. Obgleich Gewissen zwar Kenntnis ist, so ist es doch mehr als ein bloßes Wissen des abstrakten Denkens. Es hat eine affektive Qualität, da es die Reaktion unserer Gesamtpersönlichkeit und nicht nur die unseres Geistes ist. Es braucht uns gar nicht zum Bewusstsein zu kommen, was das Gewissen uns sagt, um von ihm beeinflusst zu werden.

Handlungen, Gedanken und Gefühle, die ein richtiges Funktionieren und die [II-102] Entfaltung unserer Gesamtpersönlichkeit fördern, rufen ein Gefühl der inneren Zustimmung, der Richtigkeit hervor. Dieses ist charakteristisch für das humanistische „gute Gewissen“. Andererseits rufen Handlungen, Gedanken und Gefühle, die für unsere Gesamtpersönlichkeit schädlich sind, ein Gefühl der inneren Unruhe und des Unbehagens hervor. Dieses ist charakteristisch für das „schlechte Gewissen“. Gewissen ist also die Re-Aktion unseres Selbst auf uns selbst. Es ist die Stimme unseres wahren Selbst, die uns auf uns selbst zurückruft, produktiv zu leben, uns ganz und harmonisch zu entwickeln - das heißt zu dem zu werden, was wir unserer Möglichkeit nach sind. Es ist der Wächter unserer Integrität; es bedeutet „für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen“ (F. Nietzsche, 1910a, S. 347). Wenn Liebe als Bejahung der Möglichkeiten des geliebten Menschen, als Fürsorge und als Achtung vor seiner Einmaligkeit definiert werden kann, dann kann mit Recht auch das humanistische Gewissen als die Stimme unserer liebenden Fürsorge für uns selbst bezeichnet werden.

Das humanistische Gewissen ist nicht nur der Ausdruck unseres wahren Selbst, es ist gleichzeitig der Ausdruck unserer entscheidenden moralischen Erfahrungen im Leben. In unserem Gewissen zeigt sich die Kenntnis unseres Lebenszieles und der Prinzipien, durch die wir es erreichen; sowohl der Prinzipien, die wir selbst entdeckt haben, als auch solcher, die wir von anderen gelernt und als wahr befunden haben.

Das humanistische Gewissen ist ein Ausdruck des Selbstinteresses des Menschen an sich und seiner Integrität. Das autoritäre Gewissen dagegen beschränkt sich auf den Gehorsam des Menschen, auf seine Selbstaufopferung, seine Pflicht oder gesellschaftliche Anpassung. Das Ziel des humanistischen Gewissens ist Produktivität und demzufolge Glück, denn Glück ist eine sichere Begleiterscheinung produktiven Lebens. Sich selber zu verkrüppeln, indem man sich zum Werkzeug anderer macht - gleichgültig, wie sehr sie dessen würdig erscheinen mögen - „selbstlos“, unglücklich, resigniert, entmutigt zu sein, widerspricht den Forderungen des Gewissens. Jede Verletzung der Integrität und des richtigen Funktionierens unserer Persönlichkeit ist gegen unser Gewissen, ob es sich nun um unser Denken oder unsere Taten, ja sogar um Vorliebe und Abneigung im Essen oder um das sexuelle Verhalten handelt.

Aber wird unsere Analyse des Gewissens nicht durch die Tatsache widerlegt, dass bei vielen Menschen die Stimme des Gewissens zu schwach ist, um gehört zu werden und das Handeln bestimmen zu können? Tatsächlich liegt hier die Ursache der moralischen Unsicherheit des Menschen. Spräche das Gewissen stets laut und vernehmlich genug, so würden nur wenige von ihrem moralischen Ziel abgelenkt werden. Eine der Antworten ergibt sich aus der Natur des Gewissens selbst: Da es die Funktion hat, der Hüter des wahren menschlichen Selbstinteresses zu sein, ist das Gewissen in dem Maße lebendig, wie der Mensch sich nicht ganz verloren hat und das Opfer seiner eigenen Gleichgültigkeit und seiner Destruktivität geworden ist. Das Verhältnis zwischen Produktivität und Gewissen ist ein wechselseitiges. Je produktiver der Mensch lebt, desto stärker ist das Gewissen und desto mehr fördert es die Produktivität. Je weniger produktiv der Mensch lebt, desto schwächer wird das Gewissen. Das Paradoxe und Tragische der menschlichen Situation liegt darin, dass das Gewissen dann am schwächsten ist, wenn der Mensch seiner am meisten bedarf. [II-103]

Ein weiterer Grund, weshalb das Gewissen relativ unwirksam ist, ist folgender: Wir wollen nicht darauf hören oder - was sogar noch mehr Gewicht hat - wir wissen nicht, wie wir darauf hören sollen. Oft leben die Menschen in der Illusion, dass ihr Gewissen mit lauter Stimme sprechen und dass seine Aussage klar und bestimmt sein werde. Sie warten auf seine Stimme und hören nichts. Wenn aber die Stimme des Gewissens schwach ist, dann ist sie undeutlich; man muss lernen, auf sie zu hören und ihre Mitteilung zu verstehen, um entsprechend handeln zu können.

Die Sprache des Gewissens zu verstehen, ist jedoch keineswegs leicht, und dies vor allem aus zwei Gründen. Wir müssen, um die Stimme unseres Gewissens zu hören, auf uns selbst hören können, und gerade das bereitet den meisten Menschen in unserer Kultur Schwierigkeiten. Wir hören auf jede Stimme und auf jeden, wer es auch sein mag, nur nicht auf uns selbst. Wir sind in jedem Augenblick dem Getöse der Meinungen und Gedanken ausgeliefert, die aus allen Ecken auf uns einhämmern: Filme, Zeitungen, Radio, müßiges Geschwätz. Wenn wir uns absichtlich daran hindern wollten, jemals auf uns selbst zu hören, so könnten wir kaum wirksamer vorgehen.

Auf sich zu hören, ist schwierig, weil diese Kunst noch eine andere Gabe voraussetzt, die beim heutigen Menschen selten geworden ist: mit sich allein sein zu können. Wir haben tatsächlich eine Angst vor dem Alleinsein entwickelt; die trivialste, ja anstößigste Gesellschaft und die sinnlosesten Beschäftigungen ziehen wir dem Alleinsein vor; der Gedanke, uns selber ins Gesicht sehen zu müssen, scheint uns Schrecken einzujagen. Ist es deshalb, weil wir uns selbst für eine so schlechte Gesellschaft halten? Ich glaube, die Furcht vor dem Alleinsein entspringt der Verwirrung, die sich oft bis zum Entsetzen steigert, dass wir uns selbst so altbekannt und zugleich so fremd sind; vor dieser Begegnung fürchten wir uns und suchen ihr zu entfliehen. Damit versäumen wir die Gelegenheit, auf uns selbst zu hören, und ignorieren auch weiterhin unser Gewissen.

Die schwache, undeutliche Stimme unseres Gewissens zu hören, ist auch deswegen schwierig, weil diese Stimme nicht direkt, sondern nur indirekt zu uns spricht und weil wir uns oft nicht darüber klar sind, dass es unser Gewissen ist, das uns keine Ruhe gibt. Wir fühlen uns vielleicht nur bedrückt (oder sogar krank) und erklären es mit Ursachen, die in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit dem Gewissen stehen. Eine der häufigsten indirekten Reaktionen des vernachlässigten Gewissens ist ein unbestimmtes Schuldgefühl, ein Unbehagen oder einfach nur Müdigkeit oder Unlust. Manchmal deutet man sich solche Empfindungen als Schuldgefühl, weil man dieses oder jenes nicht getan habe, obwohl die Versäumnisse, deretwegen man sich schuldig fühlt, in Wirklichkeit keine echten moralischen Probleme sind. Ist aber das echte, wenn auch unbewusste Schuldgefühl zu stark geworden, so dass es nicht mehr durch oberflächliche Rationalisierungen zum Schweigen gebracht werden kann, dann findet es seinen Ausdruck in tieferen und intensiveren Ängsten und sogar in körperlicher oder geistiger Erkrankung.

Eine der Formen, die eine solche Angst annehmen kann, ist die Furcht vor dem Tode. Nicht die normale Furcht vor dem Sterbenmüssen, die jeder Mensch im Gedanken an den Tod erlebt, sondern ein Schrecken vor dem Sterben, der manche Menschen ständig verfolgt. Das Gefühl, nicht gelebt zu haben, ist die Ursache dieser irrationalen [II-104] Furcht vor dem Tode. Sie ist der Ausdruck unseres schlechten Gewissens, dass wir das Leben vergeudet und die Gelegenheit versäumt haben, von unseren Fähigkeiten produktiven Gebrauch zu machen. Das Sterben ist bitter, doch der Gedanke, sterben zu müssen, ohne gelebt zu haben, ist nicht zu ertragen. Mit dieser irrationalen Furcht vor dem Tode hängt auch die Furcht vor dem Altern zusammen, von der eine noch weit größere Anzahl von Menschen in unserer Kultur verfolgt wird. Auch hier wieder gibt es eine durchaus vernünftige und normale Abneigung gegen das Altern, die sich jedoch wesentlich in Qualität und Intensität von dem alptraumartigen Grauen „zu alt zu sein“ unterscheidet. Häufig können wir, besonders in der Analyse, Menschen beobachten, die schon in jungen Jahren von der Furcht vor dem Alter besessen sind; sie sind überzeugt, das Nachlassen der physischen Kräfte bedeute eine Schwächung ihrer Gesamtpersönlichkeit, ihrer Gefühls- und Verstandeskräfte. Diese Vorstellung ist kaum mehr als ein Aberglaube, der sich trotz aller Gegenbeweise behauptet. Sie gedeiht in unserer Kultur durch den Umstand, dass auf sogenannte jugendliche Eigenschaften wie Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit und physische Kraft so großer Wert gelegt wird: auf Eigenschaften, die man in einer Welt braucht, in der es mehr auf Erfolg im Wettbewerb ankommt als auf die Entwicklung des eigenen Charakters. An vielen Beispielen lässt sich jedoch nachweisen, dass ein Mensch, der vor dem Altwerden produktiv lebt, durchaus nicht nachlässt; die geistigen und emotionalen Kräfte, die er im Laufe eines produktiven Lebens entwickelte, wachsen sogar trotz des Abnehmens der physischen Kräfte weiter. Der nicht-produktive Mensch aber verfällt tatsächlich in seiner Gesamtpersönlichkeit, sobald seine physische Kraft, die seiner Aktivität zugrunde lag, abnimmt. Der Verfall der Persönlichkeit im Alter ist ein Symptom dafür, dass dieser Mensch nicht produktiv lebte. Die Furcht vor dem Altern ist ein - häufig unbewusster - Ausdruck des Gefühls, unproduktiv zu leben; es ist die Reaktion unseres Gewissens auf unsere Selbstverstümmelung. In manchen Kulturen besteht ein größeres Bedürfnis nach den besonderen Werten des Alters - zum Beispiel Weisheit und Lebenserfahrung - und daher auch ein größerer Respekt davor. In solchen Kulturen können wir eine Haltung finden, wie sie so schön in der nachfolgenden Äußerung des japanischen Malers Hokusai formuliert ist:

Als Fünfjähriger hatte ich bereits eine leidenschaftliche Neigung, die Dinge in ihrer Gestalt zu zeichnen. Mit fünfzig Jahren hatte ich unzählige Bilder veröffentlicht, aber nichts von allem, was ich vor meinem siebzigsten Jahr leistete, war der Rede wert. Im Alter von dreiundsiebzig Jahren habe ich das wirkliche Wesen der Natur, der Tiere, Pflanzen, Vögel, Fische und Insekten ein wenig besser erfassen gelernt. Daher werde ich, wenn ich achtzig bin, weitere Fortschritte gemacht haben; mit neunzig werde ich in das Geheimnis der Dinge eindringen; mit hundert werde ich sicherlich eine wunderbare Stufe erreichen; und wenn ich hundertzehn Jahre alt bin, wird alles, was ich tue, auch nur ein Punkt oder ein Strich, lebendig sein. Geschrieben im Alter von fünfundsiebzig Jahren von mir, einstmals Hokusai, heute Gwakio Rojin, dem alten Mann, der aufs Zeichnen versessen ist. (Zit. nach J. La Farge, 1896.)

Die Angst vor Missbilligung ist, wenn auch nicht so dramatisch wie die irrationale Furcht vor dem Tode und dem Alter, doch ein kaum weniger bezeichnender [II-105] Ausdruck eines unbewussten Schuldgefühls. Auch in diesem Falle haben wir es mit der irrationalen Entstellung einer an sich normalen Einstellung zu tun: Jeder Mensch hat natürlicherweise den Wunsch, von seinen Mitmenschen akzeptiert zu werden. Der heutige Mensch aber will von jedem akzeptiert werden und fürchtet sich deshalb davor, in seinem Denken, Fühlen und Handeln vom kulturellen Vorbild abzuweichen. Der Grund dieser irrationalen Furcht vor Missbilligung ist unter anderem ein unbewusstes Schuldgefühl. Wenn der Mensch sich selbst nicht billigen kann, weil er in der Erfüllung eines produktiven Lebens versagt, dann muss die Zustimmung anderer an die Stelle der eigenen treten. Dieses Verlangen, die Zustimmung anderer zu erhalten, kann nur verstanden werden, sofern man es als moralisches Problem begreift, als Ausdruck eines alles durchdringenden, wenn auch unbewussten Schuldgefühls.

Fast sieht es so aus, als ob der Mensch sich mit Erfolg dagegen verschließen könne, die Stimme seines Gewissens zu hören. Aber es gibt einen Zustand, in dem dieser Versuch scheitert: im Schlaf. Hier ist der Mensch von allem Lärm abgeschlossen, der am Tage auf ihn einhämmert. Er ist nur noch für seine innere Erfahrung aufnahmefähig, die sich sowohl aus vielen irrationalen Tendenzen als auch aus Werturteilen und Einsichten bildet. Oft ist der Schlaf die einzige Gelegenheit, bei der der Mensch sein Gewissen nicht zum Schweigen bringen kann. Das Tragische ist, dass wir im Schlaf unser Gewissen zwar reden hören, doch nicht handeln können, und wenn wir wieder handeln können, dann haben wir vergessen, was wir im Traum wussten.

Der folgende Traum mag als Beispiel dienen. Einem bekannten Schriftsteller wurde eine Stellung angeboten, bei der er seine Integrität als Schriftsteller gegen viel Geld und Ruhm veräußert hätte. Während er noch darüber nachdachte, ob er dieses Angebot annehmen solle oder nicht, hatte er folgenden Traum: Am Fuße eines Berges sieht er zwei äußerst erfolgreiche Männer, die er ihrer opportunistischen Haltung wegen verachtet. Die beiden fordern ihn auf, die schmale Straße zum Berggipfel hinaufzufahren. Er befolgt ihren Rat, und als er beinahe beim Gipfel angelangt ist, stürzt sein Wagen über den Straßenrand hinunter. Er kommt dabei um. Die Botschaft dieses Traumes bedarf keiner Erläuterung. Der Schriftsteller erfuhr im Schlaf, dass die Übernahme der angebotenen Stellung seine Vernichtung bedeuten würde; natürlich nicht seinen physischen Tod, wie es die Symbolsprache des Traumes ausdrückt, sondern seine Vernichtung als integres und produktives menschliches Wesen.

Ich habe das autoritäre und das humanistische Gewissen getrennt behandelt, um ihre charakteristischen Eigenschaften aufzeigen zu können, aber in Wirklichkeit sind sie natürlich nicht voneinander geschieden und schließen sich in einer einzigen Person nicht gegenseitig aus. Vielmehr hat jeder Mensch tatsächlich beide „Gewissen“. Das Problem besteht darin, ihr Kräfteverhältnis und ihre Wechselwirkung zu ermitteln. Oft werden Schuldgefühle bewusst in Begriffen des autoritären Gewissens ausgedrückt, obgleich sie ihrer Dynamik nach im humanistischen Gewissen wurzeln. Das autoritäre Gewissen ist in diesem Falle sozusagen eine Rationalisierung des humanistischen Gewissens. Jemand kann sich bewusst schuldig fühlen, weil er der Autorität missfällt, während er sich unbewusst schuldig fühlt, weil er nicht so lebt, wie er es von sich erwartet. Ein Beispiel: Ein Mann wäre gern Musiker geworden und wurde [II-106] stattdessen Kaufmann, um den Wünschen seines Vaters gerecht zu werden. In geschäftlichen Dingen ist er ziemlich erfolglos, und der Vater äußert seine Enttäuschung über den Misserfolg des Sohnes. Der Sohn ist depressiv, fühlt sich außerstande, etwas zu leisten, und entschließt sich, die Hilfe eines Psychoanalytikers in Anspruch zu nehmen. In der Analyse spricht er zunächst ausführlich über sein Versagen und über seine Depressionen. Bald erkennt er jedoch, dass seine Depressionen auf die Schuldgefühle zurückgehen, die er wegen der Enttäuschung seines Vaters empfindet. Als der Analytiker die Echtheit dieser Schuldgefühle bezweifelt, wird der Patient ärgerlich. Bald danach sieht er sich im Traum als äußerst erfolgreichen Geschäftsmann, der von seinem Vater gelobt wird. Er sieht also etwas, das sich im wirklichen Leben nie ereignet. An dieser Stelle des Traumes erfasst den Träumer plötzlich eine Panik und ein Impuls, sich das Leben zu nehmen, und er erwacht. Er ist über seinen Traum erschrocken und überlegt, ob er sich vielleicht nicht doch über die wirklichen Ursachen seiner Schuldgefühle getäuscht hat. So entdeckt er, dass die eigentliche Ursache seiner Schuldgefühle nicht darin zu suchen ist, dass er seinen Vater nicht zufriedenstellte, sondern in seinem Gehorsam und in seinem Unvermögen, sich selbst zu genügen. Sein Schuldgefühl ist insoweit als Ausdruck seines autoritären Gewissens durchaus echt, aber es verdeckt die Schuldgefühle, die er gegenüber sich selbst empfindet und deren er sich nicht bewusst war. Die Ursachen dieser Verdrängung sind nicht schwer zu erkennen, da die Vorbilder unserer Kultur einer solchen Verdrängung Vorschub leisten: Es ist sinnvoll, sich schuldig zu fühlen, weil man seinen Vater enttäuscht, aber es ist unvorstellbar, sich schuldig zu fühlen, weil man sein Selbst vernachlässigt. Ein weiterer Grund ist die Furcht, man könnte durch die Erkenntnis der wirklichen Schuld gezwungen werden, sich zu emanzipieren und sein eigenes Leben ernst zu nehmen, anstatt weiterhin zwischen der Angst vor dem verärgerten Vater und den Versuchen, ihn zufriedenzustellen, hin und her zu pendeln.

Ein weiteres Bezugsverhältnis zwischen autoritärem und humanistischem Gewissen besteht darin, dass zwar die Inhalte der Normen identisch sind, dass sie aber aus verschiedenen Motiven anerkannt werden. So sind zum Beispiel die Gebote, nicht zu töten, nicht zu hassen, nicht neidisch zu sein und seinen Nächsten zu lieben, Normen sowohl der autoritären als auch der humanistischen Ethik. Man darf es wohl so formulieren, dass auf der ersten Entwicklungsstufe des Gewissens eine Autorität diese Gebote gibt, die dann später nicht aus Unterwerfung unter den Willen der Autorität befolgt werden, sondern aus dem Verantwortungsbewusstsein sich selbst gegenüber. Julian Huxley wies nach, dass der Erwerb des autoritären Gewissens eine notwendige Phase in der Evolution der Menschheit war, ehe Vernunft und Freiheit so weit entwickelt waren, dass ein humanistisches Gewissen möglich wurde. Andere haben den gleichen Gedankengang auf die Entwicklung des Kindes übertragen. Obgleich Huxleys historische Analyse richtig war, bin ich nicht der Ansicht, dass bei dem in einer nicht-autoritären Gesellschaft lebenden Kinde das autoritäre Gewissen als unumgängliche Voraussetzung für die Bildung des humanistischen Gewissens vorhanden sein muss, aber erst die zukünftige Entwicklung der Menschheit wird die Gültigkeit dieser Annahme beweisen oder verwerfen.

Wenn das Gewissen in einer strengen und unerschütterlichen irrationalen Autorität [II-107] gründet, kann die Entwicklung des humanistischen Gewissens nahezu gänzlich unterbunden werden. Der Mensch lebt dann in vollkommener Abhängigkeit von Mächten, die außerhalb seiner selbst liegen, und hört auf, sich um sein eigenes Dasein zu sorgen oder sich dafür verantwortlich zu fühlen. Es interessiert ihn nur noch die Billigung oder Missbilligung dieser Mächte, die durch den Staat, einen Führer oder die nicht weniger mächtige öffentliche Meinung repräsentiert werden. Selbst ein im humanistischen Sinne unmoralisches Verhalten kann im autoritären Sinne als „Pflicht“ empfunden werden. Das beiden gemeinsame Gefühl, „etwas tun zu müssen“, ist ein trügerischer Faktor, weil er sich sowohl auf das Schlimmste wie auf das Beste im Menschen beziehen kann.

Ein großartiges Beispiel dieser verwickelten Wechselbeziehung zwischen autoritärem und humanistischem Gewissen bietet Kafkas Der Prozess[54]. Der Held des Buches, K., befindet sich wegen eines ihm nicht bewussten Verbrechens „eines Morgens in Haft“. Das Jahr, das ihm noch zum Leben bleibt, wird er im Zustand des Nicht-Wissens leben. K. versucht, seine Sache vor einem geheimnisvollen Gerichtshof zu vertreten, dessen Gesetze und Verfahren er nicht kennt. Er bemüht sich verzweifelt, die Unterstützung schlauer Anwälte zu bekommen, die Hilfe von Frauen, die zum Gerichtshof Beziehungen haben, oder irgendeines beliebigen Menschen - aber umsonst. Er wird schließlich zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Die Sprache des Romans ist traumhaft symbolisch. Alle Ereignisse sind konkret und scheinbar realistisch, obwohl sie sich in Wirklichkeit auf innere Erfahrungen beziehen, die durch äußere Geschehnisse symbolisiert werden. Die Erzählung beschreibt das Schuldbewusstsein eines Menschen, der sich von ihm unbekannten Autoritäten angeklagt glaubt und sich schuldig fühlt, weil er ihnen nicht genehm ist; aber diese Autoritäten sind ihm so unerreichbar, dass er nicht einmal erfahren kann, weswegen sie ihn anklagen oder wie er sich verteidigen könnte. Aus dieser Perspektive betrachtet, vertritt der Roman einen der Theologie Calvins äußerst ähnlichen Standpunkt. Der Mensch wird verurteilt oder gerettet, ohne die Gründe zu begreifen. Zu zittern und sich Gottes Barmherzigkeit anzuvertrauen, ist alles, was er tun kann. Der in dieser Interpretation angedeutete theologische Standpunkt entspricht dem Calvinischen Schuldbegriff, der den extremen Typus des autoritären Gewissens repräsentiert. In einem Punkte allerdings unterscheiden sich die Autoritäten im Prozess fundamental von dem Gott Calvins. Statt herrlich und majestätisch sind sie korrupt und schmutzig. Symbolisiert ist das in K.s Widerspenstigkeit diesen Autoritäten gegenüber. Er glaubt sich durch sie zermalmt und fühlt sich schuldig, aber zugleich hasst er sie und spürt, dass sie keinerlei moralisches Prinzip vertreten. Diese Mischung von Unterwerfung und Rebellion ist charakteristisch für viele Menschen, die sich Autoritäten, besonders der verinnerlichten Autorität ihres Gewissens, unterwerfen und sich dann wieder gegen sie auflehnen.

K.s Schuldgefühl ist zugleich eine Reaktion seines humanistischen Gewissens. Er entdeckt, dass er „verhaftet“ worden ist: Dies bedeutet, dass er in seinem eigenen Wachstum und in seiner Entwicklung gehindert wurde. Er empfindet seine Leere und Sterilität. In wenigen Sätzen beschreibt Kafka meisterhaft die Nicht-Produktivität von K.s Leben. So lebt er: [II-108]

In diesem Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weise zu verbringen, dass er nach der Arbeit, wenn dies noch möglich war - er saß meistens bis neun Uhr im Büro -, einen kleinen Spaziergang allein oder mit Beamten machte und dann in eine Bierstube ging, wo er an einem Stammtisch mit meist älteren Herren gewöhnlich bis elf Uhr beisammensaß. Es gab aber auch Ausnahmen von dieser Einteilung, wenn K. zum Beispiel vom Bankdirektor, der seine Arbeitskraft und Vertrauenswürdigkeit sehr schätzte, zu einer Autofahrt oder zu einem Abendessen in seiner Villa eingeladen wurde. Außerdem ging K. einmal in der Woche zu einem Mädchen namens Elsa, die während der Nacht bis in den späten Morgen als Kellnerin in einer Weinstube bediente und während des Tages nur vom Bett aus Besuche empfing. (F. Kafka, 1965, S. 272.)

K. fühlt sich schuldig, ohne zu wissen warum. Er läuft vor sich selber davon und bemüht sich um den Beistand anderer, während nur das Begreifen der wirklichen Ursache seines Schuldgefühls und die Entfaltung seiner eigenen Produktivität ihn retten könnte. Dem Aufseher, der ihn verhaftete, stellt er alle möglichen Fragen über den Gerichtshof und seine Aussichten im Prozess. Er erhält den einzigen Rat, der in einer solchen Situation überhaupt gegeben werden kann. Der Aufseher sagt: „Wenn ich nun aber auch Ihre Fragen nicht beantworte, so kann ich Ihnen doch raten, denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr an sich.“

Bei anderer Gelegenheit wird sein Gewissen durch den Gefängniskaplan repräsentiert, der ihm zeigt, dass er sich über sich selbst Rechenschaft ablegen muss und dass weder Bestechung noch Mitleid sein moralisches Problem lösen können. K. aber kann in diesem Geistlichen nur eine weitere Autorität sehen, die sich für ihn verwenden könnte, und es beschäftigt ihn nur, ob dieser unwillig über ihn ist oder nicht. Als er den Geistlichen zu beschwichtigen sucht, schreit dieser von der Kanzel herunter: „‘Siehst Du denn nicht zwei Schritte weit?’ Es war im Zorn geschrien, aber gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und, weil er selbst erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen schreit.“ Aber auch dieser Schrei rüttelt K. nicht auf. Er fühlt sich noch schuldiger, weil er den Geistlichen in Zorn versetzt zu haben glaubt. Der Geistliche beendet die Zwiesprache mit den Worten: „Warum sollte ich also etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.“ Dieser Satz bezeichnet das Wesentliche des humanistischen Gewissens. Keine den Menschen transzendierende Macht kann sittliche Forderungen an ihn stellen. Der Mensch ist vor sich selber dafür verantwortlich, ob er sein Leben gewinnt oder verliert. Zurückkehren zu sich kann er nur, wenn er die Stimme seines Gewissens versteht. Kann er das nicht, so muss er untergehen; niemand kann ihm helfen, nur er sich selbst. K. muss sterben, weil er die Stimme des Gewissens nicht versteht. Im Augenblick der Hinrichtung ahnt er zum ersten Mal, wo sein wirkliches Problem liegt. Er empfindet seine eigene Nicht-Produktivität, seinen Mangel an Liebe und Glauben. [II-109]

Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es noch Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es solche. - Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger. (F. Kafka, 1965, S. 444; Hervorhebung E. F.).

Zum ersten Mal sieht K. im Geiste die Zusammengehörigkeit der Menschen, die Möglichkeit der Freundschaft und die Verpflichtung, die der einzelne sich selbst gegenüber hat. Er stellt die Frage, worüber dieser Gerichtshof eigentlich zu Gericht saß. Der Gerichtshof aber, nach dem er jetzt fragt, ist nicht die irrationale Autorität, an die er glaubte, sondern das Gericht seines Gewissens. Dieses Gewissen ist der eigentliche Ankläger, den er bisher nicht erkannte. K. war sich nur seines autoritären Gewissens bewusst und versuchte sich mit den Autoritäten auseinanderzusetzen, die es repräsentiert. Er war so sehr mit der Selbstverteidigung gegen ein ihn transzendierendes Wesen beschäftigt, dass er sein wirkliches moralisches Problem vollständig aus den Augen verloren hatte. Bewusst fühlt er sich schuldig, weil er von Autoritäten angeklagt wird, doch schuldig ist er, weil er sein Leben vergeudete und sich nicht ändern konnte, da er seine Schuld nicht begriff. Das Tragische ist, dass er erst in dem Augenblick, als es bereits zu spät ist, die Vision dessen hat, was hätte sein können.

Ich möchte betonen: Der Unterschied zwischen dem humanistischen und dem autoritären Gewissen besteht nicht darin, dass letzteres durch die kulturelle Überlieferung geformt wird, während das erstere sich selbsttätig entwickelt. Vielmehr gleicht das Gewissen in dieser Hinsicht unseren Sprach- und Denkfähigkeiten, die sich ebenfalls nur im gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang entwickeln, obwohl sie dem Menschen als Möglichkeiten innewohnen. Die menschliche Rasse hat in den letzten fünf- oder sechstausend Jahren ihrer kulturellen Entwicklung in religiösen und philosophischen Systemen Sittengesetze aufgestellt, an denen sich das Gewissen jedes Einzelnen orientieren muss, wenn er nicht wieder von vorne anfangen will. Da aber hinter jedem System bestimmte Interessen stehen, neigten deren Repräsentanten dazu, den Unterschied der einzelnen Systeme stärker hervorzuheben als den allen gemeinsamen Kern. Vom menschlichen Standpunkt aus sind jedoch die gemeinsamen Elemente dieser Lehren wichtiger als ihre Unterschiede. Begreifen wir das Einschränkende und Verzerrende dieser Lehren als Ergebnis der besonderen historischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Situation ihrer Entstehungszeit, so werden wir verblüffende Übereinstimmungen bei allen Denkern finden, denen die Entwicklung und das Glück des Menschen am Herzen lag.

c) Lust und Glück

Die Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst. Wir erfreuen uns ihrer nicht deshalb, weil wir die Lüste hemmen, sondern umgekehrt, weil wir uns jener erfreuen, deshalb können wir unsere Lüste hemmen. (Spinoza, Ethik, Teil V, 42. Lehrsatz)

1. Lust als Wertmaßstab

Einfachheit ist der Vorzug der autoritären Ethik. Ihre Kriterien für Gut und Böse sind die Gebote der Autorität, und die Tugend des Menschen besteht darin, ihnen zu gehorchen. Die humanistische Ethik hat sich mit den Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, die ich im Vorhergehenden bereits dargelegt habe: Da nur der Mensch selbst über Werte zu richten hat, wird der Anschein erweckt, als ob Lust (pleasure) oder Schmerz zum letzten Schiedsrichter über Gut und Böse werden.[55] Wäre dies die einzige Alternative, dann könnte das humanistische Prinzip tatsächlich keine Grundlage für ethische Normen abgeben. Denn wir sehen, dass manche Menschen Lust gewinnen, wenn sie sich betrinken, Reichtümer sammeln, berühmt werden und jemandem Leid zufügen können, während es anderen Lust bereitet, wenn sie lieben, ihren Besitz mit Freunden teilen, nachdenken oder malen können. Gibt es für unser Leben einen Beweggrund, durch den Tier und Mensch, der Gute und Schlechte, der Gesunde und Kranke in gleicher Weise bewegt werden? Selbst dann, wenn wir das Prinzip der Lust auf jene beschränken, die den rechtmäßigen Interessen anderer nicht schaden, dürfte dieses Prinzip kaum als Maxime des Handelns geeignet sein.

Die Alternative zwischen Unterwerfung unter die Autorität und Bejahung der Lust als Leitprinzip ist jedoch ein Trugschluss. Ich will auf Grund einer empirischen Analyse der Lust, der inneren Befriedigung, des Glücks und der Freude zu erklären suchen, dass es sich hierbei um verschiedene, zum Teil sogar sich widersprechende Phänomene handelt. Diese Analyse zeigt, dass Glück und Freude, obgleich in gewissem Sinne subjektive Erfahrungen, doch das Ergebnis von Wechselwirkungen mit objektiven Voraussetzungen sind, von denen sie abhängen. Sie dürfen also nicht mit einer nur subjektiven Lusterfahrung verwechselt werden. Diese objektiven Voraussetzungen können wir summarisch als Produktivität bezeichnen.

Die Bedeutung der qualitativen Analyse der Lust wurde schon in den frühesten Anfängen des humanistischen ethischen Denkens erkannt. Das Problem konnte allerdings nicht gelöst werden, weil man die unbewusste Dynamik der Lusterfahrung nicht erkannte. Die psychoanalytische Forschung hat neue Fakten aufgedeckt und kann neue Antworten zu diesem alten Problem der humanistischen Ethik geben. Zum besseren Verständnis dieser Erkenntnis und deren Anwendung auf die ethische Theorie scheint ein kurzer Überblick über einige der bedeutendsten ethischen Theorien in Bezug auf Lust und Glück angebracht.

Der Hedonismus behauptet, faktisch wie auch normativ sei die Lust für alle [II-111] menschlichen Handlungen das leitende Prinzip. Aristipp, der erste Vertreter der hedonistischen Schule, nahm an, das Erlangen von Lust und das Vermeiden von Schmerz sei das Ziel des Lebens und sei gleichzeitig das Kriterium der Tugend. Unter Lust verstand Aristipp die Lust des Augenblicks.

Dieser radikale - und naive - hedonistische Standpunkt hatte den Vorzug, dass er kompromisslos auf den Wert der Einzelpersönlichkeit und auf deren konkretes Verständnis der Lust hinwies, indem er Glück und unmittelbare Erfahrung gleichsetzte. (Vgl. H. Marcuse, 1938.) Aber diese Auffassung war mit der schon erwähnten Schwierigkeit belastet, die die Hedonisten nicht befriedigend lösen konnten, nämlich damit, dass sie ein gänzlich subjektivistisches Prinzip vertraten. Der erste Versuch, den hedonistischen Standpunkt zu revidieren, und zwar durch Einführung objektiver Kriterien für das Verständnis von Lust, geschah durch Epikur. Dieser hielt zwar daran fest, dass Lust das Ziel des Lebens sei, kam aber gleichzeitig zu der Feststellung, dass wohl jede Lust in sich gut, nicht aber jede Lust erstrebenswert sei, denn es gäbe Lust, die später mehr Ärger bereite als der augenblickliche Lustgewinn wert sei. Nur die richtige Lust könne zu einem weisen und rechtschaffenen Leben beitragen. „Wahre“ Lust bestehe in der Gelassenheit der Seele und im Freisein von Furcht und könne nur von dem Menschen erreicht werden, der Klugheit und Voraussicht besitze und daher bereit sei, auf die Lust des Augenblicks um einer beständigen und ruhigen Befriedigung willen zu verzichten. Epikur will zeigen, dass sein Verständnis von Lust als des eigentlichen Lebensziels zusammenhängt mit der Tugend des Maßhaltens, des Mutes, der Gerechtigkeit und der Freundschaft. Da aber für Epikur „das Gefühl die Regel ist, an der wir alles Gute messen“, kann er doch nicht über jene grundsätzliche theoretische Schwierigkeit hinweg, die subjektive Erfahrung der Lust mit dem objektiven Kriterium von „rechter“ und „falscher“ Lust in Einklang zu bringen. Sein Bemühen, eine Harmonie zwischen subjektiven und objektiven Kriterien zu schaffen, ging nicht über die Behauptung hinaus, dass eine solche Übereinstimmung existiere.

Nicht-hedonistische humanistische Philosophen setzten sich mit dem gleichen Problem auseinander, indem sie die Kriterien „Wahrheit“ und „Universalität“ beizubehalten suchten, ohne das Glück des Einzelnen als letztes Lebensziel aus dem Auge zu verlieren.

Der erste, der die Kriterien „Wahrheit“ und „Falschheit“ auf Begierden und die Lust bezog, war Platon. Wie das Denken, so kann auch die Lust echt oder falsch sein. Platon leugnet nicht die Tatsache des subjektiven Lustgefühls, aber er weist darauf hin, dass die Empfindung der Lust „täuschen“ kann, weil Lust ebenso wie das Denken eine Funktion des Erkennens ist. Platon begründet diese Auffassung mit der Theorie, dass die Lust ihren Ursprung nicht nur in einem isolierten sinnlichen Teil des Menschen habe, sondern in der Gesamtpersönlichkeit. Er folgert, dass gute Menschen wahre Lust empfinden, schlechte Menschen dagegen falsche.

Aristoteles hält wie Platon daran fest, dass die subjektive Erfahrung von Lust kein Kriterium für ein tugendhaftes Handeln und damit auch kein Kriterium für seinen Wert sein könne. Er betont: „Wenn sie (die ekelhaften Formen der Lust) nämlich für verderbte Menschen eine Lust bedeuten, so muss man deswegen noch nicht annehmen, dass sie das - von diesen abgesehen - auch sonst noch sind, wie ja auch die [II-112] Dinge, die für kranke Menschen heilsam, süß oder bitter sind (dies nicht auch für andere sind), und wie auch kein anderer das als weiß ansieht, was einem Augenleidenden so vorkommt“ (Nikomachische Ethik, 1173b). Ekelhafte Formen der Lust sind keine echte Lust, „ausgenommen dem verderbten Geschmack“, während Lust, die objektiv diesem Begriff entspricht, eine Begleiterscheinung jener „Tätigkeiten ist, die dem Menschen ziemen“ (a.a.O.). Für Aristoteles gibt es zwei rechtmäßige Arten der Lust: jene, die mit dem bei der Erfüllung unserer Bedürfnisse und der Verwirklichung unserer Kräfte sich abspielenden Vorgang, und jene, die mit der Ausübung der von uns erworbenen Kräfte verknüpft ist. Letztere ist die höhere Art der Lust. Lust ist eine für den natürlichen Zustand unseres Daseins typische Lebendigkeit (energeia). Die befriedigendste und vollkommenste Lust ist eine Qualität, die dem tätigen Gebrauch erworbener oder verwirklichter Kräfte zukommt. Sie schließt Freude und Spontaneität, eine durch nichts behinderte Aktivität ein, wobei „durch nichts behindert“ gleichbedeutend ist mit „nicht gehemmt“ oder „durch nichts beschränkt“. Somit vervollkommnet Lust unser Tätigsein und demzufolge auch das Leben. Lust und Leben sind einander verbunden, keines ist ohne das andere denkbar. Die größte und anhaltende Glückseligkeit ist eine Folge höchster menschlicher Betätigung, die dem Göttlichen verwandt ist: die Betätigung der Vernunft. Soweit der Mensch etwas Göttliches in sich trägt, wird er dementsprechend handeln. Aristoteles kommt zu einem Begriff der wahren Lust, der mit dem subjektiven Lusterlebnis des gesunden und reifen Menschen identisch ist.

Spinozas Theorie der Lust ähnelt in gewisser Hinsicht der platonischen und der aristotelischen, geht allerdings noch weit darüber hinaus. Auch er glaubte, Freude[56] sei die Folge eines rechten und tugendhaften Lebens, nicht aber ein Zeichen von Sündhaftigkeit, wie die gegen die Lust eingestellten Schulen behaupten. Er erweitert diese Theorie, indem er eine mehr auf Erfahrung beruhende und das Wesentliche kennzeichnende Definition des Begriffs „Freude“ gibt, die auf seiner anthropologischen Gesamtkonzeption basierte. Spinozas Begriff der Freude steht in Beziehung zum Begriff der Potenz (Kraft). „Freude (Lust) ist Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit; Traurigkeit (Unlust) ist Übergang des Menschen von größerer zu geringerer Vollkommenheit“ (Ethik, Teil III, Def. der Affekte 2 und 3).

Größere oder geringere Vollkommenheit ist dasselbe wie größeres oder geringeres Vermögen, die eigenen Fähigkeiten zu verwirklichen und sich dem „Modell der menschlichen Natur“ weiter anzunähern. Lust ist nicht das Ziel des Lebens, begleitet aber unfehlbar das produktive Tätigsein des Menschen. „Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst“ (a.a.O., Teil V, 42. Lehrsatz). Das Entscheidende an Spinozas Auffassung der Glückseligkeit liegt in seinem dynamischen Verständnis der Kraft. Goethe, Guyau, Nietzsche, um nur einige bedeutende Namen zu nennen, bauten ihre ethischen Theorien auf dem gleichen Grundgedanken auf - dass Lust kein primäres Handlungsmotiv sei, sondern eine Begleiterscheinung produktiven Tätigseins.

In der Ethik Spencers finden wir eine sehr umfassende und systematische Untersuchung des Lustprinzips, die für unsere weiteren Erörterungen einen vortrefflichen Ausgangspunkt bieten. [II-113]

Der Schlüssel zu Spencers Lust-Schmerz-Prinzip ist sein Evolutionsbegriff. Er behauptet, Lust und Schmerz hätten die biologische Funktion, den Menschen anzuregen, das zu tun, was sowohl ihm als Einzelwesen wie auch der menschlichen Rasse zuträglich sei; sie seien daher unerlässliche Faktoren im Evolutionsprozess. „Schmerzen sind die Korrelate von Handlungen, die dem Organismus schädlich sind, während Lust die Korrelate von Handlungen sind, die sein Wohlbefinden fördern“ (H. Spencer, 1902, Band I, S. 79). „Das Individuum oder die Gattung werden am Leben erhalten, indem sie das Angenehme suchen oder das Unangenehme meiden“ (a.a.O., S. 82). Obgleich Lust ein subjektives Erlebnis sei, dürfe sie doch nicht nur nach dem Verhältnis ihrer subjektiven Elemente beurteilt werden; sie habe auch einen objektiven Aspekt, nämlich den des physischen und geistigen Wohlbefindens des Menschen. Spencer gibt zu, dass in unserer heutigen Kultur viele Fälle „pervertierter“ Lust- und Schmerzerlebnisse vorkommen, und erklärt dieses Phänomen aus den Widersprüchen und Unvollkommenheiten der Gesellschaft. Ferner behauptet er,

mit der vollkommenen Anpassung der Menschheit an das gesellschaftliche Niveau wird auch die Erkenntnis der Wahrheit Hand in Hand gehen, dass Handlungen nur dann vollkommen richtig sein können, wenn sie abgesehen davon, dass sie im Besonderen und Allgemeinen einem künftigen Glück förderlich sind, auch unmittelbar als angenehm empfunden werden; umgekehrt ist das unmittelbar, nicht mittelbar empfundene Unangenehme ein Begleitumstand unrichtiger Handlungen (H. Spencer, 1902, S. 99).

Er sagt, dass diejenigen, die dem Schmerz eine günstige, beziehungsweise der Lust eine nachteilige Wirkung zuschreiben, sich einer Verdrehung schuldig machen, welche die Ausnahme als Regel erscheinen lasse.

Spencers Lehre der biologischen Funktion der Freude entspricht seiner soziologischen Theorie.

Eine Umbildung der menschlichen Natur für die Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens müsste alle notwendigen Betätigungen lustvoll machen, während sie Betätigungen, die im Widerspruch zu diesen Anforderungen stehen, unlustvoll macht. (H. Spencer, 1902, S. 183.)

Und weiterhin, „dass die Lust, die bei der Erreichung eines Zweckes mitwirkt, selbst zum Zweck wird“ (H. Spencer, 1902, S. 159).

Die Auffassungen von Platon, Aristoteles, Spinoza und Spencer haben folgendes gemeinsam:

  1. das subjektive Erlebnis der Lust ist an sich kein ausreichender Wertmaßstab;
  2. das Glück und das Gute stehen miteinander in Beziehung;
  3. ein objektives Kriterium für die Wertbestimmung der Lust ist möglich.

Als Kriterium für die rechte Lust wies Platon auf den „guten Menschen“ hin; Aristoteles auf die Bestimmung des Menschen; Spinoza, wie Aristoteles, auf die Verwirklichung der menschlichen Natur durch Gebrauch der dem Menschen innewohnenden Kräfte; Spencer auf die biologische und gesellschaftliche Evolution des Menschen.

Die bisher erwähnten Theorien über die Lust und ihre Funktion in der Ethik hatten den Mangel, dass sie nicht auf ausreichend gesicherte Daten auf der Grundlage genauer Beobachtungs- und Forschungstechniken aufbauten. Die Psychoanalyse mit ihrer minutiösen Erforschung der unbewussten Motive und der Dynamik des Charakters schuf die Grundlage für solche präzisierten Studien und Beobachtungen und [II-114] ermöglichte es, die Untersuchung der Lust als einer Lebensnorm über den traditionellen Rahmen hinaus zu ergänzen.

Die Psychoanalyse bestätigt die von den Gegnern der hedonistischen Ethik vertretene Auffassung, dass ein subjektives Befriedigungsgefühl an sich täuschen kann und kein gültiger Wertmaßstab ist. Die Einblicke der Psychoanalyse in das Wesen der masochistischen Strebungen beweisen die Richtigkeit der antihedonistischen Position. Alle masochistischen Wünsche können beschrieben werden als Begierde nach dem, was der Gesamtpersönlichkeit schädlich ist. In seinen stärker ausgeprägten Formen ist Masochismus der Wunsch nach physischem Schmerz und der durch diesen Schmerz entstehenden Lust. Als Perversion ist Masochismus mit sexueller Erregung und Befriedigung verbunden, wobei der Wunsch nach Schmerz bewusst ist. „Moralischer Masochismus“ besteht in dem Wunsch, psychisch verletzt, erniedrigt und beherrscht zu werden. Meist ist dieser Wunsch nicht bewusst, er wird vielmehr als Treue, Liebe oder Selbstverleugnung oder auch als Bejahung der Naturgesetze, des Schicksals oder anderer den Menschen transzendierender Mächte gedeutet. Die Psychoanalyse zeigt, wie tief masochistische Strebungen verdrängt und wie gut sie rationalisiert werden können.

Masochistische Phänomene sind jedoch nur ein besonders auffallendes Beispiel für unbewusste, objektiv schädliche Wünsche; alle Neurosen können als die Folge unbewusster Strebungen angesehen werden, die einen Menschen schädigen und seine Entwicklung hemmen. Das Verlangen nach etwas Schädlichem ist das Wesen psychischer Krankheit. Jede Neurose bestätigt daher, dass die Lust zu den wirklichen Interessen des Menschen im Widerspruch stehen kann.

Die Lust an der Befriedigung eines neurotischen Verlangens ist oft - aber durchaus nicht notwendig - unbewusst. Die masochistische Perversion ist ein Beispiel bewusster Lust an neurotischem Verlangen. Der Sadist, dem es Befriedigung gibt, andere zu demütigen, oder der Geizige, der sich am gehorteten Geld erfreut, können bewusst oder unbewusst Freude an der Befriedigung ihres Verlangens empfinden. Ob eine solche Lust bewusst empfunden oder verdrängt wird, hängt von zwei Faktoren ab: erstens von den Kräften im Menschen, die sich seinen irrationalen Strebungen widersetzen; zweitens davon, in welchem Maße der Sittenkodex der Gesellschaft das Gefallen an solcher Lust billigt oder ächtet. Die Verdrängung der Lust kann zweierlei bedeuten. Die oberflächlichere und häufigere Form der Verdrängung ist diejenige, bei der zwar bewusst Lust empfunden wird, doch nicht im Zusammenhang mit dem irrationalen Streben als solchem, sondern eher mit einem rational gefärbten Ausdruck desselben. Der Geizige zum Beispiel glaubt deshalb Befriedigung zu empfinden, weil er umsichtig für seine Familie gesorgt hat; der Sadist hält die Ursache seiner Lust für sittliche Entrüstung. Die radikalere Form der Verdrängung dagegen lässt keine bewusste Lust zu. Viele Sadisten werden aufrichtig bestreiten, dass es ihnen Lust bereitet, andere gedemütigt zu sehen. Aber die Analyse ihrer Träume und freien Assoziationen deckt das Vorhandensein einer unbewussten Lust auf.

Schmerz und Unglück können ebenfalls unbewusst sein, und ihre Verdrängung kann die gleichen Formen annehmen, die soeben in Bezug auf die Lust geschildert wurden. Ein Mensch fühlt sich unglücklich, weil er nicht den Erfolg hat, den er wünscht, oder [II-115] weil seine Gesundheit geschwächt ist, oder infolge irgendwelcher anderer Lebensumstände; die zugrunde liegende Ursache kann jedoch die ihm fehlende Produktivität sein, die Inhaltslosigkeit seines Lebens, seine Liebesunfähigkeit oder irgendwelche anderen inneren Defekte. Er rationalisiert sein Unglück und empfindet es daher nicht im Zusammenhang mit den wirklichen Ursachen. Aber auch hier geschieht die tiefgreifende Verdrängung des Unglücks dort, wo das Unglück überhaupt nicht bewusst wird. In diesem Fall hält sich ein Mensch für vollkommen glücklich, während er in Wirklichkeit unglücklich und unzufrieden ist.

Gegen die Annahme von unbewusstem Glück und Unglück kann der wichtige Einwand erhoben werden, dass Glück und Unglück mit unserem bewussten Gefühl identisch seien; Lust oder Schmerz zu empfinden, ohne es zu wissen, sei dasselbe, wie wenn man keine Lust oder keinen Schmerz empfinde. Diesem Einwand kommt mehr als eine nur theoretische Bedeutung zu. Er ist durch die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen und ethischen Folgerungen von größter Wichtigkeit. Wenn Sklaven sich keines Schmerzes über ihr Schicksal bewusst werden, wie könnte dann ein Außenstehender im Namen des menschlichen Glücks gegen die Sklaverei sein? Wenn der moderne Mensch so glücklich ist, wie er vorgibt, beweist dies dann nicht, dass wir die bestmögliche aller Welten eingerichtet haben? Genügt die Illusion des Glücks nicht, oder, besser gesagt, ist die „Illusion des Glücks“ nicht ein in sich widersprüchlicher Begriff?

Diese Einwände übergehen die Tatsache, dass sowohl Glück wie Unglück mehr sind als nur ein Geisteszustand. Glück und Unglück drücken in Wirklichkeit die Verfassung des gesamten Organismus, der Gesamtpersönlichkeit aus. Glück ist mit einer Zunahme an Vitalität, an Intensität des Fühlens und Denkens und an Produktivität verbunden. Unglück bedeutet eine Abnahme dieser Fähigkeiten und Funktionen. Glück und Unglück sind so sehr ein Zustand unserer Gesamtpersönlichkeit, dass körperliche Reaktionen oft mehr darüber verraten als bewusste Gefühle. Das angespannte Gesicht eines Menschen, Gleichgültigkeit, Müdigkeit oder physische Symptome wie Kopfschmerz, ja sogar schwerere Krankheitserscheinungen, sind häufiger Ausdruck von Unglück, so wie physisches Wohlbefinden ein „Glücks-Symptom“ sein kann. Unser Körper lässt sich über den Stand unseres Glücks nicht so leicht täuschen wie unser Geist, und man darf den Gedanken nicht von der Hand weisen, dass vielleicht eines Tages das Vorhandensein und Ausmaß von Glück oder Unglück durch eine Untersuchung der chemischen Prozesse im Körper ermittelt werden kann. In gleicher Weise steht auch die Funktion unserer seelisch-geistigen und emotionalen Fähigkeiten unter dem Einfluss unseres Glücks oder Unglücks. Die Klarheit unserer Vernunft und die Intensität unseres Fühlens sind davon abhängig. Unglück schwächt die psychischen Funktionen oder lähmt sie sogar. Glück stärkt sie. Das subjektive Glücksempfinden, sofern es nicht das gesamte Wohl-Sein des Menschen einschließt, ist lediglich ein illusorischer Gedanke über ein Gefühl und hat mit echtem Glück nichts zu tun.

Lust oder Glück, die nur im Kopfe eines Menschen existieren und nicht die Verfassung seiner Gesamtpersönlichkeit prägen, möchte ich Pseudo-Lust oder Pseudo-Glück nennen. Ein Beispiel: Jemand verreist und ist bewusst glücklich. Dieses [II-116] Gefühl hat er vielleicht nur deshalb, weil Glück das ist, was er von einer Vergnügungsreise erwartet; in Wirklichkeit kann er unbewusst enttäuscht und unglücklich sein. Ein Traum mag ihm die Wahrheit enthüllen, vielleicht erkennt er auch später, dass sein Glück nicht echt war. Pseudo-Schmerz kann man in vielen Situationen beobachten, in denen konventionellerweise Trauer oder Unglück erwartet und deshalb auch gefühlt wird. Pseudo-Lust und Pseudo-Schmerz sind in Wirklichkeit nur vorgegebene Gefühle. Es sind eher Gedanken über Gefühle als echte emotionale Erfahrungen.

2. Formen der Lust

Eine Analyse des qualitativen Unterschieds zwischen den verschiedenen Arten der Lust gibt uns, wie bereits angedeutet, den Schlüssel für das Problem des Verhältnisses zwischen Lust und sittlichen Werten.[57]

Eine Art der Lust, die von Freud und anderen für das Wesentliche jeder Lust gehalten wurde, ist das Gefühl, das die Befreiung von einer schmerzhaften Spannung begleitet. Hunger, Durst und das Bedürfnis nach sexueller Befriedigung, Schlafbedürfnis und der Wunsch nach körperlicher Bewegung haben ihren Ursprung in dem nach physikalisch-chemischen Gesetzen geregelten Organismus. Die objektive physiologische Notwendigkeit diese Ansprüche zu befriedigen, wird subjektiv als Verlangen empfunden. Sofern diese Bedürfnisse längere Zeit unbefriedigt bleiben, macht sich eine schmerzhafte Spannung bemerkbar. Ist diese Spannung behoben, so wird die Befreiung als Lust empfunden, oder, wie ich es nennen möchte, als Befriedigung (satisfaction). (Das englische Wort satisfaction kommt von satis-facere = zufriedenstellen und erscheint für die Bezeichnung dieser Art von Lust höchst angemessen.) Es gehört zum Wesen aller physiologisch bedingten Bedürfnisse, dass mit ihrer Befriedigung auch die Spannung endet, die auf den im Organismus vor sich gehenden physiologischen Veränderungen beruht. Wenn wir hungrig sind und essen, dann haben unser Organismus - und wir - bei einem gewissen Punkt genug und würden weitere Nahrungsaufnahme als schmerzvoll empfinden. Die Befriedigung über die Lösung der schmerzhaften Spannung ist die allgemeinste und psychologisch am leichtesten zu erlangende Lust. Sie kann auch zu einem der intensivsten Lustgefühle werden, wenn die Spannung lange angehalten hat und dadurch intensiv geworden ist. Die Bedeutung dieser Art von Lust steht außer Zweifel, und ebenso die Tatsache, dass sie im Leben vieler Menschen nahezu die einzige Form der Lust ist, die sie erleben.

Eine andere Art Lust, die sich zwar von der beschriebenen Art unterscheidet, doch gleichfalls durch Lösung einer Spannung verursacht wird, hat ihren Ursprung in psychischer Spannung. Ein Mensch kann das Empfinden haben, ein Wunsch entspringe einem Verlangen seines Körpers, während in Wirklichkeit dieser Wunsch durch [II-117] irrationale psychische Bedürfnisse bestimmt wird. Er kann großen Hunger haben, der nicht durch die normalen, physiologisch bedingten Bedürfnisse seines Organismus, sondern durch psychische Bedürfnisse hervorgerufen wird: Er will damit ein Gefühl der Angst oder Depression beschwichtigen (obgleich dies auch ein begleitender Umstand abnormer physikalisch-chemischer Prozesse sein kann). Es ist allgemein bekannt, dass ein Bedürfnis zu trinken oft gar nichts mit Durst zu tun hat, sondern psychisch bedingt ist.

Die Ursache eines starken sexuellen Bedürfnisses braucht ebenfalls nicht immer physiologisch, sondern kann auch psychisch sein. Ein unsicherer Mensch, der sich selber seinen Wert beweisen muss, der anderen seine Unwiderstehlichkeit zeigen oder sie, indem er in ihnen sexuelle Wünsche erweckt, beherrschen will, wird leicht ein starkes sexuelles Verlangen verspüren und daher eine schmerzhafte Spannung, falls seine Wünsche nicht befriedigt werden. Er wird annehmen, dass die Intensität seiner Wünsche einem Verlangen seines Körpers entspreche, während in Wirklichkeit dieses Verlangen durch seine psychischen Bedürfnisse ausgelöst wird. Neurotische Schläfrigkeit ist ein weiteres Beispiel für ein Bedürfnis, bei dem man das Empfinden hat, es werde wie normale Müdigkeit durch körperliche Bedingungen hervorgerufen, obgleich es psychischen Bedingungen, wie verdrängter Angst, Furcht oder Zorn, entspringt.

Diese Wünsche gleichen den normalen, physiologisch bedingten Bedürfnissen insofern, als beide auf einen Mangel oder auf eine Unzulänglichkeit zurückzuführen sind. In dem einen Fall beruht die Unzulänglichkeit auf normalen chemischen Prozessen innerhalb des Organismus; im anderen ist sie das Ergebnis einer gestörten psychischen Funktion. In beiden Fällen verursacht die Unzulänglichkeit Spannungen, und die Lösung dieser Spannungen bringt Lust. Alle anderen irrationalen Wünsche, die sich nicht in Form von körperlichen Bedürfnissen äußern (wie leidenschaftliches Verlangen nach Ruhm, Herrschsucht, der Wunsch, sich jemandem zu unterwerfen, oder Neid und Eifersucht), wurzeln gleichfalls in der Charakterstruktur eines Menschen und sind die Folge einer Lähmung oder Verzerrung der Persönlichkeit. Die in der Befriedigung dieser Leidenschaften empfundene Lust wird ebenso wie im Falle der neurotisch bedingten körperlichen Wünsche durch die Lösung einer psychischen Spannung verursacht.

Obwohl die Lust an der Befriedigung echter physiologischer und irrationaler psychischer Bedürfnisse darauf beruht, dass eine Spannung sich löst, bestehen doch wesentliche qualitative Unterschiede. Physiologisch bedingte Wünsche, wie Hunger, Durst usw., sind gestillt, sobald die physiologisch bedingte Spannung behoben ist, und treten erst wieder auf, wenn die physiologischen Bedürfnisse sich von neuem einstellen; ihrem Wesen nach sind sie also einem bestimmten Rhythmus unterworfen. Die irrationalen Wünsche dagegen sind unersättlich. Das Bedürfnis des neidischen, habgierigen oder sadistischen Menschen verschwindet auch dann nicht - oder höchstens vorübergehend -, wenn es befriedigt ist. Es liegt im Wesen dieser irrationalen Wünsche, dass sie nicht befriedigt werden können. Sie entstehen aus einem Unbefriedigtsein im Menschen selbst. Der Mangel an Produktivität und die daraus resultierende Kraftlosigkeit und Angst sind die Wurzel dieser leidenschaftlichen Süchte und irrationalen [II-118] Wünsche. Selbst dann, wenn ein Mensch seine Machtgier und seinen Zerstörungstrieb befriedigen könnte, würde es nichts an seiner Angst und an seiner Verlassenheit ändern, und daher würde die Spannung weiter bestehen. Der Segen der Phantasie wird zum Fluch. Da der Betreffende sich von seinen Ängsten nicht erlöst sieht, stellt er sich vor, dass noch stärkere Befriedigungen seine Gier heilen und sein inneres Gleichgewicht wieder herstellen würden. Aber die Gier ist ein Fass ohne Boden, und der Gedanke, durch ihre Befriedigung von ihr erlöst zu werden, ist eine Fata Morgana. Gier hat ihre Wurzeln nicht, wie so häufig angenommen wird, in der animalischen Natur des Menschen, sondern in seinem Geistig-Seelischen und in seinem Vorstellungsvermögen.

Wir haben gesehen, dass Lust, die in der Erfüllung physiologischer Bedürfnisse und neurotischer Wünsche begründet ist, durch Beseitigung einer schmerzhaften Spannung entsteht. Während jedoch die der ersten Kategorie wirklich befriedigend wirkt, also normal und als solche eine Voraussetzung des Glücks ist, bringt letztere höchstens vorübergehend Linderung, was auf eine pathologische Funktion und auf ein fundamentales Unglücklichsein hinweist. Im Gegensatz zu der „Befriedigung“, welche die Erfüllung normaler physiologischer Wünsche ist, möchte ich daher Lust, die ihre Ursache in der Erfüllung irrationaler Wünsche hat, „irrationale Lust“ nennen.

Für die Ethik ist der Unterschied zwischen irrationaler Lust und Glück um vieles wichtiger als derjenige zwischen irrationaler Lust und Befriedigung. Um diese Unterscheidungen zu verstehen, mag es angebracht sein, wenn wir hier den Begriff des psychologischen Mangels im Gegensatz zum Überfluss einführen.

Unerfüllte körperliche Bedürfnisse erzeugen eine Spannung, deren Lösung Befriedigung schafft. Der Mangel ist also die Basis dieser Befriedigung. In anderem Sinn wurzeln auch irrationale Wünsche in einem Mangel: in der Unsicherheit und Angst eines Menschen, die ihn dazu zwingt, andere zu hassen, zu beneiden oder sich ihnen zu unterwerfen; die Lust an der Erfüllung dieser Begierden beruht auf dem fundamentalen Mangel an Produktivität. Beide, sowohl die physiologischen wie die irrationalen psychischen Bedürfnisse, sind Teilerscheinungen eines Mangelsystems.

Außer dem Mangel gibt es aber auch Überfluss. Obwohl sogar im Tier überschüssige Energie vorhanden ist, die sich im Spiel ausdrückt (vgl. hierzu bes. G. Bally, 1945), ist Überfluss doch im wesentlichen ein menschliches Phänomen. Es ist der Bereich der Produktivität, der inneren Aktivität. Dieser Bereich kann nur in dem Maß vorhanden sein, wie der Mensch nicht für seinen bloßen Unterhalt arbeiten und dafür den größten Teil seiner Energien aufbrauchen muss. Die Evolution der menschlichen Rasse ist durch die Ausdehnung des Überflusses charakterisiert, jener überschüssigen Energien, welche für Zwecke zur Verfügung stehen, die über die bloßen Bedürfnisse hinausreichen. Alle spezifisch menschlichen Errungenschaften entspringen dem Überfluss.

In jedem Tätigkeitsbereich gibt es den Unterschied zwischen Mangel und Überfluss und demzufolge auch zwischen Befriedigung und Glück, sogar hinsichtlich elementarer Funktionen wie Hunger und Sexualität. Die Befriedigung physiologischer Bedürfnisse, wie etwa großen Hungers, ist lustvoll, denn sie löst eine Spannung. Die Lust, welche durch Befriedigung des Hungers entsteht, ist eine andere als die, welche [II-119] von der Befriedigung des Appetits herrührt. Appetit ist das Vorgefühl einer genussreichen Erfahrung des Geschmacks. Im Unterschied zum Hunger verursacht er keine Spannung. Geschmack in diesem Sinne ist ein Ergebnis der kulturellen Entwicklung und Verfeinerung, wie etwa musikalischer oder künstlerischer Geschmack, und kann sich nur dank einer Situation des Überflusses entwickeln. Das gilt sowohl im kulturellen wie auch im psychologischen Sinne des Wortes. Hunger ist eine Mangelerscheinung; seine Befriedigung ist eine Notwendigkeit. Appetit ist eine Erscheinung des Überflusses; seine Befriedigung ist keine Notwendigkeit, sondern ein Ausdruck von Freiheit und Produktivität. Die damit verbundene Lust kann als Freude bezeichnet werden.[58]

Hinsichtlich der Sexualität kann man ähnlich wie zwischen Hunger und Appetit unterscheiden. Freuds Sexualitätsbegriff geht davon aus, dass es sich um ein Bedürfnis handelt, das ausschließlich auf eine physiologisch bedingte Spannung zurückgeht und das, wie auch der Hunger, durch Befriedigung gestillt wird. Freud übersieht jedoch, dass es sexuelle Wünsche und Lust gibt, die dem Appetit entsprechen, also lediglich im Bereich des Überflusses existieren und somit ein ausschließlich menschliches Phänomen sind. Der sexuell „hungrige“ Mensch ist nach Beseitigung der Spannung befriedigt, wobei es gleichgültig ist, ob diese physiologischer oder psychischer Natur ist, und diese Befriedigung bewirkt seine Lust.[59] Sexuelle Lust aber, die wir Freude nennen, hat ihren Ursprung im Überfluss und in der Freiheit und ist ein Ausdruck sensueller und emotionaler Produktivität.

Man nimmt weiterhin an, dass Freude und Glück mit jenem Glück identisch seien, das mit der Liebe im Zusammenhang steht. Viele halten die Liebe für die einzige Quelle allen Glücks. Wir müssen aber auch bei der Liebe, wie bei allen anderen menschlichen Tätigkeiten, zwischen der produktiven und der nicht-produktiven Form unterscheiden. Nicht-produktive oder irrationale Liebe kann, wie ich bereits gezeigt habe, irgendeine Art masochistischer oder sadistischer Symbiose sein, bei der sich das Verhältnis zwischen den Partnern nicht auf gegenseitige Achtung und Integrität aufbaut, sondern wo beide voneinander abhängen, weil sie nicht in sich selbst ruhen können. Diese Liebe geht wie alle anderen irrationalen Strebungen auf einen Mangel zurück, auf den Mangel an Produktivität und innerer Sicherheit. Produktive Liebe - das engste Verhältnis zwischen zwei Menschen, in dem zugleich die Integrität jedes Einzelnen gewahrt wird - ist ein Phänomen des Überflusses. Die Fähigkeit dazu ist ein Zeugnis menschlicher Reife. Freude und Glück sind die Begleiterscheinungen der produktiven Liebe. [II-120]

In allen Tätigkeitsbereichen bestimmt der Unterschied zwischen Mangel und Überfluss die Qualität des Lust-Erlebnisses. Jeder Mensch erlebt Befriedigungen, irrationale Lust und Freuden. Die Menschen unterscheiden sich jedoch durch den Raum, den jedes dieser Lustgefühle in ihrem Leben einnimmt. Befriedigung und irrationale Lust erfordern keine emotionale Anstrengung; sie setzen lediglich die Fähigkeit voraus, die Bedingungen für die Lösung dieser Spannungen zu schaffen. Echte Freude ist eine Leistung; sie setzt eine innere Anstrengung voraus, nämlich die des produktiven Tätigseins.

Glück ist eine aus der inneren Produktivität des Menschen entstehende Leistung, kein Geschenk der Götter. Glück und Freude ist nicht die Befriedigung eines auf physiologischem oder psychologischem Mangel beruhenden Bedürfnisses; nicht die Beseitigung einer Spannung, sondern die Begleiterscheinung allen produktiven Tätigseins im Denken, Fühlen und Handeln. Freude und Glück unterscheiden sich nicht in der Qualität, sondern nur insofern, als Freude sich auf einen einzelnen Akt bezieht, während man vom Glück sagen kann, es sei eine stetige oder integrierte Erfahrung von Freude. Wir können von „Freuden“ in der Mehrzahl sprechen, von „Glück“ jedoch nur in der Einzahl.

Glück deutet darauf hin, dass der Mensch die Lösung des Problems der menschlichen Existenz gefunden hat: die produktive Verwirklichung seiner Möglichkeiten und somit zugleich das Einssein mit der Welt und das Bewahren der Integrität seines Selbst. Indem er seine Energie produktiv gebraucht, steigert er seine Kräfte: Er „brennt, ohne verzehrt zu werden“ (Ex 3,2).

Glück ist das Kriterium der Tüchtigkeit in der Kunst des Lebens, also der Tugend im Sinne der humanistischen Ethik. Oft wird Glück als logisches Gegenteil von Kummer oder Schmerz bezeichnet. Physische oder seelische Leiden sind ein Bestandteil des menschlichen Daseins; dass man sie erlebt, ist unvermeidlich. Sich um jeden Preis vor Schmerz zu schützen, kann nur mit vollständiger Absonderung erkauft werden, wodurch auch die Möglichkeit, Glück zu erleben, ausgeschlossen wird. Das Gegenteil von Glück ist also nicht Kummer oder Schmerz, sondern die Depression, die aus innerer Sterilität und Unproduktivität entsteht.

Bisher haben wir uns mit den Formen des Lust-Erlebens beschäftigt, welche die engste Beziehung zur Ethik haben: Befriedigung, irrationale Lust, Freude und Glück. In aller Kürze möchte ich noch zwei weitere, weniger komplexe Formen der Lust betrachten. Bei der einen handelt es sich um die Lust, die bei der Bewältigung irgendeiner übernommenen Aufgabe erlebt wird. Ich schlage hierfür den Ausdruck „Genugtuung“ vor. Etwas zu erreichen, das man sich vorgenommen hat, schafft Genugtuung, auch wenn die Aktivität selbst nicht unbedingt produktiv ist; es beweist die eigene Kraft und die Fähigkeit, sich erfolgreich mit der Außenwelt auseinanderzusetzen. Genugtuung hängt kaum von einer besonderen Tätigkeit ab. Ein Mensch kann ebenso viel Genugtuung in einer guten Tennispartie wie in geschäftlichen Erfolgen finden. Wesentlich ist nur, dass die Aufgabe, die er durchführen will, eine gewisse Schwierigkeit bietet und dass er ein befriedigendes Ergebnis erreicht.

Die andere noch zu erörternde Form der Freude basiert nicht auf Anstrengung, sondern auf Entspannung; sie begleitet mühelose, doch angenehme Beschäftigungen. [II-121] Die wichtige biologische Funktion der Entspannung besteht darin, dass sie den Rhythmus des Organismus, der ja nicht ständig aktiv sein kann, reguliert. Das Wort „Vergnügen“ ohne jede weitere Qualifikation ist eine sehr treffende Bezeichnung für diese sich aus Entspannung ergebende Art des Wohlgefühls.

In unserer Untersuchung gingen wir vom problematischen Charakter der hedonistischen Ethik aus, die behauptet, Lust sei das Ziel des Lebens und daher etwas in sich Gutes. Durch unsere Analyse der verschiedenen Formen der Lust sind wir in der Lage, unsere Auffassung über die ethische Bedeutung der Lust zu formulieren. „Befriedigung“ als Lösung einer physiologisch bedingten Spannung ist weder gut noch schlecht. Soweit es die ethische Bewertung betrifft, ist sie ebenso neutral wie „Genugtuung“ und „Vergnügen“. „Irrationale Lust“ und „Glück“ (Freude) sind Erfahrungen von ethischer Bedeutung. Irrationale Lust ist ein Zeichen von Gier, ein Zeichen des Versagens bei der Lösung der menschlichen Lebensprobleme. Glück (Freude) dagegen beweist einen partiellen oder totalen Erfolg in der „Kunst des Lebens“. „Glück“ ist die größte Leistung des Menschen; es ist die Antwort seiner Gesamtpersönlichkeit auf eine produktive Orientierung sich selbst und der Außenwelt gegenüber.

Der Hedonismus war nicht imstande, das Wesen der Lust erschöpfend zu analysieren; er erweckte daher den Anschein, als ob das, was im Leben am leichtesten ist - nämlich irgendeine Art der Lust zu empfinden - zugleich auch das Wertvollste wäre. Etwas Wertvolles aber ist niemals leicht. Dank dieses hedonistischen Irrtums lag es nahe, gegen Freiheit und Glück zu argumentieren und zu behaupten, dass gerade der Verzicht auf Lust ein Beweis für Rechtschaffenheit sei. Die humanistische Ethik kann Glück und Freude durchaus als wichtigste Tugenden annehmen, aber damit stellt sie dem Menschen nicht die leichteste, sondern die schwerste Aufgabe: Sie fordert die volle Entfaltung seiner Produktivität.

3. Das Problem von Mittel und Zweck

Lust als Zweck oder Lust als Mittel - dieses Problem ist von besonderer Bedeutung für unsere heutige Gesellschaft, die über der zwanghaften Beschäftigung mit den Mitteln oft den Zweck vergisst.

Das Problem „Zweck und Mittel“ wurde von Spencer äußerst klar erfasst. Er setzte voraus, dass Lust, die mit einem Zweck verbunden sei, notwendigerweise auch die Mittel, die zu diesem Zweck hinführen, lustvoll mache. Spencer nimmt an, dass in einem Stadium, in dem die Menschheit sich den sozialen Verhältnissen vollkommen angepasst habe, „Handlungen nur dann vollkommen richtig sein können, wenn sie, abgesehen davon, dass sie im allgemeinen oder im Besonderen einem zukünftigen Glück dienen, auch unmittelbar lustvoll sind; umgekehrt ist Schmerz, und zwar nicht nur der mittelbare, sondern der unmittelbare, eine Begleiterscheinung von unrichtigen Handlungen“ (H. Spencer, 1902, Band I, S. 99).

Im ersten Augenblick klingt Spencers Annahme plausibel. Plant jemand beispielsweise eine Vergnügungsreise, so sind die Vorbereitungen hierfür vermutlich [II-122] lustvoller Art. Aber dies trifft nicht immer zu, denn es gibt auch viele vorbereitende Handlungen zu einem erstrebten Zweck, die nicht lustvoll sind. Muss ein Kranker sich einer schmerzhaften Behandlung unterziehen, so macht der Endzweck, nämlich seine Gesundheit, die Behandlung als solche nicht lustvoll; ebenso wenig lustvoll sind die Schmerzen einer Niederkunft. Um einen erstrebten Zweck zu erreichen, nehmen wir manches Unerfreuliche auf uns, nur weil die Vernunft uns sagt, dass wir es tun müssen. Bestenfalls darf man behaupten, dass die Unannehmlichkeit durch die Aussicht auf die daraus entstehende Lust mehr oder weniger verringert wird; diese Vorwegnahme des lustvollen Endzwecks kann die mit den Mitteln verbundene Unannehmlichkeit sogar aufwiegen.

Aber das Problem Mittel und Zweck ist damit noch nicht erschöpft. Wichtiger sind andere Aspekte dieses Problems, die nur verstanden werden können, wenn man auch unbewusste Motivierungen berücksichtigt.

Ein Beispiel für die Beziehung zwischen Mittel und Zweck, das Spencer gibt, kann uns gute Dienste leisten. Er beschreibt die Lust, die ein Geschäftsmann empfindet, wenn seine Bücher beim Abschluss bis auf den Penny stimmen. „Würde man ihn fragen“, sagt Spencer, „warum dieses ganze umständliche Verfahren sein müsse, das mit dem eigentlichen Geldverdienen nichts zu tun habe und noch weniger mit Freude am Leben, so wird seine Antwort lauten, dass eine korrekte Buchführung den Sinn habe, eine Voraussetzung zum Zwecke des Geldverdienens zu erfüllen; die Voraussetzung werde in sich selbst zum unmittelbaren Zweck, zu einer Pflicht, die man tun müsse, damit auch die weitere Pflicht erfüllt werden könne, ein Einkommen zu erzielen, und somit auch die Pflicht, sich selbst und seine Familie zu erhalten“ (H. Spencer, 1902, S. 161). Nach Spencer ergibt sich die Lust an den Mitteln (in unserem Beispiele also an der Buchhaltung) aus der Lust am Zweck: Lebensfreude oder „Pflicht“. Spencer erkannte zweierlei Probleme nicht. Das augenfälligere ist, dass der bewusst wahrgenommene Zweck etwas anderes sein kann als der unbewusst wahrgenommene. Ein Mensch kann meinen, sein Ziel (oder sein Motiv) sei Lebensfreude oder die Pflichterfüllung seiner Familie gegenüber, während sein reales, wenn auch unbewusstes Ziel die Macht ist, die er mittels des Geldes erreicht, oder die Lust, die er aus dem Horten desselben gewinnt.

Das zweite - und wichtigere - Problem folgt aus der Annahme, dass die Lust, die in Beziehung zu den Mitteln steht, notwendigerweise auf der Lust beruht, die in Beziehung zum Zweck steht. Natürlich ist es möglich, dass die Lust am Zweck, also die zukünftige Verwendung des Geldes, auch die zu diesem Zweck führenden Mittel (die Buchhaltung) lustvoll macht, wie Spencer annimmt. Die Lust an der Buchhaltung kann aber auch ganz andere Gründe haben, so dass es eine Beziehung zum angenommenen Zweck vielleicht gar nicht gibt. Ein Beispiel hierfür wäre ein Geschäftsmann, der seine Buchhaltertätigkeit wie ein Besessener genießt und höchst beglückt ist, wenn seine Konten bis auf den Penny stimmen. Untersuchen wir seine Lust, so werden wir feststellen, dass er ein von Ängsten und Zweifeln erfüllter Mensch ist; an der Buchhaltung empfindet er nur deshalb Freude, weil er dabei „aktiv“ ist, ohne Entscheidungen treffen oder Risiken auf sich nehmen zu müssen. Stimmt die Bilanz, dann freut er sich, weil die Richtigkeit der Zahlen eine symbolische Antwort auf seine [II-123] Zweifel ist, die er sich selbst und dem Leben gegenüber hegt. Für ihn hat die Buchhaltung dieselbe Funktion wie für einen andern das Patiencespiel oder für einen Dritten das Abzählen der Fenster an einem Haus. Die Mittel sind vom Ziel unabhängig. Sie haben die Rolle des Zwecks an sich genommen. Das angebliche Ziel existiert nur noch in der Einbildung.

Das im Hinblick auf Spencers Erläuterung beste Beispiel für ein Mittel, das sich selbständig machte und zu einer Lust wurde (nicht wegen der Lust am Zweck, sondern wegen bestimmter Faktoren, die nichts mit dem Zweck zu tun haben), ist die Bedeutung der Arbeit, wie sie sich, besonders unter dem Einfluss des Calvinismus, in den Jahrhunderten nach der Reformation herausbildete.

Das anstehende Problem berührt einen wunden Punkt der heutigen Gesellschaft. Ein sehr charakteristisches psychologisches Merkmal des modernen Lebens ist die Tatsache, dass Tätigkeiten, die eigentlich Mittel zum Zweck sind, mehr und mehr zu Zwecken werden, während die ursprünglichen Zwecke nur noch ein unwirkliches Schattendasein führen. Die Menschen arbeiten, um Geld zu verdienen; sie verdienen Geld, um es für erfreuliche Dinge zu verwenden. Die Arbeit ist das Mittel, die Freude der Zweck. Aber was geschieht in Wirklichkeit? Die Menschen arbeiten, um mehr Geld zu verdienen; sie verwenden dieses Geld, um noch mehr Geld zu verdienen, und der Zweck - die Freude am Leben - wird aus dem Auge verloren. Die Menschen sind immer in Eile und erfinden alles Mögliche, um mehr Zeit zu gewinnen. Dann benutzen sie die eingesparte Zeit, um weiter herumzuhetzen und noch mehr Zeit zu sparen, bis sie schließlich so erschöpft sind, dass sie mit der eingesparten Zeit nichts mehr anfangen können. Wir sind in einem Netz von Mitteln gefangen und haben die Zwecke aus den Augen verloren. Wir haben den Rundfunk, der jedem das Beste an Musik und Literatur bringen könnte. Was wir stattdessen hören, ist zum größten Teil Kitsch auf dem Niveau der Regenbogenpresse oder Reklame, die unsere Intelligenz und unseren Geschmack beleidigen. Wir besitzen das wunderbarste Instrumentarium von Mitteln, das der Mensch je hatte, aber wir halten nicht inne, um uns zu fragen, wofür es da ist. (Vgl. die Beschreibung dieses Phänomens in Saint-Exuperys Der kleine Prinz, 1956.)

Die Überbetonung der Zwecke bewirkt in mannigfacher Hinsicht eine Störung des harmonischen Gleichgewichtes zwischen Mittel und Zweck. Eine der Störungen besteht darin, dass nur noch der Zweck Gewicht hat und die Rolle der Mittel nicht genügend berücksichtigt wird. Die Folge dieser Störung ist, dass die Zwecke abstrakt und unwirklich werden und schließlich nur noch Luftschlösser sind. Auf diese Gefahr hat Dewey ausdrücklich hingewiesen. Die Isolierung der Zwecke kann auch neue gegenteilige Wirkungen haben: Der Zweck wird zwar ideologisch beibehalten, dient aber nur als Deckmantel, damit der Nachdruck auf diejenigen Tätigkeiten gelegt werden kann, die angeblich Mittel zu diesem Zweck sind. Dieser Mechanismus steht unter dem Leitsatz: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Die Befürworter dieses Prinzips übersehen, dass die Anwendung destruktiver Mittel ihre eigenen Konsequenzen hat, die in Wirklichkeit den Zweck verändern, selbst wenn er ideologisch beibehalten wird.

Hinsichtlich des Problems Mittel-Zweck ist Spencers Grundgedanke über die gesellschaftliche Funktion lustvoller Tätigkeiten von großer soziologischer Bedeutung. Im [II-124] Zusammenhang mit seiner Auffassung, das Lust-Erlebnis habe die biologische Funktion, Tätigkeiten, die dem menschlichen Wohlbefinden dienen, angenehm und somit auch anziehend zu machen, kommt er zu der Feststellung, dass „eine Umbildung der menschlichen Natur zwecks Eignung für die Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens letztlich alle notwendigen Tätigkeiten lustvoll machen muss, während sie jede Tätigkeit, die diesen Anforderungen widerspricht, unlustvoll macht“ (H. Spencer, 1902, Band I, S. 138). Er fährt fort: „Angenommen, sie stehe mit der Erhaltung des Lebens in Einklang, dann kann es keine Tätigkeit geben, die bei ihrer weiteren Ausübung nicht zu einer Quelle der Lust wird. Daher wird Lust jede Bewegung oder Handlung begleiten, für die eine gesellschaftliche Notwendigkeit besteht“ (a.a.O., S. 186).

Spencer berührt hier einen der wichtigsten Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens: Jede Gesellschaft tendiert dahin, die Charakterstruktur ihrer Glieder in der Weise zu formen, dass sie das tun wollen, was sie zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktion tun müssen. Spencer übersieht allerdings, dass in einer Gesellschaft, deren Interesse dem wirklichen menschlichen Interesse ihrer Mitglieder abträglich ist, auch solche Tätigkeiten befriedigend werden können, die dem Menschen schaden, doch der Funktion dieser besonderen Gesellschaft nützen. Sogar Sklaven haben es gelernt, mit ihrem Los zufrieden zu sein, ebenso Tyrannen, an der Grausamkeit Freude zu empfinden. Der Zusammenhalt jeder Gesellschaft beruht gerade darauf, dass es kaum eine Tätigkeit gibt, die nicht lustvoll gestaltet werden kann. Aus dieser Tatsache ergibt sich, dass das von Spencer beschriebene Phänomen sowohl zu einer Ursache für die Hemmung als auch für die Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts werden kann. Es geht also darum, dass man die Bedeutung und die Funktion jeder besonderen Tätigkeit versteht, ebenso die von ihr hergeleitete Befriedigung, und zwar in Begriffen, die der Natur des Menschen und den geeigneten Lebensbedingungen entsprechen. Wie bereits ausgeführt wurde, besteht ein Unterschied zwischen der Befriedigung, die von irrationalen Trieben herrührt, und der Lust an Tätigkeiten, die dem Wohlbefinden des Menschen dienen. Eine solche Befriedigung ist kein Wertkriterium. Spencer hat recht mit seiner Behauptung, dass jedes gesellschaftlich nützliche Tun zur Quelle von Lust werden kann, aber er irrt in der Annahme, dass die mit solchen Tätigkeiten verbundene Lust ihren sittlichen Wert beweise. Objektiv gültige Gesetze, wie sie Spencer entdecken wollte, kann man nur finden, wenn man die Natur des Menschen analysiert und die Widersprüche aufdeckt, die zwischen seinen wirklichen Interessen und den Interessen bestehen, die ihm von einer gegebenen Gesellschaft aufgezwungen werden. Spencers Optimismus bezüglich seiner eigenen Gesellschaft und deren Zukunft, ferner das Fehlen einer Psychologie, die das Phänomen irrationaler Begierden und deren Befriedigung behandelt, hatten zur Folge, dass Spencer unabsichtlich zum Wegbereiter jenes heute so populär gewordenen ethischen Relativismus wurde.

d) Glaube als Charakterzug

Glaube besteht darin, das anzunehmen, wozu meine Seele „ja“ sagt; Unglaube, es zu verleugnen. (Emerson)

Glaube[60] gehört nicht zu den Begriffen, die in das geistige Klima unserer heutigen Welt zu passen scheinen. Im Gegensatz zum rationalen und wissenschaftlichen Denken assoziiert man mit Glaube gewöhnlich Gott und religiöse Lehren. Beim rationalen und wissenschaftlichen Denken setzt man voraus, dass es sich auf den Tatsachenbereich beziehe, der sich von einem die Tatsachen transzendierenden Bereich unterscheide, in dem für wissenschaftliches Denken kein Raum sei und nur der Glaube herrsche. Für viele ist diese Trennung unhaltbar. Kann der Glaube nicht mit dem rationalen Denken in Einklang gebracht werden, dann muss er als anachronistisches Überbleibsel früherer Kulturstufen ausgeschieden und durch Wissenschaft ersetzt werden, die sich mit einsichtigen und nachprüfbaren Tatsachen und Theorien befasst.

Die moderne Einstellung zum Glauben verbreitete sich nach langem Kampf gegen die Autorität der Kirche und deren Anspruch, jedes Denken beherrschen zu wollen. So hängt der Skeptizismus in Glaubensfragen aufs engste mit dem Vormarsch der Vernunft zusammen. Dieses konstruktive Element des modernen Skeptizismus hat jedoch eine entgegengesetzte Seite, die nicht genügend beachtet wurde.

Unsere Einblicke in die Charakterstruktur des modernen Menschen und in die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse führen zu der Erkenntnis, dass der allgemeine Mangel an Glauben nicht mehr den fortschrittlichen Aspekt hat wie in früheren Generationen. Damals war der Kampf gegen den Glauben ein Kampf für die Befreiung aus entwürdigenden geistigen Fesseln. Es war ein Kampf gegen den irrationalen Glauben, ein Ausdruck des Vertrauens in die Vernunft und die Fähigkeit des Menschen, eine von den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bestimmte gesellschaftliche Ordnung zu errichten. Heute dagegen ist das Fehlen des Glaubens der Ausdruck tiefer Verwirrung und Verzweiflung. Für die Entwicklung des Denkens waren Skeptizismus und Rationalismus einst fortschrittliche Kräfte, heute sind es Rationalisierungen für Relativismus und Ungewissheit. Die Annahme, das Sammeln immer neuer Tatsachen müsse zur Erkenntnis der Wahrheit führen, ist zu einem Aberglauben geworden. Die Wahrheit selbst wurde für gewisse Kreise zu einem metaphysischen Begriff und die Aufgabe der Wissenschaft zu einer Funktion, die sich auf das Zusammentragen von Informationen zu beschränken hat. Hinter einer Fassade angeblicher rationaler Gewissheiten steht eine tiefe Ungewissheit, welche die Menschen geneigt macht, jede Philosophie, mit der man auf sie einwirken will, anzunehmen oder mit ihr Kompromisse einzugehen.

Kann der Mensch ohne Glauben leben? Muss nicht schon der Säugling „Glauben an die Brust seiner Mutter“ haben? Müssen wir nicht alle Glauben an unsere Mitmenschen haben, an jene, die wir lieben, und an uns selbst? Können wir leben, ohne an die für unser Leben gültigen Normen zu glauben? Ohne Glauben wird der Mensch steril, hoffnungslos und bis ins Innerste seines Seins verängstigt. [II-126]

War also der Kampf gegen den Glauben vergeblich, blieben die Errungenschaften der Vernunft unwirksam? Müssen wir uns wieder der Religion zuwenden, oder müssen wir uns damit abfinden, ohne Glauben zu leben? Ist Glaube notwendigerweise eine Sache des Glaubens an Gott oder an religiöse Lehren? Steht er in so engem Zusammenhang mit der Religion, dass er deren Schicksal teilen muss? Steht Glaube zwangsläufig im Gegensatz zu rationalem Denken oder ist er von diesem zu trennen? Ich werde nachzuweisen suchen, dass diese Fragen beantwortet werden können, indem man Glauben als eine Grundhaltung des Menschen betrachtet, als einen Charakterzug, der seine sämtlichen Erfahrungen durchdringt und ihn befähigt, der Wirklichkeit illusionslos ins Gesicht zu sehen und trotzdem in seinem Glauben zu leben. Es ist schwierig, Glauben nicht primär als Glauben an etwas aufzufassen, sondern als Glauben im Sinne einer inneren Haltung, deren spezifischer Inhalt von sekundärer Bedeutung ist. Vielleicht erleichtert es das Verständnis, wenn man daran erinnert, dass der Terminus „Glaube“, wie er im Alten Testament gebraucht wird, emunah = „Standhaftigkeit“ bedeutet. Er bezeichnet somit eine bestimmte Eigenschaft des menschlichen Erlebens, also mehr einen Charakterzug als den Inhalt eines Glaubens an etwas.

Das Problem wird klarer, wenn man zuvor das Problem des Zweifels erörtert. Auch unter Zweifel versteht man gewöhnlich Zweifel oder Verwirrung hinsichtlich dieser oder jener Annahme, dieser oder jener Idee, diesem oder jenem Menschen. Zweifel kann aber ebenfalls als Haltung beschrieben werden, die einen Menschen so vollkommen durchdringt, dass der besondere Gegenstand, auf den sich der Zweifel richtet, von sekundärer Bedeutung ist. Um das Phänomen Zweifel zu erfassen, muss man zwischen rationalem und irrationalem Zweifel differenzieren. Ich werde später hinsichtlich des Phänomens „Glaube“ im gleichen Sinne unterscheiden.

Irrationaler Zweifel ist keine verstandesmäßige Reaktion auf eine falsche oder Missverstandene Annahme, sondern vielmehr ein Zweifel, der das Leben eines Menschen gefühlsmäßig und intellektuell prägt. Für ihn gibt es in keiner Lebenssphäre eine Erfahrung, die ihm Gewissheit bedeutet; alles erscheint zweifelhaft, nichts gewiss.

Die extremste Form des irrationalen Zweifelns ist die neurotische Zweifelsucht. Der Mensch, der davon besessen ist, wird zwanghaft getrieben, alles zu bezweifeln, worüber er nachdenkt, oder von allem verwirrt zu werden, was er tut. Der Zweifel bezieht sich häufig auf die wichtigsten Fragen und Lebensentscheidungen. Oft tritt er jedoch auch bei ganz nebensächlichen Entscheidungen auf, etwa bei der Frage, welcher Anzug getragen oder ob eine Einladung angenommen werden soll. Irrationaler Zweifel ist immer quälend und ermüdend, ganz gleich, worauf er sich bezieht oder ob es sich um nebensächliche oder wichtige Dinge handelt.

Die psychoanalytische Erforschung des Mechanismus zwanghaften Zweifelns zeigt, dass es sich hierbei um Rationalisierungen unbewusster Gefühlskonflikte handelt, die aus einem Mangel an Integration der Gesamtpersönlichkeit und aus einem intensiven Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit entstehen. Nur dann, wenn man die Ursachen des Zweifels erkennt, kann man die Willenslähmung überwinden, die aus der inneren Erfahrung der Ohnmacht hervorgeht. Wird eine solche Einsicht nicht erreicht, so schafft sich der Betreffende Ersatzlösungen, die zwar unbefriedigend sind, aber [II-127] wenigstens die quälenden manifesten Zweifel beseitigen. Eine dieser Ersatzlösungen ist zwanghafte Geschäftigkeit, die zeitweilig Erleichterung bringt. Eine weitere besteht in der Annahme irgendeines „Glaubens“, in dem der Mensch sozusagen mit seinen Zweifeln untertaucht.

Die typische Form des heute herrschenden Zweifels ist jedoch nicht die eben beschriebene aktive Haltung, sondern eher eine Haltung der Gleichgültigkeit, bei der alles möglich und nichts gewiss ist. Es gibt immer mehr Menschen, die in Bezug auf alles - sei es Politik, Arbeit, Moral - Verwirrung fühlen und die, was weit schlimmer ist, diese Verwirrung für einen normalen Zustand halten. Sie fühlen sich isoliert, ratlos und ohnmächtig. Das Leben erfahren sie nicht in ihrem eigenen Denken, Fühlen und Wahrnehmen, sondern in solchen Erfahrungen, die man von ihnen erwartet. Während in diesen automatisierten Menschen der aktive Zweifel verschwunden ist, sind Gleichgültigkeit und Relativismus an seine Stelle getreten.

Im Gegensatz zum irrationalen Zweifel stellt der rationale Zweifel alle Voraussetzungen in Frage, deren Gültigkeit vom Glauben an eine Autorität, nicht aber von der eigenen Erfahrung abhängt. Dieser Zweifel ist ein wichtiger Faktor in der Persönlichkeitsentwicklung. Das Kind nimmt zunächst alle Ideen seiner Eltern an, weil es deren Autorität nicht bezweifelt. Es entwickelt ein kritisches Bewusstsein, sobald es sich von ihrer Autorität emanzipiert und sein eigenes Selbst entwickelt. Im Heranwachsen beginnt das Kind den Wahrheitsgehalt der Märchen anzuzweifeln, die es vorher, ohne zu fragen, hingenommen hatte. Seine kritischen Fähigkeiten nehmen im gleichen Maße zu, wie es sich von der elterlichen Autorität freimacht und erwachsen wird.

Historisch gesehen, ist der rationale Zweifel eine der entscheidendsten Triebkräfte des modernen Denkens. Von ihm hat die moderne Philosophie, wie auch die Wissenschaft, ihre fruchtbarsten Anregungen erhalten. Hier, wie auch in der Entwicklung des Einzelnen, ist das Aufkommen des rationalen Zweifels mit der wachsenden Emanzipation von der Autorität verknüpft, sei es von der der Kirche oder der des Staates.

Hinsichtlich des Glaubens möchte ich im gleichen Sinne differenzieren, wie es hinsichtlich des Zweifels geschehen ist: also zwischen irrationalem und rationalem Glauben. Unter irrationalem Glauben verstehe ich den Glauben an einen Menschen, eine Idee oder ein Symbol, der auf keiner eigenen Denk- oder Gefühlserfahrung beruht, sondern die gefühlsmäßige Unterwerfung unter eine irrationale Autorität zur Grundlage hat.

Ehe wir weitergehen, muss auf den Zusammenhang zwischen Unterwerfung und intellektuellen beziehungsweise emotionalen Prozessen näher eingegangen werden. Es ist hinreichend bewiesen, dass ein Mensch, der seine innere Unabhängigkeit aufgegeben und sich einer Autorität unterworfen hat, dahin tendiert, die Erfahrung der Autorität an die Stelle der eigenen zu setzen. Das einleuchtendste Beispiel hierfür ist die hypnotische Situation. Ein Mensch unterwirft sich der Autorität eines anderen, und im Zustand des hypnotischen Schlafes ist er bereit, das zu denken und zu fühlen, was der Hypnotiseur ihn denken und fühlen „macht“. Sogar nach dem hypnotischen Schlaf wird er den Suggestionen des Hypnotiseurs folgen, obwohl er überzeugt ist, aus eigenem Urteil und aus eigener Initiative heraus zu handeln. Suggeriert der Hypnotiseur zum Beispiel jemandem, dass er zu einer festgesetzten Stunde frieren wird [II-128] und einen Mantel anziehen soll, so wird der Betreffende dieses suggerierte Gefühl auch in der nachhypnotischen Situation empfinden und entsprechend handeln. Er wird dabei überzeugt sein, dass seine Gefühle und Handlungen nur durch die Wirklichkeit und seine eigene Willensentscheidung veranlasst werden.

Die hypnotische Situation ist zwar das überzeugendste Experiment, an dem man das wechselseitige Verhältnis zwischen Unterwerfung unter eine Autorität und Denkvorgängen demonstrieren kann, doch davon abgesehen gibt es genügend relativ alltägliche Situationen, in denen sich der gleiche Mechanismus kundtut. Die Art, wie Menschen auf einen Führer reagieren, der über eine starke Suggestivkraft verfügt, mag als Beispiel einer halbhypnotischen Situation gelten. Auch hier beruht das bedingungslose Hinnehmen seiner Ideen nicht auf einer Überzeugung der Zuhörer, die sich auf Grund eigenen Nachdenkens oder eigener kritischer Erwägungen hinsichtlich der vorgetragenen Ideen gebildet hat. Die eigentliche Ursache ist ihre gefühlsmäßige Unterwerfung unter den Redner. Sie haben die Illusion, dass sie verstandesgemäß mit seinen Ideen übereinstimmen und ihm deshalb Gefolgschaft leisten. Sie fühlen, dass sie ihn akzeptieren, weil sie mit seinen Ideen übereinstimmen. In Wirklichkeit ist die Reihenfolge umgekehrt: Sie pflichten seinen Ideen bei, weil sie sich auf halbhypnotische Weise seiner Autorität unterworfen haben. In seinen Hinweisen auf die Zweckmäßigkeit abendlicher Propagandaveranstaltungen gab Hitler eine ausgezeichnete Beschreibung dieses Vorgangs. Er sagte: „Der überragenden Redekunst einer beherrschenden Apostelnatur wird es nun (am Abend) leichter gelingen, Menschen dem neuen Wollen zu gewinnen, die selbst bereits eine Schwächung ihrer Widerstandskraft in natürlicher Weise erfahren haben, als solche, die noch im Vollbesitz ihrer geistigen und willensmäßigen Spannkraft sind“ (A. Hitler, 1933, S. 531).

Für den irrationalen Glauben hat der Satz: „Credo quia absurdum est“ („Ich glaube, weil es absurd ist“ - eine etwas entstellte Fassung eines Satzes von Tertullian) seine psychologische Gültigkeit. Macht jemand eine Feststellung, die rational begründet ist, dann tut er etwas, das im Prinzip auch jeder andere tun könnte. Wagt er jedoch, eine rational absurde Feststellung zu machen, dann beweist er damit, dass er die Möglichkeiten des gesunden Menschenverstandes überschritten hat und eine magische Kraft besitzt, die ihn über den Durchschnittsmenschen erhebt.

In der Fülle historischer Beispiele für einen irrationalen Glauben ist vielleicht der biblische Bericht über die Befreiung der Hebräer vom ägyptischen Joch einer der markantesten Beiträge zum Glaubensproblem. Im ganzen Bericht werden die Hebräer als Menschen beschrieben, die zwar unter der Versklavung leiden, sich aber vor einer Rebellion fürchten und die Sicherheit ihres Sklavendaseins nicht aufgeben wollen. Sie verstehen nur die Sprache der Macht. Diese Macht fürchten sie, unterwerfen sich ihr jedoch. Gegen Gottes Auftrag, sich selber als Vertreter Gottes auszugeben, wendet Moses ein, die Hebräer würden nicht an einen Gott glauben, dessen Namen sie nicht einmal kennen. Obwohl er keinen Namen annehmen will, erklärt Gott sich bereit, den Wunsch der Hebräer nach Gewissheit zu erfüllen. Moses besteht darauf, dass auch ein Name noch keine ausreichende Sicherheit biete, um die Hebräer zu bewegen, an Gott zu glauben. Gott macht eine weitere Konzession: Er lehrt Moses, Wunder zu vollbringen. „So sollen sie dir glauben, dass dir Jahwe erschienen ist, der Gott ihrer [II-129] Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (Ex 4,5). Die tiefe Ironie dieses Satzes ist nicht zu überhören. Hätten die Hebräer den Glauben gehabt, den Gott von ihnen erwartete, dann wäre dieser Glaube in ihrer eigenen Erfahrungswelt oder in der Geschichte ihres Volkes verwurzelt gewesen. Sie waren aber zu Sklaven geworden, ihr Glaube war ein Sklavenglaube. Er beruhte auf Unterwerfung unter eine Macht, die ihre Stärke durch Magie bewies. Sie konnten also nur durch andere Magie beeinflusst werden, die sich in nichts von der Magie unterschied, die von den Ägyptern gebraucht wurde, sondern nur stärker war als diese.

Die stärkste heutige Erscheinungsform des irrationalen Glaubens ist der Glaube an Diktatoren. Seine Verfechter bemühen sich, die Echtheit dieses Glaubens durch die Betonung der Tatsache zu beweisen, dass Millionen bereit sind, dafür zu sterben. Wenn Glaube als blinde Anhängerschaft an einen Menschen oder an eine Sache definiert werden kann und wenn er an der Bereitschaft gemessen werden kann, dafür zu sterben; dann ist allerdings der Glaube der Propheten an Gerechtigkeit und Liebe und der Glaube ihrer Gegner an die Macht grundsätzlich das gleiche Phänomen; es unterscheidet sich lediglich hinsichtlich des Objektes. Dann besteht zwischen dem Glauben der Freiheitskämpfer und demjenigen der Unterdrücker nur insofern ein Unterschied, als es ein Glaube an verschiedene Ideen ist.

Irrationaler Glaube ist die fanatische Überzeugung, die man von einer Person oder Sache hat. Sie wurzelt in der Unterwerfung unter eine persönliche oder unpersönliche irrationale Autorität. Rationaler Glaube dagegen ist eine feste Überzeugung, die auf produktivem Tätigsein des Verstandes und des Gefühls beruht. Für das rationale Denken, in dem der Glaube angeblich keinen Raum hat, ist der rationale Glaube eine wichtige Komponente. Wie kommt beispielsweise der Wissenschaftler zu einer neuen Entdeckung? Beginnt er damit, dass er ein Experiment nach dem anderen macht, Tatsache auf Tatsache zusammenträgt, ohne eine Vorstellung von dem zu haben, was er finden will? Selten ist eine wichtige Entdeckung auf irgendeinem Gebiet in dieser Weise gemacht worden. Ebenso selten sind die Menschen zu wichtigen Folgerungen gelangt, wenn sie nur Phantasiegebilden nachjagten. Auf jedem Gebiete menschlichen Strebens beginnt der schöpferische Denkvorgang oftmals mit dem, was man als „rationale Vision“ bezeichnen kann. Auch eine solche Vision ist wiederum das Resultat vorangegangener Forschungen, Überlegungen und Beobachtungen. Wenn es dem Wissenschaftler gelingt, ausreichende Fakten zu sammeln oder eine mathematische Formel auszuarbeiten (oder beides), um seine ursprüngliche Vision plausibel zu machen, dann darf man sagen, dass er eine Versuchs-Hypothese erreicht hat. In einer sorgfältigen Analyse der Hypothese werden die daraus sich ergebenden Folgerungen und die sie stützenden Erfahrungstatsachen beurteilt. Das führt zu einer adäquaten Hypothese, eventuell sogar zu ihrer Einbeziehung in eine weitreichende Theorie.

Die Geschichte der Wissenschaft kennt viele Beispiele eines Glaubens an die Vernunft und einer Vision der Wahrheit. Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton, sie alle waren von einem unerschütterlichen Glauben an die Vernunft erfüllt. Seines Glaubens wegen wurde Giordano Bruno verbrannt und Spinoza exkommuniziert. Für jeden Schritt von einer rationalen Vision bis zur Formulierung einer Theorie ist [II-130] der Glaube notwendig: der Glaube an die Vision als ein vernunftgemäßes Ziel, der Glaube an die Hypothese als eine wahrscheinliche und plausible Behauptung, und der Glaube an die gebildete Theorie, wenigstens bis eine allgemeine Zustimmung hinsichtlich ihrer Gültigkeit erzielt worden ist. Dieser Glaube beruht auf der eigenen Erfahrung, auf dem Vertrauen in die eigene Kraft des Denkens, der Beobachtung und der Urteilsfähigkeit. Während irrationaler Glaube bedeutet, dass etwas als wahr angenommen wird, nur weil es eine Autorität sei oder Majorität behaupte, stützt sich rationaler Glaube auf eine unabhängige Überzeugung, deren Grundlage das eigene produktive Beobachten und Denken ist.

Denken und Urteilen sind nicht die einzigen Erfahrungsbereiche, in denen rationaler Glaube sich bekundet. Auf der Ebene menschlicher Beziehungen ist er ein unerlässlicher Bestandteil jeder bedeutsamen Freundschaft oder Liebe. An einen Menschen glauben heißt, dass man der Zuverlässigkeit und Unwandelbarkeit seiner Grundhaltungen, des Kerns seiner Persönlichkeit gewiss ist. Ich meine damit nicht, dass ein Mensch seine Ansichten nicht ändern dürfe, sondern dass seine grundlegenden Motivationen gleichbleiben; dass zum Beispiel seine Fähigkeit zur Würde und seine Achtung vor der menschlichen Würde anderer ein Teil seiner selbst sind, der keiner Änderung unterworfen ist.

Im gleichen Sinne glauben wir an uns selbst. Wir sind uns der Existenz unseres Selbst bewusst. Das heißt, wir sind uns eines Kerns unserer Persönlichkeit bewusst, der unveränderlich ist und trotz wechselnder Verhältnisse und gewisser Meinungs- und Gefühlswandlungen unser ganzes Leben hindurch bleibt. Dieser Kern ist die Realität, die hinter dem Wort „Ich“ steht und auf dem die Überzeugung von unserer eigenen Identität beruht. Haben wir nicht den Glauben an das Fortbestehen unseres Selbst, dann ist das Gefühl unserer Identität bedroht, und wir werden von anderen abhängig, deren Anerkennung zur Basis unseres Identitätsgefühls mit uns selbst wird. Nur wer an sich glaubt, kann anderen die Treue halten, denn nur er kann dessen gewiss sein, dass er auch zu einem späteren Zeitpunkt derselbe sein wird wie heute und daher so fühlen und handeln können wird, wie er es jetzt von sich annimmt. Der Glaube an uns selbst ist eine Voraussetzung unserer Fähigkeit, etwas zu versprechen, und da der Mensch - wie Nietzsche sagte - mit dieser Fähigkeit definiert werden kann, ist der Glaube eine Bedingung des menschlichen Daseins überhaupt.

Eine weitere Bedeutung des Glaubens an den Menschen bezieht sich auf unseren Glauben an die Möglichkeiten anderer, unserer selbst und der Menschheit. Die elementarste Form dieses Glaubens ist der Glaube der Mutter an ihr neugeborenes Kind: der Glaube, dass es leben, wachsen, gehen und sprechen wird. Die Entwicklung des Kindes verläuft allerdings in dieser Hinsicht in solcher Gesetzmäßigkeit, dass die Hoffnung auf Erfüllung keinen Glauben zu erfordern scheint. Anders verhält es sich mit Entwicklungsmöglichkeiten, die eventuell ausbleiben können: die Möglichkeiten des Kindes, zu lieben, glücklich zu sein, seine Vernunft zu gebrauchen, und spezifischere Möglichkeiten, wie etwa künstlerische Begabungen. Diese Keime wachsen und werden sichtbar, sofern günstige Entwicklungsbedingungen gegeben sind; sie können erstickt werden, sofern die entsprechenden Bedingungen fehlen. Eine der wichtigsten dieser Bedingungen ist, dass die im Leben des Kindes entscheidenden [II-131] Menschen an diese Möglichkeiten glauben. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines solchen Glaubens bestimmt den Unterschied zwischen Erziehung und Manipulation. Erziehung ist identisch mit der Hilfe, die man dem Kinde gibt, damit es seine Möglichkeiten verwirklichen kann.[61] Das Gegenteil von Erziehung ist Manipulation. Ihr fehlt der Glaube an das Reifen der kindlichen Möglichkeiten. Sie beruht auf der Überzeugung, dass aus einem Kinde nur dann etwas Rechtes werden kann, wenn die Erwachsenen ihm das aufpfropfen, was erwünscht ist, und ihm das abstutzen, was unerwünscht zu sein scheint. An einen Roboter braucht man nicht zu glauben, denn in ihm ist kein Leben.

Der Glaube an andere erreicht seine höchste Stufe im Glauben an die Menschheit. In der westlichen Welt sprach sich dieser Glaube in den religiösen Begriffen der jüdisch-christlichen Religion aus, in säkularer Sprache fand er seinen stärksten Ausdruck in den fortschrittlichen politischen und sozialen Ideen der letzten einhundertfünfzig Jahre. Ähnlich wie der Glaube an das Kind basiert auch dieser Glaube auf der Idee, die menschlichen Möglichkeiten seien derart, dass sie unter geeigneten Wachstumsbedingungen eine gesellschaftliche Ordnung herbeiführen können, die von den Prinzipien Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe bestimmt wird. Bisher hat der Mensch den Aufbau einer solchen Ordnung noch nicht zustande gebracht, und die Überzeugung, dass es ihm gelingen werde, erfordert daher einen festen Glauben. Wie jeder rationale Glaube, ist auch dieser kein Wunschdenken, sondern er stützt sich auf den Beweis der bisherigen Errungenschaften der Menschheit und auf die innere Erfahrung jedes Individuums, auf sein eigenes Erleben von Vernunft und Liebe.

Während also irrationaler Glaube in der Unterwerfung unter eine Macht wurzelt, die als überwältigend stark, allwissend und allmächtig empfunden wird, und deshalb in der Absage an die eigene Vernunft und Stärke, basiert rationaler Glaube auf der entgegengesetzten Erfahrung. Wir haben diesen Glauben an einen Gedanken, weil dieser Gedanke das Ergebnis unserer eigenen Beobachtung und unseres Denkens ist. Wir glauben an die Möglichkeiten der anderen, an die eigenen Möglichkeiten und an die Möglichkeiten der Menschheit, weil wir - jedoch nur in dem Maße, in dem wir es erlebt haben - das Reifen unserer eigenen Möglichkeiten erfahren haben, die Wirklichkeit des Reifens in uns selbst, die Stärke unserer eigenen Vernunft und Liebeskraft. Die Basis des rationalen Glaubens ist Produktivität. Im Glauben leben, heißt produktiv leben und die einzige Gewissheit haben, die existiert: die Gewissheit, die aus produktivem Tätigsein erwächst, die Gewissheit, dass jeder von uns tätiges Subjekt ist, dem diese Möglichkeiten eines tätigen Verhaltens eigen sind. Daraus folgt, dass der Glaube an die Macht (im Sinne von Beherrschung) und die Anwendung der Macht das Gegenteil des echten Glaubens ist. Der Glaube an eine bestehende Macht ist identisch mit dem Unglauben, dass bisher noch nicht verwirklichte Möglichkeiten [II-132] reifen könnten. Er ist eine Vorhersage der Zukunft, die sich nur auf die manifeste Gegenwart stützt; aber er erweist sich als grobe Fehlrechnung, die in ihrer Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten und des menschlichen Wachstums tief irrational ist. Es gibt keinen rationalen Glauben an die Macht. Es gibt nur eine Unterwerfung unter sie, und auf Seiten der Machthaber den Willen, diese Macht zu erhalten. Vielen scheint Macht das Realste zu sein; die Geschichte der Menschheit aber hat bewiesen, dass sie die unbeständigste aller menschlichen Errungenschaften ist. Da Glaube und Macht einander ausschließen, werden alle Religionen und politischen Systeme, die ursprünglich auf rationalen Glauben aufgebaut waren, im Lauf der Zeit korrupt und büßen ihre Kraft ein, sofern sie sich auf Macht stützen oder sich mit ihr verbünden.

Ein weiterer Fehlbegriff von Glauben muss hier noch erwähnt werden. Es wird oft angenommen, Glaube sei ein Zustand, in dem man passiv auf die Verwirklichung eigener Hoffnungen warte. Wie sich aus unserer Darstellung ergibt, ist dies zwar charakteristisch für den irrationalen Glauben, trifft aber niemals auf den rationalen Glauben zu. In dem Maße, wie rationaler Glaube in unserer eigenen Produktivität begründet ist, drückt er nichts Passives aus, sondern eine echte innere Aktivität. Eine alte jüdische Legende erzählt das äußerst anschaulich. Als Moses seinen Stab in das Rote Meer warf, teilten sich ganz im Gegensatz zu dem erwarteten Wunder die Wasser nicht, um den Juden einen trockenen Durchgang zu schaffen. Erst als der erste in das Wasser sprang, da geschah das versprochene Wunder, und die Wogen wichen zurück.

Am Anfang dieser Untersuchung differenzierte ich zwischen Glauben als Haltung, das heißt als Charakterzug, und dem Glauben an bestimmte Ideen oder Menschen. Bisher haben wir uns nur mit dem Glauben im Sinne der ersten Kategorie beschäftigt. Es ergibt sich nunmehr die Frage, ob es ein Bezugsverhältnis gibt zwischen dem Glauben als Charakterzug und den Objekten, an die man glaubt. Aus unserer Analyse des rationalen Glaubens im Gegensatz zum irrationalen folgt, dass ein solcher Zusammenhang besteht. Da rationaler Glaube auf unserer eigenen produktiven Erfahrung beruht, kann seine Grundlage nicht etwas sein, das die menschliche Erfahrung transzendiert. Weiter folgt daraus, dass wir nicht von rationalem Glauben sprechen können, wenn ein Mensch nicht im Bewusstsein seiner eigenen Erfahrung, sondern nur deshalb, weil es ihm so beigebracht wurde, an die Ideen von Liebe, Vernunft und Gerechtigkeit glaubt. Religiöser Glaube kann beides sein. Einige Sekten vor allem, die an der Macht der Kirchen nicht teilhatten, und einige mystische Strömungen innerhalb der Religionen, die auf die menschliche Liebesfähigkeit und Gottähnlichkeit hinwiesen, erhielten und pflegten in der Form religiöser Symbolik die Haltung eines rationalen Glaubens. Was für die Religion gilt, ist auch für den Glauben in seinen weltlichen Formen gültig, insbesondere für den Glauben an politische und soziale Ideen. Die Ideen von Freiheit oder Demokratie entarten zu einem irrationalen Glauben, sobald sie nicht mehr die produktive Erfahrung des Einzelnen zur Grundlage haben, sondern nur von Parteien oder Staaten repräsentiert werden, die den Einzelnen zwingen, an diese Ideen zu glauben. Zwischen dem mystischen Glauben an Gott und einem atheistischen rationalen Glauben an die Menschheit besteht ein wesentlich [II-133] geringerer Unterschied als zwischen dem Glauben des Mystikers und dem eines Calvinisten, dessen Gottglaube in der Überzeugung seiner eigenen Ohnmacht und seiner Furcht vor der Macht Gottes wurzelt.

Der Mensch kann nicht ohne Glauben leben. Die entscheidende Frage unserer eigenen und der kommenden Generationen ist, ob dieser Glaube ein irrationaler Glaube an Führer, Maschinen oder Erfolg sein wird oder der auf dem Erlebnis unseres eigenen produktiven Tätigseins beruhende rationale Glaube an den Menschen.

e) Die sittlichen Kräfte im Menschen

Der Wunder sind viele, der Wunder größtes aber ist der Mensch. (Sophokles, Antigone)

1. Ist der Mensch gut oder böse?

Der Mensch kann erkennen, was gut ist, und er kann auf Grund seiner natürlichen Fähigkeiten und seiner Vernunft demgemäß handeln. Diese Auffassung der humanistischen Ethik würde unhaltbar, wenn das Dogma von der angeborenen natürlichen Schlechtigkeit des Menschen richtig wäre. Die Gegner der humanistischen Ethik behaupten, die Natur des Menschen sei so, dass sie ihn geneigt mache, sich den Mitmenschen gegenüber feindlich, neidisch und eifersüchtig zu verhalten und sich der Faulheit hinzugeben, außer er werde durch Furcht gebändigt. Viele Vertreter der humanistischen Ethik widersprachen diesem Einwand, indem sie darauf bestanden, der Mensch sei seinem Wesen nach gut und die Destruktivität sei kein Bestandteil seiner Natur.

Die Kontroverse zwischen diesen beiden Auffassungen ist eines der Hauptthemen abendländischen Denkens. Für Sokrates war Unwissenheit, nicht aber die natürliche Veranlagung des Menschen die Quelle alles Bösen; Laster war in seinen Augen Irrtum. Das Alte Testament erzählt dagegen, dass die Geschichte des Menschen mit einem Akt der Sünde beginnt, und dass sein Streben von Kind an böse sei. Im frühen Mittelalter drehte sich der Kampf zwischen den beiden Auffassungen um die Frage, wie der biblische Mythos von Adams Fall interpretiert werden müsse. Augustinus lehrte, seit Adams Fall sei die Natur des Menschen verderbt; jede Generation komme mit dem Fluch zur Welt, der durch den ersten Ungehorsam des Menschen verursacht worden sei. Nur Gottes Gnade, durch die Kirche und ihre Sakramente vermittelt, könne den Menschen retten. Pelagius, Augustinus’ großer Gegner, vertrat die Auffassung, Adams Sünde sei nur persönlich und habe niemanden außer ihn betroffen. Demzufolge komme jeder mit Kräften zur Welt, die so unverdorben seien wie Adams Kräfte vor dem Fall; die Sünde sei nur eine Folge von Versuchungen und schlechtem Beispiel. Augustinus gewann, und dieser Sieg sollte für Jahrhunderte den Geist des Menschen bestimmen - und verdunkeln. [II-134]

Das späte Mittelalter bezeugte einen wachsenden Glauben an die Würde des Menschen, an seine Kräfte und an sein natürliches Gutsein. Die Denker der Renaissance, aber auch Theologen des 13. Jahrhunderts, wie Thomas von Aquin, bekundeten diesen Glauben, obwohl ihre Auffassungen über den Menschen in entscheidenden Punkten voneinander abwichen und Thomas von Aquin nie in den Radikalismus der Pelagianischen „Häresie“ verfiel. Die Gegenthese, also die Idee von der dem Menschen innewohnenden Schlechtigkeit, wurde in den Lehren Luthers und Calvins ausgesprochen, wodurch der Standpunkt des Augustinus von neuem belebt wurde. Einerseits bestanden sie auf der geistigen Freiheit des Menschen und auf dessen Recht und Pflicht, Gott unmittelbar und ohne Mittlerschaft eines Priesters ins Angesicht zu schauen, andererseits betonten sie die dem Menschen angeborene Schlechtigkeit und seine Ohnmacht. Nach ihrer Auffassung ist das größte Hindernis, das sich der Erlösung des Menschen entgegenstellt, sein Stolz; er kann diesen Stolz lediglich durch Schuldgefühl, Reue, bedingungslose Unterwerfung unter Gott und durch den Glauben an Gottes Barmherzigkeit überwinden.

Diese beiden Richtungen der Überzeugung durchzogen auch weiterhin das moderne Denken. Die Idee von der Würde des Menschen und seiner Kraft wurde von der Aufklärungsphilosophie gelehrt, ebenso von fortschrittlichen und liberalen Denkern des Neunzehnten Jahrhunderts, am radikalsten von Nietzsche. Die Idee von der Wertlosigkeit und Nichtigkeit des Menschen fand einen neuen, diesmal vollkommen säkularisierten Ausdruck in jenen autoritären Systemen, die den Staat oder die „Gesellschaft“ zum obersten Herrscher machten - das Individuum dagegen sollte seine eigene Bedeutungslosigkeit erkennen und seine Erfüllung im Gehorsam und in der Unterwerfung finden. Diese beiden Ideen werden in den demokratischen und autoritären Philosophien zwar klar voneinander geschieden, aber ihre weniger extremen Formen vermischen sich im Denken und vor allem im Empfinden unserer Kultur. Wir sind heute Anhänger beider Auffassungen, der Augustinischen und der Pelagianischen, der Lutherischen und der des Pico della Mirandola, der von Hobbes und der von Jefferson. Wir glauben bewusst an die Kräfte und an die Würde des Menschen, aber wir glauben auch - häufig unbewusst - an die Ohnmacht und Schlechtigkeit des Menschen, insbesondere an unsere eigene, die wir mit dem Hinweis auf die „Natur des Menschen“ zu erklären suchen.[62]

In Freuds Schriften haben die beiden entgegengesetzten Ideen in psychologischen Theorien ihren Niederschlag gefunden. Freud war in mancher Hinsicht ein typischer Vertreter des Geistes der Aufklärung. Er glaubte an die Vernunft und an das Recht des Menschen, seine natürlichen Ansprüche gegen gesellschaftliche Konventionen und gegen kulturellen Druck zu verteidigen. Zu gleicher Zeit vertrat er jedoch die Auffassung, dass der Mensch von Natur aus faul und zügellos sei und zu einer gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit gezwungen werden müsse (vgl. S. Freud, 1927c). Die radikalste Forderung der dem Menschen angeborenen Destruktivität findet sich in [II-135] Freuds Theorie des „Todestriebes“. Freud war nach dem Ersten Weltkrieg von der Gewalt destruktiver Leidenschaften so beeindruckt, dass er seine ältere Theorie, nach der es zwei Triebe gab, den Geschlechts- und den Selbsterhaltungstrieb, revidierte und dem irrationalen Destruktionstrieb eine dominierende Funktion zuerkannte. Er betrachtete den Menschen als das Schlachtfeld, auf dem zwei gleich starke Kräfte aufeinandertreffen, der Lebenstrieb und der Todestrieb. Diese hielt er für biologische Kräfte, die in allen Organismen und also auch im Menschen anzutreffen seien. Richte sich der Todestrieb gegen Objekte außerhalb des Organismus, dann manifestiere er sich als Zerstörungstrieb; bleibe er innerhalb des Organismus, so ziele er auf Selbstzerstörung hin.

Freuds Theorie ist dualistisch: Er sieht den Menschen weder als gut noch als böse an, sondern als ein Wesen, das von zwei gleich starken gegensätzlichen Kräften getrieben wird. Derselbe dualistische Standpunkt war in vielen Religionen und philosophischen Systemen ausgesprochen worden. Leben und Tod, Liebe und Hass, Tag und Nacht, Weiß und Schwarz, Ormuzd und Ahriman sind nur einige der vielen symbolischen Formulierungen dieser Polarität. Eine solche dualistische Theorie hat für den Erforscher der menschlichen Natur in der Tat etwas Verlockendes. Sie lässt Raum für das Gute im Menschen, erklärt aber auch die gewaltige Fähigkeit des Menschen zur Destruktivität, die nur von einem oberflächlichen Wunschdenken übersehen werden kann. Die dualistische Auffassung ist jedoch nur der Ausgangspunkt, nicht aber die Antwort auf unser psychologisches und ethisches Problem. Sollen wir diesen Dualismus so verstehen, als seien Lebens- und Zerstörungstrieb gleich starke, dem Menschen angeborene Möglichkeiten? In diesem Falle sähe sich die humanistische Ethik dem Problem gegenübergestellt, wie es möglich wäre, das Destruktive der menschlichen Natur ohne Zwangsmaßnahmen und ohne autoritäre Befehle zu zügeln.

Oder können wir eine dem Prinzip der humanistischen Ethik besser entsprechende Antwort finden, und kann die Polarität zwischen dem Lebens- und Destruktionstrieb in anderem Sinne verstanden werden? Ob wir diese Fragen beantworten können, hängt von unserem Einblick in das Wesen der Feindseligkeit und der Destruktivität ab. Ehe wir darauf eingehen, ist es zweckmäßig, sich zunächst klarzumachen, welche Bedeutung diese Antwort für das eigentliche ethische Problem hat.

Die Wahl zwischen Leben und Tod ist in der Tat die fundamentale Alternative der Ethik. Es ist die Alternative zwischen Produktivität und Destruktivität, zwischen Potenz und Impotenz, zwischen Tugend und Laster. Vom Standpunkt der humanistischen Ethik richten sich alle bösen Triebe gegen das Leben, während alles Gute der Erhaltung und Entfaltung des Lebens dient.

Um dem Problem der Destruktivität näherzukommen[63], müssen wir zunächst zwischen zwei Arten des Hasses unterscheiden, dem rationalen, „reaktiven“, und dem irrationalen, „charakterbedingten“ Hass. Der reaktive, rationale Hass ist die Reaktion eines Menschen auf die Bedrohung seiner eigenen Freiheit, seines Lebens oder seiner Ideen, oder der eines anderen Menschen. Seine Prämisse ist die Achtung vor dem Leben. Rationaler Hass hat eine wichtige biologische Funktion: Er ist das affektive Äquivalent einer Handlung, die dem Schutz des Lebens dient; er tritt als Reaktion auf vitale Bedrohungen zutage und verschwindet, sobald die Bedrohung beseitigt ist. [II-136] Er steht nicht im Gegensatz zum Lebenstrieb, sondern ist dessen Begleiterscheinung.

Etwas anderes ist der charakterbedingte Hass. Er ist ein Charakterzug und bedeutet eine ständige Bereitschaft zu hassen. Er gehört zu einem Menschen, dessen Einstellung eher von vornherein feindselig ist, als dass er auf einen äußeren Anlass mit Hass reagiert. Irrationaler Hass kann durch die gleiche tatsächliche Bedrohung ausgelöst werden, die auch den reaktiven Hass erregt; oft aber handelt es sich um einen grundlosen Hass, der sich bei jeder Gelegenheit ausdrückt und dann als reaktiver Hass rationalisiert wird. Der Hassende scheint dabei ein Gefühl der Erleichterung zu empfinden, als begrüße er die Gelegenheit, das in ihm schlummernde Gefühl der Feindseligkeit zum Ausdruck zu bringen. In seinem Gesicht kann man nahezu Lust an der Befriedigung seines Hasses lesen.

Die Ethik interessiert sich in erster Linie für das Problem des irrationalen Hasses, also jener Leidenschaft, die Leben zerstören oder lähmen will. Irrationaler Hass wurzelt im Charakter eines Menschen, das Objekt ist von sekundärer Bedeutung. Er richtet sich sowohl gegen andere wie gegen die eigene Person, obgleich man sich des Hasses gegen andere häufiger bewusst wird als des Hasses gegen sich selbst. Der Selbsthass wird verstandesmäßig gewöhnlich als Aufopferung, Selbstlosigkeit oder Askese rationalisiert, auch als Selbstanklage und Minderwertigkeitsgefühl.

Reaktiver Hass tritt häufiger auf, als es scheint; denn oft reagiert ein Mensch mit Hass auf die Bedrohung seiner Integrität und Freiheit, wobei die Bedrohungen nicht immer offenkundig, sondern versteckt, oft sogar als Liebe und Schutz getarnt und ausgesprochen sind. Trotzdem bleibt der charakterbedingte Hass ein Phänomen von solcher Ausdehnung, dass die dualistische Theorie von Liebe und Hass als den beiden fundamentalen Kräften den Tatsachen zu entsprechen scheint. Muss ich also die Richtigkeit der dualistischen Theorie anerkennen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir das Wesen dieses Dualismus noch eingehender prüfen. Sind die guten und bösen Kräfte wirklich gleich stark? Gehören sie beide zur ursprünglichen Ausstattung des Menschen, oder ist zwischen beiden noch eine andere Beziehung denkbar?

Nach Freud ist die Destruktivität allen menschlichen Wesen eigen; sie unterscheidet sich hauptsächlich im Hinblick auf das Objekt der Zerstörung - ob es andere oder wir selbst sind. Aus diesem Grundsatz müsste sich die Folgerung ergeben, dass die gegen die eigene Person gerichtete Destruktivität in umgekehrtem Verhältnis zu der Destruktivität steht, die sich gegen andere richtet. Diese Annahme wird jedoch durch die Tatsache widerlegt, dass die Menschen sich nach dem Grad ihrer Destruktivität unterscheiden, gleichgültig, ob diese sich primär gegen sie selbst oder gegen andere richtet. Man findet keine starke Destruktivität gegen andere bei Menschen, die eine geringe Feindseligkeit gegen sich selbst haben; vielmehr können wir beobachten, dass Feindschaft gegen sich und gegen andere miteinander in Verbindung stehen. Ferner stellen wir fest, dass im Menschen die lebenszerstörenden Kräfte im entgegengesetzten Verhältnis zu den lebensfördernden stehen: je stärker die einen, desto schwächer die anderen, und umgekehrt. Diese Tatsache bietet einen Schlüssel zum Verständnis der lebenszerstörenden Energie; allem Anschein nach verhält sich der Grad der Destruktivität proportional zu dem Ausmaß, in dem die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten blockiert ist. Ich denke hier nicht an das gelegentliche Scheitern dieses [II-137] oder jenes Wunsches, sondern an die Blockade, die sensorischen, emotionalen, physischen und intellektuellen Fähigkeiten spontan ausdrücken zu können - also an das, was die produktiven Möglichkeiten vereitelt. Wird der Tendenz des Lebens, nämlich zu wachsen und zu leben, entgegengearbeitet, dann macht die gehemmte Energie einen Umwandlungsprozess durch und bildet sich in lebenszerstörende Energie um. Die Destruktivität ist die Folge ungelebten Lebens. Die individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen, die eine solche Blockierung der lebensfördernden Energie bewirken, bringen die Destruktivität hervor, die ihrerseits zur Quelle der verschiedensten Manifestationen des Bösen wird.

Trifft es zu, dass die Destruktivität sich als Folge gehemmter produktiver Energie entwickeln muss, dann darf sie wohl mit Recht als eine im Wesen des Menschen enthaltene Möglichkeit bezeichnet werden. Folgt nun daraus, dass beides, sowohl das Gute als auch das Böse, gleich starke Möglichkeiten im Menschen sind? Zur Beantwortung dieser Frage muss untersucht werden, was Möglichkeit oder Potenzialität bedeutet. Sage ich, etwas existiere „potenziell“, so bedeutet dies nicht nur, dass es in der Zukunft existieren wird, sondern dass dieses zukünftige Bestehen schon in der Gegenwart vorbereitet ist. Diese Beziehung zwischen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Stadium der Entwicklung kann dadurch beschrieben werden, dass man sagt, die Zukunft existiere bereits virtuell in der Gegenwart. Heißt das nun, dass der zukünftige Status zwangsläufig entstehen muss, wenn der gegenwärtige existiert? Sicherlich nicht. Wenn wir sagen, der Baum sei potenziell im Keim vorhanden, so heißt das nicht, dass sich aus jedem Keim ein Baum entwickeln muss. Die Aktualisierung einer Potenzialität hängt von dem Vorhandensein gewisser Bedingungen ab, im Fall des Keimes zum Beispiel von geeignetem Boden, Wasser und Sonne. Tatsächlich hat der Begriff „Potenzialität“ nur einen Sinn im Zusammenhang mit den spezifischen Bedingungen, die zur Verwirklichung erforderlich sind. Die Feststellung, dass der Baum potenziell schon im Keim vorhanden ist, muss also in dem Sinne spezifiziert werden, dass aus dem Keim ein Baum wächst, vorausgesetzt, dass die besonderen Bedingungen vorhanden sind, die der Keim zum Wachstum braucht. Fehlen diese Bedingungen, ist also zum Beispiel der Boden zu feucht und für das Wachstum des Keimes ungeeignet, dann wird sich der Keim nicht zum Baum entwickeln, sondern verfaulen. Fehlt einem Tier die Nahrung, dann wird es seine Wachstumsmöglichkeit nicht verwirklichen, sondern eingehen. Man darf also behaupten, dass es für den Keim oder auch das Tier zwei Arten von Potenzialität gibt; aus jeder von beiden folgen in einem späteren Entwicklungsstadium bestimmte Resultate. Die eine ist die primäre Potenzialität. Sie verwirklicht sich, falls die entsprechenden Bedingungen gegeben sind. Die andere ist eine sekundäre Potenzialität. Sie verwirklicht sich, sofern die Bedingungen im Gegensatz zu den existenziellen Bedürfnissen stehen. Sowohl die primäre als auch die sekundäre Potenzialität gehört zum Wesen eines Organismus. Die sekundäre Potenzialität manifestiert sich mit derselben Notwendigkeit wie die primäre. Wir gebrauchen die Begriffe „primär“ und „sekundär“, um darauf hinzuweisen, dass die Entfaltung der als „primär“ bezeichneten Potenzialität unter normalen Bedingungen eintritt, und dass die als „sekundär“ bezeichnete Potenzialität nur im Fall anormaler, pathogener Bedingungen in Erscheinung tritt. [II-138]

Vorausgesetzt, unsere Annahme ist richtig, dass die Destruktivität eine sekundäre Potenzialität im Menschen ist, die nur dann in Erscheinung tritt, wenn ihm die Verwirklichung seiner primären Potenzialität nicht gelingt, dann ist damit erst einer der Einwände gegen die humanistische Ethik beantwortet. Wir haben dargelegt, dass der Mensch nicht notwendig böse ist, sondern nur dann böse wird, wenn die für sein Wachstum und seine Entwicklung geeigneten Bedingungen fehlen. Das Böse existiert nicht unabhängig und für sich; es ist das Nichtvorhandensein des Guten, das Scheitern des Versuchs zu leben.

Wir haben uns nun mit einem weiteren Einwand gegen die humanistische Ethik zu beschäftigen: mit der Behauptung, dass die für die Entfaltung des Guten geeigneten Bedingungen auch Lohn und Strafe einschließen müssten, weil der Mensch von sich aus keinen Antrieb zur Entfaltung seiner Kräfte besitze. Ich will im Folgenden zu zeigen suchen, dass jedes normale Individuum von sich aus die Neigung hat, sich zu entwickeln, zu wachsen und produktiv zu sein, und dass die Lähmung dieser Tendenz an sich schon Symptom einer psychischen Erkrankung ist. Psychische Gesundheit ist wie physische Gesundheit kein Ziel, zu dem der einzelne von außen gezwungen werden muss, sondern der Antrieb dazu ist im Individuum vorhanden, und für seine Unterdrückung sind starke Umweltkräfte nötig, die ihm entgegenwirken. (Diese Auffassung ist vor allem von K. Goldstein, H. S. Sullivan und K. Horney herausgearbeitet worden.)

Die Annahme, der Mensch besitze ein angeborenes Streben nach Wachstum und Integration, bedeutet nicht, dass es sich hierbei um einen abstrakten Trieb nach Vervollkommnung handelt, um eine besondere Gabe, mit der die Menschen ausgestattet sind. Vielmehr ergibt es sich aus seiner Natur selbst, aus dem Prinzip, dass die Fähigkeit zu handeln auch das Bedürfnis schafft, diese Fähigkeit zu nutzen, und dass Funktionsstörung und Unglück entstehen, wenn die Fähigkeit nicht genutzt wird. In Bezug auf physiologische Funktionen des Menschen ist die Richtigkeit dieses Prinzips leicht erkennbar. Der Mensch hat die Fähigkeit zu gehen und sich zu bewegen; wird er an der Nutzung dieser Fähigkeit verhindert, so sind schwere körperliche Schäden oder Krankheit die Folge. Frauen haben die Fähigkeit, Kinder zu gebären und zu stillen; wenn eine Frau nicht Mutter wird, wenn sie ihre Fähigkeit, ein Kind zu gebären und zu lieben, nicht betätigen kann, so erfährt sie eine Frustration, die nur durch eine gesteigerte Realisierung ihrer Fähigkeiten in anderen Lebensbereichen ausgeglichen werden kann. Freud hat auf ein weiteres Fehlen an Verwirklichung hingewiesen, das zu Krankheitserscheinungen führen kann. So erkannte er, dass eine Blockierung der sexuellen Energie oft die Ursache neurotischer Störungen ist. Obwohl Freud die Bedeutung der sexuellen Befriedigung überschätzte, so ist seine Theorie doch ein tiefer symbolischer Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch krank und unglücklich wird, wenn er seine Möglichkeiten nicht realisieren kann. Sowohl hinsichtlich der physischen wie der psychischen Kräfte des Menschen erweist sich die Richtigkeit dieses Prinzips. Der Mensch hat die Gabe, sprechen und denken zu können. Würden diese Fähigkeiten blockiert, so wäre der Betreffende schwer geschädigt. Der Mensch hat die Gabe zu lieben, und wenn er von dieser Gabe keinen Gebrauch machen kann, wenn er liebesunfähig ist, so leidet er unter diesem Unglück, obwohl er mit allen [II-139] Arten der Rationalisierung versuchen mag, sein Leiden zu ignorieren oder die von der Gesellschaft gebotenen Fluchtmöglichkeiten benutzt.

Der Grund dafür, dass der Mensch unglücklich wird, wenn er seine Kräfte nicht nutzt, ist in den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst zu suchen. Das Leben des Menschen ist durch existenzielle Dichotomien gekennzeichnet, die ich in einem früheren Kapitel bereits behandelt habe. Um mit der Welt eins zu sein und sich zugleich mit sich selber eins zu fühlen, um zu den anderen in Beziehung zu treten und zugleich seine Integrität als ein einmaliges Ganzes zu bewahren, hat der Mensch keine andere Möglichkeit, als von seinen Kräften produktiven Gebrauch zu machen. Versagt er darin, so kann er nicht zu innerer Harmonie und Integration kommen. Er wird hin und her gerissen, ist zwiespältig und will vor sich selbst, vor dem Gefühl seiner eigenen Ohnmacht, Langeweile und Impotenz fliehen, vor dem zwangsläufigen Ergebnis seines Versagens. Da der Mensch lebt, kann er sich nicht anders entscheiden als leben zu wollen, und der einzige Weg, auf dem ihm dies gelingen kann, ist der, dass er seine Kräfte benutzt und das ausschöpft, was er hat.

Es gibt vielleicht kein Phänomen, das deutlicher als die Neurose zeigt, was aus dem Menschen wird, wenn er darin versagt, produktiv und in Übereinstimmung mit sich selbst zu leben. Jede Neurose ist die Folge eines Konfliktes zwischen den angeborenen Fähigkeiten und jenen Kräften, die ihre Entwicklung hemmen. Wie die Symptome einer physischen Erkrankung, so sind auch neurotische Symptome ein Ausdruck des Kampfes, den der gesunde Teil der Persönlichkeit gegen jene schädigenden Einflüsse aufnimmt, die gegen seine Entfaltung gerichtet sind.

Der Mangel an Integration und Produktivität führt jedoch nicht immer zu Neurosen.

Wäre dies der Fall, dann müssten wir die Mehrzahl aller Menschen als Neurotiker ansehen. Worin bestehen also die besonderen Voraussetzungen, die zu einer Neurose führen? Einige Bedingungen will ich kurz erwähnen: Zum Beispiel kann ein Kind strenger gehalten werden als andere, so dass der Konflikt zwischen seiner Angst und seinen fundamentalen menschlichen Wünschen schärfer und unerträglicher wird; oder ein Kind kann einen überdurchschnittlichen Sinn für Freiheit und Originalität entwickelt haben, so dass seine Niederlage dadurch unannehmbarer wird.

Statt einer Aufzählung weiterer Bedingungen, die zur Neurose führen können, möchte ich die Fragestellung jedoch lieber umkehren: Auf welchen Voraussetzungen beruht die Tatsache, dass so viele Menschen nicht neurotisch werden, obwohl sie nicht produktiv und mit sich eins leben? Es scheint hier zweckmäßig, zwischen zwei Begriffen zu differenzieren, nämlich zwischen Defekt und Neurose.[64] Erreicht jemand seine Reife, Spontaneität und eine echte Selbsterfahrung nicht, so kann man annehmen, dass er einen schweren Defekt hat. Vorausgesetzt wird dabei allerdings die Annahme, Freiheit und Spontaneität seien die objektiven Ziele, die jeder Mensch erreichen sollte. Wenn ein solches Ziel von der Mehrzahl in einer bestimmten Gesellschaft nicht erreicht wird, so haben wir es mit dem Phänomen eines gesellschaftlich vorgebildeten Defektes zu tun. Der einzelne ist mit vielen anderen davon betroffen; er erkennt ihn nicht als Defekt, und seine Sicherheit wird nicht durch die Erfahrung bedroht, dass er anders als die übrigen oder sozusagen ausgestoßen ist. Was er an Reichtum und echtem Glücksgefühl einbüßen mag, wird durch die von ihm empfundene Sicherheit [II-140] aufgewogen, dass er zum Rest der Menschheit - so wie er sie kennt - passt. Sein Defekt kann in seinem Kulturraum sogar als Vorzug gelten, so dass er ein gesteigertes Gefühl von Leistung hat. Ein Beispiel sind die Schuld- und Angstgefühle, die Calvins Lehre im Menschen weckte. Man kann sagen, dass ein Mensch, der von dem Gefühl seiner Ohnmacht und Wertlosigkeit und von dem ständigen Zweifel durchdrungen ist, ob er erlöst oder zur ewigen Verdammnis verurteilt wird, der kaum einer echten Freude fähig ist und sich zum Rädchen einer Maschine macht, - dass ein solcher Mensch tatsächlich einen schweren Defekt hat. Und doch wurde dieser schwere Defekt zu einer kulturellen Schablone; man betrachtete ihn als besonders wertvoll, und der einzelne war damit vor einer Neurose geschützt, die er in einem Kulturraum entwickelt hätte, in dem dieser Defekt ein Gefühl großer Unzulänglichkeit und Isolierung bewirken würde.

Spinoza hat das Problem eines gesellschaftlich vorgebildeten Defektes klar ausgedrückt. Er sagt: „Es gibt viele Menschen, denen ein und derselbe Affekt hartnäckig anhaftet. Denn wir sehen, wie Menschen manchmal von einem einzigen Gegenstand so in Erregung versetzt werden, dass sie denselben vor sich zu haben glauben, trotzdem er nicht gegenwärtig ist; geschieht dies einem Menschen in wachem Zustand, so sagen wir, er sei wahnsinnig oder verrückt... Wenn jedoch der Habsüchtige an nichts anderes denkt als an Gewinn oder Geld, der Ehrgeizige an Ruhm usw., so werden diese für nicht wahnsinnig gehalten, da sie lästig zu sein pflegen und für hassenswert gelten. In Wahrheit aber sind Habsucht, Ehrgeiz, Geschlechtsbegierde usw. Arten des Wahnsinns, mögen sie auch nicht zu den Krankheiten gezählt werden“ (Spinoza, Ethik, Teil IV, 44. Lehrsatz, Erläuterung). Diese Worte wurden vor ein paar Jahrhunderten geschrieben; sie haben immer noch ihre Gültigkeit, obwohl der Defekt heute in einem solchen Ausmaß zum Kulturdefekt geworden ist, dass er im allgemeinen nicht mehr als verächtlich, sogar nicht einmal als lästig empfunden wird. Wir treffen heute Menschen, die wie Automaten handeln und fühlen. Sie erleben nie etwas, das wirklich ihre eigene Erfahrung ist; auch sich selbst erleben sie nur als die Person, die sie nach der Meinung anderer sein sollten; Lächeln hat das Lachen ersetzt, bedeutungsloses Geschwätz eine mitteilsame Unterhaltung, und stumpfe Verzweiflung ist an die Stelle echter Trauer getreten. Von solchen Menschen kann zweierlei festgestellt werden: Sie leiden an fehlender Spontaneität und Individualität, was beides unheilbar scheint; zugleich kann man sagen, dass sie sich von tausend anderen, die sich in der gleichen Lage befinden, nicht wesentlich unterscheiden. Die meisten werden dank der kulturellen Verhältnisse, die den Defekt verdecken, vor dem Ausbruch einer Neurose bewahrt. Bei einigen wirkt dieser kulturell gegebene Schutz nicht, so dass der Defekt als mehr oder weniger schwere Neurose auftritt. Dass in diesen Fällen die kulturelle Schablone nicht genügt, um den Ausbruch einer offenkundigen Neurose zu verhindern, hat seine Ursache entweder in einer größeren Intensität der pathologischen Kräfte oder in stärker entwickelten gesunden Kräften, die den Kampf aufnehmen, obgleich die kulturelle Schablone sie nicht daran hindern würde, sich ruhig zu verhalten.

Keine Situation bietet eine bessere Möglichkeit, die Kraft und Zähigkeit der nach Gesundheit strebenden Kräfte zu beobachten, als die psychoanalytische Therapie. [II-141] Natürlich begegnet der Psychoanalytiker zunächst der Stärke jener Kräfte, die der Selbstverwirklichung und dem Glück des Menschen entgegenwirken. Kann er aber die Macht der - besonders in der Kindheit vorhandenen - Einflüsse überblicken, die zur Verkümmerung der Produktivität führten, dann ist er immer wieder davon beeindruckt, dass die meisten seiner Patienten den Kampf schon längst hätten aufgeben müssen, wenn sie nicht von einem Impuls getrieben worden wären, psychische Gesundheit und Glück erreichen zu wollen. Dieser Impuls ist die notwendige Voraussetzung für eine Behandlung der Neurose. Das psychoanalytische Verfahren sucht zwar eine tiefere Einsicht in die dissoziierten Teile der Gefühls- und Gedankenwelt zu vermitteln, doch genügt intellektuelle Einsicht als solche nicht, um eine Änderung zu bewirken. Diese Form von Einsicht ermöglicht einem Menschen, die Sackgassen zu erkennen, in die er sich verirrt hat. Er begreift, weshalb die Versuche, mit denen er sein Problem lösen wollte, zum Scheitern verurteilt waren. Damit wird aber lediglich der Weg für die nach psychischer Gesundheit und nach Glück strebenden Kräfte freigelegt, so dass sie den Kampf aufnehmen und wirksam werden können. Eine nur intellektuelle Einsicht reicht tatsächlich nicht aus; die therapeutisch wirksame Einsicht muss eine Einsicht aus Erfahrung sein, bei der die Kenntnis von sich selbst nicht nur intellektueller Art ist, sondern auch affektiver. Eine solche als Erfahrung fortschreitende Einsicht hängt von der Stärke des dem Menschen angeborenen Strebens nach Gesundheit und Glück ab.

Das Problem der psychischen Gesundheit und Neurose ist mit dem Problem der Ethik untrennbar verbunden. Man kann sagen, dass jede Neurose ein moralisches Problem darstellt. Reife und Integration der Gesamtpersönlichkeit nicht zu erreichen, ist im Sinne der humanistischen Ethik ein moralisches Versagen. Auch in spezifischerem Sinne sind viele Neurosen ein Ausdruck moralischer Probleme, und neurotische Symptome sind eine Folge ungelöster moralischer Konflikte. Ein Mensch kann zum Beispiel an Schwindelanfällen leiden, für die keine organische Ursache vorhanden ist. Bei der Schilderung seines Symptoms teilt er dem Psychoanalytiker nebenbei mit, dass er mit gewissen beruflichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Er ist ein erfolgreicher Lehrer, der Auffassungen vortragen muss, die seinen eigenen Überzeugungen widersprechen. Er glaubt jedoch, dass er das Problem gelöst habe, einerseits erfolgreich zu sein und andererseits seine moralische Integrität zu wahren. Die Richtigkeit dieses Glaubens beweist er sich mit einer Vielzahl komplizierter Rationalisierungen. Die Andeutung des Analytikers, sein Symptom könne mit seinem moralischen Problem zusammenhängen, empört ihn. Die Analyse ergibt jedoch, dass er sich täuschte und dass seine Schwindelanfälle die Reaktion seines besseren Selbst waren, die Reaktion seiner im Grunde moralischen Persönlichkeit auf eine Lebensform, die ihn gezwungen hat, seine Integrität zu verletzen und seine Spontaneität zu lähmen.

Sogar wenn ein Mensch nur anderen gegenüber destruktiv zu sein scheint, verletzt er das Lebensprinzip in sich selbst ebenso wie in anderen. In religiöser Sprache wurde dieses Prinzip so ausgedrückt, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen sei und jede Verletzung des Menschen eine Sünde gegen Gott bedeute. In säkularer Sprache würden wir sagen, dass wir alles, was wir einem anderen antun - es mag gut oder böse sein - auch uns selbst antun. „Was du nicht willst, das man dir tu, das [II-142] füg auch keinem andern zu“, lautet eines der grundlegenden Prinzipien der Ethik. Aber mit gleicher Berechtigung kann man sagen: Was du andern antust, das tust du auch dir selber an. In irgendeinem menschlichen Wesen die Kräfte zu verletzen, die auf das Leben gerichtet sind, schlägt unfehlbar auf uns selbst zurück. Unser eigenes Wachstum, unser Glück und unsere Stärke beruhen auf der Achtung vor diesen Kräften, und es ist nicht möglich, sie in anderen zu verletzen und zugleich selber unberührt zu bleiben. Die Achtung vor dem Leben, dem fremden wie dem eigenen, gehört zum Lebensvollzug selbst und ist eine Bedingung für die psychische Gesundheit. In gewisser Hinsicht stellt die gegen andere gerichtete Destruktivität ein pathologisches Phänomen dar, vergleichbar mit selbstmörderischen Impulsen. Wenn es einem Menschen gelingt, diese destruktiven Impulse zu ignorieren oder mit Rationalisierungen zu verdecken, so kann er doch nicht verhindern, dass er - das heißt sein Organismus - darauf reagiert und durch Handlungen in Mitleidenschaft gezogen wird, die gerade dem Prinzip widersprechen, durch das sein Leben und jedes Leben erhalten wird. Der destruktive Mensch ist auch dann unglücklich, wenn er die Ziele seiner Destruktivität erreicht, die seine eigene Existenz untergräbt. Umgekehrt aber kann kein gesunder Mensch umhin, Beweise von Ehrbarkeit, Liebe und Mut zu bewundern und von ihnen bewegt zu werden, denn auf diesen Kräften fußt sein eigenes Leben.

2. Verdrängung und Produktivität

Geht man davon aus, dass der Mensch im Grunde destruktiv und selbstsüchtig sei, so führt dies zu einer Auffassung, wonach ein moralisches Verhalten in der Unterdrückung jener bösen Triebe besteht, denen der Mensch ohne ständige Selbstkontrolle nachgeben würde. Gemäß diesem Prinzip müsste der Mensch sein eigener Wachhund sein. Er müsste zunächst einmal erkennen, dass er seiner Natur nach böse ist, und daraufhin müsste er seine Willenskraft einsetzen, um die ihm angeborenen bösen Tendenzen zu bekämpfen. Das Böse zu unterdrücken oder ihm nachzugeben, wäre dann also seine Alternative.

Die psychoanalytische Forschung bietet ein reiches Datenmaterial in Bezug auf das Wesen der Unterdrückung, ihrer verschiedenen Formen und deren Folgen. Wir können differenzieren zwischen

  1. der Unterdrückung der Ausführung eines bösen Impulses,
  2. der Unterdrückung des Sich-Bewusstwerdens dieses Impulses und
  3. dem direkten Kampf gegen diesen Impuls.

Bei der ersten Art wird nicht der Impuls selbst unterdrückt, sondern die Handlung, die sich aus ihm ergeben würde. Ein Beispiel hierfür ist ein Mensch mit starken sadistischen Trieben, der befriedigt ist und daran Gefallen findet, wenn er anderen Leiden zufügen oder sie beherrschen kann. Nehmen wir an, seine Furcht vor Missbilligung oder die von ihm anerkannten Moralbegriffe warnten ihn davor, seinem Impuls nachzugeben; dann unterließe er eine solche Handlung und würde nicht ausführen, was er tun möchte. Obwohl man nicht leugnen kann, dass diesem Menschen ein Sieg über sich selbst gelungen wäre, hätte er sich doch nicht wirklich [II-143] verändert; sein Charakter wäre der gleiche geblieben, und das einzige, was wir an ihm bewundern können, wäre seine „Willenskraft“. Aber ganz abgesehen von der moralischen Bewertung eines solchen Verhaltens ist es ein unzulängliches Schutzmittel gegen destruktive Tendenzen. Ein außergewöhnliches Maß an „Willenskraft“ oder Furcht vor schweren Strafen wären erforderlich, um einen solchen Menschen daran zu hindern, seinen Impulsen entsprechend zu handeln. Da jede Entscheidung das Resultat eines inneren Kampfes gegen starke entgegenstrebende Kräfte wäre, würden die Chancen für einen Triumph des Guten so fragwürdig sein, dass vom Standpunkt des gesellschaftlichen Interesses diese Form der Unterdrückung zu unzuverlässig wäre.

Eine weit wirksamere Maßnahme gegen böse Strebungen scheint darin zu bestehen, dass ihr Bewusstwerden verhindert und damit eine bewusste Versuchung ausgeschlossen wird. Diese Art der Unterdrückung bezeichnete Freud als „Verdrängung“. Verdrängung heißt, dass es dem Impuls, obgleich er existiert, nicht erlaubt wird, in den Bewusstseinsbereich einzudringen, oder dass er schnell wieder daraus entfernt wird. Der Sadist ist sich also - um bei dem gleichen Beispiel zu bleiben - seines Wunsches zu zerstören oder zu beherrschen nicht bewusst; es gibt keine Versuchung und keinen Kampf.

Die Verdrängung böser Strebungen ist diejenige Art der Unterdrückung, auf die sich die autoritäre Ethik implizit oder explizit als den sichersten Weg zur Tugend verlässt. Aber wenn es auch zutrifft, dass die Verdrängung ein Schutz gegen bestimmte Handlungen ist, so ist sie doch weit weniger wirksam, als ihre Verfechter annehmen.

Die Verdrängung entfernt einen Impuls aus dem Bewusstsein, hebt jedoch nicht seine Existenz auf. Freud hat nachgewiesen, dass der verdrängte Impuls weiterhin wirksam bleibt und einen tiefen Einfluss auf den Menschen ausübt, wenn auch der Betreffende sich seiner nicht bewusst ist. Die Wirkung eines verdrängten Impulses auf den Menschen ist nicht etwa geringer als die eines bewussten; der Hauptunterschied besteht nur darin, dass er sich nicht offen, sondern versteckt auswirkt, so dass der Handelnde nicht erkennt, was er tut. Wenn sich zum Beispiel unser Sadist seines Sadismus nicht bewusst ist, so kann er das Gefühl haben, dass er andere nur deswegen beherrscht, weil ihm an dem liegt, was nach seiner Meinung das Beste für sie ist, oder auch aus seinem starken Pflichtgefühl heraus.

Aber, wie Freud ebenfalls nachwies, wirken sich die verdrängten Strebungen nicht nur in Form von derartigen Rationalisierungen aus. Es kann sich zum Beispiel eine Reaktionsbildung entwickeln, in der sich genau das Gegenteil der verdrängten Strebung manifestiert, zum Beispiel Überbesorgtheit oder Überfreundlichkeit. Die Kraft der verdrängten Strebung tritt dann indirekt in Erscheinung, ein Phänomen, das Freud als „die Rückkehr des Verdrängten“ bezeichnete. In diesem Falle wird ein Mensch, dessen Überbesorgtheit sich als Reaktionsbildung gegen seinen Sadismus entwickelte, sich dieser „Tugend“ mit der gleichen Wirkung bedienen, die sein offenkundiger Sadismus gehabt hätte: andere zu beherrschen und zu kontrollieren. Während er selbst sich dabei tugendhaft und überlegen vorkommt, ist jedoch seine Wirkung auf andere oft noch verhängnisvoller, da es schwer ist, sich gegen zuviel „Tugend“ zu verteidigen. [II-144]

Vollkommen verschieden von Verdrängung und Unterdrückung ist eine dritte gegen destruktive Impulse gerichtete Reaktionsweise. Bei der Unterdrückung bleibt der Impuls lebendig, verhindert wird nur das Handeln; bei der Verdrängung wird der Impuls selbst aus dem Bewusstsein entfernt, so dass (bis zu einem gewissen Grade) in versteckter Form ihm entsprechend gehandelt wird; bei der dritten Reaktionsweise kämpfen die lebensfördernden Kräfte eines Menschen gegen die destruktiven und bösen Impulse. Je stärker ein Mensch sich dieser Impulse bewusst ist, desto stärker kann er darauf reagieren. Nicht nur sein Wille und seine Vernunft beteiligen sich, sondern auch die emotionalen Kräfte in ihm, die von seiner Destruktivität herausgefordert werden. In einem sadistischen Menschen zum Beispiel wird ein solcher Kampf gegen den Sadismus eine echte Güte entwickeln, die zu einem Bestandteil seines Charakters wird und ihn von der Aufgabe befreit, sein eigener Wachhund zu sein und seine Willenskraft ständig auf die „Selbstkontrolle“ zu richten. Bei dieser Reaktion liegt der Nachdruck nicht auf dem Gefühl von Schlechtigkeit und Reue, sondern auf dem Vorhandensein und dem Einsatz der dem Menschen eigenen produktiven Kräfte. Als Ergebnis des produktiven Konfliktes zwischen Gut und Böse wird also das Böse selbst zur Quelle der Tugend.

Vom Standpunkt der humanistischen Ethik folgt daraus, dass die ethische Alternative nicht zwischen Unterdrückung des Bösen oder Nachgeben besteht. Beides - Verdrängung und Nachgeben - sind lediglich zwei Aspekte derselben Bindung an das Böse. Die wirkliche ethische Alternative besteht zwischen Verdrängung und Nachgeben auf der einen und Produktivität auf der anderen Seite. Ziel der humanistischen Ethik ist nicht die Verdrängung des Bösen im Menschen (das von der schädigenden Wirkung der autoritären Gesinnung begünstigt wird), sondern der produktive Gebrauch der dem Menschen angeborenen primären Möglichkeiten. Tugend ist proportional zum Grad der Produktivität, den ein Mensch erreicht hat. Wenn einer Gesellschaft daran gelegen ist, die Menschen tugendhaft zu machen, dann muss ihr daran gelegen sein, die Menschen produktiv zu machen, und infolgedessen auch daran, die Voraussetzungen für die Entfaltung der Produktivität zu schaffen. Die erste und wichtigste dieser Voraussetzungen besteht darin, dass jede soziale und politische Aktivität die Entfaltung und das Wachstum des einzelnen Menschen zum Ziel haben muss, dass der Mensch der einzige Zweck und das einzige Ziel ist und nicht ein Mittel für irgendjemanden oder irgendetwas - außer für sich selbst.

Die produktive Orientierung ist die Grundlage für Freiheit, Tugend und Glück. Wachsamkeit ist der Preis der Tugend, aber nicht die Wachsamkeit des Aufsehers, der den bösen Gefangenen einsperren muss, vielmehr die Wachsamkeit des vernunftbegabten Wesens, das die Voraussetzungen seiner Produktivität erkennen und schaffen und jene Faktoren beseitigen muss, die es hemmen und so das Böse schaffen. Wenn dieses Böse einmal erwacht ist, kann es nur mit Hilfe äußerer oder innerer Gewalt daran gehindert werden, sich zu manifestieren.

Die autoritäre Ethik impfte den Menschen die Vorstellung ein, es bedürfe einer gewaltigen und unermüdlichen Anstrengung, um gut zu sein; der Mensch müsse sich ständig bekämpfen, und jeder falsche Schritt könne verhängnisvoll werden. Diese Auffassung ergibt sich aus der autoritären Prämisse. Wäre der Mensch ein so böses [II-145] Wesen und wäre Tugend nur der Sieg über sich selbst, dann könnte diese Aufgabe tatsächlich als abschreckend schwierig erscheinen. Ist Tugend aber dasselbe wie Produktivität, dann ist es durchaus kein so mühsames und schwieriges - wenn auch nicht einfaches - Unterfangen, sie zu erreichen. Wie wir zeigten, ist der Wunsch, seine Kräfte produktiv zu gebrauchen, dem Menschen angeboren, und seine Anstrengungen richten sich vor allem darauf, die in ihm und seiner Umwelt vorhandenen Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die ihn daran hindern, seiner Neigung zu folgen. So wie der steril und destruktiv gewordene Mensch in zunehmendem Maße gelähmt und sozusagen in einem circulus vitiosus (Teufelskreis) gefangen ist, so gewinnt ein Mensch, der sich seiner eigenen Kräfte bewusst ist und sie produktiv verwendet, an Stärke, Glauben und Glück. Er ist immer weniger in Gefahr, von sich selbst entfremdet zu werden. Er hat einen circulus „virtuosus“ (Tugendkreis) geschaffen. Das Erlebnis von Freude und Glück ist nicht nur, wie wir nachgewiesen haben, das Ergebnis eines produktiven Lebens, sondern auch dessen Stimulus.[65] Aus dem Geist der Selbstkasteiung und des Klagens mag die Verdrängung des Bösen erwachsen, aber es gibt nichts, was dem Gutsein im humanistischen Sinne förderlicher wäre als eben das Erlebnis von Freude und Glück, das jedes produktive Tätigsein begleitet. Jede Steigerung der Freude, die eine Kultur bieten kann, wird mehr zur sittlichen Erziehung ihrer einzelnen Glieder beitragen als alle Strafandrohungen und Tugendpredigten.

3. Charakter und moralische Beurteilung

Das Problem der moralischen Beurteilung wird häufig mit dem Problem der Willensfreiheit im Gegensatz zum Determinismus in Zusammenhang gebracht.[66] Für die eine Richtung ist der Mensch vollständig durch Umstände bestimmt, die sich seiner Kontrolle entziehen, und die Idee, der Mensch sei in seinen Entscheidungen frei, gilt als Illusion. Von dieser Prämisse aus wird gefolgert, dass man den Menschen nicht nach seinen Taten richten dürfe, da er seine Entschlüsse nicht frei treffen könne. Die entgegengesetzte Richtung vertritt die Auffassung, der Mensch verfüge über einen freien Willen, den er ungeachtet aller psychologischen oder äußeren Bedingungen und Umstände gebrauchen könne; er sei daher für seine Handlungen verantwortlich und könne danach beurteilt werden. Es könnte nun den Anschein haben, als ob der Psychologe gezwungen wäre, den Determinismus anzuerkennen. Das Studium der Charakterentwicklung zeigt ihm, dass das Kind sein Leben in einem moralisch indifferenten Zustand beginnt und dass sein Charakter durch äußere Einflüsse geformt wird, die in den ersten Jahren seines Lebens am stärksten sind, solange es weder das Wissen noch die Kraft besitzt, die Verhältnisse, die seinen Charakter bestimmen, zu ändern. In dem Alter, in dem es versuchen könnte, die Bedingungen zu ändern, unter denen es lebt, ist sein Charakter bereits geformt und es fehlt ihm der Antrieb, diese Bedingungen zu untersuchen und sie nötigenfalls zu ändern. Wenn wir davon ausgehen, dass die moralischen Qualitäten eines Menschen in seinem Charakter wurzeln, müssen wir dann nicht zugeben, dass kein Urteil über ihn möglich ist, da er ja nicht die Freiheit hat, seinen Charakter zu formen? Muss uns die Auffassung, dass kein Mensch [II-146] moralisch beurteilt werden könne, nicht um so unanfechtbarer erscheinen, je mehr Einblick wir in die Bedingungen haben, die auf die Bildung des Charakters und seine Dynamik einwirken?

Vielleicht lässt sich diese Alternative zwischen psychologischem Verstehen und moralischer Beurteilung durch einen Kompromiss umgehen, auf den die Anhänger der Theorie der Willensfreiheit gelegentlich hinweisen. Unbestritten ist, dass es im Leben mancher Menschen Umstände gibt, welche die Ausübung ihrer Willensfreiheit unmöglich machen und somit auch eine moralische Beurteilung ausschließen. Das moderne Strafrecht zum Beispiel hat diese Auffassung übernommen und betrachtet einen Geisteskranken nicht als verantwortlich für seine Taten. Die Vertreter einer modifizierten Theorie der Willensfreiheit gehen noch einen Schritt weiter. Sie wollen gelten lassen, dass ein Mensch, der zwar nicht geisteskrank, jedoch neurotisch ist und somit unter dem Einfluss unkontrollierbarer Impulse steht, für seine Handlungen ebenfalls nicht verurteilt werden kann. Sie behaupten jedoch, die meisten Menschen besäßen - wenn sie wollen - die Freiheit, gut zu handeln; sie seien daher moralisch verantwortlich.

Eine genaue Untersuchung zeigt jedoch, dass sogar diese Auffassung unhaltbar ist. Wir neigen zu dem Glauben, dass wir frei handeln, weil wir uns, wie schon Spinoza andeutete, zwar unserer Wünsche bewusst sind, nicht aber ihrer Motivationen. Unsere Motive sind das Ergebnis der in unserem Charakter sich auswirkenden besonderen Kräftemischung. Jede unserer Entscheidungen wird durch die jeweils vorherrschenden guten oder bösen Kräfte bestimmt. Bei einigen Menschen dominiert eine bestimmte Kraft so stark, dass jeder, der ihren Charakter und die vorherrschenden Wertmaßstäbe kennt, vorhersagen kann, wie sie sich entscheiden werden (obgleich sie selber der Illusion unterworfen sein können, sich „frei“ entschieden zu haben). Bei anderen sind destruktive und konstruktive Kräfte so ausgeglichen, dass ihre Entscheidungen nicht empirisch voraussagbar sind. Wenn wir sagen, jemand könnte auch anders gehandelt haben, so beziehen wir uns auf den letztgenannten Fall. Aber diese Äußerung, er könnte auch anders gehandelt haben, bedeutet lediglich, dass wir seine Handlungen nicht voraussagen konnten. Seine Entscheidung zeigt jedoch, dass die eine Kräftegruppe stärker war als die andere, und dass also auch in seinem Fall die Entscheidung durch seinen Charakter bestimmt wurde. Wäre daher sein Charakter anders gewesen, so würde er anders gehandelt haben, aber auch dann wieder seiner Charakterstruktur entsprechend. Der Wille ist keine abstrakte Kraft, die der Mensch neben seinem Charakter besitzt. Vielmehr ist der Wille nichts anderes als der Ausdruck seines Charakters. Der produktive Mensch, der seiner Vernunft vertraut und sowohl andere wie auch sich selbst lieben kann, hat den Willen zu tugendhaftem Handeln. Dem nicht-produktiven Menschen, der diese Eigenschaften nicht ausgebildet hat und ein Sklave seiner irrationalen Leidenschaften ist, fehlt dieser Wille.

Die Auffassung, dass unser Charakter unsere Entscheidungen bestimmt, ist keineswegs fatalistisch. Ist auch der Mensch wie alle anderen Geschöpfe Kräften unterworfen, die ihn bestimmen, so ist er doch das einzige vernunftbegabte Geschöpf. Er ist das einzige Wesen, das eben jene Kräfte begreift, denen es unterworfen ist, und das dank seines Verstehens aktiven Anteil an seinem eigenen Geschick nehmen und jene [II-147] Elemente festigen kann, die zum Guten hinstreben. Er ist das einzige Geschöpf, das ein Gewissen hat. Sein Gewissen ist die Stimme, die ihn zu sich selbst zurückruft. Sie teilt ihm mit, was er tun sollte, um er selbst zu werden, und hilft ihm, sich seiner Lebensziele und der für die Erreichung dieser Ziele unumgänglichen Normen bewusst zu bleiben. Wir sind daher keine hilflosen Opfer unserer Verhältnisse; wir sind tatsächlich imstande, Kräfte in uns und außerhalb von uns selbst zu ändern und zu lenken und, zumindest bis zu einem gewissen Grade, die Bedingungen zu beeinflussen, die auf uns einwirken. Wir können auch jene Bedingungen begünstigen und verbessern, die das Streben nach dem Guten entwickeln und dessen Verwirklichung herbeiführen. Aber während wir zwar Vernunft und Gewissen haben, die uns befähigen, aktiv an unserem Leben mitzuarbeiten, sind Vernunft und Gewissen selbst doch unlösbar mit unserem Charakter verbunden. Beherrschen destruktive Kräfte und irrationale Leidenschaften unseren Charakter, so werden unsere Vernunft und unser Gewissen davon betroffen und können ihre Funktion nicht mehr richtig ausüben. Die letzteren sind tatsächlich unsere kostbarsten Fähigkeiten, und wir haben die Aufgabe, sie zu entwickeln und zu gebrauchen; aber sie sind nicht frei und undeterminiert und existieren nicht unabhängig von uns. Es sind Kräfte innerhalb der Struktur unserer Gesamtpersönlichkeit; sie werden - wie jeder Teil einer Struktur - von der Struktur als ganzer bestimmt und bestimmen diese zugleich ihrerseits.

Hinge unser moralisches Urteil über einen Menschen von der Entscheidung ab, ob er auch anders hätte wollen können, dann wäre jede moralische Beurteilung ausgeschlossen. Wie können wir zum Beispiel die Stärke der einem Menschen eigenen Vitalität kennen, die ihm ermöglichte, den in seiner Kindheit und auch später auf ihn einwirkenden Umweltkräften Widerstand zu leisten? Oder den Mangel an Vitalität, der es mit sich bringt, dass ein anderer Mensch genau denselben Kräften erliegt? Wie können wir wissen, ob im Leben eines Menschen ein zufälliges Ereignis - wie etwa die Begegnung mit einem guten, liebevollen Menschen - seine Charakterentwicklung nicht in einer bestimmten Richtung beeinflusst haben könnte, während das Ausbleiben eines solchen Erlebnisses den Charakter in entgegengesetzter Richtung beeinflusst haben mag? Das können wir tatsächlich nicht wissen. Selbst wenn wir unsere moralische Beurteilung auf der Prämisse aufbauen würden, dass ein Mensch anders gehandelt haben könnte, sind doch konstitutionelle und Umweltfaktoren, die an der Entwicklung eines Charakters mitwirken, so zahlreich und komplex, dass es praktisch unmöglich ist, abschließend darüber zu urteilen, ob der Betreffende sich anders hätte entwickeln können. Wir können lediglich annehmen, dass die gegebenen Umstände zu der Entwicklung führten, die sich offensichtlich vollzog. Hinge die Möglichkeit, einen Menschen zu beurteilen, von unserem Wissen ab, dass er auch anders gehandelt haben könnte, dann müssten wir uns auf dem Gebiet der Charakterforschung geschlagen geben, soweit es um eine ethische Beurteilung geht.

Diese Schlussfolgerung ist jedoch fragwürdig, denn sie beruht auf falschen Prämissen und auf der Unklarheit darüber, was ein „Urteil“ ist. Urteilen kann Verschiedenes bedeuten: einmal, dass man die geistigen Funktionen ausübt, auf Grund deren man etwas behauptet oder voraussagt; zum andern bedeutet es jedoch, dass man die Funktion eines „Richters“ ausübt, der freizusprechen und zu verurteilen hat. [II-148]

Die letztgenannte Art des moralischen Urteilens geht auf die Vorstellung einer den Menschen transzendierenden und ein Urteil über ihn fällenden Autorität zurück. Diese Autorität hat das Privileg, freizusprechen oder zu verurteilen und zu strafen. Ihr Urteilsspruch ist absolut, weil sie über dem Menschen steht und mit einer für ihn unerreichbaren Weisheit und Kraft ausgestattet ist. Sogar in der Rolle des Richters, der in einer demokratischen Gesellschaft gewählt wird und theoretisch nicht über seinen Mitmenschen steht, findet sich noch ein Schimmer der alten Vorstellung vom richtenden Gott. Verfügt er als Person auch über keine übermenschlichen Kräfte, so doch als Amtsperson. (Der einem Richter gegenüber geforderte Respekt ist ein Überrest des Respekts vor einer übermenschlichen Autorität; Missachtung des Gerichts ist psychologisch nah verwandt mit Majestätsbeleidigung.) Viele aber, die nicht das Amt eines Richters innehaben, maßen sich die Rolle eines Richters an und sind geneigt, moralisch zu verurteilen oder freizusprechen, wenn sie moralische Urteile fällen. Häufig enthält ihre Haltung ein gut Teil Sadismus und Destruktivität. Es gibt wohl kein Phänomen, das so viel destruktive Elemente enthält wie die „moralische Entrüstung“, die Neid und Hassgefühlen erlaubt, sich unter der Maske der Tugend auszutoben. (S. Ranulfs Buch Moral Indignation and the Middle Class, 1964, gibt eine ausgezeichnete Illustration dieses Sachverhalts. Der Titel des Buches könnte ebenso gut lauten „Der Sadismus und der Mittelstand“.) Die „entrüstete“ Person hat die Genugtuung, einen Menschen zu verachten und als „minderwertig“ zu behandeln und zugleich das Gefühl, ihre eigene Überlegenheit und Rechtschaffenheit damit zu verbinden.

Die humanistische Beurteilung moralischer Werte hat denselben logischen Charakter wie eine rationale Beurteilung im allgemeinen. Indem man Werturteile abgibt, beurteilt man lediglich Tatsachen und fühlt sich nicht gottähnlich, überlegen und dazu berechtigt, andere zu verurteilen oder ihnen zu vergeben. Ein Urteil darüber, ob jemand destruktiv, gierig, eifersüchtig oder neidisch ist, unterscheidet sich von der Feststellung eines Arztes über eine gestörte Funktion des Herzens oder der Lunge. Nehmen wir an, wir hätten ein Urteil über einen Mörder zu fällen, von dem wir wissen, dass es sich bei ihm um einen pathologischen Fall handelt. Könnten wir alles über seine Erbanlage und über seine frühere und spätere Umwelt erfahren, so kämen wir höchstwahrscheinlich zu dem Schluss, dass er gänzlich dem Einfluss von Bedingungen unterworfen war, über die er keine Macht hatte; das trifft auf ihn tatsächlich in weit höherem Maße zu als auf einen kleinen Dieb; sein Verhalten ist verständlicher als das des Letztgenannten. Das heißt jedoch nicht, dass wir seine Schlechtigkeit nicht beurteilen sollten. Wir können verstehen, wie und warum er zu dem wurde, der er ist, aber wir können auch beurteilen, was er ist. Wir können sogar annehmen, dass wir wie er geworden wären, falls wir unter den gleichen Umständen gelebt hätten. Derartige Überlegungen bewahren uns davor, uns eine gottähnliche Rolle anzumaßen, doch hindern sie uns nicht an einer moralischen Beurteilung. Das Problem, ob ich einen Charakter verstehen und ihn zugleich beurteilen kann, unterscheidet sich in nichts von dem Verstehen und Beurteilen jedes anderen menschlichen Tuns: Wenn ich den Wert von einem Paar Schuhe oder den eines Gemäldes zu beurteilen habe, so tue ich dies auf Grund gewisser objektiver Maßstäbe, die zu diesen Gegenständen [II-149] gehören. Angenommen, die Schuhe oder das Gemälde sind von schlechter Qualität und jemand weist darauf hin, dass der Schuhmacher oder der Maler sich zwar Mühe gegeben habe, doch sei wegen bestimmter Umstände ein besseres Resultat unmöglich gewesen, so werde ich deshalb mein Urteil über das Produkt nicht ändern. Ich kann Sympathie oder Mitleid für den Schuhmacher oder Maler empfinden, vielleicht möchte ich ihm auch helfen, aber ich werde nicht sagen, dass ich sein Werk nicht beurteilen könne, weil ich begreife, weshalb es so schlecht ist.

Die wichtigste Lebensaufgabe des Menschen besteht darin, sich selbst zur Geburt zu verhelfen und das zu werden, was er potenziell ist. Das wichtigste Ergebnis seines Bemühens ist die eigene Persönlichkeit. Man kann objektiv beurteilen, in welchem Grade dem Einzelnen diese Aufgabe gelungen ist, bis zu welchem Grade er seine Möglichkeiten verwirklicht hat. Versagte er in seiner Aufgabe, so kann man dieses Versagen erkennen und es als das bezeichnen, was es ist - als sein moralisches Versagen. Dieses Urteil ändert sich selbst dann nicht, wenn man weiß, dass der Betreffende mit erdrückenden Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und dass jeder andere ebenfalls versagt hätte. Wenn man alle Umstände versteht, die ihn zu dem machen, der er ist, kann man Mitleid für ihn empfinden; aber dieses Mitleid verändert nicht die Gültigkeit des Urteils. Einen Menschen verstehen, bedeutet kein Gutheißen, sondern lediglich, dass man nicht anklagt, als wäre man Gott oder ein Richter über ihn.

f) Absolute Ethik im Gegensatz zur relativen Ethik, universale Ethik im Gegensatz zur gesellschaftsimmanenten Ethik

Denn wir sehen, wie Menschen manchmal von einem einzigen Gegenstande so in Erregung versetzt werden, dass sie denselben vor sich zu haben glauben, trotzdem er nicht gegenwärtig ist; geschieht dies einem Menschen in wachem Zustande, so sagen wir, er sei wahnsinnig oder verrückt. Nicht minder werden die für verrückt gehalten, die in Liebe brennen und Tag und Nacht nur von der Geliebten oder Buhlerin träumen; sie pflegen zum Lachen zu reizen. Wenn jedoch der Habsüchtige an nichts anderes denkt als an Gewinn oder Geld, der Ehrgeizige an Ruhm usw., so werden diese nicht für wahnsinnig gehalten, da sie lästig zu sein pflegen und für hassenswert gelten. In Wahrheit aber sind Habsucht, Ehrgeiz, Geschlechtsbegierde usw. Arten des Wahnsinns, mögen sie auch nicht zu den Krankheiten gezählt werden. (Spinoza, Ethik Teil IV, 44. Lehrsatz)

Die Auseinandersetzung über absolute Ethik im Gegensatz zu einer relativen Ethik ist durch den unkritischen Gebrauch der Worte „absolut“ und „relativ“ unnötig verwirrt worden. In diesem Kapitel soll nun der Versuch unternommen werden, ihre Begriffsinhalte zu differenzieren und ihre verschiedenen Bedeutungen getrennt zu behandeln.

Der Begriff „absolute“ Ethik wird zunächst in dem Sinne gebraucht, dass ethische Behauptungen unanzweifelbar und ewig gültig seien und eine Revision weder zulassen [II-150] noch erfordern. Diese Auffassung von absoluter Ethik findet man in autoritären Systemen, und aus der Prämisse folgt logischerweise, dass die unanzweifelbar überlegene und allwissende Macht der Autorität das Kriterium ihrer Gültigkeit ist. Das Wesentliche dieses Anspruchs auf Überlegenheit ist, dass die Autorität nicht irren kann und ihre Gebote und Verbote ewig wahr sind. Der Gedanke, dass sittliche Normen absolut sein müssten, um gültig zu sein, kann in aller Kürze widerlegt werden. Diese Auffassung, die auf der theistischen Voraussetzung der Existenz einer „absoluten“ = vollkommenen Macht beruht, mit der verglichen die Menschen notwendig „relativ“ = unvollkommen sein müssen, wurde auf allen Gebieten wissenschaftlichen Denkens verdrängt, wo generell anerkannt wird, dass es zwar keine absolute Wahrheit gibt, jedoch objektiv gültige Gesetze und Prinzipien. Wie bereits dargelegt wurde, zeichnet sich eine wissenschaftlich oder rational gültige Feststellung dadurch aus, dass die Vernunft sämtliche zur Verfügung stehenden Beobachtungsergebnisse berücksichtigt, ohne eines davon zugunsten eines erwünschten Resultats zu übergehen oder zu verfälschen. Die Geschichte der Wissenschaft ist eine Geschichte inadäquater und lückenhafter Behauptungen; jede neue Einsicht lässt die Unzulänglichkeit früherer Behauptungen erkennen und bietet den Boden für eine adäquatere Formulierung. Die Geschichte des Denkens ist die Geschichte einer stetigen Annäherung an die Wahrheit. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht absolut, sondern „optimal“; sie enthalten das Optimum der in einer bestimmten geschichtlichen Epoche erreichbaren Wahrheit. Die verschiedenen Kulturen haben verschiedene Aspekte der Wahrheit erfasst, und je mehr sich die Menschheit kulturell zusammenschließt, desto mehr werden sich diese verschiedenen Aspekte zu einem Gesamtbild ergänzen.

Auch in einem anderen Sinn können ethische Normen nicht absolut sein: Sie werden nicht nur, wie alle anderen wissenschaftlichen Behauptungen, Revisionen unterzogen, sondern es gibt bestimmte Situationen, die ihrer Natur nach unlösbar sind und eine Wahl ausschließen, die als die einzig richtige gelten könnte. Spencer gibt in seiner Untersuchung der relativen Ethik im Gegensatz zur absoluten ein Beispiel eines solchen Konflikts (H. Spencer, 1902, S. 258 ff.). Er spricht von einem Gutspächter, der bei den allgemeinen Wahlen abstimmen möchte. Er weiß, dass sein Gutsherr ein Konservativer ist und dass er Gefahr läuft, die Pacht zu verlieren, wenn er seiner eigenen Überzeugung entsprechend liberal wählt. Spencer vertritt nun die Auffassung, dass der Konflikt darin besteht, ob dem Staat oder der Familie geschadet werden soll. Er kommt zu dem Schluss, dass hier wie „in zahllosen anderen Fällen niemand entscheiden kann, auf welchem der beiden Wege das kleinere Unrecht getan wird“ (H. Spencer, 1902, S. 267). Die Alternative scheint von Spencer in diesem Falle nicht richtig gestellt zu sein. Es würde sich auch dann um einen moralischen Konflikt handeln, wenn die Familie nicht mitbetroffen würde, sondern lediglich das eigene Glück und die eigene Sicherheit gefährdet wäre. Andererseits steht nicht nur das Interesse des Staates auf dem Spiel, sondern auch die eigene Integrität. In Wirklichkeit steht der Pächter also vor der Wahl zwischen seinem physischen und (in gewisser Hinsicht) seinem geistigen Wohlbefinden einerseits und seiner Integrität andererseits. Was immer er entscheidet, ist richtig und falsch zugleich. Er kann keine absolut richtige Wahl treffen, weil das Problem seinem Wesen nach unlösbar ist. Solche Situationen unlösbarer ethischer [II-151] Konflikte entstehen unvermeidlich im Zusammenhang mit existenziellen Dichotomien. In diesem Fall haben wir es allerdings mit keinem in der menschlichen Situation enthaltenen existenziellen Widerspruch zu tun, sondern mit einer historischen Dichotomie, die sich aufheben lässt. Der Gutspächter befindet sich nur deshalb in einem unlösbaren Konflikt, weil die Ordnung ihn in eine Situation stellt, in der keine befriedigende Lösung möglich ist. Ändert sich die gesellschaftliche Konstellation, dann verschwindet der moralische Konflikt. Doch solange diese Bedingungen vorhanden sind, muss jede Entscheidung des Pächters richtig und falsch zugleich sein, obwohl die Entscheidung zugunsten seiner Integrität als moralisch wertvoller angesehen werden kann als eine Entscheidung zugunsten seines Lebens.

Für den letzten und wichtigsten Sinn, in dem die Begriffe „absolute“ und „relative“ Ethik verwendet werden, wäre es angebrachter, von einem Unterschied zwischen universaler und gesellschaftsimmanenter Ethik zu sprechen. Unter „universaler“ Ethik verstehe ich solche Normen der Lebensführung, deren Ziel das Wachstum und die Entfaltung des Menschen ist; unter „gesellschaftsimmanenter“ Ethik verstehe ich solche Normen, die für das Funktionieren und Weiterbestehen einer bestimmten Gesellschaftsform und der in dieser Gesellschaft lebenden Menschen notwendig sind.

Ein Beispiel für universale Ethik kann man in solchen Normen finden wie „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ oder „Du sollst nicht töten“. Tatsächlich zeigen die ethischen Systeme aller großen Kulturen eine erstaunliche Ähnlichkeit in allem, was für die Entwicklung des Menschen als notwendig erachtet wird, also jener Normen, die sich aus der Natur des Menschen und den für sein Wachstum nötigen Bedingungen ergeben.

Bei der „gesellschaftsimmanenten“ Ethik beziehe ich mich auf die in den Normen eines Kulturraums enthaltenen Verbote und Gebote, die lediglich für das Funktionieren und Weiterbestehen dieser besonderen Gesellschaft notwendig sind. Für das Weiterbestehen jeder Gesellschaft ist es unerlässlich, dass ihre einzelnen Glieder sich den Gesetzen unterordnen, die für ihre besondere Produktions- und Lebensweise wesentlich sind. Die Gruppe muss die Charakterstruktur ihrer einzelnen Glieder in der Weise zu formen suchen, dass sie von sich aus tun wollen, was sie unter den bestehenden Verhältnissen tun müssen.

So werden zum Beispiel Mut und Initiative wichtige Tugenden in einer kriegerischen Gesellschaftsordnung, und Geduld und Hilfsbereitschaft werden für eine Gesellschaft zu Tugenden, in der die landwirtschaftliche Zusammenarbeit eine Hauptrolle spielt. In der modernen Gesellschaft ist Fleiß zu einer der höchsten Tugenden erhoben worden, weil das moderne Industriesystem den Arbeitswillen als eine seiner wichtigsten Produktionskräfte nötig hat. Diejenigen Qualitäten, die für das Gedeihen einer bestimmten Gesellschaft einen hohen Rang einnehmen, werden ihrem ethischen System einverleibt. Für jede Gesellschaft ist es von lebenswichtigem Interesse, dass ihre Gebote befolgt und ihre „Tugenden“ angestrebt werden, da ihr Weiterbestehen davon abhängt.

Außer den Normen, die im Interesse einer Gesellschaft als ganzer liegen, gibt es andere ethische Normen, die von Klasse zu Klasse verschieden sind. Ein deutliches Beispiel ist die Betonung von Bescheidenheit und Gehorsam als Tugenden für die [II-152] unteren Klassen und von Ehrgeiz und Aggressivität für die oberen Klassen. Je starrer und satzungsmäßig ausgeprägter die Klassenstruktur ist, desto stärker werden verschiedene Normgruppen ausdrücklich auf die verschiedenen Klassen bezogen, beispielsweise Normen für Freie oder für Leibeigene in einer Feudalwelt, oder für Weiße und Neger in den Südstaaten der USA. In modernen demokratischen Gesellschaften, wo die Klassenunterschiede satzungsmäßig keinen Niederschlag gefunden haben, werden die verschiedenen Normgruppen nebeneinander gelehrt, zum Beispiel die Ethik des Neuen Testaments neben den Normen, die zur Führung eines erfolgreichen Geschäftsbetriebes nützlich sind. Entsprechend seiner gesellschaftlichen Stellung und seinem Talent wird der einzelne sich für die Normgruppe entscheiden, die er brauchen kann, wobei er vielleicht mit einem Lippenbekenntnis der entgegengesetzten Gruppe treu bleibt. Erziehungsunterschiede in Schule und Familie (wie zum Beispiel in den englischen Public Schools und bestimmten Privatschulen in den Vereinigten Staaten) betonen meist die besonderen Wertsetzungen, die zur gesellschaftlichen Stellung der oberen Klasse passen, ohne die anderen direkt zu negieren.

Die Funktion des ethischen Systems, gleichgültig in welcher Gesellschaft, besteht darin, das Leben dieser besonderen Gesellschaft zu erhalten. Eine solche gesellschaftsimmanente Ethik liegt aber auch im Interesse des Einzelnen: Da die Gesellschaft eine bestimmte Struktur hat, die der einzelne nicht ändern kann, ist sein individuelles Selbstinteresse mit dem der Gesellschaft verknüpft. Gleichzeitig kann die Gesellschaft jedoch so organisiert sein, dass die für ihr Fortbestehen notwendigen Normen zu den universalen, für die volle Entwicklung ihrer Glieder notwendigen Normen in Widerspruch stehen. Dies trifft besonders in Gesellschaften zu, in denen privilegierte Gruppen die anderen beherrschen oder ausbeuten. Die Interessen der Privilegierten widersprechen dem Interesse der Mehrheit, doch insofern, als die Gesellschaft auf der Basis einer solchen Klassenstruktur funktioniert, sind die von den Privilegierten allen anderen auferlegten Normen für das Überleben jedes Einzelnen notwendig, solange die Gesellschaftsstruktur nicht von Grund auf verändert wird.

Die in einer solchen Kultur vorherrschenden Ideologien werden dahin tendieren, das Bestehen irgendeines Widerspruchs zu leugnen. Sie werden vor allem behaupten, dass die ethischen Normen dieser Gesellschaft für alle ihre Glieder dieselbe Bedeutung haben; außerdem werden sie betonen, dass jene Normen, welche die bestehende Gesellschaftsstruktur erhalten sollen, universale Normen sind, die sich aus der Notwendigkeit des menschlichen Daseins ergeben. Beim Verbot des Diebstahls zum Beispiel versucht man häufig den Eindruck zu erwecken, als entspränge es der gleichen „menschlichen“ Notwendigkeit wie das Verbot, jemanden zu töten. So verleiht man Gesetzen, die lediglich im Interesse des Fortbestandes einer bestimmten Gesellschaftsform liegen, die Würde universaler Normen, die zum menschlichen Dasein gehören und daher universell anwendbar sind. Solange eine bestimmte gesellschaftliche Organisation historisch unverzichtbar ist, bleibt dem Einzelnen keine andere Wahl, als deren ethische Normen als bindend anzunehmen. Behält eine Gesellschaft aber eine Struktur bei, die sich gegen die Interessen der Mehrheit auswirkt, obgleich die Basis für eine Änderung gegeben wäre, so wird es für die Förderung jener Tendenzen, welche die gesellschaftliche Ordnung ändern wollen, wichtig sein, dass der [II-153] gesellschaftlich bedingte Charakter ihrer Normen erkannt wird. Derartige Versuche werden von den Vertretern der alten Ordnung meist als unmoralisch bezeichnet. Man nennt jene, die an ihr eigenes Glück denken, „selbstsüchtig“, und jene, die an ihren Privilegien festhalten, „verantwortungsbewusst“. Dagegen wird Unterwürfigkeit als Tugend der „Selbstlosigkeit“ und „Hingabe“ glorifiziert.

Der Konflikt zwischen der gesellschaftsimmanenten und der universalen Ethik wurde zwar im Verlauf der Menschheitsentwicklung schwächer, aber es bleibt doch so lange ein Konflikt zwischen diesen beiden ethischen Formen bestehen, wie es der Menschheit nicht gelingt, eine Gesellschaft aufzubauen, in der die Interessen der „Gesellschaft“ mit den Interessen aller ihrer Glieder identisch geworden sind. Solange dies in der menschlichen Entwicklung nicht erreicht wird, befinden sich die historisch bedingten gesellschaftlichen Notwendigkeiten im Widerstreit mit den universalen existenziellen Notwendigkeiten des Einzelnen. Wenn der einzelne fünfhundert oder tausend Jahre lebte, würde dieser Widerstreit vielleicht gar nicht oder doch wenigstens in weit geringerem Ausmaß bestehen. Der einzelne könnte dann mit Freuden ernten, was er mit Schmerzen säte; die Leiden einer historischen Epoche, die erst in der nächsten ihre Früchte tragen werden, könnten dann auch für ihn Frucht bringen. Der Mensch lebt aber nur sechzig oder siebzig Jahre und hat vielleicht keinen Anteil mehr an der Ernte. Und doch ist er als einmaliges Wesen geboren und trägt alle Möglichkeiten in sich, deren Verwirklichung die Aufgabe der Menschheit ist. Wer sich mit der Wissenschaft vom Menschen beschäftigt, darf keine „harmonischen“ Lösungen suchen und über diesen Widerspruch hinweggehen. Er muss ihn klar erkennen. Es ist die Aufgabe des ethischen Denkers, die Stimme des menschlichen Gewissens zu unterstützen und zu stärken; zu erkennen, was für den Menschen gut oder schlecht ist, ohne Rücksicht darauf, ob es für die Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick ihrer Entwicklung gut oder schlecht ist. Vielleicht ist er damit ein „Rufer in der Wüste“, aber nur wenn diese Stimme lebendig und unbeirrbar bleibt, wird die Wildnis zum fruchtbaren Land werden. Der Widerspruch zwischen gesellschaftsimmanenter und universaler Ethik wird in dem Maße abnehmen und verschwinden, wie die Gesellschaft wirklich human wird - das heißt, wie die Gesellschaft lernt, auf die volle menschliche Entwicklung aller ihrer Glieder zu achten.

5. Das ethische Problem der Gegenwart

Wenn nicht die Philosophen Könige werden oder die Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren, und also dieses beides zusammentrifft, die Staatsgewalt und die Philosophie, und jene Leute, die sich jeder von beiden getrennt zuwenden, unerbittlich ausgeschlossen werden, so gibt es kein Ende des Unheils für die Staaten, ja ich glaube für das Menschengeschlecht; und diese Staatsverfassung wird niemals vorher ins Leben treten und das Licht der Sonne schauen. (Platon, Der Staat, 473d)

Gibt es ein besonderes ethisches Problem der Gegenwart? Ist das ethische Problem nicht zu allen Zeiten und für alle Menschen dasselbe? Das ist es tatsächlich, und doch hat jede Kultur ihre besonderen ethischen Probleme, die aus ihrer besonderen Struktur erwachsen, obwohl diese besonderen Probleme lediglich verschiedene Seiten der ethischen Probleme des Menschen sind. Jede dieser Seiten kann nur im Zusammenhang mit den grundlegenden und allgemeinen Problemen des Menschen verstanden werden. In diesem abschließenden Kapitel möchte ich auf einen besonderen Aspekt des allgemeinen ethischen Problems hinweisen; einmal, weil ihm vom psychologischen Standpunkt aus große Bedeutung zukommt, und zum anderen, weil wir geneigt sind, ihm auszuweichen, indem wir uns der Illusion hingeben, dass wir dieses Problem schon gelöst hätten: die Haltung des Menschen gegenüber Gewalt und Macht.

Die Haltung des Menschen der Gewalt gegenüber ergibt sich vor allem aus den Bedingungen seiner Existenz selbst. Als physische Wesen sind wir der Macht unterworfen - der Macht der Natur und der Macht des Menschen. Physische Gewalt kann uns der Freiheit berauben und uns töten. Ob wir ihr widerstehen oder sie überwinden können, hängt von den zufälligen Faktoren unserer eigenen physischen Stärke und der Stärke unserer Waffen ab. Unser Geist dagegen ist nicht unmittelbar der Macht unterworfen. Die Wahrheit, die wir erkannt haben, die Ideen, an die wir glauben, werden nicht durch Gewalt entkräftet. Macht und Vernunft existieren auf verschiedenen Ebenen, und die Wahrheit wird niemals durch Gewalt widerlegt. [II-155]

Heißt dies, dass der Mensch auch dann frei ist, wenn er in Ketten geboren wird? Heißt dies, wie Paulus und Luther behaupteten, der Geist eines Sklaven könne ebenso frei sein wie der seines Herrn? Wenn das zuträfe, würde das Problem des menschlichen Daseins ungeheuer vereinfacht. Aber diese Behauptung übersieht die Tatsache, dass Wahrheit und Ideen nicht außerhalb des Menschen und nicht unabhängig von ihm existieren, und dass der Geist des Menschen durch seinen Körper, seine geistige Verfassung durch seine körperliche und gesellschaftliche Existenz beeinflusst wird. Der Mensch kann die Wahrheit erkennen und kann lieben; wird er aber - nicht nur körperlich, sondern in seiner Totalität durch eine ihm überlegene Gewalt bedroht, wird er also hilflos und verängstigt, dann ist auch sein Geist, dessen Funktion gestört und gelähmt wird, davon betroffen. Die lähmende Wirkung der Macht beruht nicht nur auf der Furcht, die sie erweckt, sondern gleichermaßen auf einem von ihr ausgehenden Versprechen: dem Versprechen, dass die Machthaber auch in der Lage seien, die „Schwachen“, die sich unterordnen, zu schützen und für sie zu sorgen; dass sie dem Menschen die Bürde der Ungewissheit und der Verantwortung für sich selbst abnehmen können, indem sie die Ordnung garantieren und dem Einzelnen einen Platz innerhalb dieser Ordnung zuweisen, der ihm ein Gefühl der Sicherheit gibt.

Die Unterwerfung des Menschen unter diese Kombination von Drohung und Versprechen ist sein eigentlicher „Sündenfall“. Indem er sich der Macht (= Beherrschung) unterwirft, verliert er seine Macht (= Potenz).[67] Er verliert die Kraft, alle seine Fähigkeiten zu gebrauchen, die aus ihm erst wirklich einen Menschen machen. Seine Vernunft arbeitet nicht mehr; er kann intelligent und durchaus fähig sein, mit den Dingen und mit sich selbst umzugehen, aber er nimmt als Wahrheit an, was diejenigen, die über ihn Macht haben, als Wahrheit bezeichnen. Er verliert seine Liebesfähigkeit, da seine Gefühle an die gebunden sind, von denen er abhängig ist. Er verliert sein moralisches Empfinden, da sein Unvermögen, die Machthaber anzuzweifeln und zu kritisieren, sein moralisches Urteil in jeder Hinsicht trübt. Er wird die Beute von Vorurteilen und Aberglauben, da er die Gültigkeit der Voraussetzungen nicht nachprüfen kann, auf die sich ein solcher falscher Glaube stützt. Seine eigene Stimme kann ihn nicht auf sich selbst zurückrufen; er hört sie nicht, da er nur noch auf diejenigen hört, die über ihn Macht haben. Freiheit ist tatsächlich die unerlässliche Voraussetzung für das Glück und für die Tugend; nicht die Freiheit im Sinne einer Möglichkeit, sich willkürlich zu entscheiden, und auch nicht das Freisein von Notwendigkeiten, sondern die Freiheit, die uns erlaubt, was wir potenziell sind, zu verwirklichen, und die wahre Natur des Menschen entsprechend den Gesetzen seiner Existenz zu erfüllen. Wenn Freiheit - also die Fähigkeit, die Integrität gegen Machteinflüsse zu behaupten - die grundlegende Bedingung für Sittlichkeit ist, hat dann der abendländische Mensch sein ethisches Problem nicht schon gelöst? Ist es nicht nur ein Problem von Menschen, die unter einer autoritären Diktatur ihrer persönlichen und politischen Freiheit beraubt werden? Die in den modernen Demokratien erreichte Freiheit enthält tatsächlich ein Versprechen für die Entwicklung des Menschen, das in jeder Diktatur fehlt, gleichgültig ob sie behaupten, im Interesse des Menschen zu handeln oder nicht. Es ist aber erst ein Versprechen, noch keine Erfüllung. Wir verdecken unsere eigenen ethischen Probleme vor uns selbst, wenn wir die Aufmerksamkeit darauf [II-156] richten, unsere Kultur mit Lebensformen zu vergleichen, die eine Verleugnung der besten Errungenschaften der Menschheit sind. Wir übergehen damit die Tatsache, dass auch wir uns einer Macht beugen, zwar nicht der Macht eines Diktators und einer mit ihm verbündeten politischen Bürokratie, aber der anonymen Macht des Marktes, des Erfolges, der öffentlichen Meinung, des „gesunden Menschenverstandes“ (common sense), vielmehr des „allgemeinen Unverstandes“ (common nonsense), und der Maschine, deren Knechte wir geworden sind.

Unser ethisches Problem ist die Gleichgültigkeit des Menschen sich selbst gegenüber. Wir haben den Sinn für die Bedeutung und Einzigartigkeit des Individuums verloren und haben uns zu Werkzeugen für Zwecke gemacht, die außerhalb von uns selbst liegen. Wir erleben und behandeln uns als Ware und wurden unseren eigenen Kräften entfremdet. Wir sind zu Dingen geworden, und auch unsere Mitmenschen sind für uns Dinge. Infolgedessen fühlen wir uns machtlos und verachten uns wegen unserer eigenen Impotenz. Da wir unseren eigenen Kräften nicht vertrauen, haben wir keinen Glauben an den Menschen, keinen Glauben an uns oder an das, was unsere Kräfte schaffen können. Wir haben kein Gewissen im humanistischen Sinn, denn wir wagen nicht, uns auf unsere eigene Urteilsfähigkeit zu verlassen. Wir sind eine Herde: Wir glauben, dass der Weg, dem wir folgen, zu einem Ziele führen müsse, weil wir alle anderen denselben Weg gehen sehen. Wir tasten im Dunkeln und bleiben nur deshalb mutig, weil wir auch alle andern pfeifen hören.

Dostojewski sagte: „Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt.“ Tatsächlich ist dies die Ansicht der meisten Leute; sie unterscheiden sich nur darin, dass einige folgern, Gott und die Kirche müssten am Leben bleiben, um die moralische Ordnung zu erhalten, während andere der Auffassung huldigen, alles sei erlaubt, gültige ethische Grundsätze gebe es nicht, Zweckmäßigkeit sei das einzige regulative Lebensprinzip.

Die humanistische Ethik vertritt den entgegengesetzten Standpunkt: Wenn der Mensch lebendig ist, dann weiß er, was erlaubt ist. Lebendig sein heißt produktiv sein und die Kräfte nicht für einen den Menschen transzendierenden Zweck, sondern für sich selbst einsetzen, dem Dasein einen Sinn geben, Mensch sein. Solange jemand glaubt, sein Ideal und sein Daseinszweck liege außerhalb seiner selbst, sei es über den Wolken, in der Vergangenheit oder in der Zukunft, lebt er außerhalb seiner selbst und wird dort Erfüllung suchen, wo sie nie gefunden werden kann. Er wird überall Lösungen und Antworten suchen, nur nicht dort, wo sie gefunden werden können - in ihm selbst.

Die „Realisten“ versichern uns, das Problem der Ethik sei ein Überbleibsel aus der Vergangenheit. Die psychologische und soziologische Analyse zeige, dass alle Werte sich nur auf eine bestimmte Kultur bezögen. Unsere persönliche und gesellschaftliche Zukunft werde ausschließlich durch unsere materielle Leistung gewährleistet. Diese „Realisten“ ignorieren jedoch einige entscheidende Tatsachen. Sie sehen nicht, dass die Leere und Planlosigkeit des individuellen Lebens, der Mangel an Produktivität und der daraus folgende Mangel an Glauben an sich selbst und an die Menschheit im weiteren Verlauf zu Störungen des Fühlens und Denkens führen muss, die dem Menschen sogar die Erreichung seiner materiellen Ziele unmöglich machen würden. [II-157] Untergangsprophezeiungen hört man heute immer häufiger. Sie haben zwar die wichtige Funktion, auf die möglichen Gefahren unserer gegenwärtigen Situation hinzuweisen, aber sie lassen die Verheißung außer Acht, die in den Errungenschaften auf den Gebieten der Naturwissenschaften, Psychologie, Medizin und Kunst liegt. Diese Errungenschaften beweisen in aller Deutlichkeit das Vorhandensein starker produktiver Kräfte, die mit dem Bilde eines Kulturverfalls unvereinbar sind. Unsere Epoche ist eine Epoche des Übergangs. Das Mittelalter endete nicht im 15. Jahrhundert, und die Neuzeit begann nicht unmittelbar darauf. Ende und Anfang schließen eine Entwicklung ein, die über vierhundert Jahre dauerte - eine sehr kurze Zeit, wenn wir sie nach historischen Begriffen und nicht an unserer eigenen Lebensspanne messen. Unsere Epoche ist ein Ende und ein Beginn. Sie trägt alle Möglichkeiten in sich.[68] Wenn ich jetzt die Frage wiederhole, die ich schon am Anfang des Buches stellte, ob wir stolz und zuversichtlich sein dürfen, so ist die Antwort wiederum bejahend, aber mit der einen, sich aus unserer Untersuchung ergebenden Einschränkung: Weder ein gutes noch ein schlechtes Ergebnis stellt sich automatisch oder in vorbestimmter Weise ein. Die Entscheidung liegt beim Menschen selbst. Sie hängt davon ab, ob er die Fähigkeit hat, sich selbst, sein Leben und sein Glück ernst zu nehmen; ob er gewillt ist, sich mit seinem eigenen ethischen Problem und dem seiner Gesellschaft auseinanderzusetzen. Sie hängt von seinem Mut ab, er selbst und um seiner selbst willen zu sein (to be himself and to be for himself).

[1] [Anmerkung des Herausgebers: Erstveröffentlichung unter dem Titel Man for Himself. An Inquiry into the Psychology of Ethics, New York 1947 (Rinehart & Co.); deutsch erstmals veröffentlicht unter dem Titel Psychoanalyse und Ethik, Zürich 1954 (Diana Verlag); in überarbeiteter Form und Übersetzung neu veröffentlicht unter dem Titel Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie, Stuttgart 1979 (Deutsche Verlags-Anstalt). - Wieder abgedruckt in Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band II, S. 1-157. - Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IX, S. 1-157.Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1947 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © E-Book Erich Fromm Gesamtausgabe 2016 by Rainer Funk.]

[2] [Anmerkung des Herausgebers: Dieses zweite große Werk Erich Fromms handelt von ethischen Einsichten, die sich aus psychoanalytischen und sozialpsychologischen Erkenntnissen ergeben. Die Psychoanalyse lehrt, das Verhalten des Menschen dynamisch zu verstehen, das heißt alle Lebensäußerungen als von bewussten und unbewussten Antriebskräften disponiert zu sehen. Die klassische Psychoanalyse hat sich im wesentlichen damit begnügt, aus diesem Ansatz eine Krankheitslehre zu entwickeln, um mit Hilfe der Psychoanalyse neurotische Symptome zu therapieren.

Fromms wissenschaftliches Verdienst ist es, mit dem Konzept des Gesellschafts-Charakters die Brücke zur Soziologie und zur psychoanalytischen Betrachtungsweise soziologischer Phänomene geschlagen zu haben. Die Charakterologie ermöglicht nicht nur die Psychoanalyse einzelner Lebensschicksale, sondern auch die dynamische Betrachtungsweise gesellschaftlicher Gruppen sowie des Einzelnen als Teils der Gesellschaft. Das Interesse richtet sich nicht mehr nur auf das kranke Individuum und die das neurotische Symptom produzierenden unbewussten Kräfte. Die Aufmerksamkeit gilt vielmehr jenen Grundmustern der Beziehung des Menschen zur dinglichen, menschlichen und natürlichen Umwelt und zu sich selbst, die als oft unbewusste Orientierungen das aktuelle Verhalten des Menschen disponieren: das Verhalten des einzelnen normalen Durchschnittsbürgers ebenso wie das Verhalten gesellschaftlicher Gruppen.

Fromm hat diesen, von Sigmund Freud und Karl Abraham vorgeformten Charakterbegriff in den frühen Aufsätzen Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie (1932a, GA I, S. 37-57) und Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie (1932b, GA I, S. 59-77) zunächst im Rahmen der Freudschen Triebtheorie weiter entwickelt und den Begriff einer „libidinösen Struktur“ gesellschaftlicher Größen geprägt. Eine entscheidende „Revision“ seines sozial-psychoanalytischen Ansatzes erfolgte im Jahr 1937 mit der Abkehr Fromms von der Freudschen Libidotheorie. Statt eines triebtheoretischen Erklärungsrahmens entwickelte Fromm - den interpersonalen Ansatz von Harry Stack Sullivan aufgreifend - einen bezogenheitstheoretischen Erklärungsrahmen, um die Notwendigkeit und die gesellschaftliche Prägung des Gesellschafts-Charakters zu begründen. (Vgl. hierzu den erst posthum veröffentlichten Aufsatz Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft (1992e, GA XI, S. 129-175), sowie R. Funk, 2000a und 2011).

Diesem Paradigmenwechsel folgend war es nötig, verschiedene Grundmuster der Bezogenheit des Menschen auf die Wirklichkeit und auf sich selbst idealtypisch herauszuarbeiten und sie daraufhin zu untersuchen, ob sie dem Wachstum und der psychischen Entfaltung des Menschen dienlich oder abträglich sind. Beidem versucht das vorliegende Werk zu entsprechen: Im zentralen Kapitel 3 beschreibt Fromm die einzelnen Charakter-Orientierungen und bewertet sie hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die psychische Entfaltung des Menschen als produktive bzw. nicht-produktive Charakter-Orientierungen. Die in dieser Ausführlichkeit einmalige Darstellung der verschiedenen Charakter-Orientierungen war der Grund, dem Buch - in Absprache mit Fromm selbst - im Deutschen den Untertitel Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie zu geben, während der Untertitel in der englischen Originalausgabe Eine Untersuchung zur Psychologie der Ethik lautet. (Für eine detaillierte Darstellung aller im Werk Fromms beschriebenen Gesellschafts-Charakterorientierungen vgl.R. Funk, 1995f.)

Um die Psychologie der Ethik geht es sowohl bei der Frage des charakterbestimmten menschlichen Verhaltens im ersten Teil von Psychoanalyse und Ethik als auch im zweiten Teil, in dem Fromm ethische Fragen diskutiert, die sich aus der dynamischen Sicht des Menschen ergeben: dass Selbstliebe die Voraussetzung für Nächstenliebe und das pure Gegenteil von Selbstsucht ist; dass das Gewissen nicht mit dem Freudschen Über-Ich identisch ist, sondern dass es jenseits vom autoritären Über-Ich-Gewissen ein humanistisches Gewissen gibt; was Lust ist und was sie nicht ist und was sie mit Glück und Freude zu tun hat; dass die Fähigkeit zu glauben vom Charakter abhängt; dass der Mensch weder gut noch böse ist, jedoch die Fähigkeit zu beidem hat und dass alles darauf ankommt, welche Fähigkeit entwickelt wird; dass ein ethisches Werturteil möglich sein muss, ja lebensentscheidend ist, jedoch meist dazu missbraucht wird, sich mittels einer moralischen Beurteilung über den anderen zu entrüsten, ihn zu verurteilen und von sich selbst abzulenken.

Fromm hat dem Buch den Titel Man for Himself gegeben und damit eine humanistische Programmatik zum Ausdruck gebracht. Für ihn gibt es ein dem Menschen tief innewohnendes - salutogenetisches - Streben nach Glück und Gesundheit, eine primäre Tendenz zu Wachstum und produktiver Orientierung. Darum schreibt er am Ende des Vorworts: „‘Heilen’ bedeutet nichts anderes, als die Widerstände aus dem Weg zu räumen, die verhindern, dass diese Strebungen wirksam werden können.“ Das ganze Buch ist eine Art Bekenntnisschrift des Frommschen Humanismus. Es handelt vom Glauben, dass der Mensch selbst das Maß und das Ziel ist und auf Grund seiner Anlagen sein kann.]

[3] [Anmerkung des Herausgebers: Diesen Band hat Fromm 1955 unter dem Titel Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 1-254) veröffentlicht.]

[4] [Anmerkung des Herausgebers: Im englischen Original folgt an dieser Stelle die Dankesliste der Verlage, aus deren Veröffentlichungen er zitiert hat. Außerdem dankt er den Verlegern der Zeitschriften Psychiatry und American Sociological Review für die Erlaubnis, von seinen eigenen, dort veröffentlichten Artikeln hier in Psychoanalyse und Ethik Gebrauch machen zu dürfen. Es handelt sich hierbei um Fromms Aufsätze Selfishness and Self-love (1939b, GA X, S. 99-123), Glaube als Charakterzug (1942b, GA X, S. 125-142) und Individuelle und gesellschaftliche Ursprünge der Neurose (1944a, GA XII, S. 123-129), die sämtlich in überarbeiteter Form in Kapitel 4 eingegangen sind.]

[5] [Anmerkung des Herausgebers: Wenn Fromm von „Normen“ (norms) spricht, so gebraucht er diesen Begriff meist nicht im Sinne der Soziologie. Aber auch der ethische Normbegriff, der auf die Frage nach dem sittlich Richtigen zielt, entspricht nicht dem, was Fromm hier mit „Norm“ meint. Wenn Fromm von „objektiv gültigen Normen“ (objective valid norms) spricht, dann assoziiert er mit diesem Norm-Begriff ein Ethos, das heißt eine ethische Fähigkeit, die einer Charakterbildung (und nicht einer „Gesinnung“ oder einem bewussten Motiv, einer Wert- oder Norm-Vorstellung) entspringt, der gemäß sich ein Mensch verhält. Fromm greift also das Anliegen der Tugendethik wieder auf, wie es von Aristoteles, Thomas von Aquin und Spinoza formuliert wurde, allerdings mit dem Unterschied, dass Fromm die Tugenden und Laster von der produktiven bzw. nicht-produktiven Qualität der Charakter-Orientierungen her definiert und so dem Anspruch gerecht wird, das Sittliche in erster Linie an der Vernunft (Rationalität bzw. Irrationalität) der bewussten und unbewussten psychischen Strukturbildungen zu messen. Die entscheidende Frage ist nicht, zu welchen Werten und Normen sich Menschen bekennen, sondern ihr faktisch gelebtes Ethos und die dieses Ethos determinierende produktive oder nicht-produktive Qualität der Charakterorientierung. Zur Frage vgl. auch die Überlegungen Fromms im vorliegenden Buch (1947a, GA II, S. 25 f.) sowie R. Funk, 1978, S. 194-227.]

[6] [Anmerkung des Herausgebers: Zum Normbegriff Fromms vgl. die vorstehende Anmerkung des Herausgebers.]

[7] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. zum Folgenden auch Fromms Ausführungen in Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil (1936a, GA I, S. 142 f. und 168-187) sowie in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 314 f.).]

[8] [Anmerkung des Herausgebers: Über die folgenden Ausführungen hinaus vgl. auch unten den Abschnitt über das Gewissen sowie Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil (1936a, GA I, S. 144-154).]

[9] [Anmerkung des Herausgebers: Fromm assoziiert hier den Begriff „Transzendenz“ mit „Jenseitigkeit“. Zumeist gebraucht er den Begriff „Transzendenz“ im Sinne eines innerweltlichen transformierenden Übersteigens der eigenen Vorfindlichkeit, ohne dass mit diesem „Überstieg“ eine Jenseitigkeit impliziert wäre wie beim theologischen Transzendenzbegriff. Vgl. hierzu Fromms eigene Anmerkung in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 209.)]

[10] Dieser Gebrauch von „Kunst“ ist freilich anders als der Begriffsgebrauch des Aristoteles, der zwischen „Herstellen“ (poiesis) und „Tun“ (praxis) unterscheidet.

[11] Ich verstehe den Begriff „Wissenschaft vom Menschen“ in einem weiteren Sinn als dies der übliche Begriff der (philosophischen) „Anthropologie“ einschließt. R. Linton (1945) gebraucht ihn ähnlich umfassend wie ich.

[12] [Anmerkung des Herausgebers: Zu Fromms Verständnis der „Natur des Menschen“ als conditio humana (und nicht im naturalistischen oder naturrechtlichen Sinne) vgl. auch seine diesbezüglichen Ausführungen in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 13-24), in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 164-168 und 240-242, in Einleitung in E. Fromm und R. Xirau "The Nature of Man" (1968g, GA IX, S. 375-391) sowie in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 197-207).]

[13] Marx hat eine ähnliche Auffassung wie Spinoza. So sagt er im Kapital: „Wenn man zum Beispiel wissen will, was ist einem Hunde nützlich?, so muß man die Hundenatur erkunden. Diese Natur selbst ist nicht aus dem ‚Nützlichkeitsprinzip’ zu konstruieren. Auf den Menschen angewandt, wenn man alle menschliche Tat, Bewegung, Verhältnisse usw. nach dem Nützlichkeitsprinzip beurteilen will, handelt es sich erst um die menschliche Natur im allgemeinen und dann um die in jeder Epoche historisch modifizierte Menschennatur. Bentham macht kein Federlesen. Mit der naivsten Trockenheit unterstellt er den modernen Spießbürger, speziell den englischen Spießbürger als den Normalbürger“ (K. Marx, 1971a, Band I, S. 637, Anm. 63).

Trotz bemerkenswerter philosophischer Unterschiede geht Spencers Auffassung zur Ethik dahin, dass auch für ihn „gut“ und „böse“ der besonderen Konstitution des Menschen entsprechen und dass sich die Sittenlehre auf unserer Kenntnis vom Menschen gründet. In einem Brief an J. S. Mill schreibt Spencer: „Die Ansicht, für die ich eintrete, ist die, dass Moral, genauer die Wissenschaft von der echten sittlichen Lebensführung, die Bestimmung zum Gegenstand hat, wie und warum bestimmte Weisen der Lebensführung schädlich und andere wiederum nützlich sind. Diese guten und schlechten Ergebnisse können nicht zufällig sein. Sie sind notwendige Folgen der Konstitution der Dinge“ (H. Spencer, 1902, S. 57).

[14] Utopien sind Visionen von Zwecken, obwohl die Mittel zu ihnen noch nicht vorhanden sind. Trotzdem sind sie nicht bedeutungslos; im Gegenteil, einige von ihnen haben wesentlich zum Fortschritt des Denkens beigetragen, ganz zu schweigen von dem, was sie zur Stärkung des Glaubens an die Zukunft der Menschheit leisteten.

[15] [Anmerkung des Herausgebers: Es ist nicht ganz eindeutig auszumachen, auf welche Begriffe Fromm hier anspielt. Im Englischen steht bei Fromm der Begriff desire bei Spinoza und habit bei Aristoteles. Für desire wurde Begierde gewählt, weil es sachlich der Satzintention am nächsten kommt. Spinoza erklärt in Teil III seiner Ethik im neunten Lehrsatz: „Dieses Streben wird, wenn es auf den Geist allein bezogen wird, Wille genannt, wird es aber auf Geist und Körper zugleich bezogen, so heißt es Trieb. (...) Begierde ist ein Trieb mit dem Bewusstsein desselben.“]

[16] Einen kurzen, aber bezeichnenden Beitrag zum Wertproblem vom psychoanalytischen Standpunkt aus gibt P. Mullahy, 1943. Während der Korrekturarbeiten zu diesem Buch erschien J. C. Flugels Man, Morals and Society (1945). Diese Arbeit ist der erste systematische und ernstzunehmende Versuch eines Psychoanalytikers, die Ergebnisse der Psychoanalyse auf die Ethik anzuwenden. Eine äußerst wertvolle Darstellung und gründliche Kritik der psychoanalytischen Auffassung findet sich in M. J. Adler, 1937.

[17] Ich habe diesen Begriff ohne jede Beziehung zur Terminologie des Existenzialismus gewählt. Während der Durchsicht des Manuskriptes wurde ich mit Jean-Paul Sartres Les Mouches (1942) und mit seiner Schrift L’existentialisme est un humanisme (1946) bekannt. Ich glaube nicht, dass ich etwas ändern oder ergänzen müsste. Trotz gewisser Übereinstimmungen kann ich nicht beurteilen, wie weit diese reichen, da mir das philosophische Hauptwerk Sartres bisher nicht zugänglich war. - [Anmerkung des Herausgebers: Später hat sich Fromm intensiv mit Jean-Paul Sartres Hauptwerk L’etre et le neant (1943) befasst; sein ablehnendes Urteil wurde jedoch nur bestärkt. Vgl. hierzu etwa Fromms eigene Anmerkung in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 162) sowie in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 237 f.).]

[18] [Anmerkung des Herausgebers: Die Lehre von den existenziellen Bedürfnissen hat Fromm in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 24-50) ausgeführt; vgl. darüber hinaus die modifizierte Darstellung in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 207-214).]

[19] [Anmerkung des Herausgebers: Die Übersetzung „Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit im Lebensvollzug“ gibt das englische „need for completenes in the process of living“ wieder.]

[20] [Anmerkung des Herausgebers: In der englischen Fassung spricht Fromm kurzerhand nur von need for a system of orientation and devotion. Fünf Jahre später hat Fromm in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 48-50) dieses Bedürfnis need for a frame of orientation and an object of devotion („Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe“) genannt.]

[21] [Anmerkung des Herausgebers: Eine ausführliche Beschreibung dieses Bedürfnisses enthält Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 48-50). Dort bezeichnet er dieses Bedürfnis genauer als „Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe“. Die Übersetzung im vorliegenden Buch folgt der noch nicht endgültig ausformulierten Bezeichnung des englischen Originals.

Zur angesprochenen Problematik eines Begriffes, der alle theistischen und nicht-theistischen Systeme umfasst, vgl. den Begriffsgebrauch von „religiös“ in Psychoanalyse und Religion (1950a, GA VI, S. 269), sowie in Ihr werdet sein wie Gott (1966a, GA VI, S. 117 f.). Macht es Fromm im erstgenannten Werk keine Schwierigkeit, den alle Phänomene umfassenden Begriff in der „religiösen Erfahrung“ zu suchen, so spricht er im letztgenannten Werk statt dessen von „X-Erfahrung“, um allen Missverständnissen vorzubeugen. Andererseits lassen sich aber auch Stellen finden, wo Fromm ohne Vorbehalte alle Spielarten der Befriedigung des Bedürfnisses nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe „religiös“ nennt. Vgl. etwa Psychoanalyse und Zen-Buddhismus (1960a, GA VI, S. 316).]

[22] Die vier Temperamente wurden durch die vier Elemente symbolisiert: cholerisch = Feuer = warm und trocken, schnell und stark; sanguinisch = Luft = warm und feucht, schnell und schwach; phlegmatisch = Wasser = kalt und feucht, langsam und schwach; melancholisch = Erde = kalt und trocken, langsam und stark.

[23] Die Verwechslung von Temperament und Charakter deutet sich darin an, dass Kretschmer, der die Temperamentsbegriffe im allgemeinen richtig anwendet, seinem Buch den Titel Körperbau und Charakter (1921) statt Temperament und Körperbau gab. Sheldon, der sein Buch Verschiedenheiten des Temperaments (W. H. Sheldon, 1942) betitelt hat, ist bei der klinischen Anwendung seines Temperamentsbegriffs ungenau. Seine „Temperamente“ enthalten reine Temperamentszüge gemischt mit Charakterzügen, wie sie sich bei Personen eines bestimmten Temperaments zeigen. Wenn die Mehrheit dieser Personen nicht die volle emotionale Reife erreicht hat, werden bestimmte Temperament-Typen auch gewisse Charakterzüge zeigen, die eine Affinität zu diesem Temperament haben. Charakteristisch hierfür ist die wahllose Soziabilität, die Sheldon unter den Charakteristika des viscerotonischen Temperaments anführt. Trotzdem wird nur der unreife, nicht-produktive Viscerotoniker eine wahllose Soziabilität zeigen. Der produktive Viscerotoniker dagegen wird eine unterscheidende Soziabilität erkennen lassen. Bei beiden handelt es sich nicht um einen Temperamentszug, sondern um einen Charakterzug, der häufig in Verbindung mit einem bestimmten Temperament und einer bestimmten Konstitution vorkommt, vorausgesetzt, beide haben denselben Reifegrad. Da Sheldons Methode ausschließlich auf statistischer Erfassung der Wechselwirkung von „Zügen“ und Konstitution beruht, und zwar ohne jede theoretische Analyse des Syndroms von Zügen, war ein Fehlschluss kaum vermeidbar.

[24] [Anmerkung des Herausgebers: Der Charakter übernimmt also jene Aufgabe, die bei Arnold Gehlen die Institutionen als Außenhalte haben. Im Unterschied zur Anthropologie Gehlens, die von einer Instinktreduktion beim Menschen ausgeht, vertritt Fromm mit seiner Charaktertheorie eine weitgehende Instinktsubstitution.]

[25] [Anmerkung des Herausgebers: Die Erkenntnis, dass die „Familie die psychologische Agentur der Gesellschaft“ ist, hat Fromm in seinen frühen Aufsätzen entwickelt. Vgl. etwa Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie (1932a, GA I, S. 42).]

[26] [Anmerkung des Herausgebers: Zum Frommschen Begriff des „Gesellschafts-Charakters“ oder „Sozialcharakters“ vgl. vor allem den Anhang „Charakter und Gesellschaftsprozess“ in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 379-392), sowie das Kapitel „Individueller Charakter und Gesellschafts-Charakter“ in Jenseits der Illusionen (1962a, GA IX, S. 85-95).]

[27] Die folgende Beschreibung der nicht-produktiven Orientierungen hält sich an das von Freud und anderen gegebene Bild des prägenitalen Charakters. Hiervon ausgenommen ist lediglich die sogenannte Marketing-Orientierung. Der theoretische Unterschied zu Freud wird bei der Erörterung des hortenden Charakters deutlich.

[28] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Bezeichnung „magischer Helfer“ vgl. Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 319-322).]

[29] Die wechselseitigen Beziehungen, die das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu anderen bestimmen, untersuchen wir im vierten Kapitel.

[30] Der hier verwendete Begriff „Produktivität“ stellt eine Erweiterung der Begriffe „Spontaneität“ und „spontanes Tätigsein“ dar, wie ich sie in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 368) gebraucht und beschrieben habe. - [Anmerkung des Herausgebers: Zum Begriff activity vgl. die Hinweise zur Übersetzung von active, activity, activeness, activism, productive activity, productivity.]

[31]autoritäre Charakter will sich jedoch nicht nur unterwerfen, sondern er will auch über andere herrschen. Immer sind beide Seiten vorhanden, die sadistische und die masochistische. Sie unterscheiden sich lediglich durch den jeweiligen Grad ihrer Stärke oder Verdrängung. Vergleiche hierzu auch meine Ausführungen über den autoritären Charakter in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, S. 300-322).

[32] Eine zwar interessante, doch leider unvollkommene Analyse des produktiven Denkens ist Max Wertheimers posthum veröffentlichtes Werk Productive Thinking (1945). Einige Aspekte der Produktivität werden von Munsterberg, Natorp, Bergson und James behandelt, ferner in Brentanos und Husserls Analyse des seelischen Aktes, in Diltheys Analyse des künstlerischen Schaffens und in O. Schwarz (1929). In allen diesen Werken wird das Problem allerdings nicht auf den Charakter bezogen.

[33] [Anmerkung des Herausgebers: Als Ergänzung zum folgenden Überblick vgl. auch Fromms Ausführungen zu „Aktivität und Passivität bei einigen großen Meistern des Denkens“ in Haben oder Sein (1976a, GA II, S. 335-339).]

[34] Diese Vorstellung von Bezogenheit als einer Synthese von Nähe und Einmaligkeit ähnelt dem Begriff „Losgelöstsein und Verbundenheit“ in Ch. Morris (1942). Ein Unterschied besteht allerdings: Bei Morris ist das Bezugssystem das Temperament, bei mir der Charakter.

[35] Dass auch die Liebe zu anderen Menschen und die Liebe zu uns selbst das gleiche Phänomen ist, werden wir später erörtern.

[36] [Anmerkung des Herausgebers: Zum Folgenden vgl. auch die erweiterten Ausführungen im zweiten Kapitel von Die Kunst des Liebens (1956a, GA IX, S. 455-458).]

[37] Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1159a: Freundschaft „scheint sich aber mehr im Schenken als im Empfangen der Freundesliebe zu verwirklichen. Ein Zeichen dafür sind die Mütter, deren ganze Freude darin besteht, Liebe zu schenken. Manche lassen nämlich ihre Kinder von anderen aufziehen und wissen von ihnen und lieben sie; aber Erwiderung ihrer Liebe verlangen sie nicht - falls beides zusammen nicht möglich ist -, sondern offenbar genügt es ihnen zu sehen, dass es den Kindern gut geht; und sie lassen es ihrerseits an Liebe nicht fehlen, auch wenn die Kinder, aus Unkenntnis, nichts von dem geben, worauf eine Mutter Anspruch hätte.“

[38] [Anmerkung des Herausgebers: Darüber hinaus hat sich Fromm in Die Seele des Menschen (1964a) sehr eingehend mit den nicht-produktiven Orientierungen der Nekrophilie (S. 179-198) und des Narzissmus (S. 199-223) im Sozialisationsprozess befasst und ihre Eigenart als Faktoren eines Verfallssyndroms (S. 238) dargelegt.]

[39] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. auch Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 311).]

[40] [Anmerkung des Herausgebers: Diese nekrophile Destruktivität wird von Fromm in Die Seele des Menschen (1964a, S. 179-198) erstmals analysiert und dann nochmals im Rahmen der Aggressionstheorie in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, S. 295-393) expliziert. Zur Frage der Systematik der Orientierungen angesichts der erst im Spätwerk erkannten Gesellschafts-Charakterorientierungen vgl. auch R. Funk, 1978, S. 74 f.]

[41] [Anmerkung des Herausgebers: Die folgenden Aussagen sind auch richtungweisend für Fromms Verständnis der Existenzweisen des Habens und des Seins in Haben oder Sein (1976a, GA II, S. 269-414). Hier wie dort geht es nicht um die Frage, ob jemand etwas hat oder nicht hat, ob jemand etwas empfängt, sich nimmt, aufbewahrt usw., sondern um die Frage, ob das Haben, Empfangen, Sich-Nehmen usw. die Grundstrebung seines Lebens ist. Die Aussage, dass jemand seine Existenz am Haben orientiert, ist somit nur eine griffigere Umschreibung und Verallgemeinerung der nicht-produktiven Charakterorientierungen. Jemand, der seine Existenz dominant vom Empfangen her bestimmt, bestimmt sein Leben nicht-produktiv oder - anders gesagt - vom Haben her.]

[42] [Anmerkung des Herausgebers: Im folgenden Abschnitt werden Gedanken weitergeführt, die Fromm bereits 1939 in einem Aufsatz mit dem Titel Selbstsucht und Selbstliebe (1939b, GA X, S. 99-123) skizziert hatte.]

[43] Selbst die Nächstenliebe, eine der Grundlehren des Neuen Testaments, hat bei Calvin kein entsprechendes Gewicht. In himmelschreiendem Widerspruch zum Neuen Testament sagt er: „Denn was die Schulmänner vorbringen über den Vorrang der Liebe vor dem Glauben und der Hoffnung, so sind das nichts als Traumgespinste einer wirren Phantasie (…).“

[44] Luther spricht zwar von der Freiheit des Einzelnen. Aber seine Theologie, so sehr sie sich von der Calvinischen unterscheidet, ist ebenfalls von der gleichen Überzeugung bestimmt, dass der Mensch grundsätzlich ohnmächtig und nichtig ist.

[45] Um das Kapitel nicht unnötig auszudehnen, behandle ich hier nur die Gegenwartsphilosophie. Wer sich in der Philosophie auskennt, weiß, dass Aristoteles und Spinoza in ihrer Ethik Selbstliebe als Tugend und nicht als Laster annehmen. Sie stehen damit in offensichtlichem Gegensatz zu Calvin.

[46] Eine seiner positiven Formulierungen lautet: „Wie aber nutzt man das Leben? Indem man’s verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, indem man’s verbrennt, Man nutzt das Leben und mithin sich, den Lebendigen, indem man es und sich verzehrt. Lebensgenuss ist Verbrauch des Lebens“ (M. Stirner, 1893, S. 375). Friedrich Engels erkannte die Einseitigkeit der Stirnerschen Formulierung. Er bemühte sich, die falsche Alternative zwischen Liebe zu sich und Liebe zu anderen zu überwinden. In einem Brief an Karl Marx, in dem er Stirners Buch erörtert, schreibt Engels: „Wenn aber das leibhaftige Individuum die wahre Basis, der wahre Ausgangspunkt ist für unseren ‚Menschen’, so ist auch selbstredend der Egoismus - natürlich nicht der Stirnersche Verstandesegoismus allein, sondern auch der Egoismus des Herzens - der Ausgangspunkt für unsere Menschenliebe.“ (Brief vom 19. November 1844, in: MEGA III, 1, S. 7.)

[47] [Anmerkung des Herausgebers: Zu Fromms Rezeption und Kritik der Freudschen Narzissmustheorie vgl. auch seine Ausführungen in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 199-223, sowie in Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 294-302. - Im letztgenannten Buch findet sich auch die deutlichste Kritik Fromms an Freuds Verständnis von Liebe.]

[48] [Anmerkung des Herausgebers: Im Folgenden wird self-interest zumeist mit „Selbstinteresse“ übersetzt, auch wenn (der positiv verstandene) Eigennutz gemeint ist; ebenso wird versucht, das englische self mit „Selbst“ oder „Person“ etc. zu umschreiben. Zur Übersetzungsproblematik von self-interest vgl. auch die Hinweise zur Übersetzung von self-interest, I, Ego, self.]

[49] William James formulierte das äußerst klar: „Um ein Ich zu haben, für das ich sorgen kann, muß die Natur mir zunächst ein genügend interessantes Objekt geben, so dass der instinktive Wunsch in mir entsteht, es mir um seiner selbst willen anzueignen. (...) Mein eigener Leib und was seinen Bedürfnissen dient, sind demgemäß die ursprünglichen und instinktmäßig terminierten Objekte meines egoistischen Wollens. Andere Objekte mögen als Folge davon interessant werden, und zwar durch Assoziation mit einem dieser Dinge, sei es nun als Mittel oder als normaler Begleitzustand; und so mag sich auf tausenderlei Art das ursprüngliche Feld der egoistischen Gefühle verbreitern und seine Grenze verändern. Ein solches Interesse ist es, welches mit dem Worte mein gemeint ist. Was damit bezeichnet wird, ist eo ipso ein Teil von mir.“ (W. James, 1896, Vol. I; S. 319, 324.)

Weiter schreibt James: „Es ist offensichtlich, dass zwischen dem, was ein Mensch Ich nennt, und dem, was er einfach Mein nennt, nur schwer eine Linie zu ziehen ist. Bei bestimmten Dingen, die uns gehören, fühlen und handeln wir genauso, wie wir fühlen und handeln würden, wenn es um uns selber ginge. Unser guter Name, unsere Kinder, das Werk unserer Hände ist uns ebenso wertvoll wie unser Leib. Sie lösen die gleichen Empfindungen und die gleichen Reaktionen aus, wenn sie betroffen werden. (...) Im weitesten Sinne ist das Ich eines Menschen die totale Summe all dessen, was er sein eigen nennt. Dazu gehören nicht nur sein Körper, sondern auch Haus, Weib, Kinder, seine Vorfahren und Freunde, sein Ruf, sein Werk, sein Land, seine Pferde, seine Yacht, sein Bankkonto. Das alles weckt in ihm gleiche Empfindungen. Mehrt es sich, hat er ein Gefühl des Triumphes; wird es weniger, ist er deprimiert. Das gilt allerdings nicht für alles im gleichen Grade, doch für alles auf gleiche Weise.“ (W. James, 1896, S. 291 f.)

[50] In seinen Dramen hat Pirandello dieses „ Ich“ und den aus dieser Haltung resultierenden Zweifel an sich selber dargestellt.

[51] [Anmerkung des Herausgebers: Der Begriff synderesis geht auf einen Schreibfehler im Ezechiel-Kommentar des Hieronymus zurück und sollte eigentlich syneidesis heißen. Dies ist auch ein Grund, dass der Begriff synderesis in der neueren Theologie keine Verwendung mehr findet. Die damit bezeichnete Sache, eine Art Urgewissen oder Urahnung (syneidesis), gilt auch unabhängig vom Begriff. Bei Thomas von Aquin bedeutet synderesis ein Innehaben sittlicher Urgewissheiten und stellt deshalb das oberste Erkenntnis- und Richtungsprinzip des sittlichen Handelns dar. (Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica I, 79.12.)]

[52] Der Gedanke, dass der Mensch als „Ebenbild Gottes“ geschaffen wurde, übersteigt den autoritären Grundzug dieses Teils des Alten Testaments. Er ist tatsächlich der andere Pol, um den sich die jüdisch-christliche Religion entwickelt hat, besonders bei ihren mystischen Vertretern. - [Anmerkung des Herausgebers: In Ihr werdet sein wie Gott (1966a, GA VI, S. 122-126) hat Fromm diese Bemerkungen eigens thematisiert und in den Rahmen einer eigenen Geschichtstheorie gestellt.

[53] Franz Kafkas Brief an seinen Vater, in dem er zu erklären sucht, weshalb er sich ständig vor ihm fürchtete, ist in dieser Hinsicht ein klassisches Dokument (Vgl. F. Kafka, 1976 [Band 6, S. 119-163]).

[54] [Anmerkung des Herausgebers: Noch in einem anderen Werk greift Fromm auf Kafkas Der Prozess zur Illustration zurück. Am Ende von Märchen, Mythen, Träume (1951a, GA IX, S. 302-309) setzt Fromm sich mit dem Prozess als Beispiel für ein in symbolischer Sprache verfasstes Kunstwerk auseinander, das so gelesen werden müsse, als ob es sich um einen Traum handle.]

[55] [Anmerkung des Herausgebers: Die Ausführungen zum Thema „Lust und Glück“ lassen sich nur dann in ihrer Differenziertheit verfolgen, wenn die begrifflichen Unterscheidungen, die Erich Fromm trifft, auch in der Übersetzung streng eingehalten werden. Fromm gebraucht als Oberbegriff das Wort pleasure, das im Deutschen immer mit „Lust“ wiedergegeben wird, wenn es im Sinne eines Wertmaßstabes gebraucht wird. Er greift mit diesem Begriff zunächst die hedonistische Tradition auf, korrigiert dann aber den Begriff durch eine Kritik des Hedonismus. Sein Anliegen ist es also gerade, den Begriff „Lust“ vom (auch heute üblichen) hedonistischen Missverständnis zu befreien.

Im einzelnen wurden als termini technici ins Deutsche übersetzt:

pleasure = Lust
joy = Freude
happiness = Glück
satisfaction = Befriedigung
gratification = Genugtuung
irrational pleasure = irrationale Lust
pleasure as relaxation = Vergnügen

Die wesentlichen Qualifizierungen von pleasure als joy, happiness, satisfaction und relaxation trifft Fromm im Abschnitt „Formen der Lust“ in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 116-121).]

[56] [Anmerkung des Herausgebers: Da Spinoza selbst nicht den Begriff der „Lust“, sondern den der „Freude“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, gebraucht Fromm bisweilen wie Spinoza das Wort „Freude“, um die Theorie der Lust bei Spinoza darzustellen. Die Übersetzung folgt strikt den von Fromm gebrauchten Begriffen.]

[57] Heutzutage dürfte es sich wohl erübrigen, auf Benthams Fehlschluss hinzuweisen, dass alle Lustgefühle qualitativ gleich, doch quantitativ verschieden seien. Es gibt wohl kaum einen Psychologen, der diese Auffassung noch vertritt, obgleich die populäre Vorstellung von „sich amüsieren“ stets einschließt, dass alle Lustgefühle die gleiche Qualität haben.

[58] Da ich hier lediglich den Unterschied zwischen der auf Mangel beruhenden Lust und der auf Überfluss beruhenden Lust darlegen will, brauche ich auf weitere Einzelheiten des Hunger-Appetit-Problems nicht einzugehen. Es genügt der Hinweis, dass echter Hunger auch zum Appetit gehört. Die physiologische Basis der Essensfunktion berührt uns in der Weise, dass ein Nichtvorhandensein von Hunger auch den Appetit auf ein Minimum reduzieren würde. Worauf es jedoch ankommt, ist die Akzentuierung der Motivation.

[59] Der klassische Ausspruch „Omne animal triste post coitum“ („Alle Lebewesen sind nach dem Geschlechtsverkehr traurig“), ist, soweit es sich auf menschliche Wesen bezieht, eine adäquate Beschreibung der sexuellen Befriedigung im Sinne der Mangelerscheinung.

[60] [Anmerkung des Herausgebers: Die Abhandlung Glaube als Charakterzug erschien erstmals in der Zeitschrift Psychiatry (1942b, GA X, S. 125-142). Sie war dort umfangreicher und wurde für den Abdruck in Psychoanalyse und Ethik (1947a S. 125-133) gekürzt, ohne dass etwas von den zentralen Argumenten weggefallen wäre. - Zum Gegenstand der Abhandlung, der Frage des Glaubens, vgl. auch Fromms Beitrag Einige post-marxsche und post-freudsche Gedanken über Religion und Religiosität (1972b, GA VI, S. 293-299), sowie Haben oder Sein (1976a, GA II, S. 302-304).]

[61] Das lateinische Wort educatio zeigt das deutlich. Seine Wortwurzel ist e-ducere, wörtlich „herausführen“ oder „etwas hervorbringen“, was potenziell vorhanden ist. Erziehung in diesem Sinne führt zur Existenz, was wörtlich „herausstehen“ heißt, mit anderen Worten: sich aus dem Stadium der Möglichkeit in das Stadium der offenkundigen Wirklichkeit erhoben haben.

[62] R. Niebuhr, der Exponent der heutigen neo-orthodoxen Theologie, hat die Lutherische Auffassung erneut expliziert und paradoxerweise mit einer fortschrittlichen politischen Philosophie verknüpft.

[63] [Anmerkung des Herausgebers: Diesem Problem widmet sich Fromm in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 86-93, S. 165-168) und S. 174-196).]

[64] [Anmerkung des Herausgebers: Die nachfolgenden Gedanken wurden in dem Artikel Individuelle und gesellschaftliche Ursprünge der Neurose (1944a, GA XII, S. 123-129) bereits veröffentlicht und in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, S. 13-19) weiter ausgeführt.]

[65] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Eigenart dieser Dynamik vgl. auch die Ausführungen Fromms zum Wachstums- und Verfallssyndrom in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 224-239).]

[66] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Frage der Willensfreiheit und zu Fromms Position eines Alternativismus anstelle von Determinismus oder Indeterminismus vgl. das umfangreiche Schlusskapitel von Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 240-268).]

[67] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Terminologie vgl. Fromms Ausführungen in diesem Buch (1947a, GA II, S. 59).]

[68] [Anmerkung des Herausgebers: Gut 20 Jahre später ist Fromm in der Einschätzung der gegenwärtigen Kultur viel skeptischer. In einem Nachwort zu dem 1970 zunächst in englischer Sprache erschienenen Sammelband The Crisis of Psychoanalysis (1970a) schreibt er: „Wir stehen vor der Wahrscheinlichkeit, dass in 50 Jahren - vermutlich aber viel früher - das Leben auf dieser Erde zu existieren aufgehört haben wird; und dies nicht nur infolge atomarer, chemischer und biologischer Kriegführung (und Jahr für Jahr bringt der technologische Fortschritt immer Waffen mit noch größerer Vernichtungskraft hervor), sondern auch, weil durch den technologischen „Fortschritt“ Erde, Wasser und Luft für die Erhaltung des Lebens unbrauchbar gemacht werden. (...) Vielleicht sind die Würfel schon gefallen, weil sowohl Führer als auch Geführte, angetrieben von ihrem Ehrgeiz, ihrer Gier, Blindheit und geistigen Unbeweglichkeit, entschlossen sind, auf dem Wege zur Katastrophe weiterzugehen, so dass die Minderheit, die sieht, was kommt, dem Chor in der griechischen Tragödie gleicht: sie kann den unheilvollen Verlauf kommentieren, besitzt aber nicht die Macht, ihn aufzuhalten.“ (Nachwort zum Buch "Analytische Sozialpsychologie", 1970g, GA X, S. 179-181).]

So „schwarz“ Fromm bei einer „realistischen“ Einschätzung der gegenwärtigen Situation auch sieht und so wenig für ihn das Überleben im Jahr 1970 wahrscheinlich ist, Fromm ist dennoch kein „Untergangsprophet“, weil ihn seine eigenen biophilen Kräfte nie hoffnungslos haben werden lassen. Darum fährt er an der eben zitierten Stelle fort: „Und doch: Wer kann die Hoffnung aufgeben, solange es Leben gibt? Wer kann schweigen, solange Milliarden Menschen leben, atmen, lachen, weinen und hoffen?“

Einer der Hintergründe für eine solche Hoffnung ist bei Fromm auch seine Verwurzelung in der jüdischen Tradition. Die Situation derer, die leidenschaftlich für das Leben plädieren angesichts einer weltweiten Neigung zu Destruktivität und Nekrophilie, ist grundsätzlich nicht von jener Situation verschieden, in der sich Abraham befand, als er mit Gott darum stritt, ob Sodom und Gomorra wegen ihrer Schlechtigkeit vernichtet werden sollen, oder ob nicht 50, dann 45, dann 40, dann 30, dann 20 und schließlich 10 Gerechte in der Stadt genügen, um sie zu verschonen und Gott zur Einhaltung seines Bundes zu zwingen. Es genügen sehr wenige, die sich an die Prinzipien von Gerechtigkeit, Vernunft und Liebe halten, um die vielen, die dem Untergang preisgegeben sind, zu retten. Dies war zeitlebens Fromms Hoffnung. Darum auch hat Ivan D. Illich diesen Bibeltext (Gen 18, 23-32) und seine Interpretation durch Fromm aus Ihr werdet sein wie Gott (1966a, GA VI, S. 98 f.) in den Mittelpunkt der kleinen Feier gestellt, die einige Tage nach Fromms Tod am 18. März 1980 im Krematorium von Bellinzona (Tessin) stattgefunden hat.]

Psychoanalyse und Religion

(Psychoanalysis and Religion)

(1950a)[1]

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Elisabeth Rotten
überarbeitet von Rainer Funk

Inhalt

Vorwort

Dieses Buch[2] kann als Fortsetzung der in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 1-157) niedergelegten Gedanken angesehen werden, die eine Untersuchung der Psychologie der Ethik sind. Ethik und Psychologie sind einander nahe verwandt, und darum überschneiden ihre Gebiete einander bisweilen. Doch habe ich in diesem Buch versucht, den Schwerpunkt auf die Religion zu legen, während er in Psychoanalyse und Ethik ganz und gar auf der Ethik lag.

Die in den folgenden Kapiteln dargestellten Ansichten sind keineswegs kennzeichnend für die „Psychoanalyse“ überhaupt. Es gibt Psychoanalytiker, die praktizierende Anhänger einer Religion sind, und andere, welche religiöse Interessen für ein Symptom ungelöster emotionaler Konflikte halten. Die Stellung, die in diesem Buche eingenommen wird, weicht von beiden Haltungen ab und ist höchstens charakteristisch für die Überzeugung einer dritten Gruppe von Psychoanalytikern.

An dieser Stelle möchte ich meiner Frau[3] danken, nicht nur für die zahlreichen Anregungen, die ich unmittelbar verwerten konnte, sondern weit darüber hinaus für das, was ich ihrem durchdringenden Forschergeist verdanke und was so viel zu meiner eigenen Entwicklung beigetragen hat, dass meine Gedanken über Religion davon mitgeprägt sind.

E. F.

1. Das Problem

Nie zuvor war der Mensch der Erfüllung seiner liebsten Hoffnungen so nahe wie heute. Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Errungenschaften befähigen uns, den Tag vorauszusehen, an dem der Tisch für alle Hungrigen gedeckt sein wird - einen Tag, an dem das Menschengeschlecht eine einzige Gemeinschaft bilden und nicht mehr in getrennten Einheiten leben wird. Tausende von Jahren waren nötig für diese Entfaltung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, für sein wachsendes Vermögen, eine Gesellschaftsordnung aufzubauen und seine Kräfte zweckorientiert zu gebrauchen. Der Mensch hat eine neue Welt mit eigenen Gesetzen und eigenem Schicksal geschaffen. Wenn er seine Schöpfung betrachtet, kann er sagen: Wahrlich, sie ist gut.

Aber was kann er sagen, wenn er sich selbst betrachtet? Ist er der Verwirklichung eines anderen Traumes der Menschheit nähergekommen - dem von der Vervollkommnung des Menschen? Des Menschen, der seinen Nächsten liebt, Gerechtigkeit übt, die Wahrheit spricht und das zur Wirklichkeit gemacht hat, was er der Möglichkeit nach ist - das Ebenbild Gottes?

Die Frage aufwerfen, heißt uns Pein bereiten, denn die Antwort ist so schmerzlich eindeutig. Während wir wunderbare Dinge geschaffen haben, versäumten wir, uns selber zu Wesen zu machen, welche dieser gewaltigen Anstrengung wert wären. Unser Leben ist nicht das der Brüderlichkeit, des Glücks und der Zufriedenheit, sondern es gleicht einem geistigen Chaos und einer Verworrenheit, die einem Zustand des Verrücktseins gefährlich nahekommt - nicht jener hysterischen Form von Verrücktheit, die es im Mittelalter gab, sondern einer Verrücktheit, welche der Schizophrenie verwandt ist, bei der der Kontakt mit der inneren Realität verlorengegangen, und bei der das Denken vom Gefühl abgespalten ist.

Sehen wir uns nur einiges aus dem Nachrichtenteil der Presse an, wie wir ihn täglich morgens und abends lesen. Als Reaktion auf die Wasserknappheit in New York ermahnen die Kirchen, um Regen zu beten, und gleichzeitig versuchen die Regenmacher, mit chemischen Mitteln Regen herzustellen. Mehr als ein Jahr lang wurde von fliegenden Untertassen berichtet. Die einen bestreiten ihr Vorhandensein, andere erklären sie für wirklich und der eigenen oder einer fremden Militärmacht zugehörig, [VI-231] während wiederum andere ernsthaft behaupten, es seien Maschinen, welche die Bewohner eines andern Planeten zu uns schickten. Man sagt uns, nie habe Amerika so gute Aussichten auf eine helle Zukunft gehabt wie jetzt um die Jahrhundertmitte; auf derselben Seite wird die Wahrscheinlichkeit eines neuen Krieges erörtert, und die Gelehrten streiten sich darüber, ob die Atomwaffen zur Zerstörung des Erdballs führen werden oder nicht.

Die Leute gehen in die Kirchen und hören Predigten, in denen die Grundsätze der Liebe und der Barmherzigkeit gepriesen werden; und dieselben Leute würden sich für Narren oder Schlimmeres halten, wenn sie Bedenken hätten, einem Kunden etwas aufzuschwatzen, wovon sie wissen, dass es über seine Verhältnisse geht. Kinder lernen in der Sonntagsschule, dass Ehrlichkeit, Lauterkeit und die Sorge um das Seelenheil die leitenden Prinzipien des Lebens sein sollten, während „das Leben“ lehrt, dass die Befolgung dieser Grundsätze uns bestenfalls zu weltfremden Träumern macht. Wir haben die erstaunlichsten Möglichkeiten der Mitteilung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen, und zugleich werden wir täglich mit einem Unsinn gefüttert, der für den Verstand von Kindern beleidigend wäre, würden diese nicht damit großgezogen. Viele Stimmen verkünden, unsere Lebensweise mache uns glücklich. Aber wie viele Menschen unserer Zeit sind glücklich? Es ist interessant, sich an eine zufällige Aufnahme zu erinnern, die kürzlich in der Zeitschrift „Life“ erschien. Eine Gruppe von Menschen wartet an einer Straßenecke auf das grüne Licht. Was an diesem Bilde so auffällig war und so aufrüttelnd wirkte, war der im Text erklärte Umstand, dass diese Menschen, die alle wie gelähmt und verängstigt aussahen, nicht etwa einen schrecklichen Verkehrsunfall mitangesehen hatten, sondern beliebige Leute waren, die ihren Geschäften nachgingen.

Wir klammern uns an den Glauben, wir seien glücklich; wir lehren unsere Kinder, dass wir es weiter gebracht haben als irgendeine frühere Generation und dass im Endeffekt kein Wunsch unerfüllbar und nichts uns unerreichbar sein werde. Der äußere Anschein unterstützt diesen Glauben, der uns unablässig eingehämmert wird.

Aber hören unsere Kinder eine Stimme, die ihnen sagt, wohin sie gehen und wofür sie leben? Irgendwie fühlen sie, wie alle menschlichen Wesen, dass das Leben einen Sinn haben muss - aber welchen? Finden sie ihn in den Widersprüchen, in Doppelzüngigkeiten und der zynischen Resignation, der sie auf Schritt und Tritt begegnen? Sie sehnen sich nach Glücksgefühl, nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach Liebe, nach einem Objekt der Hingabe - vermögen wir ihr Verlangen zu befriedigen?

Wir sind ebenso hilflos wie sie. Wir kennen die Antwort nicht, weil wir sogar vergessen haben, die Frage zu stellen. Wir geben vor, unser Leben habe eine feste Grundlage und leugnen die Schatten des Unbehagens, der Angst und der Verwirrung, die uns nie verlassen.

Manche Menschen halten die Rückkehr zur Religion für die Antwort; doch nicht als einen echten Glaubensakt, sondern um quälenden Zweifeln zu entgehen; sie entscheiden sich dafür nicht aus Hingabe, sondern aus Sicherheitsbedürfnis. Wer die gegenwärtige Zeit erforscht und wessen Hauptanliegen nicht die Kirche, sondern die Seele des Menschen ist, sieht in einem solchen Schritt ein weiteres Symptom für die Schwäche unserer Lebenskraft. [VI-232]

Diejenigen, welche die Lösung in einer Rückkehr zur traditionellen Religion sehen, sind von einer Auffassung beeinflusst, die häufig von Religionsanhängern vorgebracht wird, nämlich dass wir zu wählen hätten zwischen Religion und einer Lebensweise, die sich einzig um die Befriedigung unserer instinktiven Bedürfnisse und materiellen Annehmlichkeiten kümmert; dass wir, wenn wir nicht an Gott glauben, keinen Grund - und kein Recht - hätten, an die Seele und ihre Forderungen zu glauben. Priester und Seelsorger scheinen die einzigen Berufe zu sein, die sich mit der Seele befassen, die einzigen Anwälte für die Ideale Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit.

Geschichtlich ist dies nicht ganz zutreffend. Während in einigen Kulturen, wie der ägyptischen, die Priester die „Seelenärzte“ waren, lag diese Aufgabe z.B. in Griechenland mindestens teilweise in den Händen der Philosophen. Sokrates, Plato und Aristoteles behaupteten nicht, im Namen irgendeiner Offenbarung zu sprechen; vielmehr beriefen sie sich auf die Autorität der Vernunft und auf ihr Anliegen, dem Menschen zum Glück und zur Entfaltung seiner Seele zu verhelfen. Sie beschäftigten sich mit dem Menschen als einem Selbstzweck und sahen in ihm den wichtigsten Gegenstand der Forschung. Ihre Abhandlungen über Philosophie und Ethik waren zugleich Werke der Psychologie. Diese Tradition der Antike hat die Renaissance fortgeführt, und es ist sehr charakteristisch, dass das erste Buch, das in seinem Titel das Wort Psychologie enthält, den Untertitel trägt: Hoc est, de hominis perfectione („Das heißt: Von der Vervollkommnung des Menschen“, R. Goeckel, 1590).[4] Zur Zeit der Aufklärung erreichte diese Tradition ihren Höhepunkt. Aufgrund ihres Glaubens an die menschliche Vernunft bejahten die Philosophen der Aufklärung, die zugleich Seelenforscher waren, die Unabhängigkeit des Menschen von politischen Fesseln ebenso sehr wie von den Banden des Aberglaubens und der Unwissenheit. Sie lehrten ihn, sich gegen Existenzbedingungen zu wehren, welche die Aufrechterhaltung von Illusionen verlangten. Ihre psychologische Forschung wurzelte in dem Versuch, die Bedingungen des menschlichen Glücks zu entdecken. Ein Zustand des Glücklichseins, sagten sie, könne nur erreicht werden, wenn der Mensch innere Freiheit erlangt habe. Nur dann vermöge er geistig gesund zu sein. Doch hat der Rationalismus der Aufklärung bei den darauf folgenden Generationen einen drastischen Wandel erfahren. Berauscht von einem neuen materiellen Wohlstand und vom Erfolg bei der Beherrschung der Natur, hat der Mensch aufgehört, sich selbst für das Wesentliche des Lebens und den wichtigsten Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung zu halten. Statt mit der Vernunft die Wahrheit zu entdecken und mit ihr durch die Oberfläche hindurch zum Wesen der Phänomene vorzudringen, setzte man auf den technischen Verstand[5] als einem bloßen Werkzeug zur Manipulation der Dinge und Menschen. Der Mensch hat aufgehört zu glauben, dass die Kraft der Vernunft die Gültigkeit von Normen und Ideen für das menschliche Verhalten begründen kann.

Dieser Wandel des intellektuellen und emotionalen Klimas hat einen gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft gehabt. Ungeachtet gewisser Ausnahmen, wie Nietzsche und Kierkegaard, wurde die Tradition, nach der die Psychologie die Erforschung der Seele im Blick auf des Menschen Tugend und Glück war, verlassen. Die akademische Psychologie beschäftigte sich, indem sie die Naturwissenschaften und deren Laboratoriumsmethoden des Wägens und Zählens [VI-233] nachahmte, mit allem, ausgenommen der Seele. Sie versuchte, jene Aspekte des Menschen zu verstehen, die im Laboratorium geprüft werden können, und behauptete, das Gewissen, die Werturteile, das Wissen um Gut und Böse seien metaphysische Vorstellungen, deren Abklärung außerhalb der Aufgaben der Psychologie liege; sie befasste sich weit häufiger mit unbedeutenden Problemen, für welche die angeblich wissenschaftlichen Methoden passten, als mit der Ausarbeitung neuer Methoden zum Studium der wesentlichen Probleme des Menschen. Damit wurde die Psychologie zu einer Wissenschaft, deren Hauptgegenstand, die Seele, fehlte. Sie befasste sich mit Mechanismen, Reaktionsbildungen, Trieben, jedoch nicht mit den ganz spezifisch menschlichen Phänomenen: mit der Liebe, der Vernunft, dem Gewissen und den Werten. Weil mit dem Wort Seele Assoziationen verbunden sind, die auf diese höheren Kräfte des Menschen deuten, benutze ich es hier und in den folgenden Kapiteln häufiger als die Ausdrücke „Psyche“ oder „Geist“.

Dann kam Freud, der letzte große Vertreter des Rationalismus der Aufklärung und zugleich der erste, der dessen Grenzen an den Tag brachte. Er wagte es, die Lobgesänge über den Triumph des instrumentellen Verstandesdenkens[6] zu unterbrechen. Er zeigte, dass die Vernunft die wertvollste und eigentümlichste Kraft des Menschen ist, dass sie jedoch der verzerrenden Einwirkung der Leidenschaften unterworfen sei, und dass einzig das Verstehen der Leidenschaften des Menschen seine Vernunft so befreien kann, dass er den richtigen Gebrauch davon macht. Er wies sowohl die Macht als auch die Schwächen der menschlichen Vernunft auf und erhob den Satz „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Jo 8,32) zum leitenden Prinzip einer neuen Heilmethode.

Zuerst meinte Freud, er habe es nur mit bestimmten Krankheiten und ihrer Heilung zu tun. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er weit über das Gebiet der Medizin hinausgegangen war und eine Tradition wieder aufgenommen hatte, in der die Psychologie, indem sie die Seele des Menschen erforscht, die theoretische Grundlage für die Kunst des Lebens und für das Erlangen von Glück war.

Freuds Methode, die Psychoanalyse, ermöglichte höchst genaue und gründliche Erforschung der Seele. Im „Laboratorium“ des Analytikers gibt es keinerlei Geräte. Er kann das Gefundene weder wägen noch zählen; aber Träume, Phantasien und Assoziationen geben ihm einen Einblick in die verborgenen Wünsche und Ängste seiner Patienten. In seinem „Laboratorium“, in dem er sich einzig auf Beobachtung, Vernunft und seine eigene Erfahrung als Mensch verlässt, macht er die Entdeckung, dass geistig-seelische Erkrankungen nur im Zusammenhang mit ethischen Problemen verstanden werden können: dass sein Patient krank ist, weil er die Forderungen seiner Seele vernachlässigt hat. Der Analytiker ist weder Theologe noch Philosoph und will in diesen Bereichen auch nicht kompetent sein. Aber als Seelenarzt hat er es mit genau den gleichen Problemen wie Philosophie und Theologie zu tun: mit der Seele des Menschen und ihrem Heil.

Wenn wir die Aufgabe des Psychoanalytikers in dieser Weise umschreiben, finden wir, dass gegenwärtig zwei Berufsgruppen um die Seele des Menschen bemüht sind: die Priester und die Psychoanalytiker. Wie verhalten sie sich zueinander? Versucht der Psychoanalytiker sich des Bereichs des Priesters zu bemächtigen und ist [VI-234] Gegensätzlichkeit zwischen ihnen unvermeidlich? Oder sind sie Verbündete, die nach den gleichen Zielen streben und deren Arbeitsgebiete sich ergänzen und ineinander übergreifen, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis?

Den ersten dieser beiden Standpunkte haben sowohl Psychoanalytiker als auch Kirchenvertreter eingenommen. Freuds Die Zukunft einer Illusion (S. Freud, 1927c) und Sheens Peace of Soul[7] betonen den Gegensatz. C. G. Jungs Psychologie und Religion (C. G. Jung, 1937) und Rabbi Liebmans Peace of Mind (J. L. Liebman, 1946) sind charakteristische Versuche, Psychoanalyse und Religion zu versöhnen. Die Tatsache, dass eine beträchtliche Zahl von Seelsorgern sich mit der Psychoanalyse beschäftigt, ist ein Anzeichen dafür, wie weit dieser Glaube an eine Verbindung von Psychoanalyse und Religion schon in das Gebiet der seelsorgerlichen Praxis eingedrungen ist.

Wenn ich es unternehme, in dieser Schrift das Problem von Psychoanalyse und Religion aufs Neue zu erörtern, dann darum, weil ich zeigen möchte, dass es trügerisch ist, ein Entweder-oder des unversöhnlichen Gegensatzes einerseits oder der Gleichheit der Interessen andererseits aufzustellen. Vielmehr kann eine gründliche und unvoreingenommene Untersuchung zeigen, dass die Beziehung zwischen Religion und Psychoanalyse zu vielgestaltig ist, um mit der einen oder andern dieser beiden einfachen und bequemen Einstellungen gleichgesetzt werden zu können.

Ich möchte zeigen, wie falsch es ist, wenn behauptet wird, wir müssten auf die Beschäftigung mit der Seele verzichten, wenn wir nicht die Lehrsätze der Religion akzeptierten. Der Psychoanalytiker ist in der Lage, die menschliche Wirklichkeit sowohl hinter der Religion als auch hinter den nicht-religiösen[8] Symbolsystemen zu untersuchen. Er kommt zu dem Schluss, dass es nicht darum geht, ob der Mensch zur Religion zurückkehrt und an Gott glaubt, sondern ob er die Liebe lebt und die Wahrheit denkt. Tut er das, dann ist es von zweitrangiger Bedeutung, welchem Symbolsystem er anhängt. Tut er das nicht, so ist es überhaupt ohne Bedeutung.

2. Freud und Jung

Freud hat das Problem von Psychoanalyse und Religion in einem seiner tiefgründigsten und geistreichsten Bücher, Die Zukunft einer Illusion, behandelt. Jung, der der erste Psychoanalytiker war, der verstanden hat, dass Mythen und religiöse Ideen der Ausdruck tiefer Einsichten sind, hat dasselbe Thema in den Terry-Vorlesungen 1937 behandelt (publiziert unter dem Titel Psychologie und Religion).

Wenn ich jetzt versuche, eine kurze Zusammenfassung der Stellungnahme beider Psychoanalytiker zu geben, so geschieht es zu einem dreifachen Zweck:

  1. um anzugeben, wo die Diskussion des Problems jetzt steht und welches der Ausgangspunkt für meine Darlegungen ist;
  2. um durch die Erörterung von einigen grundlegenden Begriffen Freuds und Jungs die Grundlagen für die Darlegungen der folgenden Kapitel zu geben;
  3. um die weitverbreitete Meinung zu korrigieren, Freud sei „gegen“ und Jung „für“ Religion. Dies wird uns erlauben, das Trügerische solcher Übervereinfachungen in diesem komplexen Bereich einzusehen und die Zweideutigkeit der Ausdrücke „Religion“ und „Psychoanalyse“ zu untersuchen.

Welche Stellung nimmt Freud zur Religion in Die Zukunft einer Illusion (S. Freud, 1927c) ein?

Für Freud liegt der Ursprung der Religion in der Hilflosigkeit des Menschen angesichts der Naturkräfte außer ihm und der Triebkräfte in ihm. Religion entsteht nach Freud in den Frühstadien der menschlichen Entwicklung, wo der Mensch noch nicht imstande ist, seine Vernunft zur Bewältigung dieser äußeren und inneren Kräfte zu gebrauchen; er muss sie entweder verdrängen oder mit Hilfe anderer affektiver Kräfte mit ihnen fertig werden. Statt diesen Kräften mit Hilfe der Vernunft gewachsen zu sein, bewältigt er sie mit „Gegen-Affekten“, also mit anderen emotionalen Kräften, deren Aufgabe es ist, das zu unterdrücken und zu beherrschen, was er vernünftig zu bewältigen nicht imstande ist.

In diesem Prozess entwickelt der Mensch das, was Freud eine „Illusion“ nennt, deren Inhalt aus den eigenen Kindheitserfahrungen stammt. Angesichts gefährlicher, unkontrollierbarer und unverständlicher Kräfte innerhalb und außerhalb seiner selbst, erinnert er sich an früher und regrediert auf eine Kindheitserfahrung, als er sich von einem Vater beschützt fühlte, dem er überlegene Weisheit und Stärke zuschrieb und [VI-236] dessen Liebe und Schutz er gewinnen konnte, wenn er seinen Befehlen gehorchte und vermied, seine Verbote zu missachten.

Auf diese Weise ist die Religion nach Freud eine Wiederholung der Kindheitserfahrung. Der Mensch bewältigt die bedrohlichen Kräfte in eben jener Weise, in der er als Kind lernte, mit seiner eigenen Unsicherheit fertig zu werden, nämlich dadurch, dass er sich auf seinen Vater verließ, ihn bewunderte und fürchtete. Freud vergleicht die Religion mit den Zwangsneurosen, wie wir sie bei Kindern finden. Und nach ihm ist Religion eine kollektive Neurose, durch ähnliche Bedingungen verursacht wie diejenigen, welche Kinderneurosen hervorrufen.

Freuds Analyse der psychologischen Wurzeln der Religion versucht zu zeigen, warum die Menschen auf die Idee von einem Gott kamen. Aber er behauptet, zu mehr als nur zu diesen psychologischen Wurzeln vorzustoßen. Er behauptet, die Irrealität der theistischen Auffassung erwiesen zu haben, indem er sie als eine Illusion beschrieb, die der Wunschwelt des Menschen entspringt.[9]

Freud geht noch über den Versuch, den Illusionscharakter der Religion aufzuzeigen, hinaus. Er erklärt die Religion für eine Gefahr, weil sie dazu neige, schlechte menschliche Institutionen zu sanktionieren, mit denen sie sich im Verlauf ihrer Geschichte verbunden habe; ferner, weil sie die Menschen lehre, an eine Illusion zu glauben, und weil sie das kritische Denken verbiete und deshalb für die Verarmung des Vernunftvermögens verantwortlich sei.[10] Diese Anklage wurde, ebenso wie die erste, von den Denkern der Aufklärung gegen die Kirche erhoben. Aber in Freuds Bezugsrahmen bekommt der zweite Vorwurf eine noch größere Bedeutung, als er sie im achtzehnten Jahrhundert hatte. Freud vermochte in seiner analytischen Arbeit zu zeigen, dass, wird in einem Bereich das kritische Denken verboten, dies zu einer Schwächung der kritischen Fähigkeiten auch auf anderen Gebieten führt und damit die Kraft der Vernunft hemmt. Freuds dritter Einwand gegen die Religion lautet, dass sie die Moral auf einen sehr unsicheren Grund stelle. Wenn die Gültigkeit ethischer Normen darauf beruht, dass sie Gottes Gebote sind, so steht und fällt die Zukunft der Ethik mit dem Glauben an Gott. Da Freud als erwiesen ansieht, dass religiöser Glaube mit der Zeit aufhört, muss er zwangsläufig annehmen, dass der Fortbestand der Verbindung von Religion und Ethik zur Zerstörung unserer moralischen Werte führen werde.

Die Gefahren, die Freud in der Religion sieht, machen deutlich, dass seine eigenen [VI-237] Ideale und Werte genau diejenigen sind, die er von der Religion bedroht glaubt: Vernunft, Verminderung des menschlichen Leidens und sittliches Verhalten. Doch brauchen wir uns nicht an Folgerungen aus Freuds Kritik an der Religion zu halten. Er hat sehr nachdrücklich gesagt, welches die Normen und Ideale sind, an die er glaubt: Menschenliebe, Wahrheit und Freiheit. Vernunft und Freiheit hängen nach Freud wechselseitig voneinander ab. Wenn der Mensch seine Illusion eines väterlichen Gottes aufgibt, wenn er sich seines Alleinseins und seiner Bedeutungslosigkeit im Universum bewusst wird, wird er wie ein Kind sein, das sein Vaterhaus verlassen hat. Es ist jedoch das eigentliche Ziel der menschlichen Entwicklung, diese infantile Fixierung zu überwinden. Der Mensch muss sich dazu erziehen, der Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen. Wenn er weiß, dass er sich auf nichts verlassen kann außer auf seine eigenen Kräfte, dann wird er lernen, sie richtig zu gebrauchen. Nur der freie Mensch, der sich von Autorität losgemacht hat - einer drohenden und beschützenden Autorität -, kann seine Vernunftkraft anwenden und objektiv die Welt und seine eigene Rolle darin erfassen, ohne Illusion, aber mit der Fähigkeit, die ihm innewohnenden Gaben zu entwickeln und zu gebrauchen. Nur wenn wir heranwachsen und aufhören, Kinder zu sein, die von einer Autorität abhängen und sie fürchten, können wir wagen, selbst zu denken. Das Umgekehrte ist aber ebenso wahr. Nur durch eigenes Denken vermögen wir uns von der Herrschaft der Autorität freizumachen. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam zu beachten, dass Freud erklärt, das Gefühl der Ohnmacht sei das Gegenteil religiösen Empfindens. Im Hinblick auf die Tatsache, dass viele Theologen - bis zu einem gewissen Grade, wie wir später sehen werden, auch Jung - das Gefühl der Abhängigkeit und Ohnmacht für den Kern religiöser Erfahrung halten, ist diese Aussage Freuds von großem Gewicht. Sie drückt, wenn auch mehr indirekt, seine eigene Auffassung von religiöser Erfahrung aus, nämlich als Gefühl der Unabhängigkeit und als Bewusstwerden der eigenen Kräfte. Ich werde später zu zeigen versuchen, dass dieser Unterschied eines der kritischen Probleme der Religionspsychologie ist.

Wenn wir uns nunmehr Jung zuwenden, finden wir beinahe an jedem Punkt das Gegenteil von Freuds Auffassung. Jung beginnt mit einer Erörterung der allgemeinen Prinzipien seiner Auffassung. Während Freud, ohne beruflich Philosoph zu sein, an das Problem vom psychologischen und philosophischen Standpunkt herangeht, wie es William James, Dewey und Macmurray getan haben, erklärt Jung zu Beginn seines Buches Psychologie und Religion: „Ich beschränke mich auf die Beobachtung von Phänomenen, und ich enthalte mich jeder metaphysischen oder philosophischen Betrachtungsweise.“ (C. G. Jung, 1937, S. 2.) Er fährt fort, indem er auseinandersetzt, warum er als Psychologe die Religion ohne Anwendung philosophischer Gedankengänge analysieren kann. Er nennt seinen Standpunkt

ausschließlich phänomenologisch; das will sagen, er beschäftigt sich mit Vorkommnissen, Ereignissen, Erfahrungen, kurz gesagt, mit Tatsachen. Seine Wahrheit ist ein Tatbestand, kein Urteil. Wenn die Psychologie zum Beispiel von dem Motiv der jungfräulichen Geburt spricht, so beschäftigt sie sich nur mit der Tatsache, dass es eine solche Idee gibt, aber sie beschäftigt sich nicht mit der Frage, ob eine solche Idee in irgendeinem Sinne wahr oder falsch sei. Die Idee ist psychologisch wahr, insoweit sie existiert. Psychologische Existenz ist [VI-238] subjektiv, insoweit eine Idee nur in einem Individuum vorkommt. Aber sie ist objektiv, insoweit sie durch einen consensus gentium von einer größeren Gruppe geteilt wird (C. G. Jung, 1937, S. 2; Hervorhebung E. F.).

Ehe ich Jungs Analyse der Religion darstelle, scheint es am Platze, ihre methodologischen Voraussetzungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Jungs Gebrauch des Begriffs Wahrheit ist unhaltbar. Er behauptet, „die Wahrheit ist ein Tatbestand, kein Urteil“, und „ein Elefant ist wahr, weil er existiert“ (C. G. Jung, 1937, S. 2 f.).

Jung vergisst, dass die Wahrheit sich immer und notwendigerweise auf ein Urteil bezieht und nicht auf die Beschreibung einer Erscheinung, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und mit einem Wortzeichen benennen. Jung stellt fest, eine Idee sei „psychologisch wahr, insofern sie existiert“ (C. G. Jung, 1937, S. 2). Aber eine Idee „existiert“ unabhängig davon, ob sie eine Wahnidee ist oder einem Sachverhalt entspricht. Das Vorhandensein einer Idee macht sie noch in keinem Sinne „wahr“. Sogar der praktizierende Psychiater könnte nicht arbeiten, ohne sich um die Wahrheit einer Idee zu kümmern, das heißt, um die Beziehung der Idee zu jenem Phänomen, das sie darstellen will. Ansonsten könnte er nicht von einer Wahnidee oder einem paranoiden System sprechen. Aber Jungs Ansatz ist nicht nur vom psychiatrischen Standpunkt her unhaltbar; er vertritt einen Relativismus, der, wiewohl Jung - oberflächlich gesehen - der Religion freundlicher gegenüberzustehen scheint als Freud, beispielsweise dem Juden- und dem Christentum sowie dem Buddhismus dem Geiste nach prinzipiell entgegengesetzt ist. Denn diese Religionen betrachten das Streben nach Wahrheit als eine der Kardinaltugenden und -verpflichtungen des Menschen und bestehen darauf, dass ihre Lehren, einerlei, ob sie durch Offenbarung oder nur kraft der Vernunft zustande gekommen sind, dem Kriterium der Wahrheit unterworfen sind.

Jung ist nicht blind gegenüber den Schwierigkeiten seiner Position, aber die Art, wie er sie zu lösen sucht, ist leider völlig unhaltbar. Er versucht, zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Existenz zu unterscheiden, obwohl die Dehnbarkeit dieser Ausdrücke offenkundig ist. Jung scheint zu denken, dass etwas Objektives gültiger und wahrer ist als etwas nur Subjektives. Sein Kriterium für den Unterschied zwischen subjektiv und objektiv hängt davon ab, ob eine Idee nur in einem Individuum lebendig ist oder von einer Gesellschaft aufgestellt ist. Aber waren wir nicht Zeuge einer folie à millions, der Verrücktheit ganzer Gesellschaften in unserem eigenen Zeitalter? Haben wir nicht erlebt, dass Millionen von Menschen, von ihren irrationalen Leidenschaften verführt, an Ideen glaubten, die nicht weniger wahnsinnig und irrational sind als die Hirngespinste eines einzigen Individuums? Was hat es zu bedeuten, wenn man sie für „objektiv“ erklärt? Die Geisteshaltung, aus der heraus zwischen subjektiv und objektiv unterschieden wird, ist die gleiche wie bei jenem Relativismus, von dem ich oben sprach. Genauer gesagt, es handelt sich dabei um einen soziologischen Relativismus, der die gesellschaftliche Billigung einer Idee zum Maßstab für ihre Gültigkeit, ihren Wahrheitsgehalt oder ihre „Objektivität“ macht.[11],[12]

Nach der Darlegung dieser methodologischen Voraussetzungen legt Jung seine [VI-239]Ansichten über das Zentralproblem dar: „Was ist Religion? Welches ist die Natur religiöser Erfahrungen?“ Seine Definition wird von vielen Theologen geteilt. Sie kann kurz so zusammen gefasst werden: Das Wesen religiöser Erfahrungen ist die Unterwerfung unter Mächte, die höher sind als wir selbst. Doch sollten wir lieber Jung selbst zitieren. Er erklärt: Religion ist „eine sorgfältige und gewissenhafte Beobachtung dessen, was Rudolf Otto treffend das ‘Numinosum’ genannt hat, nämlich eine dynamische Existenz oder Wirkung, die nicht von einem Willkürakt verursacht wird. Im Gegenteil, die Wirkung ergreift und beherrscht das menschliche Subjekt, welches immer viel eher ihr Opfer denn ihr Schöpfer ist“ (C. G. Jung, 1937, S. 3; Hervorhebungen am Ende E. F.). Nach der Definition der religiösen Erfahrung als Ergriffenwerden von einer Macht außer uns fährt Jung fort, den Begriff des Unbewussten als einer religiösen Größe zu interpretieren. Nach ihm kann das Unbewusste nicht einfach ein Teil des individuellen Geisteslebens sein, es ist vielmehr eine von uns unabhängige Macht, die sich unserem Geist aufdrängt.

Die Tatsache, dass man die Stimme (des Unbewussten) im eigenen Traum wahrnimmt, beweist gar nichts, denn man kann auch die Straßengeräusche wahrnehmen, und es würde niemandem einfallen, solche als die eigenen zu bezeichnen. Es gibt nur eine einzige Bedingung, unter der man die Stimme legitimerweise die eigene nennen könnte, wenn man nämlich annimmt, die bewusste Persönlichkeit sei der Teil eines Ganzen oder ein kleinerer Kreis, der in einem größeren enthalten ist. Ein kleiner Bankangestellter, der seinem Freund die Stadt zeigt und auf das Bankgebäude hinweist mit den Worten: „Und das hier ist meine Bank“, macht von demselben Vorrecht Gebrauch. (C. G. Jung, 1937, S. 42.)

Es ist eine notwendige Schlussfolgerung aus dieser Definition der Religion und des Unbewussten, wenn Jung zu dem Ergebnis kommt, angesichts der Natur des Unbewussten sei dessen Einfluss auf uns „ein grundlegendes religiöses Phänomen“ (C. G. Jung, 1937, S. 41). Daraus folgt weiter, Dogma und Traum seien beides religiöse Phänomene. weil beide der Ausdruck des Ergriffenseins von einer Macht außer uns sind. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, dass nach der Logik Jungs Geisteskrankheit ein eminent religiöses Phänomen genannt werden müsste.

Hält die populäre Meinung, Freud sei ein Feind und Jung ein Freund der Religion, unserer Prüfung der Haltung beider gegenüber der Religion stand? Ein Vergleich ihrer Ansichten zeigt, dass jene Behauptung eine irreführende Vereinfachung ist.

Freud ist der Auffassung, das Ziel der menschlichen Entwicklung sei die Erreichung folgender Ideale: Erkenntnis (Vernunft, Wahrheit, Logos), Menschenliebe, Verminderung des Leidens, Unabhängigkeit und Verantwortungsgefühl. Diese Ideale bilden den ethischen Kern aller großen Religionen, auf denen die westliche und die östliche Kultur beruht: der Lehren des Konfuzius und Lao-tse, Buddhas, der Propheten und Jesu. Gewiss gibt es bestimmte Akzentverschiebungen zwischen diesen Lehren, zum Beispiel, wenn Buddha den Ton auf die Verminderung des Leidens legt, die Propheten auf Einsicht und Gerechtigkeit, Jesus auf die Menschenliebe; dennoch ist es erstaunlich, bis zu welchem Grade diese religiösen Lehrer in Bezug auf das Ziel der menschlichen Entwicklung und die Normen, nach denen der Mensch sich zu richten habe, übereinstimmen. Freud spricht im Namen des ethischen Kerns der Religion und kritisiert ihre theistisch-übernatürlichen Seiten, sofern sie die volle [VI-240] Verwirklichung dieser ethischen Zielsetzungen hindern. Er erklärt die theistisch-übernatürlichen Auffassungen als Stadien der menschlichen Entwicklung, die einstmals notwendig und förderlich waren, jetzt aber nicht länger nötig und tatsächlich ein Hindernis für weiteres Wachstum seien. Darum ist die Behauptung, Freud sei „gegen“ Religion, irreführend, außer wenn wir scharf auseinanderhalten, welche Religion oder welchen Aspekt von Religion er kritisiert und für welchen er sich einsetzt.

Für Jung ist eine religiöse Erfahrung durch ein spezifisches Gefühlsmoment gekennzeichnet: Unterwerfung unter eine höhere Macht, sei diese nun Gott genannt oder das Unbewusste. Zweifellos ist dies eine zutreffende Charakteristik eines bestimmten Typs religiöser Erfahrungen - innerhalb der christlichen Konfessionen bildet sie zum Beispiel den Kern der Lehren Luthers und Calvins -, während sie im Widerspruch steht zu einem andern Typ religiöser Erfahrung, etwa dem im Buddhismus lebendigen. In ihrem Relativismus gegenüber der Wahrheit steht Jungs Auffassung von Religion im Gegensatz zum Buddhismus, zum Judentum und zum Christentum. Denn in diesen Religionen ist die Verpflichtung des Menschen, nach der Wahrheit zu forschen, eine unabdingbare Forderung. Die ironische Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit?“ ist ein Symbol für eine antireligiöse Haltung nicht nur vom Standpunkt des Christentums, sondern ebenso sehr von dem aller großen Religionen.

Um die Positionen Freuds und Jungs auf eine kurze Formel zu bringen: Freud widersetzt sich der Religion im Namen der Ethik - eine Haltung, die zweifellos „religiös“ genannt werden kann. Jung beschränkt die Religion auf ein psychologisches Phänomen und erhebt gleichzeitig das Unbewusste zu einem religiösen Phänomen.[13]

3. Analyse einiger Typen religiöser Erfahrung

Jede Erörterung über Religion ist durch eine ernste terminologische Schwierigkeit behindert. Obwohl wir wissen, dass es außerhalb des Monotheismus viele Religionen gab und gibt, verbinden wir doch die Vorstellung von Religion mit der von einem System, das um Gott und übernatürliche Kräfte kreist; wir neigen dazu, die monotheistische Religion als den Bezugsrahmen anzusehen, von dem aus wir alle anderen Religionen zu verstehen und einzuschätzen suchen. Daher wird es zweifelhaft, ob Religionen ohne Gott, wie der Buddhismus oder der Taoismus oder der Konfuzianismus, Religionen im eigentlichen Sinne genannt werden können. Weltliche Systeme wie die gegenwärtigen autoritären Gebilde werden keinesfalls Religionen genannt, obwohl sie, psychologisch gesprochen, diese Bezeichnung verdienten. Wir haben einfach kein Wort, mit dem wir die Religion als allgemein menschliches Phänomen bezeichnen könnten, ohne dass sich die Vorstellung eines bestimmten Religionstyps einschliche und den Begriff färbte. Mangels eines solchen Ausdrucks werde ich in den folgenden Kapiteln das Wort Religion gebrauchen, doch möchte ich von Anfang an klarstellen, dass ich darunter jedes System des Denkens und Tuns verstehe, das von einer Gruppe geteilt wird und dem Individuum einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe bietet.

In der Tat gibt es keine Kultur in der Geschichte - und es scheint, dass es auch in Zukunft keine geben wird -, die nicht Religion in diesem weiten Sinne mit einschlösse. Doch brauchen wir nicht bei dieser bloß beschreibenden Feststellung stehen zu bleiben. Das Studium des Menschen führt uns zu der Erkenntnis, dass das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Orientierungssystem und einem Objekt der Hingabe in den Bedingungen des menschlichen Daseins tief verwurzelt ist. In Psychoanalyse und Ethik habe ich versucht, die Natur dieses Bedürfnisses zu analysieren, und ich füge die betreffenden Stellen dieses Buches hier ein:

Bewusstsein seiner selbst, Vernunftbegabung und Vorstellungsvermögen haben jene „Harmonie“ zerrissen, die für das tierische Dasein charakteristisch ist. Ihr Auftreten hat den Menschen zu einer Abnormität gemacht, zu einer Laune des Universums. Er ist ein Teil der Natur, ist ihren physikalischen Gesetzen unterworfen und kann diese Gesetze nicht ändern; dennoch transzendiert er die übrige Natur. Er ist von der Natur [VI-242] abgeteilt und zugleich ein Teil von ihr; er ist heimatlos und ist trotzdem an die gleiche Heimat gebunden, die er mit allen Geschöpfen gemeinsam hat. An einem zufälligen Ort und zu einem zufälligen Zeitpunkt wird er in die Welt geworfen, ebenso zufällig wird er aus ihr vertrieben. Wenn er sich seiner selbst bewusst wird, erkennt er die eigene Ohnmacht und die Grenzen seiner Existenz. Er sieht sein Ende voraus: den Tod. Nie kann er sich von der Dichotomie der eigenen Existenz freimachen. Er kann sich nicht von seiner Geistigkeit befreien, auch wenn er es wollte; er kann nicht von seinem Körper frei werden, solange er lebt - und sein Körper veranlasst ihn, leben zu wollen.

Die Vernunftbegabung, des Menschen Segen, ist auch sein Fluch. Sie zwingt ihn, sich unablässig mit der Lösung einer an sich unlösbaren Dichotomie zu beschäftigen. Darin unterscheidet sich die menschliche Existenz von der aller übrigen Organismen. Sie befindet sich in einem Zustand ständiger und unvermeidlicher Unausgeglichenheit. Das Leben des Menschen kann nicht gelebt werden, indem die Verhaltensmuster der Gattung einfach nur wiederholt werden; jeder Einzelne muss es selbst leben. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich langweilt, unzufrieden ist und sich aus dem Paradies ausgeschlossen glaubt. Die eigene Existenz ist ihm zu einem Problem geworden, das er lösen muss und dem er nicht entfliehen kann. Er kann nicht auf einen vormaligen Zustand der Harmonie mit der Natur regredieren; er muss vorwärts schreitend seine Vernunft entwickeln, bis er selbst zum Herrn über die Natur und zum Herrn über sich selbst geworden ist.

Das Aufkommen der Vernunftbegabung hat eine Dichotomie im Menschen geschaffen, die ihn zwingt, unablässig nach neuen Lösungen zu suchen. Die Dynamik seiner Geschichte ist mit der Existenz der Vernunft unlösbar verknüpft. Sie veranlasst ihn, sich zu entwickeln und dadurch die ihm eigene Welt zu schaffen, in der er sich mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu Hause fühlen kann. Jede Stufe, die er erreicht, lässt ihn unbefriedigt und verwirrt ihn. Und diese Verwirrung zwingt ihn, neue Lösungen anzustreben. Einen angeborenen „Fortschrittstrieb“ gibt es beim Menschen nicht. Es ist der Widerspruch der eigenen Existenz, der den Menschen auf der begonnenen Bahn fortschreiten lässt. Da er das Paradies - die Einheit mit der Natur - verloren hat, wurde er zum ewigen Wanderer (Odysseus, Ödipus, Abraham, Faust). Er ist gezwungen, vorwärts zu gehen und muss mit andauernder Anstrengung das Unbekannte zu erkennen suchen, indem er die Lücken seines Wissens mit Antworten ausfüllt. Über sich und den Sinn der eigenen Existenz muss er sich selbst Rechenschaft geben. Um diesen inneren Zwiespalt zu überwinden, drängt es ihn - getrieben von einem Willen nach „Absolutheit“ -, eine andere Art von Harmonie zu finden, die den Fluch von ihm nimmt, durch den er von der Natur, seinen Mitmenschen und sich selbst getrennt wurde (...).

Die Disharmonie der Existenz des Menschen erzeugt Bedürfnisse, die weit über die hinausgehen, die in seinem animalischen Ursprung begründet liegen. Diese Bedürfnisse bewirken einen drängenden Wunsch, die Einheit und das Gleichgewicht zwischen sich und der übrigen Natur wiederherzustellen. Der Mensch macht den Versuch, diese Einheit und dieses Gleichgewicht vor allem gedanklich wieder zu erreichen. Er konstruiert ein umfassendes Weltbild, das ihm als Bezugsrahmen dient, von dem er eine Antwort auf die Fragen nach seinem Platz in der Welt und seinen Aufgaben ableiten [VI-243] kann. Derartige Gedankensysteme sind jedoch nicht ausreichend. Wenn der Mensch nur körperloser Intellekt wäre, könnte er sein Ziel durch ein umfassendes Gedankensystem erreichen. Da er aber ein Wesen ist, das sowohl Körper wie Geist besitzt, muss er auf die Widersprüche seiner Existenz nicht nur denkend reagieren, sondern auch im Lebensvollzug, in seinem Fühlen und Handeln. Er muss danach streben, Einheit und Einssein auf allen Ebenen seines Seins zu erfahren, um so ein neues Gleichgewicht zu finden. Deshalb erfordert ein befriedigendes Orientierungssystem nicht nur intellektuelle Elemente, sondern auch solche des Gespürs und des Gefühls, die in allen Bereichen des menschlichen Lebens aktiv zu verwirklichen sind. Die Hingabe an ein Ziel, an eine Idee oder an eine Macht, die den Menschen transzendiert, wie zum Beispiel Gott, ist der Ausdruck dieses Bedürfnisses nach Ganzheitlichkeit im Lebensvollzug (...).[14]

Da das Bedürfnis nach einem System der Orientierung und Hingabe[15] einen wesentlichen Bestandteil des menschlichen Daseins ausmacht, ist die Intensität dieses Bedürfnisses zu verstehen. Tatsächlich gibt es keine stärkere Energiequelle im Menschen. Der Mensch kann nicht frei entscheiden, ob er „Ideale“ haben will oder nicht, aber er hat die freie Wahl zwischen verschiedenen Arten von Idealen, zwischen der Möglichkeit, Macht und Destruktion zu verehren oder sich Vernunft und Liebe hinzugeben. Alle Menschen sind „Idealisten“ und suchen etwas, das über die Befriedigung des rein Körperlichen hinausgeht. Sie unterscheiden sich nur in den Idealen, an die sie glauben. Sowohl die höchsten wie auch die ganz teuflischen Manifestationen des menschlichen Geistes sind nicht Ausdruck des Fleisches, sondern des Geistes, das heißt, dieses Idealismus. Gefährlich und irreführend ist deshalb die relativistische Auffassung, das bloße Vorhandensein eines Ideals oder eines religiösen Gefühls sei an sich schon wertvoll. Wir müssen alle Ideale, einschließlich derjenigen, die in weltlichen Ideologien in Erscheinung treten, als Ausdruck desselben menschlichen Bedürfnisses betrachten und sie danach beurteilen, wieviel Wahrheit sie enthalten, in welchem Maße sie der Entfaltung menschlicher Kräfte dienen und bis zu welchem Grade sie dem menschlichen Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und Harmonie in seiner Welt tatsächlich entgegenkommen. (E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik, 1947a, GA II., S. 30 f., 34 und 36.)

Was ich über den Idealismus des Menschen gesagt habe, trifft auch für sein religiöses Bedürfnis zu. Es gibt keinen Menschen, der nicht ein religiöses Bedürfnis hätte, ein Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe. Aber diese Feststellung sagt uns noch nichts über den besonderen Zusammenhang, in dem dieses religiöse Bedürfnis sich kundtut. Der Mensch kann Tiere, Bäume, Idole aus Gold oder Stein, einen unsichtbaren Gott, einen heiligen Menschen oder teuflische Führer anbeten; er kann seine Vorfahren, seine Nation, seine Klasse oder Partei, das Geld oder den Erfolg vergöttern; seine Religion kann der Entwicklung von Destruktivität oder von Liebe, von Beherrschung oder von Brüderlichkeit förderlich sein; sie kann die Kraft seiner Vernunft stärken oder lähmen. Der Mensch mag sein Orientierungssystem als ein religiöses ansehen, das sich von demjenigen im weltlichen Bereich unterscheidet, oder er mag glauben, er habe keine Religion, und seine Hingabe an gewisse, angeblich säkulare Ziele wie Macht, Geld oder Erfolg, für nichts weiter halten als eine Angelegenheit von etwas Nützlichem und Praktischem. Die Frage lautet nicht: ob Religion oder ob nicht?, sondern: welche Art von Religion? [VI-244] Fördert sie die Entwicklung des Menschen, die Entfaltung der spezifisch menschlichen Kräfte, oder lähmt sie die Kräfte?

Eigentümlicherweise stimmen die Interessen des hingegebenen Religionsanhängers und des Psychologen in dieser Hinsicht überein. Dem Theologen ist viel an den spezifischen Lehren einer Religion gelegen, an der seinen wie an anderen, denn worauf es ihm ankommt, ist die Wahrheit seines Glaubens gegenüber den anderen. Ebenso ist dem Psychologen viel an den spezifischen Inhalten einer Religion gelegen, denn ihm kommt es darauf an, welche menschliche Haltung eine Religion ausdrückt und welche Wirkung sie auf den Menschen hat, ob sie für die Entwicklung seiner Kräfte gut oder schlecht ist. Er interessiert sich nicht nur für den Aufweis der psychologischen Wurzeln der verschiedenen Religionen, sondern auch für ihren Wert.

Die These, das Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe sei in den Bedingungen der menschlichen Existenz begründet, scheint weitgehend bestätigt durch die Tatsache, dass Religion eine universale geschichtliche Erscheinung ist. Diese Bemerkung ist von Theologen, Psychologen und Anthropologen gemacht und ausgearbeitet worden, sodass es für mich nicht nötig ist, mich darüber zu verbreiten. Ich möchte einzig betonen, dass die Anhänger der traditionellen Religion sich diesbezüglich häufig auf eine trügerische Argumentation eingelassen haben. Zwar beginnen sie mit einer so großzügigen Definition der Religion, dass darunter jedes Phänomen religiöser Art verstanden werden kann. Aber ihre Auffassung bleibt mit der der monotheistischen Religionsform verbunden; so kommen sie dazu, alle nicht-monotheistischen Religionen als Vorläufer oder Abweichungen von der „wahren“ Religion anzusehen, und enden damit, dass sie zu beweisen suchen, der Glaube an Gott im Sinne der westlichen Religionsüberlieferung sei dem Menschen eingeboren.

Der Psychoanalytiker, dessen „Laboratorium“ der Patient ist und der ein teilnehmender Beobachter des Denkens und Fühlens anderer Menschen ist, vermag noch einen weiteren Erweis dafür beizubringen, dass irgendein Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe zum Menschen gehört. Beim Studium von Neurosen entdeckt er, dass er Religion erforscht. Es war Freud, der die Verbindung zwischen Neurose und Religion erkannte; während er jedoch Religion als kollektive Kindheitsneurose der Menschheit interpretierte, kann man es auch umgekehrt auslegen. Wir können in der Neurose eine private Form der Religion sehen, genauer gesagt, eine Rückkehr zu primitiven Religionsformen im Konflikt mit offiziell anerkannten Grundformen religiösen Denkens.

Man kann eine Neurose unter zwei Gesichtspunkten betrachten. Man kann das Augenmerk auf die neurotischen Erscheinungen selber richten, auf die Symptome und andere besondere Lebensschwierigkeiten, welche die Neurose erzeugt. Die andere Betrachtungsweise beschäftigt sich nicht mit dem sozusagen Positiven, nämlich mit der Neurose, sondern mit dem Negativen, der Unfähigkeit des Neurotikers, die wichtigsten Ziele menschlicher Existenz zu erreichen: Unabhängigkeit und die Fähigkeit, produktiv zu handeln, zu lieben und zu denken. Wem es nicht gelungen ist, zur Reife und Ganzheit zu gelangen, der verfällt einer Neurose irgendwelcher Art. Er vermag nicht einfach „dahinzuleben“, unbelastet von diesem Misslingen, und zufrieden [VI-245] damit, zu essen und zu trinken, zu schlafen, den Sexualtrieb zu befriedigen und seine Arbeit zu tun. Wäre dem so, dann hätten wir den Beweis, dass die religiöse Haltung zwar vielleicht wünschenswert, jedoch kein der menschlichen Natur tief innewohnender Zug wäre. Aber die Erforschung des Menschen zeigt, dass es sich nicht so verhält. Wenn es einem Menschen nicht geglückt ist, seine Energien in der Richtung auf sein „höheres Selbst“ zu entfalten, dann lenkt er sie auf niedrigere Ziele. Wenn er keine Vorstellung von der Welt und seiner Stellung in ihr hat, die der Wahrheit annähernd entspricht, schafft er sich ein Trugbild und klammert sich daran mit der gleichen Zähigkeit, mit der ein Religionsanhänger an seinen Dogmen hängt. Es ist wahr: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein“ (Mt 4,4). Er hat einzig die Wahl zwischen besseren oder schlechteren, höheren oder niedrigeren, wohltuenden oder zerstörerischen Formen von Religion oder Weltanschauung.

Welches ist die religiöse Situation in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft? Sie ähnelt auf seltsame Art dem Bilde, das der Anthropologe beim Studium der Religion der nordamerikanischen Indianer gewinnt. Sie sind zur christlichen Religion bekehrt, aber ihre alten vorchristlichen Religionsvorstellungen wurden damit keineswegs aufgegeben. Das Christentum ist ein Firnis, der über ihre alte Religion gelegt wurde und sich mit dieser vielfach verschmolzen hat. In unserer eigenen Kultur bilden die monotheistische Religion und ebenso atheistische und agnostische Philosophien einen dünnen Firnis über die Religionen, die in mancher Beziehung weit „primitiver“ sind als die indianischen, und die als reiner Götzendienst mit den wesentlichen monotheistischen Lehren sogar noch weniger vereinbar sind. Als kollektive und mächtige Form modernen Götzendienstes finden wir die Anbetung der Macht, des Erfolgs und der Autorität des Marktes. Aber neben diesen kollektiven Formen sehen wir noch etwas anderes. Wenn wir die Oberfläche des modernen Menschen ankratzen, entdecken wir eine große Zahl individualisierter primitiver Religionsformen. Viele davon werden als Neurosen bezeichnet; doch können wir ihnen ebenso gut die betreffenden religiösen Namen geben: Ahnenkult, Totemismus, Ritualismus, Reinlichkeitskult und so fort.

Gibt es wirklich noch so etwas wie Ahnenkult? Gewiss, er ist eine der am meisten verbreiteten primitiven Kultformen innerhalb unserer Gesellschaft, und es verändert das Bild durchaus nicht, wenn wir ihn, wie es der Psychiater tut, eine neurotische Vater- oder Mutterbindung nennen. Wir wollen einen solchen Fall des Ahnenkults miteinander betrachten. Eine schöne, hochbegabte Frau, eine Malerin, war so stark an ihren Vater gebunden, dass sie jedem näheren Kontakt mit Männern auswich. Ihre gesamte Freizeit verbrachte sie mit ihrem Vater, einem angenehmen, aber ziemlich langweiligen Mann, der früh verwitwet war. Außer für ihre Malerei interessierte sie sich für nichts als ihren Vater. Die Art, wie sie ihn anderen gegenüber darstellte, wich grotesk von der Wirklichkeit ab. Nach seinem Tode beging sie Selbstmord und hinterließ ein Testament mit der einzigen Verfügung, sie wolle an seiner Seite beerdigt werden.

In einem anderen Fall führte ein sehr intelligenter und begabter Mann, von jedermann geachtet, ein geheimes Leben, das völlig der Verehrung seines Vaters gewidmet war, der, milde gesagt, ein hartnäckiger Draufgänger war, der sich einzig für den Erwerb von Geld und gesellschaftlichem Prestige interessierte. Die Vorstellung des [VI-246] Sohnes von seinem Vater war jedoch die des weisesten, liebevollsten und zärtlichsten Vaters, von Gott beauftragt, dem Sohn den richtigen Weg zu zeigen. Jedes Tun und jeder Gedanke des letzteren war darauf ausgerichtet, ob es dem Vater gefallen würde oder nicht, und da dieser im wirklichen Leben gewöhnlich nicht mit ihm einverstanden war, fühlte der Patient sich meistens „in Ungnade“ und strebte leidenschaftlich danach, die Billigung des Vaters wiederzugewinnen, sogar noch Jahre nach dessen Tode.

Der Psychoanalytiker versucht, die Ursachen solcher pathologischer Bindungen herauszufinden, und hofft, den Patienten von einer solchen verkrüppelten Vaterverehrung befreien zu helfen. Hier aber interessieren uns nicht die Ursachen und nicht der Heilungsprozess, sondern das Phänomen an sich. Wir beobachten, wie die Abhängigkeit von einem Vater dessen Tod mit unverminderter Stärke um Jahre überdauert, das Urteil des Patienten trübt, ihn unfähig zum Lieben macht und ihn wie ein Kind in beständiger Unsicherheit und Furcht leben lässt. Dieser Aufbau des persönlichen Lebens um einen Vorfahren, die Verausgabung beinahe aller Energie auf dessen Verehrung unterscheidet sich nicht von religiösem Ahnenkult. Er liefert einen Bezugsrahmen und ein Einheit schaffendes Prinzip für die Hingabe. Auch hier gilt, dass der Patient nicht einfach geheilt wird, indem man ihm die Unvernunft seines Verhaltens nachweist und auf den Schaden, den er sich selbst zufügt, hinweist. Oft weiß er dies intellektuell, sozusagen mit einem Teil seines Selbst, aber gefühlsmäßig ist er seinem Kult völlig hingegeben. Nur wenn sich ein tiefgehender Wandel in seiner gesamten Persönlichkeit vollzieht, wenn er frei wird zum Lieben und Denken, zur Auffindung eines neuen Brennpunktes der Orientierung und der Hingabe, wird er auch frei von der sklavischen Verehrung seines Vaters. Erst wenn er fähig ist, sich einer höheren Form der Religion zuzuwenden, kann er sich selbst von seiner niederen Form befreien.

Zwangsneurotiker zeigen vielerlei Formen eines privaten Rituals. Jemand, dessen Leben um Schuldgefühle und um das Bedürfnis nach Versöhnung kreist, wird vielleicht den Waschzwang als vorherrschendes Ritual seines Lebens annehmen. Ein anderer, dessen Zwangsneurose sich mehr im Denken als im Handeln äußert, wird sich ein Ritual schaffen, das ihn zwingt, bestimmte Formeln, die Unglück abwehren oder Erfolg gewährleisten sollen, zu denken oder zu sprechen. Ob wir dergleichen neurotische Symptome oder Rituale nennen, hängt von unserem Gesichtspunkt ab; in Wahrheit sind diese Symptome Rituale einer privaten Religion.

Gibt es Totemismus in unserer Kultur? Es gibt ihn häufig - obwohl die Menschen, die daran leiden, gewöhnlich nicht das Bedürfnis nach psychiatrischer Hilfe haben. Jemand, dessen Hingabe ausschließlich dem Staat oder einer politischen Partei gilt, dessen einziges Kriterium des Wertes und der Wahrheit das Staats- oder Parteiinteresse ist und dem die Fahne als Symbol seiner Gruppe etwas Heiliges bedeutet, huldigt einer Religion der Klan- oder Totemverehrung, auch wenn es sich in seinen Augen um ein völlig rationales System handelt (woran natürlich alle Anhänger einer primitiven Religion glauben). Wenn wir verstehen wollen, warum Systeme wie der Faschismus oder Stalinismus Millionen von Menschen in Bann halten können, sodass sie bereit sind, ihre Rechtschaffenheit und ihre Vernunft dem Grundsatz „Recht oder [VI-247] Unrecht, es ist mein Vaterland“ zu opfern, dann sind wir gezwungen, das Totemistische als die religiöse Qualität ihrer Orientierung zu betrachten.

Eine andere Form der Privatreligion, die in unserer Kultur weit verbreitet, wenn auch nicht vorherrschend ist, ist die Religion der Reinlichkeit. Die Anhänger dieser Religion haben einen hauptsächlichen Wertmaßstab, mit dem sie ihre Mitmenschen beurteilen - Reinlichkeit und Ordentlichkeit. Dieses Phänomen trat auffallend zutage in der Reaktion amerikanischer Soldaten während des letzten Krieges. Oft mit ihren politischen Überzeugungen uneins, beurteilten viele von ihnen Alliierte und Feinde vom Standpunkt dieser Religion. Die Engländer und die Deutschen hatten nach diesem Wertmaßstab einen hohen Rang, die Franzosen und Italiener einen niedrigen. Diese Religion der Reinlichkeit und Ordentlichkeit ist dem Wesen nach nicht allzu verschieden von gewissen hoch ritualistischen Religionssystemen, die sich um den Versuch bewegen, durch Reinigungsrituale das Böse zu bannen und in der strikten Befolgung ritueller Ordnung Sicherheit zu finden.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen einem religiösen Kult und einer Neurose, der den Kult der Neurose überlegen macht, nämlich hinsichtlich des Gewinns an Befriedigung. Stellen wir uns vor, der Patient mit der neurotischen Fixierung an seinen Vater lebte in einer Kultur, in welcher der Ahnenkult die allgemeine Praxis ist, dann könnte er seine Gefühle mit seinen Mitmenschen teilen und fühlte sich selbst nicht isoliert. Es ist eben dieses Gefühl des Isoliertseins, des Ausgeschlossenseins, das den schmerzenden Stachel jeder Neurose bildet. Selbst die irrationalste Orientierung gibt dem Einzelnen, wenn sie von einer nennenswerten Anzahl Menschen geteilt wird, das Gefühl des Einsseins mit anderen und damit ein gewisses Maß an Sicherheit und Stetigkeit, die dem Neurotiker fehlt. Es gibt nichts noch so Unmenschliches, Böses oder Irrationales, was nicht, wenn es von einer Gruppe geteilt wird, Trost spenden kann. Den überzeugendsten Beweis für diese Feststellung liefern jene Ausbrüche von Massenwahn, die wir erlebt haben und deren Zeugen wir immer noch sind. Wenn eine Doktrin, wie irrational sie auch sein möge, erst einmal Macht in einer Gesellschaft gewonnen hat, werden Millionen Menschen eher an sie glauben, als sich ausgestoßen und isoliert fühlen zu müssen.

Diese Gedanken führen zu einer wichtigen Überlegung hinsichtlich der Funktion der Religion. Wenn der Mensch so leicht auf eine primitivere Form von Religion zurückfällt, haben dann nicht die heutigen monotheistischen Religionen die Aufgabe, ihn vor einer solchen Regression zu schützen? Ist nicht der Glaube an Gott eine Absicherung gegen den Rückfall in Ahnenkult, Totemismus und Anbetung des Goldenen Kalbes? Dies wäre in der Tat so, als hätte die Religion es verstanden, den Charakter des Menschen gemäß den von ihr vertretenen Idealen zu prägen. Aber historische Religionen haben immer wieder vor den weltlichen Mächten kapituliert und mit ihnen paktiert. Sie haben sich weit mehr mit gewissen Dogmen befasst als mit der Ausübung von Liebe und Demut im täglichen Leben. Sie haben es versäumt, weltliche Mächte unablässig und unnachgiebig zur Rechenschaft zu ziehen, wo diese den Geist des religiösen Ideals verletzt haben. Im Gegenteil, sie haben sich wieder und wieder an solchen Verletzungen beteiligt. Wären die Kirchen die Wächter nicht nur der Worte, sondern auch des Geistes der Zehn Gebote und der Goldenen Regel, dann wären sie [VI-248] wirksame Kräfte, die die Regression auf die Götzenverehrung verhindern könnten. Da dies jedoch eher die Ausnahme als die Regel ist, muss die Frage gestellt werden - nicht von einem antireligiösen Standpunkt, sondern aus Sorge um die Seele des Menschen: Können wir den Religionen zutrauen, für die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse zu sorgen, oder müssen wir nicht diese Bedürfnisse von den organisierten, traditionellen Religionen abtrennen, um den Zusammenbruch unseres Moralsystems zu verhindern?

Bevor wir uns zu einer Antwort auf diese Frage entschließen, müssen wir uns klar werden, dass keine vernünftige Diskussion unseres Problems möglich ist, solange wir uns mit Religion im allgemeinen beschäftigen, anstatt zwischen verschiedenen Typen von Religion und religiöser Erfahrung zu unterscheiden. Es würde den Rahmen dieses Kapitels weit überschreiten, wollten wir versuchen, alle Typen von Religion zu berücksichtigen. An dieser Stelle können wir nicht einmal alle jene Typen besprechen, die vom psychologischen Standpunkt von Interesse sind. Ich werde mich darum hier auf nur eine Unterscheidung beschränken, die meines Erachtens die wichtigste ist und die quer durch nicht-theistische und theistische Religionen geht: auf die Unterscheidung zwischen autoritären und humanistischen Religionen.

Welches ist das Prinzip autoritärer Religion? Die Definition der Religion im Oxford Dictionary, womit die Religion an sich gemeint ist, ist eine ziemlich genaue Beschreibung autoritärer Religion. Sie lautet: „(Religion ist) die Anerkennung einer höheren, unsichtbaren Macht von Seiten des Menschen; einer Macht, die über sein Schicksal bestimmt und Anspruch auf Gehorsam, Verehrung und Anbetung hat.“

Hier wird der Schwerpunkt auf die Anerkenntnis gelegt, dass der Mensch von einer außerhalb von ihm liegenden Macht beherrscht wird. Aber dies allein macht noch nicht die autoritäre Religion aus. Ausschlaggebend ist die Vorstellung, diese Macht habe wegen der Herrschaft, die sie ausübt, Anspruch auf „Gehorsam, Verehrung und Anbetung“. Ich habe das Wort „Anspruch“ hervorgehoben, weil es zeigt, dass der Grund für Anbetung, Gehorsam und Verehrung nicht in den sittlichen Eigenschaften der Gottheit liegt, nicht in ihrer Liebe und Gerechtigkeit, sondern in der Tatsache, dass ihr die Herrschaft, also die Macht über den Menschen zusteht. Weiterhin bedeutet das, dass die höhere Macht ein Recht hat, den Menschen zu zwingen, sie anzubeten, und dass Mangel an Verehrung und Gehorsam Sünde bedeuten.

Das wesentliche Element autoritärer Religion und autoritärer religiöser Erfahrung ist die Unterwerfung unter eine Macht jenseits des Menschen. Die Haupttugend bei diesem Typ von Religion ist Gehorsam, die Kardinalsünde Ungehorsam. In dem Maße, als die Gottheit als allmächtig oder allwissend dargestellt wird, ist im Gegensatz dazu der Mensch macht- und bedeutungslos. Nur insofern er durch völlige Unterwerfung die Gnade oder Hilfe der Gottheit erwirbt, vermag er Stärke zu empfinden. Die Unterwerfung unter eine machtvolle Autorität ist einer der Wege, auf denen der Mensch dem Gefühl des Alleinseins und der Begrenztheit entgeht. Beim Akt der Unterwerfung verliert er seine Unabhängigkeit und Integrität als Individuum, aber er gewinnt das Gefühl, von einer Ehrfurcht erweckenden Macht beschützt zu sein, von der er sozusagen ein Teil wird.

In Calvins Theologie finden wir ein lebendiges Bild des autoritären, theistischen [VI-249] Denkens. „Denn ich nenne es nicht Demut“, sagt Calvin, „wenn wir meinen, uns bliebe noch etwas übrig. (...) Wir können aber nicht die rechte Meinung von uns haben, ohne dass alles zerschmettert wird, was an uns rühmenswert erscheint. (...) Die hier geforderte Demut ist die ungeheuchelte Niedrigkeit unseres Herzens, das vor dem ernsten Empfinden seines Elends und seiner Armut erschrocken ist; denn so ist sie einheitlich im Wort Gottes beschrieben“ (J. Calvin, 1955, S. 496).

Die Erfahrung, die Calvin hier beschreibt - die Verachtung all dessen, was in einem ist, die Unterwerfung des Denkens aus der Empfindung der eigenen Nichtigkeit - macht den Grundgehalt aller autoritären Religionen aus, einerlei, ob sie in weltliche oder theologische Sprache gekleidet sind.[16] Gemäß autoritärer Religion ist Gott das Symbol von Macht und Stärke, er ist über alles erhaben, weil er die überlegene Macht besitzt, und der Mensch ist im Gegensatz dazu vollkommen ohnmächtig.

Autoritäre weltliche Religion folgt demselben Prinzip. Hier wird der „Führer“ oder der „Vater seines Volkes“ oder der Staat oder die Rasse oder das sozialistische Vaterland zum Gegenstand der Anbetung; das Leben des Einzelnen wird bedeutungslos, und der Wert des Menschen besteht gerade in der Verleugnung seines Wertes und seiner Stärke. Häufig stellt eine autoritäre Religion ein so abstraktes und fern liegendes Ideal auf, dass es kaum eine Beziehung zum wirklichen Leben und wirklichen Menschen hat. Das Leben und das Glück von Personen, die jetzt und hier leben, kann Idealen, wie dem „Leben nach dem Tode“ oder der „Zukunft der Menschheit“, aufgeopfert werden; die angeblichen Ziele rechtfertigen alle Mittel und werden zu Symbolen, in deren Namen religiöse oder weltliche „Eliten“ das Leben ihrer Mitmenschen beherrschen.

Humanistische Religion hingegen bewegt sich um den Menschen und seine Stärke. Der Mensch muss seine Kraft der Vernunft entwickeln, um sich selbst, seine Beziehung zum Mitmenschen und seine Stellung im Universum zu verstehen. Er muss die Wahrheit erkennen, sowohl hinsichtlich seiner Grenzen, als auch seiner Möglichkeiten. Er muss seine Kräfte der Liebe für andere, aber auch für sich selbst, zum Wachsen bringen und muss die Solidarität mit allen lebenden Wesen erfahren. Er braucht Prinzipien und Normen, die ihn zu diesem Ziele führen. Religiöse Erfahrung bei dieser Art von Religion heißt Erfahrung des Einsseins mit dem All, gegründet auf der Bezogenheit zur Welt, wie sie jemand in Denken und Liebe erfasst. Das Ziel des Menschen in einer humanistischen Religion besteht darin, seine größte Stärke, nicht seine äußerste Ohnmacht zu erreichen; Selbstverwirklichung ist Tugend, nicht Gehorsam. Glaube bedeutet Sicherheit der Überzeugung, die auf jemandes Erfahrung im Denken und Fühlen aufbaut, nicht aber die Annahme von Lehrsätzen, auf Grund der Achtung vor dem, der sie vorgibt. Die vorwiegende Stimmung ist Freude, während sie in autoritären Religionen in Leid und Schuld besteht.

Insofern humanistische Religionen theistisch sind, ist Gott das Symbol für des Menschen eigene Kräfte, die er in seinem Leben zu verwirklichen sucht, und nicht ein Symbol für Gewalt und Herrschaft, also für Macht über den Menschen.

Beispiele humanistischer Religionen sind der Frühbuddhismus, der Taoismus, die Lehren Jesajas, Jesu, Sokrates’, Spinozas, gewisse Strömungen in jüdischen und [VI-250] christlichen Religionen (besonders mystische), die Religion der Vernunft in der Französischen Revolution. Hieraus leuchtet ein, dass die Unterscheidung zwischen autoritärer und humanistischer Religion quer durch die Unterscheidung zwischen theistisch und nicht-theistisch geht und zwischen Religionen im engeren Sinn und philosophischen Systemen religiösen Charakters. Worauf es bei allen ankommt, ist nicht das Gedankensystem an sich, sondern die menschliche Haltung, die ihren Doktrinen zugrunde liegt.

Eines der besten dieser Beispiele für eine humanistische Religion ist der Frühbuddhismus. Buddha ist ein großer Lehrer, er ist der „Erleuchtete“, der um die Wahrheit der menschlichen Existenz weiß. Er spricht nicht im Namen einer übernatürlichen Macht, sondern der Vernunft. Er ruft jedermann auf, die eigene Vernunft zu gebrauchen und die Wahrheit zu erkennen, die er selbst nur als erster gefunden hat. Wenn der Mensch den ersten Schritt zur Erkenntnis der Wahrheit getan hat, muss er alle seine Kräfte anstrengen, um so zu leben, dass er seine Kräfte der Vernunft und der Liebe gegenüber allen menschlichen Wesen entwickelt. Nur in dem Maße, in dem er dies erreicht, kann er sich von den Fesseln der irrationalen Leidenschaften befreien. Während der Mensch nach der buddhistischen Lehre seine Grenzen anerkennen muss, soll er sich ebenso sehr seiner eigenen Kräfte bewusst werden. Das Nirwana als ein Geisteszustand, den der ganz Erwachte erreichen kann, ist kein Zustand der Ohnmacht und Unterwerfung des Menschen, sondern im Gegenteil ein Zustand der Entwicklung der höchsten Kräfte, die ein Mensch besitzt.

Folgende Geschichte von Buddha ist sehr charakteristisch.

Ein Hase saß einmal unter einem Mangobaum und schlief. Plötzlich hörte er ein lautes Geräusch. Er glaubte, das Ende der Welt sei gekommen, und begann zu laufen. Als die anderen Hasen ihn laufen sahen, fragten sie: „Warum rennst du so schnell?“ Er antwortete: „Die Welt geht unter.“ Als sie dies vernahmen, schlossen sich alle seiner Flucht an. Als das Wild die Hasen laufen sah, fragten die Tiere: „Warum rennt ihr so?“, und die Hasen antworteten: „Die Welt geht unter“, worauf das Wild mitzulaufen begann. So gesellte sich eine Tiergattung nach der andern zu den schon rennenden Tieren, bis das ganze Tierreich auf panischer Flucht war, die mit seinem Untergang hätte enden müssen. Als Buddha, der damals als weiser Mann lebte - eine seiner vielen Daseinsformen -, die Tiere in ihrer Panik rennen sah, fragte er die der letzten Gruppe, die sich der Flucht angeschlossen hatte, warum sie so rannten. „Weil die Welt untergeht“, sagten sie. „Das kann nicht wahr sein“, entgegnete Buddha. „Die Welt geht nicht unter. Lasst uns herausfinden, warum sie das glauben.“ Nun forschte er bei einer Gattung nach der anderen nach und folgte der Spur des Gerüchts zurück bis zum Wild und schließlich zu den Hasen. Als diese ihm sagten, sie liefen, weil die Welt untergehe, fragte er, welcher bestimmte Hase ihnen das gesagt habe. Sie zeigten auf den einen, der diese Aussage gemacht hatte, und Buddha wandte sich zu ihm und fragte: „Wo warst du und was tatest du, als du dachtest, die Welt ginge unter?“ Der Hase antwortete: „Ich saß unter einem Mangobaum und schlief.“ - „Wahrscheinlich hast du eine Mangofrucht fallen hören. Das Geräusch weckte dich, und du bekamst Angst und glaubtest, die Welt gehe unter. Wir wollen zu dem Baum zurückgehen, unter dem du saßest und nachsehen, ob es so war.“ Und sie gingen beide zu dem [VI-251] Baum. Da sahen sie, dass wirklich eine Mangofrucht herabgefallen war, wo der Hase gesessen hatte: So bewahrte Buddha das Tierreich vor dem Untergang.

Ich erzähle diese Geschichte nicht nur deshalb, weil sie eines der frühesten Beispiele einer analytischen Erforschung der Wurzeln von Furcht und Gerüchten ist, sondern weil sie so typisch für den buddhistischen Geist ist. Sie zeigt liebevolle Sorge für die Geschöpfe der Tierwelt und gleichzeitig eine tiefgehende, rationale Einsicht und Vertrauen in des Menschen Kräfte.

Der Zen-Buddhismus, eine spätere Sekte im Buddhismus, drückt sogar eine noch radikalere antiautoritäre Haltung aus. Zen regt an, eine Erkenntnis habe nur dann einen Wert, wenn sie aus uns selbst herausgewachsen sei. Keine Autorität, kein Lehrer könne uns wirklich etwas lehren, ausgenommen, dass er Zweifel in uns erwecke. Worte und Gedankensysteme seien gefährlich, weil sie sich leicht in Autoritäten verwandeln, die wir anbeten. Das Leben selbst müsse in seinem Flusse erfasst und erfahren werden, und hierin liege Tugend. Kennzeichnend für diese unautoritäre Haltung höheren Wesen gegenüber ist folgende Geschichte.

Als Tanka von der Tang-Dynastie in Verinji beim Kapitol haltmachte, war es sehr kalt. Daher nahm er eines der dort verwahrten Buddha-Bilder herunter, machte ein Feuer und wärmte sich daran. Als der Hüter des Schreins dies sah, war er sehr empört und rief aus: „Wie kannst du es wagen, mein Holzbildnis des Buddha zu verbrennen?“ Tanka begann in der Asche zu stochern, als suche er etwas, und sagte: „Ich sammle die heiligen Sariras (eine Art Mineralsubstrat, das nach der Verbrennung im Menschlichen Körper gefunden werden sollte und als Maßstab für die Heiligkeit seines Lebens galt) aus den Aschenresten.“

„Wie kannst du Sariras von einem hölzernen Buddha finden?“ fragte der Hüter.

„Wenn keine Sariras darin gefunden werden können“, gab Tanka zurück, „darf ich dann die beiden übrigen Buddhas für mein Feuer haben?“

Der Hüter des Schreins verlor später beide Augenbrauen, weil er sich dieser anscheinenden Pietätlosigkeit Tankas widersetzt hatte, während der letztere von Buddhas Zorn verschont blieb.“ (D. T. Suzuki, 1934, S. 124; vgl. Ch. Humphreys, 1949.)

Ein anderes Beispiel eines humanistischen religiösen Systems findet sich in Spinozas religiösem Denken. Zwar ist seine Sprache die der mittelalterlichen Theologie, aber seine Gottesvorstellung zeigt keine Spuren autoritärer Prägung. Gott hätte die Welt nicht anders schaffen können, als sie ist. Er könne nichts ändern, denn Gott sei in Wahrheit identisch mit der Totalität des Universums. Der Mensch müsse seine eigenen Grenzen erkennen und einsehen, dass er von der Totalität der Kräfte außerhalb von ihm selbst abhänge, über die er keine Gewalt habe. Dennoch seien ihm die Kräfte der Liebe und der Vernunft eigen. Er könne sie entwickeln und ein Optimum an Freiheit und innerer Stärke erlangen.

Die Unterscheidung zwischen autoritärer und humanistischer Religion verläuft nicht nur quer durch die verschiedenen Religionen. Sie hat auch Geltung innerhalb ein und derselben Religion. Unsere eigene religiöse Tradition veranschaulicht dies besonders gut. Da es von grundlegender Bedeutung ist, den Unterschied zwischen autoritärer und humanistischer Religion richtig zu verstehen, werde ich ihn weiterhin [VI-252] anhand einer Quelle erläutern, die den meisten Lesern mehr oder weniger geläufig ist, nämlich des Alten Testaments.

Der Anfang des Alten Testaments[17] ist im Geiste einer autoritären Religion abgefasst. Das Gottesbild ist das Bild des absoluten Herrschers eines patriarchalischen Klans, der den Menschen sich zum Vergnügen erschaffen hat und ihn nach Belieben wieder vernichten kann. Er hat ihm verboten, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, und ihm den Tod angedroht, wenn er diese Anordnung missachtet. Aber die Schlange, „schlauer als alle Tiere des Feldes“, sagte zu Eva: „Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,1.4-5.). Und Gott beweist, dass die Schlange wahr gesprochen hat. Er bestraft Adams und Evas Ungehorsam, indem er Feindschaft setzt zwischen dem Menschen und der Natur, zwischen dem Menschen und dem Erdboden samt den Tieren, zwischen Mann und Frau. Doch der Mensch muss nicht sterben. Gott spricht: „Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt“, vertreibt Gott Adam und Eva aus dem Garten Eden und setzt Engel mit flammendem Schwert „östlich des Gartens von Eden“, „damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten“ (Gen 3,22).

Der Text macht sehr klar, was des Menschen Sünde ist: seine rebellische Auflehnung gegen Gottes Anordnung. Es ist der Ungehorsam und nicht irgendeine angeborene Sündhaftigkeit, die vom Baum der Erkenntnis essen lässt. Die weitere religiöse Entwicklung hat im Gegenteil das Wissen um Gut und Böse zur Kardinaltugend gemacht, nach der der Mensch zu streben vermag. Der Text macht ebenfalls ganz deutlich, was Gottes Motiv dabei ist: seine Sorge um seine überlegene Rolle, die eifersüchtige Furcht vor dem Anspruch des Menschen, ihm gleich zu werden.

Ein entscheidender Wendepunkt in der Beziehung zwischen Gott und Mensch zeigt sich in der Geschichte von der Sintflut.

Der Herr sah, dass auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen zunahm und dass alle Gedanken seines Herzens den ganzen Tag nur böse waren. Da reute es den Herrn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, nicht nur den Menschen, auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben (Gen 6,5-7).

Hiernach ist es fraglos, dass Gott das Recht hat, seine eigenen Geschöpfe zu vernichten; er hat sie geschaffen, und sie sind sein Eigentum. Der Text erklärt ihre Bosheit als „Gewalt“; doch zeigt sein Beschluss, nicht nur die Menschen, vielmehr auch Tiere und Pflanzen zu zerstören, ebenso, dass wir es hier nicht mit einem Urteilsspruch zu tun haben, der einem bestimmten Verbrechen angemessen wäre, sondern damit, dass Gott sein eigenes Tun ärgerlich bereut, weil es nicht geglückt war. „Nur Noach fand Gnade in den Augen des Herrn“ (Gen 6,8), und er wird mitsamt seiner Familie und [VI-253] „allerlei Tieren, je ein Paar“, vor der Sintflut errettet. Soweit sind die Vernichtung des Menschen und die Verschonung Noachs willkürliche Handlungen Gottes. Er durfte tun, wie ihm beliebte, gleich einem mächtigen Stammeshäuptling. Nach der Sintflut jedoch verändert sich die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen von Grund auf. Gott schließt einen Bund mit den Menschen, in welchem er verspricht: „Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden; nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben“ (Gen 9,11b). Gott verpflichtet sich, niemals alles Leben auf Erden zu vernichten, und der Mensch steht unter dem obersten Gebot der Bibel, nicht zu töten: „Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem seiner Brüder“ (Gen 9,5c). Dies ist der Ausgangspunkt für einen tiefen Wandel in der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen. Gott ist nicht mehr der absolute Herrscher, der handeln kann, wie es ihm beliebt. Er ist an einen Vertrag gebunden, den sowohl er als auch der Mensch zu erfüllen haben, ein Prinzip, das er nicht verletzen darf, nämlich das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben. Gott kann den Menschen strafen, wenn er dieses Prinzip missachtet, aber der Mensch kann auch Gott zur Rechenschaft ziehen, wenn er sich der Verletzung desselben schuldig macht.

Die neue Beziehung zwischen Gott und Mensch tritt in Abrahams Fürbitte für Sodom und Gomorra deutlich zutage. Als Gott beabsichtigt, diese Städte wegen ihrer Gottlosigkeit zu vernichten, kritisiert Abraham Gott, weil er seine eigenen Prinzipien verletzte:

Das kannst du doch nicht tun, die Gerechten zusammen mit den Gottlosen umbringen. Dann ginge es ja dem Gerechten genauso wie dem Gottlosen. Das kannst du doch nicht tun! Der Richter über die ganze Erde sollte sich nicht an das Recht halten? (Gen 18,25)

Der Unterschied zwischen der Geschichte vom Sündenfall und dieser Argumentation ist in der Tat groß. Dort wird dem Menschen verboten, zu wissen, was Gut und Böse ist, und seine Stellung Gott gegenüber ist die der Unterwerfung - oder sündigen Ungehorsams. Hier macht der Mensch Gebrauch von seinem Wissen um Gut und Böse und kritisiert Gott im Namen der Gerechtigkeit, und Gott muss nachgeben.

Schon diese kurze Analyse der autoritären Elemente in der biblischen Geschichte zeigt, dass beide Prinzipien, das autoritäre und das humanistische, an der Wurzel der jüdisch-christlichen Religion vorhanden sind. In der Weiterentwicklung sowohl des Judentums als auch des Christentums haben beide Prinzipien sich behauptet, und das jeweilige Vorwiegen des einen oder anderen kennzeichnet die verschiedenen Strömungen in beiden Religionen.

Folgende Geschichte aus dem Talmud drückt die nicht-autoritäre, humanistische Seite des Judentums aus, wie wir es in den ersten Jahrhunderten des christlichen Zeitalters finden.[18]

Eine Anzahl anderer berühmter rabbinischer Gelehrter war mit Rabbi Eliesers Ansichten in Bezug auf einen Punkt des Ritualgesetzes nicht einverstanden.

Rabbi Elieser sagte zu ihnen: „Wenn die Halacha mit mir einer Meinung ist, soll dieser Johannisbrotbaum es bezeugen!“ Daraufhin wurde der Johannisbrotbaum hundert Ellen weit hinweggeschleudert - andere behaupten sogar vierhundert Ellen. „Ein Johannisbrotbaum kann nichts beweisen“, entgegneten sie ihm. Wiederum sagte er zu [VI-254] ihnen: „Wenn die Halacha meiner Meinung ist, soll der Strom es bezeugen!“ Daraufhin floß der Strom rückwärts. „Ein Fluss kann überhaupt nichts beweisen“, entgegneten sie. Und wiederum sagte er: „Wenn die Halacha meiner Meinung ist, sollen die Mauern des Lehrhauses es bezeugen!“ Daraufhin neigten sich die Mauern, als wollten sie einstürzen. Aber Rabbi Joschua wies sie zurecht und sagte: „Was fällt euch ein, euch einzumischen, wenn Gelehrte einen Streit über die Halacha ausfechten?“ Daraufhin stürzten sie Rabbi Joschua zu Ehren nicht ein, aber sie richteten sich Rabbi Elieser zu Ehren auch nicht wieder ganz auf. Und so stehen sie noch immer etwas geneigt. Und wiederum sagte Rabbi Elieser: „Wenn die Halacha mir recht gibt, dann soll es der Himmel bezeugen!“ Daraufhin ertönte eine Stimme vom Himmel, die rief: „Weshalb streitet ihr mit Rabbi Elieser, wo doch die Halacha ihm in allen Stücken recht gibt!“ Aber Rabbi Joschua erhob sich und rief: „Es ist nicht im Himmel!“ Was meinte er damit? Rabbi Jeremias sagte, die Tora sei bereits auf dem Berge Sinai gegeben worden und wir schenkten einer himmlischen Stimme daher keine Beachtung mehr, da Du schon vor langer Zeit in der Tora am Berge Sinai geschrieben hast, dass man sich der Mehrheit beugen muss. Rabbi Nathan traf den Propheten Elija und fragte ihn: „Was hat der Heilige, gepriesen sei er, zu jener Stunde getan?“ „Er lachte“ (vor Freude), erwiderte er, „und sagte: Meine Söhne haben mich besiegt, meine Söhne haben mich besiegt“. (Talmud, Baba Metzia 59b.)

Die Geschichte bedarf kaum eines Kommentars. Sie verkündet die Autonomie der menschlichen Vernunft, gegen die selbst übernatürliche Stimmen vom Himmel nicht aufkommen. Gott lächelt, denn der Mensch hat getan, was Gott von ihm erwartete, er ist sein eigener Herr geworden, fähig und entschlossen, seine Entscheidungen selbst nach rationalen, demokratischen Methoden zu treffen.

Derselbe humanistische Geist kann in vielen Geschichten des chassidischen Lebens aus der Zeit mehr als tausend Jahre später gefunden werden. Die chassidische Bewegung war eine rebellische Auflehnung der Armen gegen die, welche ein Monopol der Gelehrsamkeit oder des Geldes besaßen. Ihr Motto war der Psalmvers: „Dienet dem Herrn mit Freude!“ (Ps 100,2). Sie betonten mehr das Fühlen als die intellektuellen Fähigkeiten, mehr die Freude als die Zerknirschung. Für sie war (wie für Spinoza) Freude gleichbedeutend mit Tugend, Trauer gleichbedeutend mit Sünde. Die nachfolgende Geschichte ist charakteristisch für den humanistischen und antiautoritären Geist dieser religiösen Sekte:

Ein armer Schneider kam am Tage nach dem Versöhnungsfest zu einem chassidischen Rabbi und sagte zu ihm:

Gestern hatte ich eine Auseinandersetzung mit Gott. Ich sagte ihm: „O Gott, du hast Sünden begangen und ich habe gesündigt. Aber du hast große Sünden begangen und ich nur solche von geringer Bedeutung. Was hast du getan? Du hast Mütter von ihren Kindern getrennt und hast zugelassen, dass Menschen verhungerten. Was habe ich getan? Ich habe manchmal einem Kunden ein Stück Tuch nicht zurückgegeben und habe es mit der Beachtung des Gesetzes nicht genaugenommen. Aber ich will dir etwas sagen, Gott. Ich will dir deine Sünden vergeben und du mir die meinen. Dann sind wir quitt.“ Worauf der Rabbi erwiderte: „Du Narr! Warum ließest du ihn so leichten Kaufes davonkommen? Gestern hättest du ihn zwingen können, den Messias zu senden.“ [VI-255]

Die Geschichte demonstriert noch drastischer als Abrahams Verhandlung mit Gott den Gedanken, dass Gott seine Versprechungen zu erfüllen habe, genauso gut wie der Mensch die seinen. Wenn Gott versäumt, den Leiden der Menschen ein Ende zu setzen, wie er versprochen hat, dann hat der Mensch das Recht, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, ja sogar ihn zur Erfüllung seines Versprechens zu zwingen. Die zwei angeführten Geschichten bewegen sich zwar im Bezugsrahmen der monotheistischen Religion, aber die dahinterstehende menschliche Haltung unterscheidet sich tief von derjenigen, die hinter Abrahams Bereitschaft steht, Isaak zu opfern, oder von Calvins Verherrlichung der diktatorischen Macht Gottes.

Dass das Frühchristentum humanistisch und nicht autoritär war, geht deutlich aus dem Geist und dem Wortlaut aller Lehren Jesu hervor. Seine Richtschnur: „Das Reich Gottes ist in euch“ (Lk 17,21), ist der einfache und klare Ausdruck eines nicht-autoritären Denkens. Aber nur wenige Jahrhunderte später, als das Christentum aufgehört hatte, die Religion der Armen und der einfachen Bauern, Handwerker und Sklaven (der am haarez) zu sein und die Religion der Machthaber im Römischen Reich geworden war, wurde die autoritäre Strömung im Christentum vorherrschend. Trotzdem hat der Konflikt zwischen den autoritären und den humanistischen Prinzipien des Christentums nie aufgehört. Er drückt sich aus in dem Konflikt zwischen Augustin und Pelagius, zwischen der katholischen Kirche und vielen „häretischen“ Gruppen und zwischen verschiedenen Sekten des Protestantismus. Das humanistische, demokratische Element ist in der christlichen oder der jüdischen Geschichte nie ganz unterdrückt worden, und hat eine seiner wirkmächtigsten Ausdrucksformen im mystischen Denken beider Religionen gefunden. Die Mystiker waren tief durchdrungen von der Erfahrung der Stärke des Menschen, seiner Gottebenbildlichkeit mit dem Gedanken, dass Gott des Menschen ebenso sehr bedürfe wie der Mensch Gottes. Sie haben den Satz, der Mensch sei zum Ebenbilde Gottes erschaffen worden, so verstanden, dass er eine grundsätzliche Identität von Mensch und Gott bedeute. Nicht Furcht und Unterwerfung, sondern Liebe und Bejahung der eigenen Kräfte sind die Grundlagen der mystischen Erfahrung. Gott ist nicht ein Symbol der Macht über den Menschen, sondern der eigenen Kräfte des Menschen.

Bisher haben wir die unterschiedlichen Züge der autoritären und der humanistischen Religion nur beschreibend behandelt. Doch muss der Psychoanalytiker von der bloßen Beschreibung von Haltungen zur Analyse ihrer Dynamik übergehen, und hierfür kann er zu unserer Erörterung einen Beitrag aus einem Blickfeld leisten, das von anderen Bereichen der Forschung her nicht zugänglich ist. Zum vollen Verständnis einer Haltung ist ein Abwägen der bewussten und vor allem der unbewussten Vorgänge nötig, die im Individuum stattfinden und auf die Notwendigkeit seiner Entwicklung und deren Bedingungen weisen.

Während Gott in einer humanistischen Religion das Bild des höheren Selbst des Menschen ist, ein Symbol dessen, was der Mensch potenziell ist oder werden sollte, wird er in einer autoritären Religion zum einzigen Besitzer dessen, was ursprünglich dem Menschen gehörte: seiner Vernunft und seiner Liebe. Je vollkommener Gott wird, desto unvollkommener wird der Mensch. Er projiziert das Beste, was er hat, auf Gott und schwächt sich auf diese Weise selbst. Nunmehr ist alle Liebe, alle [VI-256] Weisheit, alle Gerechtigkeit bei Gott, und der Mensch ist dieser Eigenschaften beraubt, ist leer und arm. Er hatte mit einem Gefühl der Kleinheit begonnen, nun aber ist er völlig ohnmächtig und schwach. Alle seine Kräfte hat er auf Gott übertragen. Dieser Mechanismus der Projektion ist genau derselbe, der bei zwischenmenschlichen Beziehungen von masochistischer, unterwürfiger Eigenart beobachtet werden kann, wo eine Person die andere vergötzt und ihr die eigenen Kräfte und Strebungen zuschreibt. Es ist der gleiche Mechanismus, mit dem Völker ihre Führer oder sogar die inhumansten Systeme mit den Eigenschaften großer Weisheit und Güte ausstatten.[19] Wenn der Mensch so seine wertvollsten Eigenschaften auf Gott projiziert hat, wie steht es dann um seine Beziehung zu seinen eigenen Kräften? Sie sind von ihm losgelöst, und in diesem Prozess ist er sich selbst entfremdet worden. Alles an ihm gehört jetzt Gott, und ihm ist nichts geblieben. Sein einziger Zugang zu sich selbst geht durch Gott. In der Anbetung Gottes sucht er mit dem Teil seiner selbst in Berührung zu kommen, den er durch die Projektion verloren hat. Nachdem er Gott alles, was sein war, gegeben hat, betet er zu ihm, er möge ihm etwas von dem zurückgeben, was ihm ursprünglich zu eigen war. Da er dies aber preisgegeben hat, ist er ganz und gar auf Gottes Gnade angewiesen. Er muss sich notwendig wie ein „Sünder“ vorkommen, da er sich selbst all dessen, was gut ist, beraubt hat, und nur durch Gottes Erbarmen oder Gnade kann er das zurückerhalten, was allein ihn menschlich macht. Um Gott zu bewegen, dass er ihn seiner Liebe teilhaftig werden lässt, muss er ihm beweisen, wie sehr er der Liebe entbehrt; damit Gott ihn mit seiner überlegenen Weisheit leite, hat er zu gestehen, wie bar aller Weisheit er ist, wenn er sich selbst überlassen ist.

Diese Entfremdung von seinen eigenen Kräften gibt ihm jedoch nicht nur das Gefühl sklavischer Abhängigkeit von Gott; sie macht ihn sogar schlecht. Er wird ein Wesen ohne Glauben an seinen Mitmenschen oder an sich selbst, ohne Erfahrung seiner eigenen Liebeskraft und seines eigenen Vernunftvermögens. Die Folge ist die Trennung zwischen dem „Heiligen“ und dem „Weltlichen“. In seinem weltlichen Tun handelt der Mensch ohne Liebe; in jenem Bezirk seines Lebens, der der Religion vorbehalten ist, fühlt er sich als Sünder (der er auch ist, denn ohne Liebe leben heißt in Sünde leben) und versucht, etwas von seiner verlorenen Menschlichkeit durch die Gottesbeziehung zurückzugewinnen. Gleichzeitig müht er sich um Vergebung, indem er seine eigene Hilflosigkeit und Unwürdigkeit bekennt. So artet sein Bestreben, Vergebung zu erwerben, gerade in jene Haltung aus, aus der die Sünde stammt. Er ist in ein schmerzliches Dilemma geraten. Je mehr er Gott preist, desto leerer wird er. Je leerer er wird, desto sündiger fühlt er sich. Und je sündiger er sich fühlt, desto mehr preist er seinen Gott - und desto weniger ist er imstande, zu sich selbst zurückzufinden.

Die Analyse der Religion darf nicht dabei stehenbleiben, dass sie die psychologischen Prozesse im Menschen aufdeckt, die seiner religiösen Erfahrung zugrunde liegen; sie hat die Aufgabe, die Voraussetzungen zu entdecken, die zur Entwicklung entweder einer autoritären oder einer humanistischen Charakterstruktur führen, aus der wiederum je verschiedene Arten religiöser Erfahrung herrühren. Eine solche sozio-psychologische Analyse würde weit über den Rahmen dieser Kapitel hinausgehen. [VI-257] Jedoch kann der Hauptpunkt kurz dargelegt werden. Was die Menschen denken und fühlen, hat seine Wurzeln in ihrer Charakterstruktur, und dieser Charakter wird geprägt durch die gesamte Struktur ihrer Lebenspraxis - genauer gesagt, durch die sozio-ökonomische und politische Struktur ihrer Gesellschaft. In Gesellschaftsformen, wo eine Minorität die Macht in Händen und die Massen in Unterwerfung hält, wird das Individuum so von Furcht erfüllt sein, so unfähig, sich stark und unabhängig zu fühlen, dass seine religiöse Erfahrung autoritärer Natur sein wird. Ob er einen strafenden, ehrfurchtgebietenden Gott anbetet, oder einen Führer solcher Prägung, spielt dabei fast keine Rolle. Wo sich hingegen das Individuum frei und für sein eigenes Schicksal verantwortlich fühlt oder innerhalb einer Minorität für Freiheit und Unabhängigkeit kämpft, entwickelt sich eine religiöse Erfahrung humanistischer Art. Die Religionsgeschichte liefert viele Beispiele dieser Wechselbeziehung zwischen der Gesellschaftsstruktur und den Arten religiöser Erfahrung. Das Frühchristentum war eine Religion der Armen und Unterdrückten; die Geschichte religiöser Sekten, die gegen autoritären politischen Druck kämpften, zeigt diesen Zusammenhang immer wieder auf. Im Judentum, in dem eine strenge, antiautoritäre Tradition Gestalt gewinnen konnte, weil die weltliche Autorität niemals eine große Chance hatte, Macht auszuüben und eine Legende von ihrer Weisheit entstehen zu lassen, konnte sich deshalb der humanistische Aspekt der Religion bis zu einem beachtlichen Maß entwickeln. Wo jedoch die Religion sich mit der weltlichen Macht verbündete, musste sie notwendigerweise autoritär werden. Der wahre Sündenfall des Menschen ist seine Entfremdung von sich selbst, seine Unterwerfung unter die Macht, seine Wendung gegen sich selber - auch wenn sie als Verehrung Gottes verkleidet war.

Dem Geist autoritärer Religion entstammen zwei trügerische Vernunftschlüsse, die immer wieder als Argumente für eine theistische Religion benutzt worden sind. Der eine Gedankengang lautet so: Wie kann man die Betonung der Abhängigkeit des Menschen von einer jenseitigen Macht kritisieren? Hängt der Mensch nicht von Kräften außer ihm ab, die er nicht verstehen, noch viel weniger beherrschen kann?

In der Tat, der Mensch ist abhängig; er bleibt dem Tode, dem Alter, der Krankheit unterworfen, und selbst wenn er die Natur beherrschen und sie sich ganz und gar dienstbar machen könnte, sind er und seine Erde doch winzige Pünktchen im Universum. Aber es ist eine Sache, die eigene Abhängigkeit und seine Grenzen anzuerkennen, und es ist etwas völlig anderes, sich dieser Abhängigkeit hinzugeben und jene Mächte anzubeten, von denen man abhängt. Realistisch und nüchtern einsehen, wie begrenzt unsere Macht ist, bedeutet ein wesentliches Kennzeichen von Weisheit und Reife. Dieses Schicksal anzubeten, ist masochistisch und selbstzerstörerisch. Das eine bedeutet Demut, das andere Selbstdemütigung.

Wir können den Unterschied zwischen realistischer Anerkennung unserer Grenzen und der Hingabe an die Erfahrung der Unterwerfung und Ohnmacht an der klinischen Untersuchung masochistischer Charakterzüge studieren. Es gibt Menschen mit der Tendenz, in Krankheiten, Unfälle, demütigende Situationen zu verfallen, sich selbst klein und schwach zu machen. Sie glauben, gegen ihren Willen und ihre Absicht in solche Situationen zu geraten, doch das Studium ihrer unbewussten Motive zeigt, dass sie in Wirklichkeit einer der irrationalsten Tendenzen, die beim Menschen [VI-258] gefunden werden können, unterliegen, nämlich dem unbewussten Wunsche, schwach und machtlos zu sein. Sie streben danach, das Zentrum ihres Lebens auf Mächte zu verschieben, über die sie keine Gewalt zu haben glauben, und weichen damit der Freiheit und der persönlichen Verantwortung aus. Wir finden ferner, dass diese masochistische Tendenz gewöhnlich genau von ihrem Gegenteil begleitet ist, das heißt von einer Tendenz, andere zu reglementieren und zu beherrschen, und dass die masochistischen und die herrschsüchtigen Tendenzen die beiden Seiten der autoritären Charakterstruktur ausmachen.[20] Solche masochistischen Tendenzen sind nicht immer unbewusst. Wir finden sie offenkundig in der sexuellen masochistischen Perversion, wo die Erfüllung des Wunsches, verletzt und gedemütigt zu werden, die Bedingung für sexuelle Erregung und Befriedigung ist. Wir finden dasselbe in der Beziehung zum Führer und zum Staat in allen autoritären weltlichen Religionen. Hier ist das erklärte Ziel, den eigenen Willen aufzugeben und die Unterwerfung unter den Führer oder den Staat als etwas sehr Lohnenswertes zu erfahren.

Ein anderer Trugschluss theologischen Denkens ist dem der Abhängigkeit nahe verwandt. Ich meine das Argument, es müsse eine Macht oder ein Wesen außerhalb des Menschen geben, weil wir glauben, der Mensch habe ein unausrottbares Verlangen, sich zu etwas, was jenseits von ihm ist, in Beziehung zu setzen. Tatsächlich hat jedes gesunde menschliche Wesen das Bedürfnis, sich mit anderen in Beziehung zu setzen; wer diese Fähigkeit völlig verloren hat, ist geisteskrank. Kein Wunder, dass der Mensch sich Gestalten außerhalb seiner selbst geschaffen hat, zu denen er sich in Beziehung setzt, die er liebt und hochhält, weil sie den Schwankungen und Unzuverlässigkeiten menschlicher Objekte nicht ausgesetzt sind. Dass Gott ein Symbol ist für des Menschen Bedürfnis nach Liebe, dürfte leicht zu verstehen sein. Aber folgt aus dem Vorhandensein und der Stärke dieses menschlichen Bedürfnisses, dass ein jenseitiges Wesen existiert, dass diesem Bedürfnis entspricht? Offensichtlich kann dies ebenso wenig daraus gefolgert werden wie unser noch so starker Wunsch, jemanden zu lieben, beweisen würde, dass jemand da ist, in den wir verliebt sind. Alles, was damit bewiesen wird, ist unser Bedürfnis und vielleicht unsere Fähigkeit zu lieben.

In diesem Kapitel habe ich versucht, verschiedene Aspekte der Religion zu analysieren. Ich hätte es mit der Erörterung eines allgemeinen Problems beginnen können, und zwar mit der psychoanalytischen Deutung von Gedankensystemen religiöser, philosophischer und politischer Art. Aber ich glaube, dass es für den Leser nützlicher ist, dieses allgemeine Problem zu betrachten, nachdem die Untersuchung der besonderen Fragestellungen einen konkreteren Ausgangspunkt ermöglicht hat.

Zu den wichtigsten Forschungsergebnissen der Psychoanalyse gehören diejenigen, die sich auf die Gültigkeit von Gedanken und Ideen beziehen. Bei den traditionellen Theorien nahm man für die Erforschung des menschlichen Denkens sich selbst als Ausgangspunkt. Man nahm an, die Menschen hätten Kriege begonnen, weil ihr Einsatz für Ehre, Patriotismus, Freiheit sie dazu angetrieben habe - denn sie selber dachten, dass es bei ihnen so sei. Eltern, meinte man, straften ihre Kinder aus Pflichtgefühl und Sorge für sie - weil sie von sich so dachten. Das Verlangen nach Gottgefälligkeit, hieß es, habe Menschen veranlasst, Ungläubige zu töten - weil sie selbst davon überzeugt waren. Allmählich brach sich eine neue Einstellung gegenüber dem [VI-259] menschlichen Denken Bahn, deren erste Äußerung der Ausspruch Spinozas war: „Was Paul über Peter sagt, verrät uns mehr von Paul als von Peter.“ Gemäß dieser Einstellung interessiert uns an Pauls Äußerung nicht, was er meint, dass uns interessieren würde, nämlich eine Äußerung über Peter; vielmehr fassen wir sie auf als eine Aussage Pauls über sich selbst. Wir behaupten, dass wir Paul besser kennen als er sich selbst; wir vermögen seine Gedanken zu enträtseln, weil wir nicht voreingenommen sind von dem Umstand, dass er uns nur etwas über Peter mitteilen will. Wir lauschen, wie Theodor Reik es ausgedrückt hat, mit einem „dritten Ohr“. Spinozas Äußerung enthält einen wesentlichen Punkt von Freuds Theorie vom Menschen: dass viel von dem, worauf es ankommt, hinter unserem Rücken vor sich geht und dass unsere bewussten Gedanken nur eine Gegebenheit unter anderen sind, die nicht mehr Bedeutung haben als die übrigen Züge unseres Verhaltens; oft sogar weniger.

Bedeutet diese dynamische Theorie vom Menschen, dass Vernunft, Denken und Bewusstsein keinerlei Bedeutung haben und außer acht gelassen werden sollten? In verständlicher Reaktion gegenüber der traditionellen Überschätzung des Denkens hatten manche Psychoanalytiker die Tendenz, hinsichtlich jeder Art von Denksystemen skeptisch zu sein. Sie interpretieren sie lediglich als Rationalisierung von Impulsen und Wünschen, anstatt sie in Begriffen ihres eigenen logischen Bezugsrahmens zu betrachten. Ihre Skepsis galt besonders allen religiösen und philosophischen Behauptungen, und sie waren geneigt, diese als Zwangsdenken aufzufassen, die als solche nicht ernst genommen werden dürfen. Diese Einstellung müssen wir als einen Irrtum bezeichnen, nicht nur von einem philosophischen Standpunkt aus, sondern vom Standpunkt der Psychoanalyse selbst, denn die Psychoanalyse hat, während sie Rationalisierungen entlarvt, die Vernunft selbst zum Mittel gemacht, mit dem wir solche kritischen Analysen von Rationalisierungen erreichen können.

Die Psychoanalyse hat die Zweideutigkeit unserer Denkprozesse aufgezeigt. Die Macht der Rationalisierung, diese Fälschung der Vernunft, ist in der Tat eine der verblüffendsten menschlichen Erscheinungen. Wären wir nicht so sehr daran gewöhnt, so würden uns die menschlichen Anstrengungen zur Rationalisierung paranoid vorkommen. Eine paranoide Person kann sehr intelligent sein, sie kann auf allen Lebensgebieten ausgezeichneten Gebrauch von der Vernunft machen, außer in jenem abgegrenzten Teil, in dem sich ihr paranoides System äußert. Wer künstlich rationalisiert, verhält sich ebenso. Wir sprechen mit einem intelligenten Stalinisten, der in vielen Denkbereichen eine große Fähigkeit zeigt, von seiner Vernunft Gebrauch zu machen. Wollen wir jedoch mit ihm über Stalinismus reden, so sehen wir uns plötzlich einem geschlossenen Gedankengebäude gegenüber, dessen einzige Aufgabe ist, zu beweisen, dass seine Anhänglichkeit an den Stalinismus mit der Vernunft in Übereinstimmung steht und ihr keineswegs zuwiderläuft. Er wird gewisse offenkundige Tatsachen leugnen, andere verdrehen oder, sofern er Fakten und Feststellungen zugibt, seine Einstellung als logisch und folgerichtig erklären. Er mag sogar sagen, der faschistische Kult des Führers sei einer der verwerflichsten Züge eines autoritären Systems, der stalinistische Führerkult hingegen sei etwas ganz anderes, nämlich der echte Ausdruck der Liebe des Volkes zu Stalin. Wenn wir ihm entgegenhalten, die Nazis hätten dasselbe behauptet, wird er über unseren Mangel an [VI-260] Unterscheidungsvermögen großzügig lächeln oder uns beschuldigen, die Lakaien des Kapitalismus zu sein. Er wird tausend Gründe finden, warum der russische Nationalismus kein Nationalismus ist, warum das autoritäre System Demokratie bedeutet und warum Sklavenarbeit geeignet ist, asoziale Elemente zu erziehen und zu bessern. Die üblichen Argumente zur Verteidigung oder Erklärung der Taten der Inquisition oder rassischer oder sexueller Vorurteile sind Illustrationen derselben Fähigkeit zur Rationalisierung.

Das Ausmaß, in dem der Mensch sein Denkvermögen benutzt, um irrationale Leidenschaften zu rationalisieren und die Handlungsweise seiner Gruppe zu rechtfertigen, zeigt uns, wie weit der Weg noch ist, den der Mensch zurückzulegen hat, um ein homo sapiens zu werden. Aber wir haben über die Erkenntnis der Rationalisierungen hinauszugehen. Wir müssen die Gründe dieser Erscheinung zu verstehen suchen, damit wir nicht in den Irrtum verfallen, die Bereitschaft des Menschen zu Rationalisierungen dieser Art sei ein Teil der „menschlichen Natur“ und darum unabänderlich.

Ursprünglich ist der Mensch ein Herdentier. Seine Handlungen bestimmt ein instinktiver Impuls, dem Führer zu folgen und mit seinesgleichen engen Kontakt zu haben. Soweit wir „Schafs-Naturen“ sind, gibt es keine größere Bedrohung unserer Existenz als den Verlust des Kontakts mit der Herde und die daraus folgende Isolierung. Was recht und unrecht, wahr und falsch ist, entscheidet die Herde. Aber wir sind nicht nur „Schafe“. Wir sind auch Menschen. Wir sind ausgestattet mit dem Bewusstsein unserer selbst und mit Vernunft, die ihrer Natur nach von der Herde unabhängig ist. Unsere Handlungen können von den Ergebnissen unseres Vernunftdenkens bestimmt werden, einerlei ob die von uns gefundene Wahrheit von anderen geteilt wird oder nicht. Die Kluft zwischen unserer „Schafs-Natur“ und unserer menschlichen Natur bildet die Grundlage für zwei verschiedene Orientierungsarten: die Orientierung, der Herde möglichst nahe zu sein, und die Orientierung mit Hilfe der Vernunft.

Die Rationalisierung ist ein Kompromiss zwischen unserer „Schafs-Natur“ und unserer menschlichen Fähigkeit zu denken. Die Vernunft zwingt uns, anzunehmen, dass alles, was wir tun, der Prüfung der Vernunft standhält, und darum wünschen wir uns den Anschein zu geben, dass unsere irrationalen Meinungen und Entscheidungen vernünftig sind. Soweit wir jedoch „Schafe“ sind, ist die Vernunft in Wahrheit nicht unser Führer. Wir lassen uns von einem ganz anderen Prinzip leiten: von unserer Zugehörigkeit zur Herde.

Die Zweideutigkeit des Denkens, der Widerspruch zwischen der Vernunft und einem rationalisierenden Intellekt, ist der Ausdruck für einen fundamentalen Widerspruch im Menschen, das zugleich dringliche Bedürfnis nach Bindung und nach Freiheit. Die Entfaltung und volle Reifung der Vernunft hängt ab von der Erlangung völliger Freiheit und Unabhängigkeit. Bis er beides erworben hat, wird der Mensch dazu neigen, das für wahr zu halten, was die Mehrheit seiner Gruppe als Wahrheit wahrhaben will. Sein Urteil ist bestimmt von seinem Bedürfnis nach Kontakt mit der Herde und von seiner Furcht, von ihr isoliert zu werden. Einige wenige Individuen sind imstande, diese Isolierung trotz der Gefahr, den Kontakt zu verlieren, auszuhalten und die Wahrheit zu sagen. Sie sind die wahren Helden des Menschengeschlechts, ohne die [VI-261] wir noch Höhlenbewohner wären. Doch für die große Mehrheit der Menschen, die keine Helden sind, hängt die Entfaltung der Vernunft ab von der Herausbildung einer Gesellschaftsform, in der jedes Individuum voll respektiert und nicht zum Werkzeug des Staates oder einer anderen Gruppe gemacht wird; einer Gesellschaftsordnung, in der niemand sich fürchten muss, Kritik zu üben, und in der die Auseinandersetzung mit der Wahrheit den Menschen nicht von seinen Brüdern trennt, sondern ihn tiefer mit ihnen verbindet. Daraus folgt, dass der Mensch seine volle Fähigkeit zur Objektivität und Vernunft erst erreichen kann, wenn - über alle Besonderheiten und Verschiedenheiten des Menschengeschlechts hinweg - eine Gesellschaftsordnung gebildet ist, in der die Loyalität mit der menschlichen Rasse und ihren Idealen als oberste Treueverpflichtung angesehen wird.

Das sorgfältige Studium des Vorgangs der Rationalisierung ist vielleicht der bedeutsamste Beitrag der Psychoanalyse zum Fortschritt der Menschheit. Es hat der Wahrheit eine neue Dimension eröffnet, indem es zeigte, dass der aufrichtige Glaube an die Richtigkeit einer Aussage allein noch keine Gewähr für deren Wahrheitsgehalt bietet und dass wir einzig durch Verstehen der unbewussten Vorgänge im Innern des Menschen zu erfahren vermögen, ob er rationalisiert oder die Wahrheit spricht.[21]

Die psychoanalytische Betrachtung von Denkvorgängen beschäftigt sich nicht allein mit solchen Gedanken, mit denen durch Rationalisierung die wahren Motive verkehrt oder verborgen werden sollen. Sie hat es auch mit solchen Gedankengängen zu tun, die in einem anderen Sinn unwahr sind, weil sie nicht das Gewicht und die Bedeutung haben, welche diejenigen, die sie aussprechen, ihnen zuschreiben. Ein Gedanke kann eine leere Hülse sein, weiter nichts als eine Meinung, die man angenommen hat, weil sie dem Denkschema der Kultur entspricht und leicht nachgesprochen, aber ebenso leicht abgeworfen wird, wenn die öffentliche Meinung sich ändert. Andererseits kann ein Gedanke der Ausdruck des Gefühls und der wirklichen Überzeugungen eines Menschen sein. In diesem Fall ist er in der ganzen Persönlichkeit verwurzelt und hat eine emotionale Matrix.[22] Nur so verwurzelte Gedanken bestimmen nachhaltig die Handlungen eines Menschen.

Ein kürzlich erschienener Bericht veranschaulicht dies gut. (Vgl. Negro Digest, 1945.) Zwei Fragen wurden jeweils an Weiße im Norden und Weiße im Süden der Vereinigten Staaten gestellt: (1) Sind alle Menschen ebenbürtig geschaffen? (2) Sind die Neger den Weißen ebenbürtig? Sogar im Süden beantworteten 61 Prozent die erste Frage bejahend, aber nur 4 Prozent auch die zweite. (Im Norden waren die entsprechenden Zahlen 79 Prozent und 21 Prozent.) Wer nur die erste Frage bejahte, erinnerte sich zweifellos daran, dies einmal in der Schule gelernt zu haben, und hatte es [VI-262] im Gedächtnis behalten, weil es zu einer allgemein anerkannten, respektablen Ideologie gehört; aber es hatte keinerlei Beziehung zu seinem wirklichen Gefühl. Es existierte sozusagen nur in seinem Kopf, ohne jede Verbindung zu seinem Herzen, und war darum ohne Einfluss auf seine aktive Stellungnahme. Dasselbe gilt für eine große Anzahl von anerkannten Ideen. Eine heute unternommene Umfrage in den Vereinigten Staaten würde beinahe vollständige Einstimmigkeit darüber ergeben, dass die Demokratie die beste Regierungsform sei. Aber ein solches Ergebnis würde keineswegs beweisen, dass alle, die sich zugunsten der Demokratie geäußert haben, auch bereit wären, für sie zu kämpfen, wenn sie bedroht wäre. Selbst diejenigen, die im Stillen autoritär gesinnt sind, würden demokratische Ansichten äußern, solange die Mehrheit es tut.

Jede Idee hat nur dann Kraft, wenn sie in der Charakterstruktur des Menschen begründet ist. Keine Idee ist stärker als ihre emotionale Matrix. Darum strebt die psychoanalytische Einschätzung der Religion danach, die menschliche Realität, die hinter Denksystemen steht, zu verstehen. Sie fragt, ob ein Gedankengebäude wirklich das Gefühl ausdrückt, das es wiederzugeben scheint, oder ob es sich um eine Rationalisierung handelt, hinter der sich die entgegengesetzte Haltung verbirgt. Ferner fragt sie, ob das Gedankensystem auf einer tragfähigen emotionalen Matrix erwachsen oder nur eine leere Meinung ist.

Zwar ist es verhältnismäßig leicht, das Prinzip dieser Behandlung des Problems zu beschreiben; hingegen ist die Analyse eines jeden Denksystems außerordentlich schwierig. Der Analytiker, welcher versucht, die menschliche Realität hinter einem Denksystem zu erforschen, muss zuerst das System als Ganzes betrachten. Die Bedeutung eines einzelnen Teils eines philosophischen oder religiösen Systems kann nur innerhalb des gesamten Systemzusammenhangs ermessen werden. Wird ein Teil von seinem Kontext isoliert, ist jeder willkürlichen Fehlinterpretation Tür und Tor geöffnet. Bei der gründlichen Untersuchung eines Systems als Ganzem ist es von besonderer Wichtigkeit, auf alle Unstimmigkeiten oder Widersprüche innerhalb desselben zu achten. Diese weisen gewöhnlich auf Diskrepanzen der bewusst vertretenen Meinung und des zugrunde liegenden Gefühlsmoments. Calvins Lehre von der Prädestination zum Beispiel, wonach die Entscheidung darüber, ob ein Mensch erlöst werden oder zu ewiger Verdammnis verurteilt sein soll, vor seiner Geburt getroffen sei, ohne dass er imstande wäre, sein Schicksal zu ändern, ist ein schreiender Widerspruch zur Idee der Liebe Gottes. Der Psychoanalytiker muss die Persönlichkeit und die Charakterstruktur jener erforschen, die sich zu bestimmten Denksystemen bekennen, egal, ob es sich um einzelne Menschen oder um Gruppen handelt. Er wird nach der Übereinstimmung von Charakterstruktur und geäußerter Meinung fragen und das Denksystem anhand jener unbewussten Kräfte interpretieren, die sich aus kleinsten Details des manifesten Verhaltens erschließen lassen. Er findet zum Beispiel, dass die Art und Weise, wie ein Mensch sich zu seinem Nachbarn stellt oder wie er zu einem Kinde spricht, oder wie er isst, geht oder die Hand reicht, oder wie eine Gruppe sich zu einer Minderheit verhält, den Glauben und die Liebe besser ausdrückt als irgendein Glaubensbekenntnis. Aus dem Studium von Denksystemen im Zusammenhang mit der Charakterstruktur wird er versuchen, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob und [VI-263] bis zu welchem Grad das Denksystem eine Rationalisierung bedeutet und wie groß das Gewicht des Denksystems ist.

Wenn der Psychoanalytiker sich an erster Stelle für die menschliche Realität hinter religiösen Doktrinen interessiert, wird er die gleiche Realität hinter verschiedenen Religionen entdecken und entgegengesetzte menschliche Haltungen innerhalb der gleichen Religion. So ist die menschliche Realität, die den Lehren Buddhas, Jesajas, Christi, Sokrates’ oder Spinozas zugrunde liegt, dem Wesen nach die gleiche. Sie ist bestimmt vom Streben nach Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit. Die menschliche Realität hinter Calvins theologischem System und diejenige hinter autoritären politischen Systemen sind sich ebenfalls sehr ähnlich. Es ist der Geist der Unterwerfung unter die Macht und der Mangel an Liebe und Achtung vor dem Individuum.

So wie elterliche, bewusst empfundene oder ausgedrückte Sorge für ein Kind ein Zeichen von Liebe sein kann oder den Wunsch nach Kontrolle und Beherrschung ausdrückt, so kann ein religiöses Bekenntnis der Ausdruck entgegengesetzter menschlicher Haltungen sein. Wir verwerfen das Bekenntnis nicht, aber wir betrachten es perspektivisch in dem Sinn, dass die dahinterstehende menschliche Realität die dritte Dimension liefert. Insbesondere im Hinblick auf die Aufrichtigkeit des Postulats der Liebe bleiben die Worte wahr: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Mt 7,16.20). Wenn religiöse Lehren zum seelischen Wachstum, zur Stärke, Freiheit und Glücksfähigkeit ihrer Gläubigen beitragen, erkennen wir die Früchte der Liebe. Wenn sie die Einengung menschlicher Möglichkeiten, Unglücklichsein und Mangel an Produktivität zur Folge haben, können sie nicht aus der Liebe geboren sein, gleichgültig, was das Dogma zu vermitteln vorgibt.

4. Der Psychoanalytiker als „Seelenarzt“

Es gibt heute eine Reihe verschiedener psychoanalytischer Richtungen, von den mehr oder weniger strengen Anhängern von Freuds Theorie bis zu den „Revisionisten“, die untereinander wieder verschieden sind, je nach dem Maße, in dem sie die Auffassungen Freuds abgewandelt haben. (Vgl. C. Thompson und P. Mullahy, 1950; P. Mullahy, 1948.) Für unseren Zweck jedoch sind diese Unterschiede von geringerer Bedeutung als der Unterschied zwischen einer Psychoanalyse, deren Ziel an erster Stelle die gesellschaftliche Anpassung ist, und einer anderen Richtung, der es um die „Kur der Seele“, um Seel-Sorge geht.[23]

In ihrem ersten Stadium war die Psychoanalyse ein Zweig der Medizin, und ihr Ziel war die Heilung von Krankheiten. Die Patienten, die zum Psychoanalytiker kamen, litten an Symptomen, die sie in ihrer täglichen Lebensführung behinderten. Diese Symptome drückten sich aus in Zwangsritualen, zwanghaftem Denken, Phobien, paranoiden Denksystemen und so fort. Der einzige Unterschied zwischen diesen Patienten und jenen, die zu gewöhnlichen Ärzten gingen, lag darin, dass die Ursachen ihrer Symptome nicht im Körper, sondern in der Seele zu suchen waren, und sich die Therapie deshalb nicht mit somatischen, sondern mit psychischen Erscheinungen befasste. Doch unterschied sich das Ziel der psychoanalytischen Heilmethode nicht von dem der allgemeinen Medizin: Es ging um die Beseitigung des Symptoms. Wenn der Patient von psychisch bedingtem Erbrechen oder Husten befreit war, oder von Zwangshandlungen oder zwanghaftem Denken, wurde er für geheilt gehalten.

Im Laufe ihrer Arbeit wurde es Freud und seinen Mitarbeitern in zunehmendem Maße bewusst, dass das Symptom nur das auffälligste und sozusagen dramatische Merkmal einer neurotischen Störung war und dass man, um dem Patienten dauernde und nicht nur symptomatische Erleichterung zu verschaffen, seinen Charakter analysieren und ihm bei der Neuorientierung des Charakters behilflich sein musste. Diese Entwicklung wurde durch eine neue Einstellung der Patienten gefördert. Viele [VI-265] Menschen, die den Psychoanalytiker aufsuchten, waren nicht krank im üblichen Sinne des Wortes und wiesen keine der oben erwähnten äußeren Symptome auf. Ebenso wenig waren sie geisteskrank. Häufig galten sie auch bei ihren Verwandten und Freunden als nicht krank; und doch litten sie an „Lebensschwierigkeiten“ (difficulties in living) - um Harry Stack Sullivans Formulierung des psychiatrischen Problems zu gebrauchen -, die sie veranlassten, psychoanalytische Hilfe zu suchen. Natürlich waren solche Lebensschwierigkeiten nichts Neues. Immer hat es Menschen gegeben, die sich unsicher oder minderwertig fühlen, die in ihren Ehen kein Glück finden können, Schwierigkeiten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und keine Freude an ihrer Arbeit haben, die sich unmäßig vor anderen fürchten und so fort. Sie hätten Hilfe bei einem Geistlichen, einem Freund, einem Philosophen suchen oder sich mit ihren Leiden „abfinden“ können, ohne nach Hilfe irgendwelcher Art zu verlangen. Das Neue war, dass Freud und seine Schule zum ersten Mal eine umfassende Theorie des Charakters boten - eine Erklärung für die Lebensschwierigkeiten, sofern diese in der Charakterstruktur wurzeln, und damit die Hoffnung auf einen Wandel. So kam es, dass die Psychoanalyse das Schwergewicht mehr und mehr anstatt auf die bloße Heilung der neurotischen Symptome auf die Behebung von Lebensschwierigkeiten legte, die dem neurotischen Charakter entstammen.

Wenn es nun verhältnismäßig einfach ist, zu bestimmen, welches das therapeutische Ziel in Fällen von hysterischem Erbrechen oder Zwangsdenken ist, so ist es weniger einfach, dieses Ziel in Fällen von Charakterneurose zu umreißen. Ja, es ist nicht einmal einfach, zu sagen, worunter der Kranke leidet.

Folgender Fall mag erklären, was mit dieser Feststellung gemeint ist.[24]

Ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren sucht den Psychoanalytiker auf. Er berichtet, dass er sich, seit er vor zwei Jahren das College absolviert hat, elend fühle. Er arbeitet in der Firma seines Vaters, doch ohne Freude; er ist Launen unterworfen, hat häufig scharfe Konflikte mit seinem Vater, und vor allem fühlt er sich unfähig, auch nur die kleinste Entscheidung zu treffen. Er sagt, all dies habe wenige Monate, bevor er das College verließ, begonnen. Er habe sich sehr für Physik interessiert, und sein Lehrer habe ihm eine bemerkenswerte Begabung für theoretische Physik bestätigt. Er hätte gerne weiterstudiert, um eine Laufbahn als Forscher einzuschlagen. Sein Vater, ein wohlhabender Geschäftsmann und Besitzer einer großen Fabrik, bestand jedoch darauf, der Sohn müsse in das Geschäft eintreten, ihm einen Teil der Last abnehmen und schließlich sein Nachfolger werden. Er begründete es damit, dass er keine anderen Kinder habe; er habe die Firma ganz allein aufgebaut, und der Arzt habe ihm geraten, weniger angestrengt zu arbeiten. Der Sohn wäre undankbar, erklärte er, wenn er unter diesen Umständen den Wunsch des Vaters nicht erfüllte. Das Ergebnis der väterlichen Versprechungen, Warnungen und Appelle an seine Treueverpflichtung war, dass der Sohn nachgegeben hatte und in die Firma eingetreten war. Dann begannen die oben erwähnten Schwierigkeiten. [VI-266]

Wo liegt in diesem Fall das Problem und wie muss die „Kur“ aussehen? Es gibt zwei Arten, die Situation zu bewerten. Man kann anführen, der Standpunkt des Vaters sei durchaus vernünftig. Der Sohn hätte ohne große Umstände dem Rat des Vaters folgen sollen und sei nur durch eine irrationale Auflehnung, einen tief verlagerten Widerstand gegen seinen Vater daran gehindert worden. Sein Wunsch, Physiker zu werden, entspringe nicht so sehr seinem Fachinteresse wie seinem Antagonismus gegen seinen Vater und seinem unbewussten Wunsch, dessen Erwartungen zu vereiteln. Obwohl er den Rat des Vaters befolgt habe, habe er doch nicht aufgehört, innerlich gegen ihn anzukämpfen, seit er nachgegeben habe. Seine Schwierigkeiten stammten aus diesem ungelösten Antagonismus. Wenn dieser durch Aufdecken der tiefliegenden Ursachen behoben werden könnte, so würde er keine Hemmungen mehr haben, Entschlüsse zu fassen, und sein Unmut, seine Zweifel und so weiter wären beseitigt.

Sieht man die Lage von einer anderen Seite her an, so lautet die Argumentation etwa wie folgt. Wenn auch der Vater jeden möglichen Grund haben mag für seinen Wunsch, den Sohn in die Firma eintreten zu sehen, und wenn ihm auch das Recht zusteht, diesen Wunsch auszusprechen, so hat doch seinerseits der Sohn das Recht - und die Pflicht -, zu tun, was sein Gewissen und sein Integritätsgefühl[25] ihm vorschreiben. Wenn er überzeugt ist, ein Leben als Physiker sei seinen Gaben und Wünschen am angemessensten, dann hat er dieser inneren Berufung mehr zu folgen als den Wünschen seines Vaters. In der Tat liegt ein Widerstand gegen seinen Vater vor, jedoch kein irrationaler, der in imaginären Gründen wurzelte, die im Verlauf einer Analyse verschwinden würden; vielmehr handelt es sich um einen rationalen Antagonismus, der sich als Reaktion gegen die autoritär-besitzergreifende Haltung des Vaters gebildet hat. Wenn wir die Schwierigkeiten des Patienten unter diesem Gesichtspunkt betrachten, so stellen sich das Leiden und das therapeutische Ziel ganz anders dar als bei der ersten Interpretation. Jetzt besteht das Symptom in der Unfähigkeit, sich in genügendem Maße durchzusetzen und in der Furcht, seine eigenen Pläne und Wünsche zu verfolgen. Der Patient wird erst geheilt sein, wenn er seinen Vater nicht mehr fürchtet. Die Aufgabe der Therapie ist, ihm zu helfen, Mut zu fassen, um sich durchzusetzen und frei zu werden. Bei dieser Einstellung würde man ziemlich viel verdrängte Feindseligkeit gegen den Vater entdecken, aber nicht als Ursache, sondern als Folge des Grundübels. Es ist klar, dass jede der beiden Deutungen zutreffen kann. Aus der Erkenntnis aller Einzelzüge des Charakters des Patienten und seines Vaters muss entschieden werden, welche Interpretation in dem bestimmten Falle die richtige ist. Doch wird das Urteil des Psychoanalytikers auch von seiner Philosophie und seinem Wertsystem beeinflusst sein. Wenn man zu der Auffassung neigt, Anpassung an die gesellschaftlichen Muster sei das wichtigste Ziel des Lebens, und praktische Überlegungen, wie die Erhaltung einer Firma, höheres Einkommen, Dankbarkeit gegenüber den Eltern, seien Gründe erster Ordnung, dann wird man eher bereit sein, die innere Not des Sohnes unter dem Gesichtspunkt seiner irrationalen Widersetzlichkeit gegen den Vater zu betrachten. Sieht man andererseits höchste Werte in Integrität, Unabhängigkeit und einer für den Betreffenden sinnvollen Beschäftigung, dann wird man eher die Unfähigkeit des Sohnes zur Selbstbehauptung und die Furcht vor seinem Vater für die Hauptschwierigkeiten halten, die zu überwinden sind. [VI-267]

Ein anderer Fall veranschaulicht das Gleiche. Ein begabter Schriftsteller kommt zum Analytiker und klagt über Kopfschmerzen und Schwindelanfälle, für welche nach der Aussage seines Arztes keine organische Ursache vorhanden ist. Er erzählt seine Lebensgeschichte bis zum heutigen Tag. Vor zwei Jahren hat er eine Stellung angenommen, die in Bezug auf Einkommen, Ansehen und Sicherheit höchst verlockend war. Im konventionellen Sinne bedeutete es einen gewaltigen Erfolg, diesen Posten erhalten zu haben. Auf der anderen Seite zwang dieser ihn, Dinge zu schreiben, die gegen seine Überzeugung waren und die er selbst nicht glaubte. Er hat viel Energie darauf verwandt, sein Tun mit seinem Gewissen in Einklang zu bringen, indem er komplizierte Gedankengänge konstruierte, um sich selbst zu beweisen, dass seine intellektuelle und moralische Integrität von seiner jetzigen Arbeit nicht berührt werde. Darauf traten Kopfschmerzen und Schwindelgefühl ein. Es ist leicht herauszufinden, dass diese Symptome ein Ausdruck des ungelösten Konflikts zwischen seinem Verlangen nach Geld und Ansehen auf der einen Seite und seiner Gewissensnot auf der anderen waren. Wenn wir aber nach dem krankhaften, neurotischen Element in diesem Zwiespalt fragen, dann werden zwei Psychoanalytiker die Situation vielleicht verschieden ansehen. Man kann anführen, die Annahme des Postens sei ein völlig normaler Schritt, ein Zeichen gesunder Anpassung an unsere Kultur, und die Entscheidung, die der Schriftsteller getroffen hatte, wäre von jedem normalen, gut angepassten Menschen ebenso gefällt worden. Das neurotische Element sei sein Unvermögen, seinen Entschluss auch wirklich zu bejahen. Möglicherweise finden wir dabei alte, verdrängte Schuldgefühle aus seiner Kindheit, die vom Ödipuskomplex, von Masturbationen oder dergleichen herrühren. Es mag auch eine Tendenz zur Selbstbestrafung in ihm sein, die ihm das Gefühl gibt, genau dann ein schlechter Mensch zu sein, wenn er Erfolg hat. Stellt man sich auf diesen Standpunkt, so ist das therapeutische Problem seine Unfähigkeit, die eigene, vernünftige Entscheidung zu akzeptieren, und der Patient wäre geheilt, wenn er seiner Skrupel Herr werden und sich mit seiner gegenwärtigen Lage zufriedengeben könnte.

Ein anderer Analytiker könnte die Sache vollkommen entgegengesetzt sehen. Er wird von der Annahme ausgehen, die intellektuelle und moralische Integrität könne nicht verletzt werden, ohne dass die Gesamtpersönlichkeit leidet. Der Umstand, dass der Patient in einer kulturell bedingten und allgemein üblichen Weise handelt, ändert an diesem Grundprinzip nichts. Der Unterschied zwischen diesem Menschen und vielen anderen besteht nur darin, dass sein Gewissen lebendig genug ist, um einen akuten Konflikt hervorzurufen, während andere sich dieses Konflikts nicht bewusst werden und keine solchen manifesten Symptome haben. Unter diesem Gesichtspunkt liegt das Problem in der Schwierigkeit für den Schriftsteller, der Stimme seines Gewissens zu folgen, und er wäre geheilt, wenn er seinen jetzigen Posten wieder aufgeben und ein Leben führen könnte, das ihm seine Selbstachtung zurückgäbe.

Ein weiterer Fall wirft von einer etwas anderen Seite her Licht auf das Problem. Ein Geschäftsmann, intelligent, aggressiv, erfolgreich, hat sich mehr und mehr dem Trunk ergeben. Er wendet sich an einen Psychoanalytiker, um vom Trinken geheilt zu werden. Sein Leben ist völlig ausgefüllt von Konkurrenz und Geldverdienen. Nichts anderes interessiert ihn; seine persönlichen Beziehungen dienen alle diesem Ziel. Er [VI-268] versteht sich darauf, Freunde und Einfluss zu gewinnen, aber tief in der Seele hasst er jedermann, mit dem er in Kontakt kommt: seine Konkurrenten, seine Kunden, seine Angestellten. Er hasst sogar die Waren, die er verkauft. Er hat gar kein Interesse an ihnen, ausgenommen als Mittel zum Geldverdienen. Seiner Hassgefühle ist er sich nicht bewusst, doch kann man allmählich aus seinen Träumen und freien Assoziationen schließen, er fühle sich als Sklave seines Geschäftes, seiner Waren, aller Leute, die damit zu tun haben. Er hat keine Selbstachtung und betäubt den Schmerz seines Gefühls der Minderwertigkeit und Wertlosigkeit in der Zuflucht zum Trunk. Er hat nie jemanden geliebt und befriedigt seine sexuellen Wünsche in billigen und bedeutungslosen Affären.

Was ist sein Problem? Ist es das Trinken? Oder ist die Trunksucht nur ein Symptom für das wahre Problem, sein Unvermögen, ein sinnvolles Leben zu führen? Kann ein Mensch, der so von sich selbst entfremdet ist, mit so viel Hass und so wenig Liebe leben, ohne sich minderwertig zu fühlen und gestört zu sein? Zweifellos gibt es viele Menschen, die in dieser Weise leben, ohne Symptome und ohne dass sie sich irgendeiner Störung bewusst wären. Ihre Probleme beginnen erst, wenn sie nicht beschäftigt sind, wenn sie allein sind. Aber es gelingt ihnen, die vielen Wege der Flucht vor sich selbst zu benutzen, die unsere Kultur bietet, um jeden Ausdruck ihres Unbefriedigtseins zum Schweigen zu bringen. Diejenigen, in denen sich ein manifestes Symptom entwickelt, beweisen, dass ihre menschlichen Kräfte noch nicht ganz erstickt sind. Etwas in ihnen lehnt sich auf und zeigt den Konflikt an. Sie sind nicht kränker als jene, denen die Anpassung vollkommen gelungen ist. Im Gegenteil, im menschlichen Sinn sind sie gesünder. Von diesem Standpunkt sehen wir das Symptom nicht als den zu besiegenden Feind an, weit eher als den Freund, der darauf weist, dass etwas nicht in Ordnung ist. Der Patient kämpft, mag es noch so wenig bewusst geschehen, um eine humanere Form des Lebens. Sein Problem ist nicht das Trinken, sondern sein moralisches Versagen. Seine Heilung wird nicht dadurch erreicht, dass sie sich auf das sichtbare Symptom richtet. Würde er aufhören zu trinken, ohne sonst etwas in seinem Leben zu ändern, er würde in immer heftigere Konkurrenzsucht getrieben, und mit der Zeit würde sich wahrscheinlich ein anderes Symptom entwickeln, in dem sein Unbefriedigtsein sich entladen würde. Was er braucht, ist jemand, der ihm hilft, die Ursachen für diese Vergeudung seiner besten menschlichen Kräfte aufzudecken und so ihren rechten Gebrauch wieder zu lernen.

Wir sehen, dass es nicht leicht ist, das zu bestimmen, was wir als Krankheit und was wir als Heilung ansehen sollen. Die Lösung hängt davon ab, was man für das Ziel der Psychoanalyse hält. Wir fanden, dass nach der einen Auffassung das Ziel der analytischen Kur die Anpassung ist. Mit Anpassung ist die Fähigkeit eines Menschen gemeint, so zu handeln wie die Mehrheit der Angehörigen seines Kulturkreises. Für diese Einstellung bilden die Verhaltensmuster, die die Gesellschaft und die Kultur billigen, den Maßstab für die seelische Gesundheit. Dieser wird nicht unter dem Gesichtspunkt universaler menschlicher Normen kritisch geprüft; er drückt eher einen gesellschaftlichen Relativismus aus, mit dem dieses „Richtigsein“ ohne weiteres hingenommen und ein Verhalten, das davon abweicht, für verkehrt, also ungesund gehalten wird. Eine Therapie, die weiter nichts erstrebt als gesellschaftliche Anpassung, [VI-269] kann einzig das übermäßige Leiden des Neurotikers auf das Durchschnittsniveau des Leidens herabmindern, das jedem Konformismus mit diesen Mustern eigen ist.

Bei der zweiten Auffassung ist das Ziel der Therapie nicht primär Anpassung, sondern die optimale Entwicklung der Möglichkeiten eines Menschen und die Verwirklichung seiner Individualität. Hier ist der Psychoanalytiker nicht „Ratgeber für Anpassung“, sondern, nach dem Ausdruck Platons, „Seelenarzt“. Diese Einstellung beruht auf der Prämisse, dass es unveränderliche Gesetze gibt, die der menschlichen Natur und dem Gelingen des Menschen eigen sind und die in allen Kulturen wirksam sind. Diese Gesetze können nicht ohne schwere Schädigung der Persönlichkeit verletzt werden. Wenn jemand seiner moralischen und intellektuellen Integrität Gewalt antut, schwächt er seine Gesamtpersönlichkeit oder lähmt sie ganz und gar. Er wird unglücklich und leidet. Wird seine Art zu leben in seinem Kulturkreis gebilligt, dann mag es sein, dass sein Leiden ihm nicht bewusst wird oder dass er es Umständen zuschreibt, die mit seinem wirklichen Problem nichts zu tun haben. Was auch der Leidende selbst darüber denken mag, das Problem der seelischen Gesundheit kann nicht von dem Urproblem des menschlichen Lebens gelöst werden, das Ziel der Integrität und der Fähigkeit zur Liebe zu erreichen.

Mit dieser Unterscheidung zwischen Anpassung und „Seelsorge“ habe ich die Prinzipien der Therapie beschrieben. Doch will ich damit nicht sagen, dass man in der Praxis so klipp und klar trennen kann. Es gibt viele Arten des psychoanalytischen Vorgehens, in denen beide Prinzipien miteinander verschmolzen sind. Manchmal liegt das Schwergewicht auf dem einen, manchmal auf dem anderen. Dennoch ist es wichtig, den Unterschied zwischen diesen Prinzipien zu kennen, denn nur dann können wir ihre jeweilige Bedeutung innerhalb einer Analyse erkennen. Ebenso wenig möchte ich den Anschein erwecken, als habe man zu wählen zwischen gesellschaftlicher Anpassung und Sorge um die eigene Seele, oder dass die Wahl des Weges der menschlichen Integrität einen notwendig in die Wüste des gesellschaftlichen Abseits führe.

Der „angepasste“ Mensch in dem Sinn, wie ich den Ausdruck hier gebraucht habe, hat sich zu einem Gebrauchsartikel gemacht, an dem nichts klar bestimmt oder bleibend ist außer seinem Bedürfnis, zu gefallen, und seiner Bereitschaft, die Rolle zu wechseln. Solange er mit seinen Bemühungen Erfolg hat, erfreut er sich eines gewissen Grades von Sicherheit. Aber sein Verrat an seinem höheren Selbst, an den menschlichen Werten, schafft in ihm eine Leere und Unsicherheit, die zutage tritt, sobald in seinem Kampf um Erfolg etwas schiefgeht. Sogar wenn alles glatt geht, bezahlt er oft für das äußere Gelingen mit Magengeschwüren, Herzbeschwerden oder irgendeiner anderen psychisch bedingten Krankheit. Der Mensch, der innere Stärke und Integrität erlangt hat, mag oft weniger erfolgreich sein als sein skrupelloser Nachbar, aber er wird über eine innere Sicherheit verfügen, über Urteilsvermögen und Objektivität, die ihn weniger empfindlich machen gegen schicksalhafte Veränderungen und die Meinung der Leute, und die seine Fähigkeit zu aufbauender Arbeit auf vielen Gebieten erhöhen werden.

Es ist klar, dass eine „Anpassungstherapie“ keine religiöse Aufgabe haben kann, sofern wir unter religiös die Haltung verstehen, die den ursprünglichen Lehren der humanistischen Religionen gemeinsam ist. Ich möchte nun zeigen, dass die [VI-270] Psychoanalyse als „Seel-Sorge“ eine ausgesprochen religiöse Aufgabe in diesem Sinn hat, obwohl sie gewöhnlich zu einer eher kritischen Einstellung gegenüber theistischen Dogmen führen wird.

Versucht man, ein Bild der menschlichen Haltung zu geben, die dem Denken Laotses, Buddhas, der Propheten, Sokrates’, Jesu, Spinozas und der Philosophen der Aufklärung zugrunde liegt, dann ist man betroffen von der Tatsache, dass in all diesen Lehren trotz bedeutsamer Verschiedenheiten ein Kern gemeinsamer Ideen und Normen liegt. Ohne den Versuch einer vollständigen und präzisen Formulierung zu machen, kann man diesen Kern etwa so umschreiben: Der Mensch muss danach streben, die Wahrheit zu erkennen, und kann nur in dem Maße ganz menschlich sein, als ihm diese Aufgabe gelingt. Er muss unabhängig und frei sein, Zweck und Ziel in sich selbst haben und darf nicht zum Mittel für die Zwecke anderer werden. Er muss sich liebend mit seinem Mitmenschen in Beziehung setzen. Wenn er keine Liebe hat, ist er eine leere Hülse, und wenn er alle Macht, allen Reichtum und alle Intelligenz besäße.[26] Der Mensch muss den Unterschied zwischen Gut und Böse kennen, er muss auf die Stimme seines Gewissens hören und folgen können.

Die folgenden Ausführungen suchen zu zeigen, dass es das Ziel der psychoanalytischen „Seel-Sorge“ ist, dem Patienten zu helfen, die eben als religiös beschriebene Haltung zu erlangen.

In der Erörterung von Freuds Theorie habe ich dargestellt, dass die Erkenntnis der Wahrheit ein Hauptziel des psychoanalytischen Prozesses ist. Die Psychoanalyse hat der Auffassung von der Wahrheit eine neue Dimension gegeben. Im vor-analytischen Denken konnte man annehmen, ein Mensch spreche die Wahrheit, wenn er selbst glaube, was er sage. Die Psychoanalyse hat gezeigt, dass diese subjektive Überzeugung keineswegs ein ausreichendes Kriterium für Aufrichtigkeit ist. Ein Mensch kann glauben, dass er aus Gerechtigkeitsgefühl handelt, und doch von Grausamkeit angetrieben werden. Er kann wähnen, von Liebe erfüllt zu sein und in Wahrheit masochistische Abhängigkeit begehren. Jemand kann sich von Pflichtgefühl geleitet glauben, während seine vorrangige Motivation Eitelkeit ist. Tatsächlich werden die meisten Rationalisierungen von dem, der sie gebraucht, für wahr gehalten. Er wünscht nicht nur, dass andere an seine Rationalisierungen glauben, er selbst glaubt an sie, und dies umso glühender, je stärker der Wunsch ist, sich selbst vor der Erkenntnis der wahren Motive zu schützen. Ferner lernt ein Mensch im psychoanalytischen Prozess unterscheiden, welche seiner Ideen eine Matrix in seinem Gefühlsleben haben und welche nur konventionelle Klischees sind, ohne Wurzel in seiner Charakterstruktur und darum ohne Substanz und Gewicht. Der psychoanalytische Prozess ist in sich selbst eine Suche nach der Wahrheit. Der Gegenstand dieser Suche ist die Wahrheit über die Erscheinungen innerhalb, nicht außerhalb des Menschen. Sie basiert auf dem Prinzip, dass geistig-seelische Gesundheit und Glücksgefühl nicht erworben werden können, wenn wir nicht unser Denken und Fühlen kritisch daraufhin untersuchen, ob wir nur rationalisieren oder ob unser Glaube auch im Gefühlsleben verankert ist.

Der Gedanke, dass kritische Selbsteinschätzung und die daraus folgende Fähigkeit der Unterscheidung zwischen genuiner und falscher Erfahrung wesentliche Elemente einer religiösen Haltung sind, ist in einem alten religiösen Dokument buddhistischer [VI-271] Herkunft wunderbar ausgedrückt. Wir finden in den Tibetanischen Vorschriften der Gurus eine Aufzählung von zehn jeweils ähnlichen Phänomenen, die man verwechseln kann (W. Y. Evans-Wentz, 1935, S. 77):

1. Der Wunsch kann mit Glaube verwechselt werden.
2. Gebundensein kann mit Wohlwollen und Mitleid verwechselt werden.
3. Ein Innehalten beim Denken kann mit der Ruhe des unendlichen Geistes - die das wahre Ziel ist - verwechselt werden.
4. Sinnliche Wahrnehmungen (oder Erscheinungen) können mit Offenbarungen (oder mit dem Schimmer) der Wirklichkeit selbst verwechselt werden.
5. Ein bloßer Schimmer der Wirklichkeit selbst kann mit deren gänzlicher Verwirklichung verwechselt werden.
6. Solche, die Religion äußerlich bekennen, sie aber nicht praktizieren, können mit wahrhaft Gläubigen verwechselt werden.
7. Sklaven ihrer Leidenschaften können mit den Meistern des Yoga, die sich von allen konventionellen Gesetzen befreit haben, verwechselt werden.
8. Handlungen, die aus Eigeninteresse ausgeführt werden, können irrtümlich als altruistisch angesehen werden.
9. Täuschungsmanöver können fälschlicherweise als Klugheit betrachtet werden.
10. Scharlatane können mit Weisen verwechselt werden.

Dem Menschen zur Unterscheidung von wahr und falsch zu verhelfen, ist das Hauptziel der Psychoanalyse, einer therapeutischen Methode, die eine empirische Anwendung des Spruches bedeutet: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Jo 8,32).

Sowohl im humanistischen religiösen Denken als auch in der Psychoanalyse ist die Fähigkeit des Menschen, nach der Wahrheit zu suchen, untrennbar mit der Erlangung von Freiheit und Unabhängigkeit verknüpft.

Freud sagt, der Ödipuskomplex sei der Kern jeder Neurose. Er nimmt an, das Kind sei an den Elternteil des entgegengesetzten Geschlechts gebunden, und wenn das Kind diese infantile Fixierung nicht überwinde, sei geistig-seelische Erkrankung die Folge. Ihm erschien die Annahme, inzestuöse Impulse seien eine tief verwurzelte menschliche Leidenschaft, unausweichlich zu sein. Er gewann diesen Eindruck durch das Studium klinischen Materials; die überall vorhandenen inzestuösen Tabus waren ihm ein zusätzlicher Beweis für seine These. Die volle Bedeutung von Freuds Entdeckung kann jedoch, wie es oftmals der Fall ist, erst erkannt werden, wenn wir sie aus der Sphäre der Sexualität auf diejenige der zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen. Das Wesen des Inzests ist nicht das sexuelle Begehren nach Angehörigen der eigenen Familie. Dieses Begehren, soweit es zu finden ist, stellt nur einen Ausdruck des viel tieferen und fundamentalen Wunsches dar, ein Kind zu bleiben und sich an die beschützenden Gestalten zu heften, unter denen die Mutter die erste und einflussreichste ist. Der Fötus lebt mit und von der Mutter, und der Akt der Geburt ist nur ein Schritt in der Richtung auf Freiheit und Unabhängigkeit. Das Kleinkind ist nach der Geburt in vielfacher Weise noch ein Teil der Mutter, und seine Geburt als unabhängiges Wesen ist ein Prozess, der viele Jahre braucht - ja, genau genommen ein ganzes Leben. Die Nabelschnur zu durchschneiden, nicht im physischen, sondern im psychologischen Sinn, ist der große Anruf an den Menschen für seine Entwicklung [VI-272] und zugleich seine schwerste Aufgabe. Solange der Mensch durch diese primären Bindungen an Vater, Mutter, Familie gebunden ist, fühlt er sich beschützt und sicher. Er ist immer noch ein Fötus, ein anderer ist für ihn verantwortlich. Er vermeidet die beunruhigende Erfahrung, sich selbst als losgelöste Einheit zu sehen und ist damit aufgefordert, für seine Handlungen selbst verantwortlich zu sein und zu eigenen Urteilen zu kommen, um „sein Leben selbst in die Hand zu nehmen“. Indem er ein Kind bleibt, vermeidet der Mensch nicht nur die Urangst, die notwendigerweise mit dem vollen Bewusstsein, als eigenständiges Selbst ein losgelöstes Wesen zu sein, verbunden ist; er genießt auch die Befriedigung des Schutzes, der Wärme, der fraglosen Zugehörigkeit, die das Glück seiner Kindheit war. Aber er zahlt dafür einen hohen Preis. Ihm gelingt es nicht, ein wirklicher Mensch zu werden und seine Kräfte der Vernunft und der Liebe zu entwickeln; er bleibt abhängig und behält ein Gefühl der Unsicherheit, das sich geltend macht, sobald jene primären Bindungen bedroht sind. All seine geistigen und emotionalen Tätigkeiten sind der Autorität seiner Primärgruppe unterworfen. Daher sind sein Glaube und seine Einsichten nicht wirklich das, was er glaubt und einsieht. Er kann Zuneigung fühlen, aber es ist eine Art animalischer Zuneigung, die Wärme des Stalles und nicht menschliche Liebe, die Freiheit und Unabhängigkeit zur Voraussetzung hat. Ein inzestuös orientierter Mensch fühlt sich denen, mit denen er vertraut ist, nah verbunden. Doch ist er nicht imstande, sich eng an den „Fremden“ anzuschließen, das heißt an den Menschen als solchen. Bei dieser Einstellung werden alle Gefühle und Ideen, anstatt als gut oder schlecht oder wahr oder falsch, nach dem Maßstab „vertraut“ oder „nicht vertraut“ beurteilt. Als Jesus sagte: „Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter“ (Mt 10,35), wollte er keinen Elternhass predigen; vielmehr drückte er auf die denkbar unmissverständlichste und drastischste Weise das Prinzip aus, dass der Mensch inzestuöse Bande durchbrechen und frei werden muss, um zum vollen Menschsein zu gelangen.

Die Elternbindung ist nur eine, wenn auch die grundlegendste Form des Inzests. Im Verlauf der sozialen Entwicklung wird sie teilweise durch andere Bindungen ersetzt. Der Stamm, die Nation, die Rasse, der Staat, die soziale Klasse, politische Parteien und viele andere Formen von Institutionen und Organisationen werden zum Ersatz für das Zuhause und die Familie. Hier liegen die Wurzeln des Nationalismus und des Rassismus, die wiederum Symptome für die Unfähigkeit des Menschen sind, sich selbst und andere als freie menschliche Wesen zu erleben. Man möchte sagen, die Entwicklung der Menschheit bedeute den Weg vom Inzest zur Freiheit. Hierin liegt die Erklärung für das universale Vorkommen von Inzest-Tabus. Das Menschengeschlecht hätte sich nicht höher entwickelt, hätte es nicht das Bedürfnis, sich nahe zu sein, über Vater, Mutter und Geschwister hinaus auf weitere Kreise ausgedehnt. Die Liebe zur Frau hängt von der Loslösung von inzestuösem Verlangen ab: „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau“ (Gen 2,24). Aber die Bedeutung des Tabus in Bezug auf den Inzest reicht viel weiter. Das Wachsen der Vernunft und aller vernunftbezogenen Werturteile erfordert, dass der Mensch die inzestuöse Fixierung mit ihrem Kriterium des Vertrauten als Maßstab für richtig und falsch überwindet. [VI-273]

Die Integration kleiner Gruppen in größere und ihre biologischen Folgen wäre ohne Inzest-Tabus nicht möglich gewesen. Kein Wunder, dass ein Ziel von so großer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung von mächtigen und universalen Tabus geschützt wurde. Obwohl wir aber schon eine gute Wegstrecke zur Überwindung des Inzests zurückgelegt haben, hat die Menschheit das Ziel noch lange nicht erreicht. Die Gruppierungen, an die der Mensch sich inzestuös gebunden fühlt, sind größer, und der Bereich der Freiheit ist weiter geworden; hingegen sind die Bindungen an die größeren Einheiten, welche den Klan und den heimatlichen Boden ersetzen, immer noch mächtig und stark. Einzig die völlige Ausrottung inzestuöser Fixierung wird die Verwirklichung der menschlichen Brüderlichkeit ermöglichen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Freuds Feststellung, der Ödipuskomplex - die inzestuöse Fixierung - sei der „Kern der Neurose“, eine der bedeutsamsten Einsichten in das Problem der geistig-seelischen Gesundheit bringt, wenn wir uns von der engen Anwendung auf die sexuelle Sphäre befreien und sie in ihrer weiten zwischenmenschlichen Bedeutung verstehen. Freud selbst hat angedeutet, dass er etwas meine, was über das bloß Sexuelle hinausgeht.[27] Tatsächlich bildet seine Auffassung, der Mensch müsse Vater und Mutter verlassen und in die Wirklichkeit hineinwachsen, sein Hauptargument gegen die Religion in Die Zukunft einer Illusion (S. Freud, 1927c); denn seine dort ausgesprochene Kritik der Religion besteht darin, dass sie den Menschen in den Banden der Abhängigkeit halte und ihn damit hindere, die alles überragende Aufgabe des menschlichen Daseins, nämlich frei und unabhängig zu werden, auf sich zu nehmen.

Natürlich wäre es ein Irrtum anzunehmen, die eben ausgesprochenen Bemerkungen sollten besagen, nur die „Neurotiker“ hätten bei dieser Aufgabe der Selbstbefreiung versagt, während der wohl angepasste Durchschnittsmensch sie erfüllt habe. Das Gegenteil ist der Fall. Die große Mehrzahl der Menschen innerhalb unserer Kultur sind gut angepasst, weil sie den Kampf um die Unabhängigkeit früher und gründlicher aufgegeben haben als die Neurotiker. Sie haben sich dem Urteil der Mehrheit so vollkommen unterworfen, dass ihnen der scharfe Schmerz des Konflikts, durch den der Neurotiker hindurchgeht, erspart worden ist. Zwar sind sie gesund vom Standpunkt der „Anpassung“, jedoch unter dem Gesichtspunkt der Erfüllung ihrer Aufgabe als menschliche Wesen sind sie kränker als der Neurotiker. Kann es für sie eine vollkommene Lösung geben? Dies wäre der Fall, könnte man ohne Schaden über die Grundgesetze der menschlichen Existenz hinweggehen. Doch das ist nicht möglich. Der „angepasste“ Mensch, der nicht in der Wahrheit lebt und nicht liebt, ist nur von offenkundigen Konflikten verschont. Solange er nicht völlig von seiner Arbeit eingenommen ist, muss er die vielen Fluchtwege gehen, die unsere Kultur ihm anbietet, die ihn vor der beängstigenden Erfahrung schützen, mit sich selbst allein gelassen zu sein und in den Abgrund seiner eigenen Impotenz und menschlichen Schwäche sehen zu müssen.

Alle großen Religionen sind von negativen Formulierungen von Inzest-Tabus zu [VI-274] positiveren Formeln der Freiheit fortgeschritten. Buddha gewann seine Einsichten in der Einsamkeit. Er stellt die extreme Forderung auf, der Mensch müsse sich von allen „familiären“ Bindungen freimachen, um sich selbst und seine wahre Stärke zu finden. Die jüdisch-christliche Religion ist an diesem Punkte nicht so radikal wie Buddha, jedoch nicht weniger klar. Im Mythos vom Garten Eden wird das Dasein des Menschen als ein Leben vollkommener Sicherheit geschildert. Ihm fehlt das Wissen um Gut und Böse. Die Geschichte des Menschen beginnt mit einem Akt des Ungehorsams, der zugleich der Anfang seiner Freiheit und der Entwicklung seiner Vernunft ist. Die jüdische und besonders die christliche Tradition haben das Element der Sünde betont, aber dabei die Tatsache übersehen, dass der Sündenfall zugleich die Emanzipation aus der Sicherheit des Paradieses bedeutet und damit die Basis für die wahrhaft menschliche Entwicklung des Menschen. Die Forderung, die Bindungen an Blut und Boden zu lockern, hält sich durch das ganze Alte Testament durch. Abraham wird befohlen, sein Land zu verlassen und ein Wanderer zu werden. Moses wächst als Fremdling in einer andersartigen Umwelt auf, fern von seiner Familie und sogar von seinem Volke. Die Bedingung für Israels Auftrag als Gottes auserwähltes Volk ist sein Auszug aus der ägyptischen Sklaverei und seine vierzigjährige Wanderung durch die Wüste. Nachdem Israel sich in seinem eigenen Land niedergelassen hat, fällt es in die inzestuöse Verehrung des Bodens, der Idole und des Staates zurück. Im Mittelpunkt der Lehren der Propheten steht der Kampf gegen diese inzestuöse Verehrung. Statt dessen predigen sie die Grundwerte, die der ganzen Menschheit gemeinsam sind: Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Sie greifen den Staat und alle weltlichen Mächte an, welche diesen Normen nicht folgen. Der Staat muss zugrunde gehen, wenn der Mensch sich so sehr an ihn bindet, dass das Wohl des Staates, seine Macht und sein Ruhm der Maßstab für Gut und Böse werden. Die Vorstellung, das Volk müsse in die Wüste zurückkehren und dürfe den heimatlichen Boden erst wieder betreten, wenn es die Freiheit erlangt und mit der Vergötzung von Boden und Staat Schluss gemacht habe, ist der logische Höhepunkt dieses Prinzips, das dem Alten Testament zugrunde liegt, und besonders der messianischen Vorstellung der Propheten.

Erst wenn man über inzestuöse Bindungen hinausgewachsen ist, kann man die eigene Gruppe kritisch beurteilen. Ja, erst dann vermag man überhaupt zu urteilen. Den meisten Gruppen, seien es nun primitive Stämme, Nationen oder Religionen, liegt hauptsächlich an der Erhaltung ihrer eigenen Existenz und der Macht ihrer Führer, und sie missbrauchen das angeborene moralische Empfinden ihrer Mitglieder, indem sie sie gegen Außenstehende aufwiegeln, mit denen sie im Streit liegen. In Wahrheit benutzen sie die inzestuösen Bindungen, die einen Menschen moralisch an seine Gruppe fesseln, dazu, um sein Empfinden und sein Urteil zu ersticken, sodass er Verletzungen der ethischen Grundsätze seiner eigenen Gruppe nicht mehr kritisieren wird, die, würden sie von anderen begangen, ihn zu heftigem Widerspruch veranlassten.

Es ist die Tragödie aller großen Religionen, dass sie ihre eigenen Prinzipien der Freiheit verletzen und umkehren, sobald sie zu Massenorganisationen werden und sich von einer religiösen Bürokratie beherrschen lassen. Die religiöse Organisation und jene, die sie repräsentieren, treten bis zu einem gewissen Grad an die Stelle von [VI-275] Familie, Stamm und Staat. Sie halten den Menschen in Fesseln, anstatt ihm die Freiheit zu lassen. Nicht mehr Gott wird verehrt, sondern die Gruppe, die in seinem Namen zu sprechen behauptet. Dies ist in allen Religionen geschehen. Ihre Stifter führten die Menschen durch die Wüste, fort von der ägyptischen Sklaverei; indessen haben später andere sie in ein neues Ägypten gebracht und es das Gelobte Land genannt.

Das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev 19,18; Mt 5,43; Lk 10,27) ist, mit nur geringen Abwandlungen im Ausdruck, das allen humanistischen Religionen gemeinsame Grundprinzip. Doch wäre es wohl schwer zu verstehen, warum die großen religiösen Lehrer der Menschheit geboten haben, die Menschen sollen einander lieben, wenn Liebe so leicht zu üben wäre, wie die meisten Leute zu glauben scheinen. Was nennt man Liebe? Abhängigkeit, Unterwerfung und die Unfähigkeit, sich von der „Nestwärme“ der Familie fortzubewegen, Beherrschung, Besitzergreifung und das Streben nach Macht über andere - all das wird für Liebe gehalten; sexuelle Gier und das Unvermögen, Einsamkeit zu ertragen, werden als Beweise für hohe Liebesfähigkeit angesehen. Die Menschen wähnen, es sei einfach zu lieben, jedoch äußerst schwer, geliebt zu werden. Wo die Marketing-Orientierung vorherrscht, glauben sie, nicht geliebt zu werden, weil sie nicht „attraktiv“ genug seien, und darunter verstehen sie alles, vom Aussehen, der Kleidung, der Intelligenz und dem Geldbesitz bis zu gesellschaftlicher Stellung und Geltung. Sie wissen nicht, dass das wahre Problem nicht in der Schwierigkeit besteht, geliebt zu werden, sondern in jener, zu lieben; dass man nur geliebt wird, wenn man selbst lieben kann und damit Liebe in anderen hervorruft, und dass die Fähigkeit zu echtem Lieben, nicht dessen Verfälschung, höchst schwierig zu erwerben ist.

Es gibt kaum eine Situation, in der das Phänomen der Liebe und ihrer mannigfachen Entstellungen so nah und so genau studiert werden kann wie im analytischen Interview. Und es gibt keinen überzeugenderen Beweis dafür, dass das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ die wichtigste Lebensnorm ist und seine Verletzung die Grundursache von Unglücklichsein und Geisteskrankheit, als das Material, das ein Psychoanalytiker im Laufe seiner Praxis sammeln kann. Was für Klagen der neurotische Patient auch vorbringen mag, welcher Art immer seine Symptome seien - stets steckt die Wurzel in der Unfähigkeit zu lieben, wenn wir mit Liebe die Fähigkeit meinen, die Fürsorge und die Verantwortung für, die Achtung vor und das wissende Verstehen um eine andere Person zu erfahren und den ausdrücklichen Wunsch, dass der andere wachsen möge. Analytische Therapie ist im wesentlichen ein Versuch, dem Patienten zum Erwerb oder zum Wiedergewinn seiner Liebesfähigkeit zu verhelfen. Wenn dies Ziel nicht erreicht wird, können höchstens oberflächliche Wandlungen eintreten.

Die Psychoanalyse zeigt auch, dass Liebe ihrer Natur nach nicht auf eine Person beschränkt bleiben kann. Wer nur einen Menschen liebt und für seinen Nächsten keine Liebe übrig hat, beweist damit, dass die Zuneigung zu dem einen Menschen eine Bindung ist, die auf Unterwerfung oder Beherrschung beruht, aber keine Liebe ist. Und wer seinen Nächsten liebt, aber nicht sich selbst, hat in Wahrheit auch keine echte Liebe zum Nächsten. Liebe beruht auf einer Haltung der Bejahung und der Achtung vor dem anderen, und wo einer diese Haltung nicht auch sich selber gegenüber [VI-276] aufbringt, der doch schließlich auch ein Mensch und ein Nächster ist, da ist sie überhaupt nicht vorhanden. Die menschliche Wirklichkeit hinter dem Begriff der Gottesliebe des Menschen bedeutet in einer humanistischen Religion soviel wie des Menschen Fähigkeit zu produktiver Liebe, zu einer Liebe ohne Gier, ohne Unterwerfung oder Beherrschung, einer Liebe aus der Fülle der Persönlichkeit, genau wie die Liebe Gottes ein Symbol ist für Liebe aus Stärke und nicht aus Schwäche.

Das Vorhandensein von Normen, nach denen der Mensch leben sollte, führt die Vorstellung von deren Verletzung mit sich und damit den Begriff von Sünde und Schuld. Es gibt keine Religion, die nicht auf die eine oder andere Art von der Sünde handelte und von den Wegen zu ihrer Erkenntnis und Überwindung. Die verschiedenen Auffassungen von Sünde gehen naturgemäß je nach den verschiedenen Typen von Religion auseinander. In primitiven Religionen besteht die Sünde etwa nur in der Verletzung eines Tabus, mit nur geringer oder gar keiner ethischen Bedeutung. In autoritären Religionen ist Sünde an erster Stelle Ungehorsam gegenüber der Autorität und erst an zweiter die Nichtbeachtung ethischer Normen. In humanistischen Religionen ist das Gewissen nicht die nach innen verlegte Stimme der Autorität, sondern des Menschen eigene Stimme, der Wächter unserer Integrität, der uns zu uns selber zurückruft, wenn wir in Gefahr sind, uns zu verlieren. Sünde ist hier nicht an erster Stelle ein Vergehen gegen Gott, sondern gegen uns selber.[28]

Die Reaktion auf die Sünde hängt ab von der jeweiligen Auffassung und Erfahrung der Sünde. In autoritären Religionen ist die Erkenntnis begangener Sünden mit Furcht verbunden, denn gesündigt zu haben, bedeutet Ungehorsam gegen die mächtigen Autoritäten, die den Sünder bestrafen werden. Moralisches Versagen ist jedes Mal eine rebellische Handlung, die nur durch eine neue Orgie der Unterwerfung gesühnt werden kann. Die Reaktion auf das Schuldgefühl ist die, verderbt und ohnmächtig zu sein; der Sündige liefert sich völlig der Gnade der Autorität aus, um dadurch Hoffnung auf Vergebung zu haben. Die Stimmung dieser Art von Reue heißt Furcht und Zittern.

Das Ergebnis dieser Reue ist, dass der Sünder, nachdem er im Gefühl seiner Verderbtheit geschwelgt hat, moralisch geschwächt, von Hass und Abscheu gegen sich selbst erfüllt ist und, wenn die Orgie der Selbstzüchtigung vorbei ist, sich bereit zeigt, aufs neue zu sündigen. Diese Reaktion ist weniger extrem, wenn die Religion eine ritualistische Sühne bietet oder wenn die Worte eines Priesters den Sündigen von der Schuld freisprechen können. Aber er bezahlt für die Erleichterung seiner Reueschmerzen mit der Abhängigkeit von denen, die Absolution erteilen dürfen.

In humanistischen Tendenzen innerhalb der Religionen finden wir eine völlig andere Reaktion auf die Sünde. Hier fehlt der Geist des Hasses und der Intoleranz, der zum Ausgleich für die Unterwerfung in autoritären Systemen immer gegenwärtig ist, und darum wird die Tendenz des Menschen, die Lebensnormen zu verletzen, mit Verständnis und Liebe betrachtet, nicht mit Zorn und Verachtung. Die Reaktion auf die Schulderkenntnis ist statt Selbsthass der aktive Wille zur Wiedergutmachung. Einige christliche und jüdische Mystiker sahen in der Sünde sogar eine Vorbedingung zur Erlangung von Tugend. Ihre Lehre lautet: Nur wenn wir sündigen und darauf nicht [VI-277] mit Furcht, sondern mit Sorge um unsere Erlösung antworten, können wir wahrhaft menschlich werden. In ihrem Denken - das um die Bejahung der Eigenkraft des Menschen, um seine Gottebenbildlichkeit und die Erfahrung der Freude anstelle der Traurigkeit kreist - bedeutet die Erkenntnis begangener Sünden die Einsicht in die Totalität der eigenen Kräfte und darum keineswegs die Erfahrung der Ohnmacht. Zwei Äußerungen mögen diese humanistische Einstellung gegenüber der Sünde veranschaulichen. Die eine ist das Wort Jesu: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“ (Jo 8,7b). Die andere ist eine für mystisches Denken sehr charakteristische Geschichte:

Wer ein Übel, das er getan hat, immerzu beredet und besinnt, hört nicht auf, das Gemeine, das er tat, zu denken, und was man denkt, darin liegt man, mit der Seele liegt man ganz und gar darin, was man denkt - so liegt er doch in der Gemeinheit: der wird gewiss nicht umkehren können, denn sein Geist wird grob und sein Herz stockig werden, und es mag noch die Schwermut über ihn kommen. Was willst du? Rühr’ her den Kot, rühr’ hin den Kot, bleibt’s doch immer Kot. Ja, gesündigt, nicht gesündigt, was hat man im Himmel davon? In der Zeit, wo ich darüber grüble, kann ich doch Perlen reihen, dem Himmel zur Freude. Darum heißt es: „Weiche vom Bösen und tue das Gute“ (Ps 34, 15) - wende dich vom Bösen ganz weg, sinne ihm nicht nach und tue das Gute. Unrechtes hast du getan? Tue Rechtes ihm entgegen. (Jizchak Meir von Ger, in: M. Buber, 1949, S. 826 f.)

Das Problem der Schuld spielt in den psychoanalytischen Verfahren keine geringere Rolle als in der Religion. Bisweilen stellt der Patient es als eines seiner Hauptsymptome dar. Er fühlt sich schuldig, weil er seine Eltern nicht so liebt, wie er sollte, weil er seine Arbeit nicht befriedigend leistet, weil er die Gefühle eines anderen verletzt hat. Das Schuldgefühl hat manche Patienten völlig überwältigt, und sie reagieren darauf mit einem Gefühl der Minderwertigkeit, des Verworfenseins und oftmals mit einem bewussten oder unbewussten Verlangen nach Strafe. Gewöhnlich ist es nicht schwer, zu entdecken, dass diese alles durchdringende Schuldreaktion aus einer autoritären Orientierung stammt. Diese Menschen würden ihre Gefühle richtiger ausdrücken, wenn sie, anstatt zu sagen, sie fühlen sich schuldig, eingestehen würden, dass sie sich fürchten, bestraft zu werden oder - noch häufiger - nicht mehr von jenen Angehörigen geliebt zu werden, denen sie ungehorsam waren. Im analytischen Prozess erkennt der Patient allmählich, dass hinter seinem autoritären Schuldgefühl ein anderes steckt, das von seiner eigenen Stimme, von seinem humanistischen Gewissen herrührt. Nehmen wir an, ein Patient fühlt sich schuldig, weil er in der Promiskuität lebt. Der erste Schritt bei der Analyse dieses Schuldgefühls wird sein, zu zeigen, dass er sich in Wirklichkeit davor fürchtet, sein Verhalten könnte aufgedeckt werden und ihm von seinen Eltern, seiner Frau, der öffentlichen Meinung, der Kirche - kurz von allen, die seiner Meinung nach eine Autorität repräsentieren - vorgeworfen werden. Erst dann wird er fähig sein zu erkennen, dass hinter diesem autoritär bestimmten Schuldgefühl ein anderes verborgen ist. Er wird verstehen lernen, dass seine „Liebes“-Affären in Wahrheit ein Ausdruck seiner Angst vor der Liebe, seiner Unfähigkeit ist, jemanden zu lieben und sich auf eine enge und verantwortete Beziehung einzulassen. Er wird schließlich erkennen, dass dies eine Sünde gegen sich selber ist, weil er seine Liebeskraft vergeudet. [VI-278]

Andere Patienten fühlen sich keineswegs von Schuldgefühl geplagt. Sie beklagen sich über psychogene Symptome wie depressive Verstimmungen, Unfähigkeit zu arbeiten, unerfülltes Eheglück. Doch auch hier deckt der analytische Prozess ein geheimes Schuldgefühl auf. Der Patient lernt verstehen, dass die neurotischen Symptome keine isolierten Erscheinungen sind, die unabhängig von ethischen Problemen behandelt werden können. Er wird sich seines eigenen Gewissens bewusst werden und auf seine Stimme hören lernen.

Die Aufgabe des Analytikers besteht darin, ihm in diesem Prozess des Gewahrwerdens zu helfen, jedoch nicht als Autorität oder als ein Richter, der die Befugnis hat, den Patienten zur Rechenschaft zu ziehen. Er spricht als ein Mensch, der aufgerufen ist, an den Problemen des Patienten teilzunehmen, und einzig mit der Autorität, die seine Teilnahme an dem Patienten und sein eigenes Gewissen ihm geben.

Hat der Patient erst einmal seine autoritären Reaktionen auf die Schuld und die völlige Vernachlässigung des eigentlichen moralischen Problems überwunden, dann beobachten wir eine neue Reaktion, welche in hohem Maße derjenigen gleicht, die ich als kennzeichnend für die humanistisch-religiöse Erfahrung geschildert habe. Die Rolle des Analytikers in diesem Prozess ist sehr begrenzt. Er kann Fragen stellen, die es dem Patienten noch schwerer machen, seine Einsamkeit zu verteidigen, indem er in ein Selbstmitleid flüchtet oder auf andere Fluchtwege ausweicht. Der Analytiker kann ermutigend wirken, wie jede Gegenwart eines sympathisierenden menschlichen Wesens einem Verängstigten gegenüber wirkt, und er kann dem Patienten helfen, indem er gewisse Zusammenhänge dadurch aufklärt, dass er die symbolische Sprache des Traumes in die Sprache unseres wachen Lebens überträgt. Aber weder der Analytiker noch irgendein anderer können etwas tun, um dem Patienten den mühevollen Prozess zu ersparen, das, was in seiner Seele vor sich geht, aufzuspüren, zu erfühlen und zu erleben. Tatsächlich bedarf diese Art der Seelenerforschung nicht des Analytikers. Jedermann bringt das zustande, wenn er einiges Vertrauen in seine eigenen Kräfte hat und bereit ist, durch Schmerz hindurchzugehen. Den meisten von uns gelingt es, am Morgen zu einer bestimmten Zeit zu erwachen, wenn wir uns dies beim Einschlafen fest vorgenommen haben. So zu sich selbst zu erwachen, dass sich unsere Augen für das, was verborgen war, öffnen, ist schwieriger, aber man bringt es zustande, vorausgesetzt, dass man es ernstlich will. Eines muss dabei ganz klar sein: Es gibt keine Rezepte für die Kunst des Lebens oder das Glücklichsein, die in einigen Büchern gefunden werden könnten. Auf die Stimme des Gewissens hören und ihr folgen, führt nicht zu einer Art behaglichem und einschläferndem “Seelenfrieden“ (Peace of Soul).[29] Es führt zum Frieden mit dem eigenen Gewissen, der, weit entfernt, ein passiver Zustand der Seligkeit und Zufriedenheit zu sein, vielmehr beständige Wachsamkeit unserem Gewissen gegenüber bedeutet, gepaart mit der Bereitschaft, darauf zu antworten.

In diesem Kapitel habe ich zu zeigen versucht, dass die psychoanalytische Seelsorge bestrebt ist, dem Patienten zu einer Einstellung zu verhelfen, die im humanistischen, wiewohl nicht im autoritären Sinn religiös genannt werden kann. Sie sucht ihn zu befähigen, der Wahrheit ins Gesicht sehen zu können, lieben zu können, auf die Stimme des Gewissens aufmerksam zu sein. Doch mag der Leser fragen, ob ich damit nicht [VI-279] eine Einstellung beschrieben habe, die man mit größerem Recht ethisch als religiös nennen kann. Habe ich nicht das spezifische Element beiseite gelassen, welches den religiösen vom ethischen Bereich unterscheidet? Ich glaube, dass der Unterschied zwischen dem Religiösen und dem Ethischen weitgehend, jedoch nicht vollständig ein erkenntnistheoretischer ist. Denn in der Tat scheint es, dass bestimmten Arten religiöser Erfahrung ein Faktor gemeinsam ist, der über das rein Ethische hinausgeht.[30] Doch ist es außerordentlich schwer, wenn nicht gar unmöglich, diesen Faktor der religiösen Erfahrung zu formulieren. Nur die, die selbst diese Erfahrung gemacht haben, verstehen die Formulierung, und gerade sie bedürfen ihrer nicht. Diese Schwierigkeit ist dem Grade nach zwar größer, aber grundsätzlich nicht verschieden von derjenigen, eine Gefühlserfahrung in Wortsymbolen auszudrücken. Ich möchte wenigstens den Versuch wagen und andeuten, was ich mit dieser spezifisch religiösen Erfahrung meine und welches ihre Beziehung zum psychoanalytischen Prozess ist.

Ein Aspekt der religiösen Erfahrung ist das Sich-Wundern, das Staunen, das Gewahrwerden des Lebens und der eigenen Existenz und des rätselhaften Problems, zur Welt bezogen zu sein. Die Existenz - nicht nur die eigene, auch die des Mitmenschen - wird nicht einfach als gegeben hingenommen; sie wird als Problem aufgefasst, als Frage, nicht als Antwort. Sokrates’ Feststellung, das Staunen sei aller Weisheit Anfang, gilt nicht nur für die Weisheit, sie trifft auch auf die religiöse Erfahrung zu. Wer nie stutzig geworden ist, wer nie in der Tatsache des Lebens und seiner eigenen Existenz Erscheinungen gesehen hat, die Antworten erfordern und auf die doch paradoxerweise die einzigen Antworten neue Fragen sind - der kann kaum verstehen, was eine religiöse Erfahrung ist.

Ein anderer Bestandteil der religiösen Erfahrung ist das, was Paul Tillich „das, was uns unbedingt angeht“ (ultimate concern) genannt hat. Es ist nicht die leidenschaftliche Sorge um die Erfüllung unserer Wünsche, weit eher das Ergriffensein, das mit der eben genannten Einstellung des Staunens verquickt, ist: ein unbedingtes Betroffensein von der Frage nach dem Sinn des Lebens, von der der Selbstverwirklichung des Menschen, von der der Erfüllung der Aufgabe, die das Leben uns stellt. „Das, was uns unbedingt angeht“, rückt alle Wünsche und Ziele, sofern sie nicht dem Wohl der Seele und der Selbstverwirklichung dienen, an zweite Stelle, ja, sie werden bedeutungslos im Vergleich zu dem Gegenstand dessen, „was uns unbedingt angeht“. Dies schließt notwendigerweise die Trennung zwischen dem Heiligen und dem Weltlichen aus, weil bei einer solchen Trennung das Weltliche untergeordnet ist und vom Heiligen geprägt wird.

Jenseits dieser Einstellung des Staunens und Betroffenseins gibt es ein drittes Element der religiösen Erfahrung, das am deutlichsten von den Mystikern dargestellt und [VI-280] beschrieben wird. Es ist die Haltung des Einsseins nicht nur mit sich selbst, nicht allein mit dem Nächsten, sondern mit allem Leben und darüber hinaus mit dem Universum. Es mag manchem erscheinen, als ob durch diese Haltung die Einmaligkeit und die Individualität des Einzelnen geleugnet und die Selbsterfahrung geschwächt würde. Dass dies nicht zutrifft, macht die paradoxe Eigenart dieser Haltung aus. Sie umfasst sowohl das deutliche und sogar schmerzliche Gewahrwerden des eigenen Selbst als einer abgetrennten und vereinzelten Größe als auch die Sehnsucht, die Schranken dieses individuellen Daseins zu durchbrechen und mit dem All eins zu werden. Die religiöse Haltung dieser Art bedeutet das vollkommenste Erlebnis der Individualität und zugleich dessen Gegenteil. Es ist nicht sosehr eine Vermischung beider als eine Polarität, aus deren Spannung die religiöse Erfahrung erwächst; eine Haltung des Stolzes und der Integrität und gleichzeitig der Demut, weil man sich selbst als ein winziges Fädchen im Gewebe des Universums erfährt.

Steht der psychoanalytische Prozess in irgendeinem Zusammenhang mit dieser Art religiöser Erfahrung?

Es wurde schon gesagt, dass er eine Haltung unbedingten Betroffenseins voraussetzt. Nicht weniger wahr ist, dass er im Patienten einen Sinn für das Staunen und Fragen hervorzurufen sucht. Ist dieser Sinn einmal erwacht, so findet er Antworten, die seine eigenen sind. Ist er noch nicht wach geworden, dann kann keine Antwort, die der Psychoanalytiker zu geben vermag, auch nicht die beste und wahrste, ihm irgendwie weiterhelfen. Dieses Staunen ist der bedeutendste therapeutische Faktor bei der Analyse. Ist der Patient hierzu nicht fähig, dann betrachtet er seine Reaktionen, seine Wünsche und Ängste als selbstverständlich und interpretiert seine Schwierigkeiten als Folgen der Handlungsweise anderer, als Pech, als in seiner Veranlagung begründet oder sonst was. Wenn die Analyse wirksam ist, dann nicht, weil der Patient neue Theorien über die Ursachen seines Unglücklichseins übernommen, sondern weil er die Fähigkeit erworben hat, sich in echter Weise überraschen zu lassen; er staunt über die Entdeckung eines Teils seiner selbst, den er nie bei sich vermutet hätte.

Dieser Prozess der Durchbrechung der Schranken des organisierten Selbst - des Ichs - und des Kontakts mit dem ausgeschlossenen, abgetrennten Teil, dem Unbewussten -, dieser Prozess ist der religiösen Erfahrung des Ausbruchs aus der Vereinzelung und dem Gefühl des Einsseins mit dem All eng verwandt. Jedoch ist der Begriff des Unbewussten, den ich hier verwende, weder ganz derjenige Freuds noch der Jungs.

In Freuds Denken ist das Unbewusste im wesentlichen das in uns, was schlecht ist, das Verdrängte, das, was mit den Anforderungen unserer Kultur und unseres höheren Selbst unvereinbar ist. In Jungs System wird das Unbewusste zur Quelle der Offenbarung, ein Symbol für das, was in religiöser Sprache Gott selber ist. In seiner Auffassung ist allein schon die Tatsache, dass wir dem Diktat unseres Unbewussten unterworfen sind, ein religiöses Phänomen. Ich glaube, dass diese beiden Auffassungen des Unbewussten einseitige Verzerrungen der Wahrheit sind. Unser Unbewusstes - das ist der Teil unseres Selbst, der von unserem organisierten Ich, das wir fälschlich mit unserem Selbst identifizieren[31], abgesondert ist - enthält sowohl das Niedrigste als auch das Höchste, das Schlechteste wie das Beste. Wir müssen uns dem Unbewussten nähern, nicht als sei es ein Gott, den wir anzubeten haben, noch wie einem Drachen, [VI-281] den es zu erschlagen gilt; vielmehr in Demut, mit einem tiefen Sinn für Humor, mit dessen Hilfe wir jeden anderen Teil von uns selbst so sehen, wie er ist, weder mit Furcht noch mit Ehrfurcht. Wir entdecken in uns Wünsche, Ängste, Ideen, Einsichten, die wir aus unserem bewussten Sein ausgeschlossen und in anderen beobachtet haben, doch nicht in uns selbst. Es ist wahr, dass wir notwendigerweise nur einen begrenzten Teil aller Möglichkeiten in uns realisieren können. Viele andere haben wir auszuschließen, denn ohne einen solchen Ausschluss könnten wir unser kurzes Leben nicht führen. Außerhalb der Grenzen unserer partikulären Ich-Organisation sind jedoch alle menschlichen Möglichkeiten in uns, ja die ganze Menschheit. Wenn wir mit diesem abgetrennten Teil in Berührung kommen, behalten wir die Individualität unserer Ich-Struktur bei, aber wir erleben dieses einzigartige und individuelle Ich als nur eine der unendlich vielen Variationen des Lebens, so wie jeder Tropfen des Weltmeers von den anderen verschieden und dennoch der gleiche ist wie alle anderen, weil sie allesamt Spielarten ein und desselben Ozeans sind.

Durch den Kontakt mit dieser abgetrennten Welt des Unbewussten ersetzt man das Prinzip der Verdrängung durch das der Durchdringung und Integration. Verdrängung ist ein Akt der Gewalt, des Abschneidens, ein Akt im Namen von „Gesetz und Ordnung“. Sie unterbindet den Zusammenhang zwischen unserem Ich und dem nicht organisierten Leben, aus dem es stammt, und macht unser Selbst zu etwas Fertigem, nicht mehr Wachsendem und darum Totem. Indem wir die Verdrängung auflösen, erlauben wir uns, den Lebensprozess zu spüren, und vertrauen dem Leben mehr als der „Ordnung“.

Ich kann die Erörterung der religiösen Aufgabe der Psychoanalyse nicht verlassen - so unvollständig sie in jedem Fall ist -, ohne noch einen Faktor von großer Bedeutung zu erwähnen. Ich denke an etwas, was häufig zu einem der größten Einwände gegen Freuds Methode gemacht worden ist, nämlich die Tatsache, dass so viel Zeit und Mühe für eine einzelne Person aufgewandt wird. Ich glaube dagegen, dass es vielleicht keinen größeren Beweis für die Genialität Freuds gibt als seinen Rat, sich die Zeit zu nehmen, auch wenn es Jahre dauern sollte, um einem einzigen Menschen zu innerer Freiheit und Glücksfähigkeit zu verhelfen. Dieser Gedanke wurzelt im Geist der Aufklärung, welche als Krönung der gesamten humanistischen Entwicklung der westlichen Kultur die Würde und Einmaligkeit des Individuums über alles stellte. Aber so nahe er jenen Grundsätzen verwandt bleibt, sosehr steht dieser Gedanke im Gegensatz zum intellektuellen Klima unserer Zeit. Wir neigen dazu, in Begriffen der Massenproduktion und des Rationellen zu denken. Soweit dies Gebrauchsartikel betrifft, hat es sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Aber wenn der Gedanke der Massenproduktion und das Prinzip des Rationellen auf das Problem des Menschen und das Gebiet der Psychiatrie übertragen wird, zerstören sie die Grundlage selbst, von der aus es erst sinnvoll wird, mehr und bessere Dinge hervorzubringen.

5. Ist die Psychoanalyse eine Bedrohung für die Religion?

Bisher habe ich zu zeigen versucht, dass wir nur dann an die Beantwortung dieser Frage herangehen können, wenn wir zwischen autoritärer und humanistischer Religion und ebenso zwischen „Anpassungs-Beratung“ und „Seelsorge“ unterscheiden. Versäumt habe ich bisher, verschiedene Aspekte der Religion zu erörtern, die voneinander unterschieden werden müssen, wenn wir feststellen wollen, welche von ihnen durch die Psychoanalyse und andere Faktoren der modernen Kultur bedroht sind und welche nicht. Die besonderen Aspekte, die ich nunmehr unter diesem Gesichtspunkt behandeln möchte, sind der erfahrungsmäßige Aspekt, der wissenschaftlich-magische, der ritualistische und der semantische Aspekt der Religion.

Mit dem erfahrungsmäßigen Aspekt meine ich religiöses Gefühl und religiöse Hingabe. Die den Lehren der Stifter aller großen östlichen und westlichen Religionen gemeinsame Haltung besagt, das höchste Ziel des Lebens sei die Sorge um die Seele des Menschen und die Entfaltung seiner Kräfte der Vernunft und der Liebe. Die Psychoanalyse, weit entfernt davon, dieses Ziel zu gefährden, kann im Gegenteil sehr viel zu seiner Erreichung beitragen. Ebenso wenig kann dieser Aspekt von irgendeiner anderen Wissenschaft bedroht werden. Es ist undenkbar, dass irgendeine Entdeckung auf naturwissenschaftlichem Gebiet eine Bedrohung des religiösen Gefühls werden könnte. Im Gegenteil, ein verstärktes Gewahrwerden der Natur des Weltalls, in dem wir leben, kann dem Menschen nur helfen, stärkeres Selbstvertrauen zu gewinnen und zugleich bescheidener zu werden. Was die Sozialwissenschaften betrifft, so kann das durch sie angebahnte und wachsende Verständnis der Natur des Menschen und der sie beherrschenden Gesetze die Entfaltung einer religiösen Haltung weit eher fördern als sie gefährden.

Die Bedrohung der religiösen Haltung liegt nicht in den Wissenschaften, sondern vielmehr in den vorherrschenden Praktiken des täglichen Lebens. Hier hat der Mensch aufgehört, in sich selbst den höchsten Lebenszweck zu erkennen; er hat sich zum Werkzeug der großen Wirtschaftsmaschine gemacht, die seine Hände gebaut haben. Er ist mehr mit Fragen der Effizienz und des Erfolgs beschäftigt als mit seinem Glücklichsein und dem Wachstum seiner Seele. Noch genauer gesagt: Die Orientierung, die die religiöse Haltung am meisten gefährdet, ist das, was ich die [VI-283] Marketing-Orientierung des modernen Menschen genannt habe. (Vgl. Psychoanalyse und Ethik, 1947a, GA II, S. 47-56.)[32]

Erst in der gegenwärtigen Zeit hat die Marketing-Orientierung ihre dominante Rolle als Ausrichtung des Charakters erlangt. Auf dem Personal-Markt sind alle Berufe, Erwerbstätigkeiten und sozialen Stellungen vertreten: Arbeitgeber, Arbeitnehmer und freie Berufe - für jeden hängt sein materieller Erfolg davon ab, ob er von denen akzeptiert wird, die seine Dienste in Anspruch nehmen könnten.

Wie auf dem Warenmarkt reicht auch hier der Gebrauchswert nicht aus, um den Tauschwert zu bestimmen. Der „Persönlichkeitsfaktor“ wiegt bei der Festsetzung des Marktwerts mehr als das Können und spielt meistens die entscheidende Rolle. Wenn es auch wahr ist, dass die gewinnendste Persönlichkeit den völligen Mangel an Können nicht ausgleichen kann - denn tatsächlich würde unser Wirtschaftssystem unter solchen Umständen nicht funktionieren -, so ist es doch selten, dass berufliche Fähigkeit und Integrität für den Erfolg ausschlaggebend sind. Die Formeln, die dem Warenpaket „Persönlichkeit“ aufgeklebt sein müssen, lauten vielmehr: „sich selbst verkaufen“, „seine Persönlichkeit an den Mann bringen“, ferner „Tüchtigkeit“, „Ehrgeiz“, „Freundlichkeit“, „Aggressivität“ und so fort. Andere Momente wie der familiäre Hintergrund, die Zugehörigkeit zu Klubs, Verbindungen und Einfluss, sind ebenfalls wichtige Desiderate und pflegen, wenn auch auf verdeckte Art, als Grundbestandteile des angebotenen Gebrauchsartikels angepriesen zu werden. Einer bestimmten Religion anzugehören und sie auszuüben, wird ebenfalls weitgehend als eine Voraussetzung für Erfolg angesehen. Jeder Beruf, jede Branche hat ihre Vorstellung vom Erfolgstyp. Der Verkäufer, der Bankangestellte, der Vorarbeiter und der Oberkellner erfüllen diese Forderungen, jeder auf seine Art und in verschiedenem Maße, aber ihre Rollen sind unverkennbar, sie haben sich der Hauptvoraussetzung angeglichen: sie müssen „gefragt“ sein.

Es ist unvermeidlich, dass die Haltung des Menschen sich selbst gegenüber unter diesen Erfolgsmaßstäben leidet. Sein Selbstwertgefühl beruht nicht mehr in erster Linie auf dem Wert seiner Kräfte und deren Gebrauch innerhalb einer gegebenen Gesellschaft. Es hängt vielmehr von seiner „Verkäuflichkeit“ auf dem Markt oder doch von der Meinung anderer über seine „Attraktivität“ ab. Er erfährt sich selbst als einen Gebrauchsartikel, der darauf abgestimmt ist, die günstigsten und einträglichsten Bedingungen zu erzielen. Je höher der angebotene Preis, desto größer seine Wertschätzung. Der „Gebrauchsmensch“ weist hoffnungsvoll sein Etikett vor, versucht sich vor dem Sortiment auf dem Ladentisch auszuzeichnen und den höchst bezifferten Preiszettel zu erlangen. Wenn er jedoch übergangen wird, während andere ausgewählt werden, ergreift ihn ein Gefühl der Minderwertigkeit und der Wertlosigkeit. Wie hoch jedoch auch sein Schätzwert seinen menschlichen Qualitäten und seiner Brauchbarkeit nach sein mag, er kann doch das Pech haben - und den Vorwurf ertragen müssen - aus der Mode gekommen zu sein.

Er hat von Kindheit auf gelernt, dass nur der gefragt ist, der modern ist, und dass er sich deshalb dem Personal-Markt angleichen muss. Die Tugenden, die er gelehrt wird - Ehrgeiz, Sparsinn und Anpassungsfähigkeit an die Forderungen anderer -, sind noch zu allgemeine Eigenschaften, um das Erfolgsschema zu liefern. Er wendet sich [VI-284] populären Romanen, der Presse, dem Film zu, um sich die spezifischen Bilder aus der Geschichte des Erfolgs einzuprägen, und findet dort die flottesten, neuesten Modelle des Marktes, mit denen es zu wetteifern gilt.

Es kann kaum überraschen, dass unter diesen Umständen das Gefühl des eigenen Wertes schwer leiden muss. Die Voraussetzungen für sein Selbstwertgefühl sind außerhalb seiner Einflussmöglichkeit: Der Mensch hängt vom Beifall der anderen ab und bedarf seiner immerfort; Hilflosigkeit und Unsicherheit sind die unvermeidlichen Folgen. Er verliert in der Marketing-Orientierung die Identität mit sich selber; er wird sich selbst fremd.

Wenn der höchste Wert des Menschen der Erfolg ist, wenn Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit, Zärtlichkeit und Mitgefühl ihm nicht von Nutzen sind, dann mag er sich zu diesen Idealen bekennen, aber er wird nicht nach ihnen streben. Er mag sich einbilden, den Gott der Liebe anzubeten, in Wahrheit jedoch verehrt er ein Götzenbild, das die Idealisierung seiner realen Ziele darstellt, nämlich jener, die in seiner Marketing-Orientierung wurzeln. Die Leute, denen allein an der Fortexistenz der Religion als solcher und ihrer Kirchen gelegen ist, mögen sich mit dieser Situation abfinden. Der Mensch wird den Hafen der Kirche und der Religion aufsuchen, weil seine innere Leere ihn zwingt, Unterschlupf zu finden. Doch das Bekenntnis zu einer Religion bedeutet nicht, dass jemand auch religiös ist.

Denen aber, denen es um die religiöse Erfahrung geht, einerlei, ob sie Religionsanhänger sind oder nicht, werden voll gedrängte Kirchen und Bekehrungen noch keine Befriedigung bringen. Sie werden die strengsten Kritiker unserer weltlichen Praktiken sein und erkennen, dass die Selbstentfremdung des Menschen, seine Gleichgültigkeit gegenüber sich und anderen, die ihre Wurzeln in unserer gesamten weltlichen Kultur haben, die wahre Bedrohung einer religiösen Haltung bedeuten, und nicht etwa die Psychologie oder andere Wissenschaften.

Ganz verschieden hiervon ist die Einwirkung des wissenschaftlichen Fortschritts auf einen anderen Aspekt der Religion: den wissenschaftlich-magischen.

Während der Frühzeit seines Kampfes ums Dasein war der Mensch zweifach behindert: durch seinen Mangel, die Naturkräfte um ihn zu verstehen, und durch seine relative Hilflosigkeit, sie zu nutzen. Er bildete sich Theorien über die Natur und erfand gewisse Praktiken, um mit ihr fertig zu werden, und diese wurden ein Teil seiner Religion. Diesen Aspekt der Religion nenne ich den wissenschaftlich-magischen, weil er mit der Wissenschaft deren Aufgabe gemeinsam hatte, die Natur zu verstehen, um Techniken für ihre nutzbringende Handhabung zu erfinden. Solange die Kenntnis des Menschen von der Natur und seine Fähigkeit, sie zu beherrschen, gering waren, nahm selbstverständlich dieser Aspekt der Religion einen wesentlichen Platz in seinem Denken ein. Wenn er sich über die Bewegung der Sterne oder das Wachstum der Bäume verwunderte oder sich Gedanken machte, wie Überschwemmungen, Blitze, Erdbeben zustande kamen, vermochte er Hypothesen aufzustellen, welche diese Geschehnisse analog zu seiner menschlichen Erfahrung erklärten. Er nahm an, Götter und Dämonen stünden hinter diesen Ereignissen, genauso wie er beobachtete, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen willkürliche Einflüsse auf die Ereignisse im eigenen Leben hatten. Solange die Produktivkräfte, die der Mensch in der [VI-285] Landwirtschaft nötig hatte und zur Herstellung von Geräten brauchte, unentwickelt waren, bat er seine Götter um Hilfe. Ging es um Regen, so betete er darum. Standen die Saaten schlecht, so betete er zu den Göttinnen der Fruchtbarkeit. Befürchtete er Überschwemmungen oder Erdbeben, so wandte sich sein Gebet an jene Götter, die er für diese Vorkommnisse verantwortlich machte. Es ist tatsächlich möglich, aus der Geschichte der Religion den Stand der Wissenschaft und der technischen Entwicklung in den jeweiligen geschichtlichen Perioden abzulesen. Der Mensch nahm Zuflucht zu den Göttern für die Erfüllung seiner praktischen Bedürfnisse, die er allein nicht befriedigen konnte; jene Bedürfnisse, für die er nicht betete, konnte er bereits mit eigener Kraft befriedigen. Je mehr der Mensch die Natur versteht und bemeistert, desto weniger bedarf er der Religion zur wissenschaftlichen Erklärung und als magisches Mittel zu ihrer Bewältigung. Wenn die Menschheit imstande sein wird, genug Nahrungsmittel für alle zu produzieren, dann braucht der Mensch nicht mehr um das tägliche Brot zu beten. Er kann es durch seine eigene Anstrengung bewirken. Je weiter Wissenschaft und Technik fortschreiten, desto weniger hat der Mensch es nötig, der Religion eine Aufgabe zuzuschreiben, die nur geschichtlich gesehen religiös ist, nicht aber im Sinn der religiösen Erfahrung. Die westlichen Religionen haben diesen wissenschaftlich-magischen Aspekt zum Wesensbestand ihres Systems gemacht und sich damit der fortschreitenden Entwicklung der menschlichen Erkenntnis widersetzt. Dies trifft für die großen Religionen des Ostens nicht zu. Dort herrschte immer die Neigung, scharf zu unterscheiden zwischen dem Teil der Religion, der vom Menschen handelt, und jenen Aspekten, die eine Naturerklärung zu geben versuchen. Fragen, die im Westen zu heftigem Streit und zu Verfolgungen führten, beispielsweise ob die Welt endlich sei oder nicht, ob das Universum ewig sei und dergleichen mehr, wurden im Hinduismus oder im Buddhismus mit feinem Humor und leiser Ironie behandelt. Wenn Buddha von seinen Schülern solche Fragen gestellt wurden, antwortete er immer wieder: „Ich weiß es nicht, und es kümmert mich nicht, denn, wie immer auch die Antwort lautet, sie hat nicht mit dem einzig wichtigen Problem zu tun: wie man menschliches Leid verringern kann.“

Der gleiche Geist ist wundervoll ausgedrückt in einem Rigveda:

Wer weiß es wahrhaftig und wer hier kann es erklären, wann diese Schöpfung entstanden und woher sie gekommen?

Die Götter sind jünger als die Erschaffung der Welt. Wer weiß dann, wann sie zuerst ins Leben getreten?

Er, der Ursprung ist dieser Schöpfung, ob er alles an ihr gestaltet oder nicht,

Dessen Auge die Welt beherrscht im höchsten Himmel - er weiß es in Wahrheit, oder vielleicht weiß er es nicht. (R. T. H. Griffith, 1897, Band II, S. 576.)

Mit der gewaltigen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens und dem Fortschritt in Industrie und Landwirtschaft wurde unvermeidlicherweise der Konflikt zwischen den wissenschaftlichen Behauptungen der Religion und denen der Forschung immer akuter. Die meisten anti-religiösen Argumente der Aufklärung richteten sich nicht gegen die religiöse Haltung, sondern gegen den Anspruch der Religion, ihre wissenschaftlichen Behauptungen müssten auf Treu und Glauben hingenommen werden. In jüngster Zeit haben sowohl Religionsanhänger als auch eine Anzahl von [VI-286] Wissenschaftlern mancherlei Versuche gemacht, um darzutun, dass der Konflikt zwischen den religiösen Ansichten und den Auffassungen, welche die neuesten naturwissenschaftlichen Entwicklungen mit sich bringen, sich während der letzten fünfzig Jahre verringert habe. Eine große Menge Beweismaterial ist zur Unterstützung dieser These beigebracht worden. Doch glaube ich, dass diese Argumente das zentrale Problem nicht treffen. Selbst wenn man sagen könnte, dass die jüdisch-christliche Auffassung vom Ursprung der Welt eine ebenso haltbare Hypothese sei wie irgendeine andere, dann bezieht sich dieses Argument auf den wissenschaftlichen Aspekt der Religion und nicht auf den religiösen. Die Antwort lautet: Worauf es ankommt, ist das Wohlergehen der Seele, und Hypothesen über die Natur und ihre Erschaffung haben hierfür keine Bedeutung; dies ist heute noch ebenso wahr wie zu der Zeit, da die Veden oder Buddha dies verkündeten.

In unserer Erörterung der vorangegangenen Kapitel habe ich den ritualistischen Aspekt der Religion vernachlässigt, obwohl Rituale zu den wesentlichsten Elementen einer jeden Religion gehören. Die Psychoanalytiker haben dem Ritual besondere Aufmerksamkeit gewidmet, weil ihre Beobachtungen an Patienten neue Einblicke in die Natur der religiösen Formen zu versprechen schienen. Sie haben entdeckt, dass gewisse Typen von Patienten Rituale privaten Charakters pflegen, die mit ihrem religiösen Denken und Tun nichts zu schaffen haben und dennoch den religiösen Formen stark zu gleichen scheinen. Psychoanalytische Untersuchung vermag zu zeigen, dass ein zwanghaftes ritualistisches Verhalten eine Folge starker Affekte ist, welche dem Patienten als solche nicht zu Bewusstsein kommen und mit denen er sozusagen hinter seinem eigenen Rücken auf ritualistische Weise fertig zu werden sucht. In dem besonderen Fall des Waschzwangs entdeckt man, dass dieses Ritual ein Versuch ist, ein starkes Schuldgefühl loszuwerden. Dieses ist nicht durch irgendetwas, was der Patient wirklich getan hätte, verursacht; es entstammt zerstörerischen Impulsen, deren er sich nicht bewusst ist. In dem Waschritual sucht er fortwährend die Zerstörungen wieder gut zu machen, die er unbewusst geplant hat und die nie das Bewusstsein erreichen dürfen. Er bedarf dieses Rituals, um mit seinem Schuldgefühl fertig zu werden. Wird er jedoch seiner zerstörerischen Impulse gewahr, dann kann er sich unmittelbar mit ihnen befassen, und wenn er die Quelle seiner Destruktivität kennt, ist es ihm schließlich möglich, sie auf ein erträgliches Maß zu beschränken. Das Zwangsritual hat eine doppelte Funktion. Es schützt zwar den Patienten vor dem ihm unerträglichen Schuldgefühl, doch zugleich wohnt ihm die Tendenz inne, diese Impulse zu verewigen, weil sie nur indirekt betroffen werden.

Kein Wunder, dass die Psychoanalytiker, die sich der Religion zuwandten, um die religiösen Rituale zu studieren, frappiert waren über die Ähnlichkeit zwischen den privaten Zwangsritualen ihrer Patienten und den gesellschaftlich geformten Zeremonien der Religionen. Sie erwarteten nun, dass die religiösen Riten sich nach demselben Mechanismus vollziehen wie die neurotischen Zwänge. Sie deckten unbewusste Triebkräfte auf, zum Beispiel einen destruktiven Hass gegen die Vatergestalt, wie sie in Gott versinnbildlicht ist, und von denen sie glaubten, dass sie entweder direkt ausgedrückt oder durch das Ritual abgewehrt werden müssen: Ohne Zweifel haben Psychoanalytiker, die diese Richtung verfolgten, eine wichtige Entdeckung über die [VI-287] Natur vieler religiöser Rituale gemacht, wenn auch ihre speziellen Erklärungen nicht immer das Richtige trafen. Da sie hauptsächlich mit pathologischen Erscheinungen beschäftigt waren, übersahen sie häufig, dass Rituale nicht notwendig den gleichen irrationalen Charakter haben wie in Zwangsneurosen. Sie unterschieden nicht zwischen solchen irrationalen Ritualen, die durch Verdrängung irrationaler Impulse entstanden sind, und rationalen Ritualen, die völlig anderer Natur sind.

Wir haben nicht nur ein Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung, der unserem Dasein einen Sinn gibt und den wir mit unseren Mitmenschen teilen können. Wir haben das Bedürfnis, unsere Hingabe an uns bestimmende Werte in Gemeinschaft mit andern durch Handlungen auszudrücken. Im weiten Sinn ist ein Ritual eine gemeinsam vollzogene Handlung zum Ausdruck gemeinsamer Strebungen, die in gemeinsamen Werten wurzeln.

Das rationale Ritual unterscheidet sich vom irrationalen vor allem durch seine Funktion: Es wehrt nicht verdrängte Impulse ab, es drückt im Gegenteil Strebungen aus, die das Individuum als wertvoll anerkennt. Folglich ist für es nicht die zwanghafte Qualität typisch, die für das irrationale Ritual so charakteristisch ist. Wenn das irrationale Ritual auch nur ein einziges Mal nicht ausgeführt ist, besteht Gefahr, dass das Verdrängte durchbricht; daher ist jeder Formfehler mit Angst verbunden. Ein Versäumnis in der Durchführung eines rational bedingten Rituals bringt keinerlei solche Konsequenzen mit sich. Die Unterlassung mag bedauert werden, doch wird sie nicht gefürchtet. Tatsächlich kann man die irrationale Natur eines Rituals stets an dem Grade erkennen, in welchem irgendwelche Verletzungen desselben Angst bewirken.

Einfache Beispiele weltlicher rationaler Riten unserer Zeit sind Grußformeln, Beifallklatschen für einen Künstler, Totenverehrung und vieles andere.[33]

Religiöse Rituale sind keineswegs immer irrational. (Dem Beobachter, der ihren Sinn nicht kennt, erscheinen sie natürlich immer so.) Ein religiöses Waschritual kann als sinnvoller, rationaler Ausdruck einer inneren Läuterung ohne zwanghafte oder irrationale Komponenten verstanden werden, ein symbolischer Ausdruck unseres Wunsches nach innerer Reinheit in der Form eines Rituals zur Vorbereitung einer Handlung, die volle Konzentration und Hingabe erfordert. Ebenso können Rituale wie Fasten, religiöse Trauungszeremonien, Konzentrations- und Meditationsübungen völlig rational sein und bedürfen darum keiner Analyse außer derjenigen, welche aufhellt, was damit gemeint ist.

Ganz so, wie die symbolische Sprache des Traums und des Mythos eine besondere Form des Ausdrucks von Gedanken und Gefühlen durch Bilder von sinnlicher Wahrnehmbarkeit ist, so ist das Ritual ein sinnbildlicher Ausdruck von Gedanken und Gefühlen durch Handlung. [VI-288]

Der Beitrag, den die Psychoanalyse zum Verständnis von Ritualen leisten kann, besteht darin, dass sie die psychologischen Wurzeln für das Bedürfnis nach ritualistischen Handlungen aufzeigt, und dass sie unterscheidet zwischen solchen Riten, die zwanghaft und irrational sind und anderen, die der Ausdruck gemeinsamer Hingabe an unsere Ideale sind.

Welcher Art ist die heutige Situation hinsichtlich des ritualistischen Aspekts der Religion? Der praktizierende Religionsanhänger nimmt an den verschiedenen rituellen Gebräuchen seiner Kirche teil, und ohne Zweifel bildet gerade dieser Zug einen der bedeutsamsten Gründe für seinen Besuch des Gottesdienstes. Weil der moderne Mensch wenig Gelegenheit hat, Handlungen der Hingabe mit anderen zu teilen, übt jegliche Form des Rituals eine mächtige Anziehungskraft auf ihn aus, sogar dann, wenn sie von den hauptsächlichsten Gefühlen und Bestrebungen seines Alltagslebens völlig losgelöst ist.

Dieses Bedürfnis nach gemeinsamen Ritualen wird von den Führern autoritärer politischer Systeme sehr hoch eingeschätzt. Sie bieten neue Formen politisch gefärbter Zeremonien an, welche dieses Bedürfnis befriedigen und womit sie den Durchschnittsbürger an das neue politische Glaubensbekenntnis binden. Der moderne Mensch in demokratischen Kulturen kennt nicht viele sinnvolle Rituale. Darum kann es nicht überraschen, dass das Bedürfnis nach ritualistischer Praxis alle möglichen Formen angenommen hat. Komplizierte Rituale in Logen oder in Verbindungen mit patriotischen Huldigungen für den Staat, Höflichkeitsformeln und vielerlei anderes drücken dieses Bedürfnis nach gemeinsamen Handlungen aus, jedoch deuten diese Gewohnheiten häufig nur die Armseligkeit des Zieles der Hingabe und auf das Getrenntsein von jenen Idealen hin, die von Religion und Ethik offiziell anerkannt sind. Diese Anziehungskraft von Vereinen und Organisationen, ebenso die Aufmerksamkeit für richtigen Benimm gemäß Anstandsbüchern, all dies bietet überzeugende Beweise für das Verlangen des modernen Menschen nach einem Ritual und für die innere Leere derer, die es ausüben.

Dieses Bedürfnis nach einem Ritual ist unbestreitbar und wird weithin unterschätzt. Es scheint fast, als hätten wir nur noch die Wahl, Religionsanhänger zu sein oder in bedeutungslosen ritualartigen Gewohnheiten zu schwelgen oder schließlich dieses Bedürfnis überhaupt unbefriedigt zu lassen. Wenn Rituale leicht zu erfinden wären, so könnten neue humanistische erfunden werden. Dieser Versuch wurde von den Verkündern der „Religion der Vernunft“ im achtzehnten Jahrhundert unternommen. Die Quäker haben in ihren rationalen humanistischen Ritualen etwas Ähnliches versucht; auch kleine humanistische Gemeinschaften haben es getan. Aber Rituale können nicht fabriziert werden. Sie hängen ab vom Vorhandensein genuiner und von allen geteilter Werte, und nur in dem Maße, in dem solche Werte sich Bahn brechen und mit der menschlichen Realität verweben, dürfen wir das Entstehen sinnvoller rationaler Rituale erwarten.

Mit dieser Erörterung der Bedeutung von Ritualen haben wir bereits den vierten Aspekt der Religion, den semantischen, berührt. Die Religion spricht sowohl in ihren Lehren als auch in ihren Ritualen eine andere Sprache als die unseres Alltagslebens, nämlich eine symbolische. Das Wesen derselben besteht darin, dass innere [VI-289] Erfahrungen gefühlsmäßiger oder gedanklicher Art ausgedrückt werden, als seien sie sinnliche Erfahrungen. Wir alle „sprechen“ diese Sprache, sei es auch nur, während wir schlafen. Diese Sprache des Traumes ist keine andere als die, der wir in Mythen und im religiösen Denken begegnen. Die symbolische Sprache ist die einzig universale Sprache, die die menschliche Rasse kennt. Wir finden sie in Mythen, die vor fünftausend Jahren entstanden sind, und ebenso in den Träumen unserer Zeitgenossen. Es ist die gleiche Sprache in Indien und China wie in New York und Paris. (Vgl. J. Campbell, 1949.) In Gesellschaftsgebilden, in denen die oberste Sorge das Verständnis innerer Erfahrungen war, wurde sie nicht nur gesprochen, sondern auch verstanden. In unserer Kultur besteht sie zwar noch im Traum, aber sie wird selten verstanden. Dieser Mangel hat seinen Grund hauptsächlich darin, dass man den Inhalt der symbolischen Sprache für wirkliche Begebenheiten in der Welt der Dinge hält anstatt für den bildhaften Ausdruck seelischer Erfahrungen. Auf Grund dieses Missverständnisses hat man Träume als sinnlose Erzeugnisse unserer Einbildungskraft angesehen und Mythen als kindische Vorstellungen von der Wirklichkeit aufgefasst.

Es war Freud, der uns diese vergessene Sprache erschlossen hat. Mit seinen Bemühungen um Entzifferung der Traumsprache hat er den Weg zum Verständnis der Eigentümlichkeiten der symbolischen Sprache überhaupt eröffnet und ihre Struktur und Bedeutung aufgezeigt. Zugleich hat er dargetan, dass die Sprache religiöser Mythen ihrem Wesen nach von der des Traumes nicht verschieden, das heißt, dass sie der sinnvolle Ausdruck bedeutsamer Erfahrungen ist. Wenn es auch wahr ist, dass seine Traum- und Mythendeutungen infolge seiner Überbetonung der Bedeutung des Sexualtriebs zu eng sind, so bleibt darum nicht weniger wahr, dass er die Grundlagen für ein neues Verständnis der religiösen Symbole im Mythos, im Dogma und im Ritual geschaffen hat. Wohl führt dieses Verständnis der Symbolsprache noch nicht zur Religion zurück; es führt aber zu einer neuen Einschätzung der tiefen und bedeutungsvollen Weisheit, die in symbolischer Sprache in der Religion niedergelegt ist.

Die bisherigen Betrachtungen zeigen, dass die Antwort auf die Frage, wodurch die Religion heute bedroht ist, davon abhängt, welchen spezifischen Aspekt der Religion wir im Auge haben. Das grundlegende Thema der vorangegangenen Kapitel ist die Überzeugung, dass das religiöse Problem nicht die Frage nach Gott, sondern die Frage nach dem Menschen ist; religiöse Formulierungen und Symbole sind Versuche, gewissen Arten menschlicher Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. Den Ausschlag gibt dabei die Natur dieser Erfahrungen. Das Symbolsystem gibt uns nur den Schlüssel, mit dem wir die zugrunde liegende menschliche Realität erschließen können. Leider hat sich seit den Tagen der Aufklärung das religiöse Gespräch um die Bejahung oder Verneinung eines Glaubens an Gott gedreht anstatt um die Bejahung oder Ablehnung gewisser menschlicher Haltungen. „Glaubt ihr an das Dasein Gottes?“ ist zur entscheidenden Frage der Religionsanhänger geworden, während die Gegner der Kirche die Leugnung Gottes in den Mittelpunkt stellten. Es dürfte leicht einzusehen sein, dass viele unter denen, die sich zum Glauben an Gott bekennen, in ihrer menschlichen Einstellung Götzenanbeter sind, und dass im Gegensatz dazu manche glühende „Atheisten“, die ihr Leben der Besserung des Loses der Menschheit und Taten der Brüderlichkeit und Liebe widmen, Glauben und eine tiefe religiöse Haltung bezeugt [VI-290] haben. Die Verlagerung des religiösen Gesprächs auf die Annahme oder Leugnung des Symbols Gott verhindert das Verständnis dafür, dass das religiöse Problem ein menschliches Problem ist, und verhindert die Entwicklung einer solchen menschlichen Einstellung, die im humanistischen Sinne religiös genannt werden darf.

Es sind mancherlei Versuche gemacht worden, das Symbol Gott beizubehalten und ihm einen anderen Sinn zu geben, als die monotheistischen Religionen ihm traditionell zuschreiben. Eines der hervorragendsten Beispiele ist die Theologie Spinozas. Unter Gebrauch streng theologischer Terminologie gibt er eine Definition von Gott, die im Kern besagt, im Sinne der jüdisch-christlichen Überlieferung gebe es keinen Gott. Er war der spirituellen Atmosphäre, in der das Symbol Gott unentbehrlich schien, noch zu nahe, um der Tatsache gewahr zu werden, dass er in der Ausdrucksweise seiner neuen Definition die Existenz Gottes verneinte.

In den Schriften einer Anzahl von Theologen und Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts bis in unsere Zeit kann man gleichartige Versuche finden, das Wort Gott beizubehalten, ihm jedoch einen völlig anderen Sinn zu geben, als es für die Propheten der Bibel oder die christlichen und jüdischen Theologen des Mittelalters hatte. Es bedarf keines Streites mit denen, die am Symbol „Gott“ festhalten wollen, wenngleich es fraglich ist, ob es nicht einen erzwungenen Versuch bedeutet, an einem Symbol festzuhalten, dessen Bedeutung wesentlich geschichtlich bedingt ist. Wie sich dies auch verhalten möge, eines ist sicher: Der wahre Konflikt spielt sich nicht ab zwischen Gottgläubigkeit und Atheismus, sondern zwischen einer humanistischen religiösen Einstellung und einer Haltung, die dem Götzendienst gleichkommt, unabhängig davon, wie diese Haltung sich im bewussten Denken ausdrückt - oder verkleidet.

Sogar von einem streng monotheistischen Standpunkt aus ist der Gebrauch des Wortes Gott problematisch. Die Bibel besteht auf dem Verbot, sich in irgendeiner Form ein Bildnis Gottes zu machen. Zweifellos bedeutet der eine Aspekt dieses ausdrücklichen Befehls, dass es ein Tabu ist, um die Ehrwürdigkeit Gottes zu wahren. Ein anderer Aspekt hingegen ist der Gedanke, dass Gott ein Symbol für alles ist, was im Menschen liegt und was dennoch der Mensch nicht ist; ein Symbol einer geistig-seelischen Realität, die in uns zu verwirklichen wir streben können und die wir dennoch niemals beschreiben oder definieren können. Gott gleicht dem Horizont, der unserem Blick Grenzen setzt. Dem naiven Gemüt erscheint dieser als etwas Greifbares, und doch erweist er sich als Fata Morgana, wenn wir ihn fassen wollen. Wenn wir uns fortbewegen, bewegt sich auch der Horizont. Sobald wir auch nur einen kleinen Hügel erklimmen, weitet sich unser Horizont, aber er bleibt eine Begrenzung und wird niemals zu einem Ding, das man zu greifen vermag. Die Vorstellung, dass Gott nicht definiert werden kann, ist in der biblischen Erzählung von der Offenbarung Gottes an Moses deutlich ausgesprochen. Mit der Aufgabe betraut, zu den Kindern Israels zu sprechen und sie aus der Sklaverei in die Freiheit zu führen, sprach Moses, noch im Geist der Knechtschaft und des Götzendienstes, in dem sie lebten, zu Gott: „Ich werde also zu den Israeliten kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Sie aber werden mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen da sagen? Gott antwortete Moses: Ich bin der ‘Ich-bin-da’. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der ‘Ich-bin-da’ hat mich zu euch gesandt“ (Ex 3,13 f.). [VI-291]

Der Sinn dieser Worte wird noch deutlicher, wenn wir uns enger an den hebräischen Text halten: „Ich bin der ‘Ich-bin-da’“ (ehje ascher ehje).[34] Moses fragte Gott um seinen Namen, weil ein Name etwas ist, das man fassen und anbeten kann. Während der ganzen Geschichte vom Auszug hat Gott liebevolle Zugeständnisse an die Götzen verehrende Einstellung der Kinder Israels gemacht, und so auch jetzt wieder, indem er Moses seinen Namen nennt. Doch in diesem Namen steckt eine tiefsinnige Ironie. Er drückt weit eher den Prozess des Werdens aus als etwas Begrenztes, das man benennen kann wie ein Ding. Der Sinn des Textes würde genau wiedergegeben, wenn die Übersetzung lautete: „Mein Name ist Namenlos.“

In der Entwicklung der christlichen und jüdischen Theologie finden wir wiederholt Versuche, eine geläuterte Vorstellung von Gott zu gewinnen, indem man jede Spur einer positiven Beschreibung oder Definition Gottes unterließ (Plotin, Maimonides). Wie es der große deutsche Mystiker, Meister Eckhart, ausgedrückt hat: „Das was man sagt, dass Gott sei, das ist er nicht; was man nicht von ihm sagt, hat mehr Wahrheit als das, was man sagt, dass er sei“ (zit. nach F. Pfeiffer, 1857).

Denkt man den Monotheismus mit seinen logischen Konsequenzen wahrhaft zu Ende, so kann es keinen Streit über das Wesen Gottes geben. Kein Mensch kann behaupten, eine solche Kenntnis von Gott zu haben, dass er befugt wäre, mit ihr seine Mitmenschen zu kritisieren oder zu verdammen oder zu behaupten, seine eigene Gottesvorstellung sei die einzig richtige. Die religiöse Intoleranz, die so charakteristisch ist für die westlichen Religionen und aus derartigen Ansprüchen stammt - und, psychologisch gesprochen, ihre Wurzel in einem Mangel an Glauben oder an Liebe hat -, hat einen verheerenden Einfluss auf die religiöse Entwicklung gehabt. Sie hat zu einer neuen Form von Götzendienst geführt. Ein Bildnis von Gott, nicht in Holz oder Stein, sondern in Worten, wird errichtet, und die Menschen beten dieses Heiligtum an. Jesaja verwirft diese Verzerrung des Monotheismus in folgenden Worten:

Warum fasten wir und du siehst es nicht?
Warum tun wir Buße, und du merkst es nicht?
Seht, an euren Fasttagen macht ihr Geschäfte
und treibt alle eure Arbeiter zur Arbeit an.
Obwohl ihr fastet, gibt es Streit und Zank,
und ihr schlagt zu mit roher Gewalt.
So wir ihr jetzt fastet,
wird eure Stimme droben nicht gehört.
Ist das ein Fasten, wie ich es liebe,
ist das ein richtiger Bußtag:
wenn man den Kopf hin- und herwiegt,
wie ein Schilfrohr sich wiegt,
und sich mit einem Sack und mit Asche bedeckt?
Nennst du das ein Fasten
und einen Tag, der dem Herrn gefällt?
Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe:
die Fesseln Unschuldiger zu lösen,
die Stricke des Jochs zu entfernen,
die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen,
den Hungrigen dein Brot zu geben,
die Armen aufzunehmen, die keine Wohnung haben,
wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden
und deinen Bruder nicht im Stich zu lassen.
Dann wird dein Licht aufleuchten wie die Morgenröte,
und bald bist du geheilt.
Deine Rettung geht dir voran,
die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach. (Jes 58,3-8)

Das Alte Testament, insbesondere die Propheten, sie kümmerten sich ebenso sehr um das Negative, den Kampf gegen die Götzendienerei, wie um das Positive, die Anerkennung Gottes. - Bekümmert uns noch das Problem des Götzendienstes? Erst wenn wir gewisse „primitive“ Götzenbilder aus Holz oder Stein finden, fällt er uns auf. Wir betrachten uns selbst als solche, die weit von solchem Götzendienst entfernt sind, und die das Problem des Götzendienstes gelöst haben, weil wir keines der traditionellen Symbole des Götzendienstes verehren. Wir vergessen, dass das Wesen des Götzendienstes nicht in der Anbetung dieses oder jenes Götzenbildes liegt, sondern dass er eine bestimmte menschliche Haltung darstellt. Diese kann umschrieben werden als die Vergöttlichung von Dingen, von bestimmten Aspekten der Welt, und als Unterwerfung des Menschen unter solche Dinge, im Gegensatz zu einer Haltung, mit der der Mensch sein Leben der Verwirklichung der höchsten Lebensideale, der Liebe und Vernunft widmet, und darum ringt, das zu werden, was er der Möglichkeit nach ist, ein Wesen, geschaffen als Ebenbild Gottes. Nicht nur Bildnisse aus Stein und Holz sind die Idole. Worte können Idole werden; Maschinen können Götzenbilder sein; Führer, der Staat, Macht und politische Gruppen können diese Rolle spielen. Die Wissenschaft oder die Meinung des Nachbarn über uns können zu Götzen werden - und Gott ist für viele ein Idol geworden.

Wiewohl es dem Menschen nicht gegeben ist, gültige Aussagen über das Positive, über Gott zu machen, ist es ihm möglich, etwas Bestimmtes über das Negative, über die Idole, auszusagen. Ist es nicht an der Zeit, den Streit über Gott zu begraben und uns stattdessen zu vereinen, um die Formen des Götzendienstes in unserer Zeit zu demaskieren? Heute sind es nicht Baal und Astarte, welche die kostbarsten geistig-seelischen Güter des Menschen bedrohen; vielmehr sind diese durch Vergöttlichung des Staates und der Macht in autoritären Ländern und in unserer Kultur durch Vergötzung der Maschine und des Erfolgs gefährdet. Ob wir Religionsanhänger sind oder nicht, ob wir an die Notwendigkeit einer neuen Religion glauben oder an eine Religion des Verzichts auf Religion oder an den Fortbestand der jüdisch-christlichen Tradition - solange wir uns um das Wesen und nicht um die Schale kümmern, um die Erfahrung und nicht um das Wort, um den Menschen und nicht um die Kirche, können wir uns zusammentun in fester Ablehnung allen Götzendienstes und in dieser Negation vielleicht einen stärkeren gemeinsamen Glauben finden als in irgendeiner bejahenden Aussage über Gott. Und gewiss werden wir mehr Demut und mehr Nächstenliebe finden.

[1] [Anmerkung des Herausgebers: Erstveröffentlichung unter dem Titel Psychoanalysis and Religion, New Haven (Yale University Press) 1950; eine deutsche Übersetzung erschien erstmals 1966 unter dem Titel Psychoanalyse und Religion beim Diana Verlag, Zürich; mit überarbeiteter Übersetzung wurde der Titel 1980 in die zehnbändige Erich Fromm Gesamtausgabe aufgenommen. Mit der überarbeiteten Übersetzung erschien das Buch 1983 bei Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. - Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VI, S. 227-292. Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1950 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © E-Book Erich Fromm Gesamtausgabe 2016 by Rainer Funk.]

[2] [Anmerkung des Herausgebers: Psychoanalyse und Religion verdankt seine Entstehung einer Stiftung. Dwight H. Terry aus Bridgeport, Connecticut, stiftete 100 000 Dollar, damit „Vorlesungen über Religion im Lichte von Wissenschaft und Philosophie“ gehalten und gedruckt werden können. Die Stiftung, so verfügte der Stifter, möge dazu dienen, „dass der christliche Geist im vollsten Licht des Wissens der Welt gestärkt und dass der Menschheit geholfen werde, ihren höchsten Grad der Wohlfahrt und des Glücks auf dieser Erde zu erreichen“. - 1949 wurde Erich Fromm mit der Ehre ausgezeichnet, die Terry-Lectures an der Yale University zu halten. Es war die 26. Vorlesungsreihe dieser Stiftung. Vor ihm hielten unter anderen auch John Dewey, John Macmurray und Carl Gustav Jung Vorlesungen. Es lag nahe, dass sich Fromm auch mit deren Verständnis von Religion auseinandersetzte.

Mit Psychoanalyse und Religion hat Fromm erstmals zusammenfassend seine Ansichten zur Religion formuliert. Sie sind von seiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse geprägt, aber auch von seiner Auseinandersetzung mit nicht-theistischen Religionen und mystischen Strömungen. Das Bekenntnis zu einem nicht-theistischen Humanismus tritt eindeutig hervor. Es ist der rote Faden durch alle Abgrenzungen und das Verbindende zur psychoanalytischen Theorie und Praxis. Fromms humanistisches Verständnis von Religion ist radikal und wehrt jeden Vereinnahmungsversuch durch etablierte Religionen und Kirchen ab. Mit dieser provokativen Eigenart hat der Stifter der Terry-Lectures gerechnet. Er bestimmte, „kein ernster Wahrheitssucher soll ausgeschlossen sein, weil seine Ansichten zu radikal oder für die bestehenden Glaubenssätze zu zerstörerisch erscheinen“. Seine einzige Erwartung war das Ja zu den Grundsätzen der Stiftung, nämlich „Treue gegenüber der Wahrheit, wohin sie auch führen werde, und Hingabe an die menschliche Wohlfahrt“. Dies sind denn auch Erich Fromms Grundsätze.

Fromms Verständnis von Religion ist in Psychoanalyse und Religion stark davon geprägt, dass er das autoritäre Religionsverständnis einem humanistischen gegenüberstellt - eine Kontrastierung, die auf der in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 56-71) ausgeführten Unterscheidung zwischen einer nicht-produktiven und der produktiven (Gesellschafts-) Charakterorientierung aufbaut. Da institutionalisierte Volksreligionen in der Regel an den vorherrschenden nicht-produktiven Gesellschafts-Charakterorientierungen partizipieren, orientieren sie sich hinsichtlich ihres Gottesbildes, ihres Glaubensbekenntnisses, ihres Menschenbildes, ihrer Ethik und Erlösungslehre, aber auch hinsichtlich ihrer Rituale und Organisationsformen an den Bezogenheitsmustern und Werten der dominanten Gesellschafts-Charakterorientierung. Diese im Kern religionskritische Sicht entwickelte Fromm bereits in seiner Abhandlung aus dem Jahr 1930 Die Entwicklung des Christusdogmas (1930a, GA VI, S. 11-68); sie wird in Psychoanalyse und Religion an dem die christliche Religion der letzten Jahrhunderte so prägenden autoritären Gesellschafts-Charakter exemplifiziert. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass Fromms kritische Sicht der Religion auch für andere, vom Gesellschafts-Charakter geprägte Religionsformen gilt, etwa narzisstische Religionen oder für die am Marketing orientierte Religion, die ihre lebensphasen-spezifischen Rituale oder Werte und Sinnentwürfe als religiöse Produkte offeriert und verkauft, um erfolgreich zu sein. Von Letzterer spricht er gegen Ende von Psychoanalyse und Religion (1950a, GA VI, S. 283 f.) sowie in Haben oder Sein (1976a, GA II, S. 364-378).

Es gibt noch ein zweites Buch, in dem sich Fromm ausführlich mit dem Religionsphänomen befasst. In Ihr werdet sein wie Gott (1966a, GA VI, S. S. 83-226) zeigt der gebürtige Jude Fromm auf, dass im Alten Testament und in der jüdischen Tradition seiner Auslegung eine Entwicklung erkennbar ist hin zu einem humanistischen Verständnis des Religionsphänomens. Ein solches Verständnis lässt sich vor allem in mystischen Richtungen der Religion erkennen, die von einer religiösen Erfahrung als einer nicht definierbaren und in Begriffen nicht fassbaren Erfahrung sprechen. Diese „X-Erfahrung“ (1966a, GA VI, S. 118-121) widersteht jeder Versuchung, die Erfahrung begreifen zu wollen und begrifflich kommunikabel zu machen. Sie ist für Fromm die einzige Form von Religion, bei der das von allen Menschen zu befriedigende „Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe“ (1955a, GA IV, S. 48-50 ) auf eine nicht götzendienerische und den Menschen von seinen humanen Kräften entfremdende Weise befriedigt wird.

Dass Fromm nach seiner Abkehr von der praktizierten jüdischen Vaterreligion im Jahr 1926 eine nicht-theistische Auffassung von Religion vertrat, die er psychologisch fundierte, resultierte auch aus seiner Jahrzehnte langen Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus (vgl. 1960a, GA VI, S. 301-356) und seiner Praxis buddhistischer Achtsamkeitsübungen (vgl. Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung, 1989a, GA XII, S. 416-432).

Die kritische Auseinandersetzung mit autoritären Religionsphänomenen in Psychoanalyse und Religion spiegelt nur einige Aspekte des Religionsverständnisses bei Fromm wider. Allerdings provozierte gerade dieses Buch eine zum Teil heftig geführte Auseinandersetzung vor allem mit christlichen Theologen des angelsächsischen Raums, die sich gegen Fromms Kritik am calvinistisch geprägten Protestantismus zur Wehr setzten und nicht müde wurden, sein humanistisches Religionsverständnis apologetisch in Frage zu stellen. Andere Publikationen, unter ihnen zahlreiche Dissertationen, lassen erkennen, wie sehr Fromms Buch Psychoanalyse und Religion das Verständnis von Religion befruchtete. Erwähnt seien hier die Arbeiten von: S. Hiltner, 1953, J. H. Schaar, 1961, A. M. Caligiuri, 1966, J. S. Glen, 1966, V. A. Jensen, 1966, J. J. Petuchowski, 1966, W. C. Tilley, 1966, G. B. Hammond, 1967, J. J. Forsyth und J. M. Beniskos, 1970, Y. Suzuki, 1971, P. Tillich, 1971, O. B. Curtis, 1972, R. B. Betz, 1974, R. Banks, 1975, R. Funk, 1978, J. Jeremias, 1983, H. Kuegler, 1984, H. Kurz, 1986, J. Hardeck, 1990, S. Lundgren, 1998, J. Braune, 2014,]

[3] [Anmerkung des Herausgebers: Gemeint ist Henny Gurland Fromm, seine aus Aachen gebürtige zweite Frau, die mit Walter Benjamin aus dem von den Deutschen besetzten Frankreich floh und Zeugin des Freitods von Walter Benjamin bei Port Bou wurde. Henny erkrankte Ende der Vierziger Jahre schwer und starb im Juni 1952 in der neuen gemeinsamen Wahlheimat in Mexiko.]

[4] [Anmerkung des Herausgebers: Der genaue Titel lautet: Psychologia hoc est, de hominis perfectione, animo, et inprimis ortu hujus, commentationes ac disputationes quorundam theologorum et philosophorum nostrae aetatis, quos versa pagina ostendit. Recensente Rudolpho Goclenio, Marpurgi 1590.]

[5] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Unterscheidung von intelligence und reason vgl. die Hinweise zur Übersetzung zu intelligence, reason.]

[6] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Unterscheidung von intelligence und reason vgl. die Hinweise zur Übersetzung zu intelligence, reason.]

[7] Ein Beispiel für die unglückliche Art, wie dieses Thema bisweilen behandelt wird, bietet eine Stelle aus Monsignore Sheens Peace of Soul. Er schreibt: „Freud belastete seine Theorie mit einem unbewiesenen Vorurteil, als er freimütig den Vorwurf seiner Gegner als zutreffend anerkannte: ‘Die Maske ist gefallen: Sie (die Psychoanalyse) führt zur Leugnung Gottes und eines ethischen Ideals’“ (F. J. Sheen, 1949, dt.: S. 108). Monsignore Sheen erweckt den Eindruck, als gebe diese Stelle Freuds eigene Meinung wieder. Schlägt man sie aber auf, so sieht man, dass der angeführte Satz nach dem hier folgenden steht: „(...) wenn ich jetzt mit so unliebsamen Äußerungen hervortrete, wird man für die Verschiebung von meiner Person auf die Psychoanalyse nur allzu bereit sein. ‘Jetzt sieht man, wird es heißen, wohin die Psychoanalyse führt. Die Maske ist gefallen; zur Leugnung von Gott und sittlichem Ideal, wie wir es ja immer vermutet haben. Um uns von der Entdeckung abzuhalten, hat man uns vorgespiegelt, die Psychoanalyse habe keine Weltanschauung und könne keine bilden’“ (S. Freud, 1927c, S. 359). Es ist klar, dass Freud, anstatt seine eigene Meinung auszudrücken, darauf verweist, wie die Leute die Psychoanalyse angreifen werden. Die Entstellung liegt darin, dass man Freud unterstellt, er leugne nicht nur Gott, sondern auch jedes ethische Ideal. Während das erste zutrifft, läuft das zweite der Stellungnahme Freuds zuwider. Monsignore Sheen hat gewiss das Recht zu glauben, die Leugnung Gottes führe zur Leugnung ethischer Ideale, jedoch nicht den Anschein zu erwecken, als sei dies Freuds eigene Meinung. Hätte Monsignore Sheen die Stelle korrekt zitiert, indem er die Worte „wie wir immer angenommen haben“ beibehalten oder wenigstens die Auslassung angedeutet hätte, dann wäre der Leser nicht so leicht irregeführt worden.

[8] [Anmerkung des Herausgebers: Ob Fromm hier tatsächlich „nicht-religiöse“ Systeme meint, muss bezweifelt werden. Zumindest von seinem späteren Sprachgebrauch von „religiös“ her, bei dem auch nicht-theistische Systeme „religiös“ sind, wird die Kennzeichnung „nicht-religiös“ an dieser Stelle besser durch „nicht-theistisch“ zu ersetzen sein.]

[9] Freud stellt selber fest, der Umstand, dass eine Idee einen Wunsch befriedige, bedeute noch nicht notwendig, dass sie falsch sei. Weil Psychoanalytiker bisweilen diesen irrigen Schluss gezogen haben, möchte ich diese Bemerkung Freuds unterstreichen. Tatsächlich gibt es viele wahre wie auch falsche Ideen, zu denen der Mensch gelangt ist, weil er wünschte, die Idee möchte wahr sein. Die meisten großen Entdeckungen sind dadurch entstanden, dass jemand voll Interesse herauszufinden wünschte, dass etwas wahr sei. Wenn auch das Vorhandensein eines solchen Interesses den Beobachter argwöhnisch machen kann, so kann es doch niemals die Ungültigkeit einer Konzeption oder einer Feststellung beweisen. Das Kriterium für die Gültigkeit liegt nicht in der psychologischen Analyse der Motivation, sondern im Abwägen des Beweismaterials für oder gegen eine Hypothese im Rahmen der logischen Zusammenhänge der Hypothese.

[10] Er weist auf den Gegensatz zwischen der ausgezeichneten Intelligenz eines Kindes und der Denkschwäche des durchschnittlichen Erwachsenen hin. Er nimmt an, dass die „innerste Natur“ des Menschen nicht so irrational sein dürfte, wie der Mensch auf Grund des Einflusses irrationaler Lehren wird.

[11] Vgl. die Erörterungen über universale im Vergleich zu gesellschaftlich-immanenter Ethik in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 149-153).

[12] [Anmerkung des Herausgebers: Diese grundsätzliche Kritik an der Psychologie C. G. Jungs hat Fromm pointiert ausgeführt in seinem Aufsatz C.G. Jung: Prophet des Unbewussten. Zu "Erinnerungen, Träume, Gedanken" von C. G. Jung (1963e, GA VIII, S. 125-130).]

[13] Es ist interessant, festzustellen, dass Jungs Position in Psychologie und Religion in vieler Hinsicht von William James vorweggenommen wurde, während die Position Freuds in wichtigen Punkten der Einstellung Deweys gleicht. William James nennt die religiöse Haltung eine „abhängige und opferfreudige“ Einstellung, die der Mensch zu dem von ihm anerkannten Göttlichen einnehmen muss“ (W. James, 1929, S. 51; dt.: S. 40). Wie Jung vergleicht er das Unbewusste mit der Gottesvorstellung der Theologen. Er schreibt: „Zugleich wird doch die theologische These, der Fromme werde durch eine äußere Macht geleitet, festgehalten, denn es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Einbrüche aus der unterbewussten Region, sich als objektiv auszugeben und dem Betreffenden den Eindruck zu erwecken, er werde von außen geführt“ (W. James, 1929, S. 503; dt.: S. 396). In dieser Verbindung des Unbewussten (oder in James’ Terminologie des Unterbewussten) mit Gott sieht James das Bindeglied zwischen der Religion und der Wissenschaft der Psychologie.

John Dewey unterscheidet Religion und religiöse Erfahrung. Nach seiner Auffassung haben die übernatürlichen Dogmen der Religion die religiöse Haltung des Menschen geschwächt und untergraben. „Die Gegensätzlichkeit zwischen religiösen Werten, wie ich sie auffasse, und den Religionen kann nicht überbrückt werden. Eben weil die Inkraftsetzung dieser Werte so wichtig ist, muss auf ihre Identifizierung mit religiösen Glaubensbekenntnissen und Kultformen verzichtet werden“ (J. Dewey, 1934, S. 28). Wie Freud erklärt er: „Die Menschen haben niemals die ihnen innewohnenden Kräfte vollauf benutzt, um das Gute im Leben zu fördern, weil sie auf eine Macht außer ihnen und außerhalb der Natur warteten, um sie die Arbeit tun zu lassen, die zu leisten ihre Verantwortung wäre“ (J. Dewey, 1934, S. 46). Vgl. auch John Macmurrays Position in The Structure of Religious Experience (1936). Er betont den Unterschied zwischen den rationalen und den irrationalen, sentimentalen und schädlichen religiösen Gefühlen. Im Gegensatz zu der relativistischen Haltung, die Jung einnimmt, erklärt er: „Keine gedankliche Tätigkeit kann gerechtfertigt werden, sofern sie nicht Wahres und Gültiges hervorbringt und sich von Irrtum und Unrichtigkeit freimacht“ (a.a.O., S. 54).

[14] [Anmerkung des Herausgebers: Die Übersetzung „Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit im Lebensvollzug“ gibt das englische need for completenes in the process of living wieder.]

[15] [Anmerkung des Herausgebers: In der englischen Fassung spricht Fromm kurzerhand nur von need for a system of orientation and devotion. Fünf Jahre später hat Fromm in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 48-50) dieses Bedürfnis need for a frame of orientation and an object of devotion („Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe“) genannt.]

[16] Vgl. hierzu meine Ausführungen in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 300-332.

[17] Die historische Tatsache, dass der Anfang der Bibel nicht ihr ältester Teil sein mag, braucht hier nicht näher betrachtet werden, da wir den Text zur Veranschaulichung zweier Prinzipien benutzen und nicht, um eine historische Abfolge festzustellen.

[18] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Ihr werdet sein wie Gott (1966a; GA VI, S. 130 f.).]

[19] Vgl. hierzu meine Erörterung der symbiotischen Beziehung in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 310 f.)

[20] Vgl. hierzu meine Ausführungen in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 300-322.)

[21] Ein Missverständnis, das in diesem Zusammenhang leicht auftaucht, muss zerstreut werden. Die Wahrheit, von der wir hier sprechen, bezieht sich auf die Frage, ob ein Motiv, das jemand als Beweggrund für sein Handeln angibt, von ihm aus die wirkliche Motivierung bedeutet. Die Erörterung bezieht sich nicht auf den Wahrheitsgehalt der rationalisierenden Aussage als solcher. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Wenn jemand, der eine Begegnung mit einer bestimmten Person fürchtet, als Grund dafür, dass er sie nicht treffen möchte, angibt, es regne heftig, dann rationalisiert er. Der wahre Grund ist seine Furcht und nicht der Regen. Die rationalisierende Aussage, nämlich es regne, kann an sich zutreffend sein.

[22] [Anmerkung des Herausgebers: Das englische Wort matrix wird im Deutschen mangels eines besseren Wortes ebenfalls mit „Matrix“ wiedergegeben. Gemeint ist das emotionale Substrat, die Basis, der Nährboden emotionaler Art.]

[23] Dabei sei erinnert, dass „Kur“ nicht allein die Bedeutung einer Heilbehandlung hat, die man im modernen Sprachgebrauch gewöhnlich damit verbindet. Vielmehr wird das Wort auch im weiteren Sinn als „Sorge für (etwas oder jemanden)“ gebraucht.

[24] Dieses Beispiel ist, wie auch alle anderen klinischen Fälle in diesem Buch, nicht meiner eigenen Praxis entnommen, sondern stammt aus von Studenten vorgelegtem Fall-Material. Einzelheiten wurden verändert, sodass eine Identifizierung unmöglich ist.

[25] [Anmerkung des Herausgebers: Die Begriffe integrity oder sense of integrity werden hier mit „Integrität“ bzw. „Integritätsgefühl“ übersetzt. Fromm gebraucht den Terminus vor allem in der Ethik, um auszudrücken, dass der Mensch eine Einheit von Denken, Fühlen und Handeln ist und nur adäquat in seiner Ganzheitlichkeit begriffen werden kann und dass sich das Konzept des humanistischen Gewissens auf den Menschen in seinem Einssein und seiner Ganzheitlichkeit bezieht.]

[26] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. 1 Kor 13,1-3: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, aber die Liebe nicht hätte, wäre ich tönendes Blech oder lärmendes Schlagzeug. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Einsicht hätte, wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge versetzen könnte, aber die Liebe nicht hätte, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, aber die Liebe nicht hätte, nützte es mir nichts.“]

[27] Jung hat in seinen frühen Schriften die Notwendigkeit einer solchen Revision des Freudschen Inzestbegriffs klar und überzeugend dargetan.

[28] Vgl. meine Ausführungen in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 91-109.)

[29] [Anmerkung des Herausgebers: Erich Fromm spielt hier auf die oben genannten Titel von Fulton John Sheen, Peace of Soul (F. J. Sheen, 1949) und von Joshua L. Liebman, Peace of Mind (J. L. Liebman, 1946) an.]

[30] Die Art der religiösen Erfahrung, die ich hiermit meine, ist jene, die für die indische religiöse Erfahrung, für die christliche und jüdische Mystik und für den Pantheismus Spinozas charakteristisch ist. Ich halte dafür, dass im Gegensatz zur populären Ansicht die Mystik keine irrationale Art religiöser Erfahrung ist, sondern dass sie, wie das hinduistische und buddhistische Denken und der Spinozismus zeigen, die höchste Enwicklungsform des Rationalismus im religiösen Denken ist. Albert Schweitzer hat es so ausgedrückt: „Das zu Ende gedachte Denken führt also irgendwo und irgendwie zu einer lebendigen, für alle Menschen denknotwendigen Mystik.“ (A. Schweitzer, 1951, S. 57.)

[31] [Anmerkung des Herausgebers: Die Begriffe „Ich“, „Selbst“ und „organisiertes lch“ stehen für die englischen Begriffe Ego, self und organized Ego. Vgl. auch die Hinweise zur Übersetzung von self-interest, I, Ego, self.]

[32] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. hierzu Fromms Ausführungen über das Religionsverständnis des Marketing-Charakters in Haben oder Sein (1976a, GA II, S. 364-378).]

[33] Diese einfachen Rituale sind allerdings nicht notwendig so rational, wie die obige Erörterung sie erscheinen lassen mag. Zum Beispiel können bei Todesritualen ein größerer oder geringerer Anteil an verdrängten irrationalen Elementen das Ritual bestimmen: etwa Überkompensation für unterdrückte Feindseligkeit gegen gestorbene Personen oder eine Gegenwehr gegen heftige Todesangst oder auch magische Versuche, sich gegen diese Gefahr zu schützen.

[34] [Anmerkung des Herausgebers: Das Hebräische kennt wie alle semitischen Sprachen keine strikten Zeitformen bei den Verben. Vielmehr drücken die verschiedenen „Konjugationen“ Aktionsformen aus. Das Englische kennt etwas Ähnliches in seiner Verlaufsform (...ing). Fromm nützt diesen Umstand, um die Andersartigkeit der hebräischen Sprache mit folgender Erklärung näherzubringen, die sich im Deutschen nicht nachmachen lässt: „‘I am that I am’ müsste korrekterweise wiedergegeben werden mit ‘I am being that I am being’.“ - Die deutsche Einheitsübersetzung der Bibel versucht dieser Eigenart dadurch gerecht werden, dass sie das „Ich bin, der ich bin“ wiedergibt mit „Ich bin der ‘Ich-bin-da’“. - Vgl. auch Fromms Ausführungen in Ihr werdet sein wie Gott (1966a, GA VI, S. 100 f.).]

Märchen, Mythen, Träume.
Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache

(The Forgotten Language.
An Introduction to the Understanding of Dreams, Fairy Tales and Myths)

(1951a)[1]

Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Inhalt

Ein ungedeuteter Traum gleicht einem ungelesenen Brief.
Talmud, Berachot 55a

Der Schlaf entkleidet uns des Kostüms der äußeren Umstände.
Er wappnet uns mit einer schrecklichen Freiheit,
sodass jeder Wille sofort in die Tat umgesetzt wird.
Ein darin geübter Mensch liest seine Träume,
um sich selbst kennenzulernen;
jedoch nicht die Einzelheiten, sondern die Qualität.
Emerson

Vorwort

Diesem Buch[2] liegen Vorlesungen zugrunde, die ich bei Einführungskursen für graduierte Studenten gehalten habe, welche zur weiteren Ausbildung das William Alanson White Institute of Psychiatry besuchten sowie vor nichtgraduierten Studenten im Bennington College. Es richtet sich an einen ähnlichen Leserkreis, an Studenten der Psychiatrie und Psychologie sowie an interessierte Laien. Wie aus dem Untertitel hervorgeht, handelt es sich um eine Einführung in das Verständnis der symbolischen Sprache. Aus diesem Grund beschäftigt es sich auch nicht mit vielen der verwickelteren Probleme auf diesem Gebiet. Ich gehe beispielsweise auf Freuds Theorie nur im Hinblick auf seine „Traumdeutung“ ein und lasse die schwierigen Probleme, die er in seinen späteren Schriften entwickelte, unberücksichtigt. Ich setze mich auch nicht mit jenen Aspekten der Symbolsprache auseinander, die zwar zum vollen Verständnis der einschlägigen Probleme dazugehörten, die aber die allgemeine Information voraussetzen, welche diese Seiten zu vermitteln versuchen. All diesen weitergehenden Fragen möchte ich in einer späteren Veröffentlichung nachgehen.[3]

Ich spreche im Titel ausdrücklich von einer Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache und nicht, wie sonst üblich, von ihrer Deutung. Wenn - wie ich auf den folgenden Seiten zu zeigen versuche - die symbolische Sprache eine eigenständige Sprache ist, wenn sie tatsächlich die einzige universale Sprache ist, die die Menschheit jemals entwickelt hat, so geht es darum, sie zu verstehen, und nicht darum, sie zu deuten, so als ob man es mit einem künstlich hergestellten Geheimcode zu tun hätte. Nicht nur für den Psychotherapeuten, der seelische Störungen zu beheben versucht, sondern für jeden, der mit sich selbst in Berührung kommen möchte, ist es wichtig, diese Symbolsprache verstehen zu können. Deshalb sollte auf unseren höheren Schulen und auf den Universitäten ebenso wie der Unterricht in anderen „Fremdsprachen“, so auch der Unterricht in der Symbolsprache in den Lehrplan aufgenommen werden. Dieses Buch möchte zur Verwirklichung dieses Zieles einen Beitrag leisten.

Mein Dank gilt Dr. Edward S. Tauber, der das Manuskript gelesen hat und mir mit seiner konstruktiven Kritik und seinen Anregungen eine große Hilfe war.[4]

Erich Fromm, 1951.

1. Einleitung

Wenn es stimmt, dass die Fähigkeit zu staunen der Anfang aller Weisheit ist, dann wirft das ein trauriges Licht auf die Weisheit des heutigen Menschen. Wir mögen über eine noch so hohe literarische und allgemeine Bildung verfügen, die Gabe, über etwas staunen zu können, haben wir verloren. Alles wird als bekannt vorausgesetzt, und wenn wir selbst nicht darüber Bescheid wissen, so gibt es irgendeinen Spezialisten, dessen Aufgabe es ist, das zu wissen, was wir selbst nicht wissen. Sich über etwas zu wundern, ist geradezu peinlich und gilt als Zeichen dafür, dass man geistig nicht auf der Höhe ist. Sogar unsere Kinder sind nur selten von etwas überrascht, oder sie versuchen es sich wenigstens nicht anmerken zu lassen. Mit zunehmendem Alter verlieren wir dann immer mehr die Fähigkeit, uns noch über etwas zu wundern. Uns kommt es darauf an, immer die richtige Antwort bereit zu haben; dass man die richtigen Fragen zu stellen weiß, gilt vergleichsweise als weit weniger wichtig.

Diese Einstellung könnte einer der Gründe dafür sein, dass eine der erstaunlichsten Erscheinungen in unserem Leben, nämlich unsere Träume, uns so wenig Anlass zum Staunen und Fragen geben. Wir alle träumen; wir verstehen unsere Träume nicht und verhalten uns doch so, als ob im Schlaf nicht etwas Seltsames in uns vorginge, seltsam wenigstens verglichen mit unserem logischen, zweckorientierten Denken im wachen Zustand.

Wenn wir wach sind, sind wir aktive, vernünftige Wesen, eifrig darauf bedacht, das zu bekommen, was wir haben möchten, und bereit, uns gegen Angriffe zu wehren. Wir handeln und beobachten; wir sehen die Dinge um uns herum vielleicht nicht so, wie sie wirklich sind, aber doch wenigstens so, dass wir sie nutzen und handhaben können. Freilich besitzen wir nicht viel Vorstellungsvermögen - und sofern wir keine Kinder oder Dichter sind, beschränkt sich dieses meist darauf, die Geschichte und Pläne unserer alltäglichen Erlebnisse zu wiederholen. Wir sind tüchtig, doch dabei phantasiearm. Wir bezeichnen das, was wir tagsüber beobachten, als „die Wirklichkeit“ und sind stolz auf unseren „Realismus“, der uns in die Lage versetzt, sie so geschickt zu handhaben.

Wenn wir schlafen, erwachen wir zu einer anderen Daseinsform. Wir träumen. Wir erfinden Geschichten, die sich nie ereignet haben und für die es im wirklichen Leben [IX-173] manchmal keine Entsprechung gibt. Manchmal sind wir der Held, manchmal der Bösewicht; manchmal erleben wir die herrlichsten Dinge und sind glücklich; oft werden wir in höchsten Schrecken versetzt. Doch welche Rolle wir auch immer im Traum spielen, wir sind der Autor, es ist unser Traum, wir haben die Handlung erfunden.

Die meisten unserer Träume haben ein Merkmal gemeinsam: Sie richten sich nicht nach den Gesetzen der Logik, die unser waches Denken beherrschen. Die Kategorien von Raum und Zeit werden außer Acht gelassen. Verstorbene sehen wir lebendig; viele Jahre zurückliegende Ereignisse erleben wir als gegenwärtig. Wir träumen von zwei Ereignissen, als ob sie sich gleichzeitig abspielten, während das in Wirklichkeit völlig unmöglich wäre. Ebenso wenig kümmern wir uns um die Gesetze des Raumes. Es fällt uns keineswegs schwer, uns im Nu an einen fernen Ort zu begeben, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, zwei Personen in eine zu verschmelzen oder eine Person plötzlich in eine andere zu verwandeln. Im Traum sind wir tatsächlich Schöpfer einer Welt, in der Zeit und Raum, die allen Betätigungen unseres Körpers Grenzen setzen, keine Macht besitzen.

Merkwürdig an unseren Träumen ist auch, dass wir uns an Begebenheiten und an Personen erinnern, an die wir jahrelang nicht mehr gedacht haben und die uns im wachen Zustand niemals mehr eingefallen wären. Im Traum tauchen sie plötzlich als gute Bekannte auf, an die wir oft gedacht haben. Es ist, als ob wir im Schlaf das große Reservoir von Erfahrungen und Erinnerungen anzapften, von dessen Existenz wir tagsüber nichts wissen.

Aber trotz all dieser merkwürdigen Eigenschaften sind unsere Träume - solange wir träumen - für uns ebenso wirklich wie nur irgendein Erlebnis unseres wachen Lebens. Im Traum gibt es kein „als ob“. Der Traum ist gegenwärtiges, reales Erleben, und das so sehr, dass er uns zwei Fragen nahelegt: Was ist Wirklichkeit? Woher wissen wir, dass das, was wir träumen, unwirklich und das, was wir wachend erleben, wirklich ist? Ein chinesischer Dichter hat das treffend ausgedrückt: „Ich habe letzte Nacht geträumt, ich sei ein Schmetterling, und jetzt weiß ich nicht, ob ich ein Mensch bin, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder ob ich vielleicht ein Schmetterling bin, der jetzt träumt, er sei ein Mensch.“

All diese erregenden, lebhaften nächtlichen Erlebnisse verschwinden nicht nur, wenn wir aufwachen, es fällt uns sogar außerordentlich schwer, uns daran zu erinnern. Die meisten vergessen wir so gründlich, dass wir uns nicht einmal mehr daran erinnern, in dieser anderen Welt gelebt zu haben. An manche Träume erinnern wir uns im Augenblick des Erwachens noch undeutlich, und im nächsten Augenblick schon können wir sie uns nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen. An einige wenige erinnern wir uns tatsächlich, und diese Träume meinen wir, wenn wir sagen: „Ich habe einen Traum gehabt.“ Es ist, als ob wohlwollende oder böse Geister uns besucht hätten und bei Tagesanbruch plötzlich verschwunden wären; wir können uns kaum noch daran erinnern, dass sie da waren und wie intensiv wir uns mit ihnen beschäftigt haben.

Vielleicht noch erstaunlicher als alles bisher Erwähnte ist die Ähnlichkeit der Erzeugnisse unserer Kreativität im Schlaf mit den ältesten Schöpfungen der Menschheit - den Mythen. Allerdings machen uns die Mythen heute kein allzu großes Kopfzerbrechen mehr. Wenn sie dadurch, dass sie in unsere Religion eingingen, respektabel [IX-174] geworden sind, zollen wir ihnen eine konventionelle, oberflächliche Anerkennung als Teil einer ehrwürdigen Tradition. Besitzen sie diese traditionelle Autorität nicht, so sehen wir in ihnen kindliche Ausdrucksformen der Ideen von noch nicht durch die Wissenschaft aufgeklärten Menschen. Jedenfalls gehören die Mythen - ob ignoriert, verachtet oder respektiert - einer Welt an, die unserem heutigen Denken völlig fremd ist. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass viele unserer Träume sowohl ihrem Stil als auch ihrem Inhalt nach den Mythen ähnlich sind, und wenn sie uns auch beim Erwachen seltsam und weit hergeholt vorkommen, so besitzen wir doch im Schlaf die Fähigkeit, diese mythenähnlichen Schöpfungen hervorzubringen.

Auch im Mythos gibt es dramatische Begebenheiten, die in einer von den Gesetzen von Zeit und Raum beherrschten Welt unmöglich wären: Der Held verlässt Vaterhaus und Vaterland, um die Welt zu erretten, oder er flieht vor seinem Auftrag und lebt im Bauch eines großen Fisches; er stirbt und wird wiedergeboren; der mythische Vogel verbrennt und steigt aus der Asche wieder hervor - schöner als zuvor.

Natürlich haben die verschiedenen Völker unterschiedliche Mythen geschaffen, wie ja auch verschiedene Menschen unterschiedliche Träume träumen. Aber trotz all dieser Unterschiede haben alle Mythen und Träume eines gemeinsam: Alle sind in der gleichen Sprache - der symbolischen Sprache - geschrieben. Die Mythen der Babylonier, Inder, Ägypter, Hebräer und Griechen sind in der gleichen Sprache geschrieben wie die der Aschantis und Irokesen. Die Träume eines heutigen Einwohners von New York oder Paris sind die gleichen wie die, welche von Menschen berichtet werden, die vor ein paar tausend Jahren in Athen oder Jerusalem lebten. Die Träume antiker und moderner Menschen sind in der gleichen Sprache geschrieben wie die Mythen, deren Urheber zu Beginn der Geschichte lebten.

Die Symbolsprache ist eine Sprache, in der innere Erfahrungen, Gefühle und Gedanken so ausgedrückt werden, als ob es sich um sinnliche Wahrnehmungen, um Ereignisse in der Außenwelt handelte. Es ist eine Sprache, die eine andere Logik hat als unsere Alltagssprache, die wir tagsüber sprechen. Die Symbolsprache hat eine Logik, in der nicht Zeit und Raum die dominierenden Kategorien sind, sondern Intensität und Assoziation. Es ist die einzige universale Sprache, welche die Menschheit je entwickelt hat und die für alle Kulturen im Verlauf der Geschichte die gleiche ist. Es ist eine Sprache sozusagen mit eigener Grammatik und Syntax, eine Sprache, die man verstehen muss, wenn man die Bedeutung von Mythen, Märchen und Träumen verstehen will.

Aber der moderne Mensch hat diese Sprache vergessen, nicht wenn er schläft, aber wenn er wach ist. Ist es wichtig für uns, dass wir diese Sprache auch im wachen Zustand verstehen?

Für die Menschen vergangener Zeiten, die in den großen Kulturen des Ostens und Westens lebten, gab es keinen Zweifel, wie die Frage zu beantworten ist. Für sie gehörten Mythen und Träume zu den bedeutungsvollsten Ausdrucksformen des Geistes, und sie nicht zu verstehen, wäre gleichbedeutend gewesen mit Analphabetentum. Erst in den letzten Jahrhunderten hat sich in der westlichen Kultur diese Einstellung geändert. Man hielt jetzt die Mythen bestenfalls für naive Erzeugnisse des vorwissenschaftlichen Denkens, die erfunden wurden, lange bevor der Mensch [IX-175] seine großen Entdeckungen über die Natur gemacht und sie einigermaßen zu beherrschen gelernt hatte.

Die Träume kamen im Urteil der modernen Aufklärung noch schlechter weg. Man hielt sie für schlechthin sinnlos und der Beachtung erwachsener Menschen nicht wert, die eifrig mit so wichtigen Dingen wie der Herstellung von Maschinen beschäftigt waren und sich für „Realisten“ hielten, weil sie nichts weiter sahen als die Realität von Dingen, die man erobern und gebrauchen konnte - Realisten, die für jedes Automodell eine spezielle Bezeichnung, aber für die Liebe mit ihren höchst verschiedenartigen Gefühlserlebnissen nur ein einziges Wort besitzen.

Es kommt hinzu, dass wir unseren Träumen vielleicht wohlwollender gegenüberstünden, wenn es sich bei allen um angenehme Phantasien handelte, in denen unsere Herzenswünsche erfüllt werden. Aber viele hinterlassen eine beklommene Stimmung; oft sind es Albträume, und wir sind beim Erwachen dankbar, nur geträumt zu haben. Andere Träume wieder sind zwar keine Albträume, doch beunruhigen sie uns aus anderen Gründen. Sie passen nicht recht zu der Person, für die wir uns tagsüber halten. Wir träumen, wie wir Menschen hassen, die wir zu schätzen glauben, und lieben jemanden, an dem wir kein Interesse zu haben meinen. Wir träumen von unserem Ehrgeiz, wo wir doch von unserer Bescheidenheit so fest überzeugt sind. Wir träumen, wir seien unterwürfig und ordneten uns anderen unter, wo wir doch auf unsere Unabhängigkeit so stolz sind. Aber das Allerschlimmste ist, dass wir unsere Träume nicht verstehen, obwohl wir als wache Menschen überzeugt sind, alles begreifen zu können, wenn wir uns nur damit beschäftigen. Statt dass wir uns mit einem so überwältigenden Beweis der Begrenztheit unseres Verstandes abfinden, werfen wir lieber den Träumen vor, sie seien sinnlos.

In den letzten Jahrzehnten ist es zu einer tiefgreifenden Änderung dieser Einstellung zu den Mythen und Träumen gekommen. Dieser Wandel wurde hauptsächlich durch die Arbeiten von Freud in die Wege geleitet. Nachdem dieser zunächst nur versucht hatte, neurotischen Patienten zu helfen, die Gründe für ihre Erkrankung zu verstehen, erkannte er den Traum als ein universales menschliches Phänomen, das auf gleiche Weise bei kranken wie bei gesunden Menschen zu finden ist. Er fand, dass Träume sich im wesentlichen nicht von Mythen und Märchen unterscheiden und dass man - versteht man einmal die Sprache der Träume - auch die der Mythen und Märchen verstehen kann. Die Arbeit der Anthropologen lenkte die Aufmerksamkeit erneut auf die Mythen. Man sammelte und erforschte sie, und einigen auf diesem Gebiet bahnbrechenden Gelehrten gelang es mit ihrer Hilfe, wie vor ihnen J. J. Bachofen, ein neues Licht auf die Vorgeschichte der Menschheit zu werfen.

Aber noch immer steckt die Erforschung der Mythen und Träume in den Kinderschuhen. Verschiedenes steht ihr im Wege: Einmal ist es ein gewisser Dogmatismus und eine gewisse Sturheit verschiedener psychoanalytischer Schulen, die sämtlich behaupten, sie allein verständen die symbolische Sprache richtig. So verlieren wir den Blick für die Vielseitigkeit der Symbolsprache und versuchen, sie in das Prokrustesbett einer einzigen Bedeutung zu zwängen.

Ein weiteres Hindernis ist die immer noch verbreitete Meinung, die Traumdeutung sei nur legitim, wenn der Psychiater sie bei der Behandlung neurotischer Patienten [IX-176] anwende. Ich halte im Gegenteil die Symbolsprache für die einzige Fremdsprache, die jeder von uns lernen sollte. Wenn wir sie verstehen, kommen wir mit dem Mythos in Berührung, der eine der bedeutsamsten Quellen der Weisheit ist, wir lernen die tieferen Schichten unserer eigenen Persönlichkeit kennen. Tatsächlich verhilft sie uns zum Verständnis einer Erfahrungsebene, die deshalb spezifisch menschlich ist, weil sie nach Inhalt und Stil der ganzen Menschheit gemeinsam ist.

Der Talmud (Berachot 55a) sagt: „Ein ungedeuteter Traum gleicht einem ungelesenen Brief.“ Tatsächlich sind sowohl Träume wie Mythen wichtige Mitteilungen von uns selbst an uns selbst. Wenn wir diese Sprache nicht verstehen, verlieren wir einen großen Teil von dem, was wir in den Stunden wissen und uns sagen, in denen wir nicht damit beschäftigt sind, die Außenwelt zu beherrschen.

2. Das Wesen der symbolischen Sprache

Nehmen wir einmal an, wir wollten jemandem den Unterschied im Geschmack von weißem und rotem Wein klarmachen. Das dürfte uns recht einfach vorkommen. Wir kennen ja den Unterschied sehr gut, weshalb sollte es uns dann schwerfallen, ihn einem anderen zu beschreiben? Dennoch dürfte es uns die größten Schwierigkeiten machen, den Geschmacksunterschied in Worte zu fassen. Schließlich werden wir vermutlich der Sache ein Ende bereiten, indem wir sagen: „Ach was, ich kann dir das nicht erklären. Trink einfach erst ein Glas Rotwein und dann ein Glas Weißwein, dann wirst du den Unterschied schon merken.“ Es fällt uns nicht schwer, jemandem die komplizierteste Maschine zu erklären, aber zur Beschreibung einer einfachen Geschmacksempfindung fehlen uns offenbar die Worte.

Sehen wir uns nicht der gleichen Schwierigkeit gegenüber, wenn wir ein Gefühlserlebnis zu beschreiben versuchen? Nehmen wir eine Stimmung, in der man sich verloren und im Stich gelassen fühlt, in der die Welt grau in grau scheint, in der sie uns beängstigend, wenn auch nicht gerade bedrohlich vorkommt. Man möchte einem Freund diese Stimmung beschreiben, aber auch da sucht man vergebens nach Worten und hat schließlich das Gefühl, nichts von dem, was man sagte, gebe die vielfältigen Stimmungsnuancen richtig wieder. In der folgenden Nacht hat man dann einen Traum. Man sieht sich kurz vor Tagesanbruch in den Außenbezirken einer Stadt; die Straßen sind noch leer, nur ein Milchwagen ist zu sehen, die Häuser machen einen armseligen Eindruck, die Gegend kommt uns fremd vor, wir vermissen die üblichen Verkehrsmittel, die uns wieder in vertraute Bezirke bringen könnten, wo wir uns zu Hause fühlen. Wachen wir dann auf und erinnern uns an den Traum, dann fällt uns ein, dass das Gefühl, das wir im Traum hatten, genau das graue, trostlose Gefühl war, das wir tags zuvor unserem Freund vergeblich zu beschreiben versuchten. Es ist nur ein Bild, zu dessen Wahrnehmung wir kaum eine Sekunde brauchten, und trotzdem ist dieses Bild eine lebendigere und genauere Beschreibung, als jene, die wir hätten geben können, wenn wir lang und breit darüber gesprochen hätten. Das im Traum wahrgenommene Bild ist ein Symbol für etwas, das wir fühlten.

Was ist ein Symbol? Ein Symbol wird oft definiert als „ etwas, das stellvertretend für etwas anderes steht“. Diese Definition kommt uns ziemlich nichtssagend vor. Sie wird [IX-178] jedoch interessanter, wenn wir uns mit jenen Symbolen befassen, die Sinneswahrnehmungen - etwa Sehen, Hören, Riechen und Berühren - betreffen und die stellvertretend für etwas „anderes“ stehen, das eine innere Erfahrung, ein Gefühl oder ein Gedanke ist. Ein Symbol dieser Art ist etwas außerhalb von uns selbst; was es symbolisiert, ist etwas in uns. Die Symbolsprache ist die Sprache, in der wir innere Erfahrungen so zum Ausdruck bringen, als ob es sich dabei um Sinneswahrnehmungen handelte, um etwas, was wir tun, oder um etwas, was uns in der Welt der Dinge widerfährt. Die Symbolsprache ist eine Sprache, in der die Außenwelt ein Symbol der Innenwelt, ein Symbol unserer Seele und unseres Geistes ist.

Wenn wir ein Symbol definieren als „etwas, das stellvertretend für etwas anderes steht“, dann lautet die entscheidende Frage: „Welcher besondere Zusammenhang besteht zwischen dem Symbol und dem, was es symbolisiert?“

Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir zwischen drei Arten von Symbolen unterscheiden: dem konventionellen, dem zufälligen und dem universalen Symbol. Wie sich sogleich herausstellen wird, drücken nur die beiden letzteren Arten von Symbolen innere Erfahrungen so aus, als ob es sich um Sinneswahrnehmungen handelte, und nur sie weisen die Merkmale der Symbolsprache auf.

Das konventionelle Symbol ist uns von den drei Arten das geläufigste, da wir es in unserer Alltagssprache gebrauchen. Wenn wir das Wort „Tisch“ geschrieben sehen oder wenn wir das Lautgebilde „Tisch“ hören, dann stehen die Buchstaben T-I-S-C-H stellvertretend für etwas anderes, nämlich für den Gegenstand Tisch, den wir sehen, berühren und benutzen. Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen dem Wort „Tisch“ und dem Gegenstand „Tisch“? Besteht eine innere Beziehung zwischen ihnen? Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Der Gegenstand Tisch hat mit dem Lautgebilde Tisch nichts zu tun, und der einzige Grund, weshalb das Wort den Gegenstand symbolisiert, ist die Übereinkunft, diesen besonderen Gegenstand mit diesem besonderen Namen zu bezeichnen. Wir lernen diesen Zusammenhang als Kinder dadurch, dass wir das Wort immer wieder im Zusammenhang mit dem Gegenstand hören, sodass schließlich eine bleibende Assoziation entsteht und wir nicht erst nachzudenken brauchen, um die richtige Bezeichnung zu finden.

Es gibt jedoch gewisse Wörter, bei denen die Assoziation nicht nur konventioneller Art ist. Wenn wir zum Beispiel „Pfui“ sagen, vollführen wir mit unseren Lippen eine Bewegung, die bewirkt, dass wir die Luft rasch ausstoßen. Es ist dies ein Ausdruck des Abscheus, an dem unser Mund sich beteiligt. Durch dieses schnelle Ausstoßen von Luft drücken wir unsere Absicht nachahmend aus, etwas von uns zu stoßen, es aus unserem Körper zu entfernen. In diesem Fall - wie in einigen anderen Fällen - steht das Symbol in einem inneren Zusammenhang mit dem Gefühl, das es symbolisiert. Aber selbst wenn wir annehmen, dass ursprünglich viele - oder sogar alle Wörter - ihren Ursprung in einem solchen inneren Zusammenhang zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten haben, so besitzen doch die meisten Wörter für uns heute diese Bedeutung nicht mehr, wenn wir eine Sprache lernen.

Wörter sind nicht die einzigen Beispiele für konventionelle Symbole, wenn sie auch die häufigsten und die uns geläufigsten sind. Auch Bilder können konventionelle Symbole sein. Eine Flagge kann zum Beispiel ein bestimmtes Land symbolisieren, [IX-179] obwohl zwischen ihren Farben und dem Land, das sie repräsentieren, kein Zusammenhang besteht. Sie wurden als Wahrzeichen des betreffenden Landes akzeptiert, und wir übersetzen den visuellen Eindruck der Flagge in unsere Vorstellung von dem betreffenden Land - auch dies wiederum aus konventionellen Gründen. Gewisse bildhafte Symbole sind nicht ausschließlich konventionell, wie zum Beispiel das Kreuz. Das Kreuz kann ein rein konventionelles Symbol der christlichen Kirche sein und unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der Flagge. Aber die besondere Bedeutung des Kreuzes, die sich auf Jesu Tod oder noch darüber hinaus auf die gegenseitige Durchdringung der materiellen und der geistigen Ebene bezieht, hebt die Beziehung zwischen diesem Symbol und dem, was es symbolisiert, auf eine höhere Ebene als die der nur konventionellen Symbole.

Das genaue Gegenteil des konventionellen Symbols ist das zufällige Symbol. Allerdings haben beide eines miteinander gemeinsam, dass nämlich zwischen dem Symbol und dem, was es symbolisiert, keine innere Beziehung besteht.[5] Nehmen wir beispielsweise an, jemand habe in einer bestimmten Stadt ein betrübliches Erlebnis gehabt. Hört er dann den Namen dieser Stadt, so wird er ihn leicht mit einer niedergedrückten Stimmung in Verbindung bringen, genauso wie er ihn mit einer fröhlichen Stimmung in Zusammenhang brächte, falls er dort ein glückliches Erlebnis gehabt hätte. Natürlich hat die Stadt an sich nichts Trauriges oder Fröhliches an sich. Es ist das mit ihr verbundene persönliche Erlebnis, das sie zu einem Symbol dieser Stimmung macht. Zur gleichen Reaktion kann es in Verbindung mit einem bestimmten Haus, einer Straße, einem Kleid, einer gewissen Szenerie oder irgendetwas sonst kommen, was irgendwann einmal mit einer spezifischen Stimmung in Zusammenhang gestanden hat.

Wir könnten zum Beispiel träumen, wir befänden uns in einer bestimmten Stadt. Möglicherweise ist im Traum keine bestimmte Stimmung mit ihr verbunden; wir sehen nur eine Straße oder auch nur einfach den Namen der Stadt. Wir fragen uns, weshalb uns im Schlaf ausgerechnet diese Stadt eingefallen ist, und entdecken vielleicht, dass wir in einer Stimmung eingeschlafen sind, die der ähnlich war, welche diese Stadt für uns symbolisiert. Das Bild im Traum repräsentiert diese Stimmung, die Stadt „steht stellvertretend“ für die einst in ihr erlebte Stimmung. Hier ist der Zusammenhang zwischen dem Symbol und dem symbolisierten Erlebnis rein zufällig.

Im Gegensatz zum konventionellen Symbol kann am zufälligen Symbol kein anderer teilhaben, es sei denn, wir erzählten ihm unsere mit dem Symbol zusammenhängenden Erlebnisse. Aus diesem Grund kommen zufällige Symbole nur selten in Mythen, Märchen oder in Kunstwerken vor, die in einer symbolischen Sprache abgefasst sind, denn sie sind nicht mitteilbar, außer wenn der Verfasser jedem von ihm benutzten Symbol einen entsprechenden Kommentar beifügt. In Träumen dagegen kommen zufällige Symbole häufig vor. Ich werde an späterer Stelle in diesem Buch noch auf die Methode zu sprechen kommen, wie man sie verstehen lernen kann.

Beim universalen Symbol dagegen besteht eine innere Beziehung zwischen dem Symbol und dem, was es repräsentiert. Wir haben bereits als Beispiel den Traum in den Außenbezirken der Stadt angeführt. Das sinnliche Erlebnis einer verlassenen, fremden, armseligen Gegend besitzt tatsächlich eine deutliche Verwandtschaft mit [IX-180] einer trostlosen, angstvollen Stimmung. Wenn wir niemals in den Außenbezirken einer Stadt gewesen wären, kämen wir natürlich nie auf dieses Symbol, so wie ja auch das Wort „Tisch“ für uns sinnlos wäre, wenn wir nie einen Tisch gesehen hätten. Außenbezirke einer Stadt können nur für Stadtbewohner einen Symbolwert haben, nicht aber für Menschen, die in einer Kultur ohne große Städte leben. Viele andere universale Symbole sind in der Erfahrung eines jeden Menschen verwurzelt. Nehmen wir zum Beispiel das Symbol des Feuers. Wir sind von bestimmten Eigenschaften des Feuers im Kamin fasziniert, vor allem von seiner Lebendigkeit. Es verändert und bewegt sich die ganze Zeit und besitzt doch eine gewisse Beständigkeit. Es bleibt das Gleiche, ohne gleich zu bleiben. Es macht den Eindruck von Kraft, von Energie, von Anmut und Leichtigkeit. Es ist, als ob es tanzte und eine unerschöpfliche Energiequelle besäße. Wenn wir uns des Feuers als eines Symbols bedienen, dann beschreiben wir innere Erlebnisse, die durch die gleichen Elemente gekennzeichnet sind, die wir beim Anblick des Feuers sinnlich wahrnehmen: Wir haben ein Gefühl von Kraft, Leichtigkeit, Bewegung, Anmut und Fröhlichkeit - wobei in unserem Gefühl einmal das eine, einmal das andere dieser Elemente dominiert.[6]

In gewisser Hinsicht ähnlich und doch auch wieder anders ist das Symbol des Wassers - des Meeres oder eines Flusses. Auch hier finden wir die Mischung von ständiger Bewegung und gleichzeitiger Beständigkeit. Auch hier empfinden wir das Lebendige, die Kontinuität, die Energie. Aber ein Unterschied ist vorhanden: Während das Feuer etwas Abenteuerliches, Behendes, Aufregendes an sich hat, ist das Wasser ruhig, langsam und stetig. Dem Feuer ist ein Element der Überraschung eigen, während das Wasser etwas Voraussagbares an sich hat. Das Wasser symbolisiert ebenfalls eine lebhafte Stimmung, doch ist sie „schwerer“, „gemächlicher“ und eher beruhigend als aufregend.

Dass eine Erscheinung aus der physikalischen Welt ein inneres Erlebnis adäquat ausdrücken kann, dass die Welt der Dinge ein Symbol für die Welt der Seele sein kann, ist nicht weiter verwunderlich. Wir alle wissen, dass unsere Seele sich in unserem Körper ausdrückt. Das Blut steigt uns zu Kopf, wenn wir wütend sind, und es entweicht aus dem Kopf, wenn wir Angst haben; unser Herz schlägt schneller, wenn wir uns ärgern, und unser gesamter Körper hat einen anderen Tonus, wenn wir glücklich sind, als wenn wir traurig sind. Unsere Stimmung kommt in unserem Gesichtsausdruck, und unsere Einstellung und unsere Gefühle kommen in unseren Bewegungen und Gesten so genau zum Ausdruck, dass andere sie deutlicher aus unserem Benehmen als aus unseren Worten ablesen. Der Körper ist in der Tat ein Symbol - und keine Allegorie - der Seele. Ein tiefes, echtes Gefühl, ja sogar ein echt empfundener Gedanke findet seinen Ausdruck in unserem gesamten Organismus. Beim universalen Symbol treffen wir auf den gleichen Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Erlebnissen. Gewisse körperliche Erscheinungen deuten durch ihre ganze Art auf gewisse emotionale und seelische Erlebnisse hin, und wir drücken unsere emotionalen Erfahrungen in der Sprache körperlicher Erlebnisse, d.h. symbolisch, aus.

Das universale Symbol ist das einzige, bei dem die Beziehung zwischen dem Symbol und dem, was es symbolisiert, nicht zufällig, sondern ihm immanent ist. Es wurzelt in der Erfahrung von der inneren Beziehung zwischen Emotion oder Gedanke [IX-181] einerseits und der sinnlichen Erfahrung andererseits. Man kann es deshalb als universal bezeichnen, weil es allen Menschen gemeinsam ist, und dies nicht nur im Gegensatz zu dem rein zufälligen Symbol, das seiner Natur nach rein persönlich ist, sondern auch im Gegensatz zum konventionellen Symbol, das sich auf eine Gruppe von Menschen beschränkt, die die gleiche Übereinkunft getroffen haben. Das universale Symbol ist in den Eigenschaften unseres Körpers, unserer Sinne und unseres Geistes verwurzelt, die allen Menschen gemeinsam und daher nicht auf einzelne Individuen oder spezifische Gruppen beschränkt sind. Tatsächlich ist das universale Symbol die einzige von der ganzen Menschheit entwickelte Sprache, eine Sprache, die wieder vergessen wurde, bevor sie sich zu einer konventionellen Universalsprache entwickeln konnte.

Wir brauchen daher nicht von einer gattungsmäßigen Vererbung zu sprechen, um den universalen Charakter von Symbolen zu erklären. Jedes menschliche Wesen, das ja seine wesentlichen körperlichen und geistig-seelischen Merkmale mit der übrigen Menschheit teilt, kann die Symbolsprache sprechen und verstehen, die sich auf diese gemeinsamen Eigenschaften gründet. Genauso wie wir das Weinen nicht erst erlernen müssen, wenn wir traurig sind, oder das Erröten, wenn wir uns ärgern, und genauso wie diese Reaktionen nicht auf eine bestimmte Rasse oder Bevölkerungsgruppe beschränkt sind, muss man auch die symbolische Sprache nicht erst erlernen, und sie beschränkt sich nicht auf irgendeinen Teil der menschlichen Gattung. Deshalb ist die Symbolsprache, so wie sie in Mythen und Träumen vorkommt, in allen Kulturen - den sogenannten primitiven Kulturen wie auch in den hochentwickelten der Ägypter und Griechen - anzutreffen. Überdies sind die in diesen verschiedenen Kulturen gebrauchten Symbole einander so auffallend ähnlich, weil sie alle auf die gleichen Sinneswahrnehmungen und emotionalen Erfahrungen zurückgehen, die den Menschen aller Kulturen gemeinsam sind. Zusätzliche Beweise dafür haben neuere Experimente erbracht, bei denen Menschen, die von der Theorie der Traumdeutung nichts wussten, unter Hypnose in der Lage waren, die Symbolik ihrer Träume ohne Schwierigkeiten zu verstehen. Als sie dann aus der Hypnose erwachten und aufgefordert wurden, dieselben Träume zu deuten, erklärten sie verwirrt: „Sie haben überhaupt keine Bedeutung - sie sind reiner Unsinn.“

Diese Feststellung bedarf jedoch einer Qualifizierung. Es gibt auch einige Symbole, die in den verschiedenen Kulturen entsprechend ihrer realitätsbezogenen Bedeutung einen jeweils unterschiedlichen Sinn haben. So ist beispielsweise die Funktion und dementsprechend auch die Bedeutung der Sonne in den nordischen Ländern eine andere als in den Tropen. In den nordischen Ländern, wo Wasser reichlich vorhanden ist, hängt alles Wachstum von der ausreichenden Sonnenbestrahlung ab. Die Sonne ist daher eine warme, Leben spendende, beschützende, liebende Macht. Im Nahen Osten, wo die Sonneneinstrahlung viel stärker ist, ist die Sonne eine gefährliche, ja bedrohliche Macht, vor der sich der Mensch schützen muss, während das Wasser als die Quelle allen Lebens und als wichtigste Voraussetzung für das Wachstum empfunden wird. Wir können von Dialekten der universalen Symbolsprache sprechen, die durch den Unterschied in den Naturgegebenheiten bedingt sind, welche dazu führen, dass bestimmte Symbole in den verschiedenen Regionen der Erde eine unterschiedliche Bedeutung haben. [IX-182]

Etwas ganz anderes als diese „symbolischen Dialekte“ ist die Tatsache, dass viele Symbole entsprechend den verschiedenartigen Erlebnissen, die mit ein und derselben Naturerscheinung verbunden sein können, mehr als eine Bedeutung haben. Kommen wir noch einmal auf das Symbol des Feuers zurück. Wenn wir das Feuer im Kamin beobachten, wo es Wohlbehagen ausstrahlt, dann drückt es eine lebhafte warme und angenehme Stimmung aus. Sehen wir dagegen ein Gebäude oder einen Wald brennen, dann ist es für uns ein drohendes, schreckliches Erlebnis, das uns die Machtlosigkeit des Menschen den Elementen der Natur gegenüber empfinden lässt. Daher kann das Feuer sowohl innere Lebendigkeit und Glück als auch Angst, Machtlosigkeit und eigene destruktive Neigungen symbolisieren. Das Gleiche gilt für das Symbol Wasser. Das Wasser kann eine äußerst destruktive Macht sein, wenn es vom Sturm aufgepeitscht wird oder wenn ein angeschwollener Fluss über die Ufer tritt. Daher kann es symbolisch Grauen und Chaos und andererseits auch Trost und Frieden bedeuten.

Ein anderes einschlägiges Beispiel ist das Symbol eines Tales. Das von Bergen eingeschlossene Tal kann in uns ein Gefühl der Sicherheit und des Behagens, des Geborgenseins vor allen äußeren Gefahren wecken. Aber die schützenden Berge können auch Mauern sein, die uns isolieren und hindern, aus dem Tal herauszukommen, weshalb das Tal auch zu einem Symbol des Eingekerkertseins werden kann. Die spezielle Bedeutung eines Symbols kann jeweils nur aus dem gesamten Kontext heraus verstanden werden, in dem es auftaucht, und unter Berücksichtigung der vorherrschenden Erfahrungen des Menschen, der sich dieses Symbols bedient. Bei der Erörterung der Traumsymbole werden wir hierauf noch zurückkommen.

Ein gutes Beispiel für die Funktion des universalen Symbols ist eine in der Symbolsprache geschriebene Geschichte, die fast jeder in unserem westlichen Kulturbereich kennt: das Buch Jona. Jona hat Gottes Stimme vernommen, die ihm gebietet, nach Ninive zu gehen und den Bewohnern zu verkünden, sie sollten von ihrem bösen Wandel ablassen, weil sie sonst vom Untergang bedroht seien. Jona kann Gottes Stimme nicht überhören, was ihn zum Propheten macht. Aber er ist ein Prophet wider Willen, und obgleich er weiß, was er tun sollte, versucht er, sich dem Befehl Gottes (man könnte auch sagen, der Stimme seines Gewissens) zu entziehen. Er ist ein Mensch, der kein Herz für seine Mitmenschen hat. Er ist ein Mensch mit einem starken Gefühl für Gesetz und Ordnung, doch fehlt ihm die Liebe. (Vgl. Psychoanalyse und Ethik, 1947a, GA II, S. 65 f., wo ich die Jona-Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung von Liebe aufgreife.) Wie wird nun das, was sich im Innern von Jona abspielt, in der Geschichte dargestellt?

Wir erfahren, dass Jona nach Jafo hinabgeht und dort ein Schiff findet, das nach Tarschisch fährt. Als er sich jedoch mitten auf dem Meer befindet, erhebt sich ein gewaltiger Sturm, und während alle anderen voller Angst und Aufregung sind, steigt Jona in den unteren Teil des Schiffes hinab und fällt in einen tiefen Schlaf. Die Seeleute, die glauben, Gott habe den Sturm geschickt, weil sich jemand auf dem Schiff befindet, der bestraft werden soll, wecken Jona, der ihnen zuvor erzählt hatte, dass er vor Jahwes Gebot auf der Flucht sei. Er sagt ihnen, sie sollten ihn nehmen und ins Meer werfen, damit dieses sich beruhige. Die Seeleute (die einen [IX-183] bemerkenswerten Sinn für Menschlichkeit erkennen lassen, da sie zunächst alles andere versuchen, bevor sie seiner Anweisung nachkommen) nehmen schließlich Jona und werfen ihn ins Meer, das sofort zu toben aufhört. Jona wird von einem großen Fisch verschlungen, in dessen Bauch er drei Tage und drei Nächte zubringt. Er betet im Bauch des Fisches zu Gott, er möge ihn aus seinem Gefängnis befreien, und der Herr befiehlt dem Fisch, Jona ans Land zu speien. Nun begibt sich Jona nach Ninive, erfüllt Gottes Befehl und rettet so die Bewohner der Stadt.

Die Geschichte wird erzählt, als ob die Dinge sich wirklich so zugetragen hätten. Sie ist jedoch in symbolischer Sprache geschrieben, und alle darin als real geschilderten Ereignisse sind Symbole für die inneren Erfahrungen des Helden. Wir treffen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Symbole: die Besteigung des Schiffes, das Hinabsteigen in den Bauch des Schiffes, das Einschlafen, der Aufenthalt im Meer und im Bauch des Fisches. Alle diese Symbole stehen stellvertretend für die gleiche innere Erfahrung: den Zustand der Geborgenheit und Isolierung eines Menschen, der sich aus Gründen der eigenen Sicherheit von der Kommunikation mit anderen Menschen zurückzieht. Sie repräsentieren einen Zustand, den man auch mit einem anderen Symbol, nämlich dem des Fötus im Mutterleib ausdrücken könnte. So verschieden der Rumpf eines Schiffes, der tiefe Schlaf, das Meer und der Bauch eines Fisches realistisch gesehen auch sein mögen, so sind sie doch Ausdruck der gleichen inneren Erfahrung, jener Mischung aus Geborgenheit und Absonderung.

In der manifesten Geschichte ereignen sich die Dinge in Raum und Zeit: Zuerst geht er in den Rumpf des Schiffes; dann schläft der Held ein; dann wird er ins Meer geworfen; dann wird er vom Fisch verschlungen. Eines geschieht nach dem anderen, und wenn sich auch einiges ereignet, was offensichtlich nicht der Wirklichkeit entsprechen kann, so besitzt die Geschichte doch in Bezug auf Zeit und Raum ihre eigene folgerichtige Logik. Und wenn wir begreifen, dass es nicht die Absicht des Verfassers war, uns den Ablauf äußerer Ereignisse zu berichten, sondern dass er das innere Erlebnis eines Mannes schildern wollte, der zwischen seinem Gewissen und dem Wunsch, seiner inneren Stimme zu entfliehen, hin- und hergerissen wurde, dann wird uns klar, dass seine verschiedenen aufeinanderfolgenden Handlungen alle die gleiche ihn beherrschende Stimmung ausdrücken und dass die zeitliche Abfolge die wachsende Intensität des gleichen Gefühls ausdrückt. Indem Jona versucht, sich der Pflicht seinen Mitmenschen gegenüber zu entziehen, sondert er sich mehr und mehr von ihnen ab, bis schließlich im Bauch des Fisches das Gefühl der Geborgenheit so sehr dem Gefühl des Eingekerkertseins weicht, dass er es nicht länger erträgt und Gott bitten muss, ihn aus dem Gefängnis zu befreien, in das er sich selbst hineingebracht hat. (Es ist dies ein für die Neurose äußerst charakteristischer Mechanismus. Der Betreffende nimmt zur Abwehr einer Gefahr eine bestimmte Haltung ein, die dann jedoch weit über ihre ursprüngliche Abwehrfunktion hinauswächst und zu einem neurotischen Symptom wird, von dem der Betreffende sich zu befreien versucht.) So endet Jonas Flucht in die Geborgenheit der Isolation in der Qual des Eingesperrtseins, und er greift sein Leben dort wieder auf, wo er zu entrinnen versuchte.

Es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen der Logik der manifesten und der Logik der latenten Erzählung. In der manifesten Erzählung besteht ein logischer [IX-184] Kausalzusammenhang zwischen den äußeren Ereignissen. Jona will übers Meer fahren, weil er vor Gott fliehen will, er schläft ein, weil er müde ist, er wird über Bord geworfen, weil man ihn für die Ursache des Sturmes hält, und er wird von dem Fisch verschlungen, weil es im Meer Menschen fressende Fische gibt. Ein Ereignis ergibt sich aus dem vorhergehenden. (Der letzte Teil der Geschichte ist zwar unrealistisch, aber nicht unlogisch.) In der latenten Geschichte herrscht dagegen eine andere Art von Logik. Die verschiedenen Ereignisse stehen durch ihre Assoziation mit derselben inneren Erfahrung miteinander in Verbindung. Was als kausale Abfolge äußerer Ereignisse erscheint, steht stellvertretend für Ereignisse, die auf Grund ihrer Assoziation mit inneren Erlebnissen miteinander zusammenhängen. Es ist dies ebenso logisch wie es die manifeste Geschichte ist - doch handelt es sich um eine Logik anderer Art.

Wenn wir uns jetzt der Untersuchung des Wesens der Träume zuwenden, wird uns die in der Symbolsprache herrschende Logik noch deutlicher werden.

3. Das Wesen der Träume

Die Ansichten über das Wesen der Träume weichen im Laufe der Jahrhunderte und in den verschiedenen Kulturen erheblich voneinander ab. Aber ob jemand glaubt, Träume seien reale Erlebnisse unserer körperlosen Seele, die während des Schlafes den Körper verlassen hat, oder ob man meint, die Träume seien uns von Gott oder von bösen Geistern eingegeben, ob man in ihnen den Ausdruck unserer irrationalen Leidenschaften oder ganz im Gegenteil unserer höchsten und edelsten Kräfte sieht, eines bleibt unbestritten: Alle Träume haben einen Sinn und eine Bedeutung. Sinnvoll sind sie, weil sie eine Botschaft enthalten, die man verstehen kann, wenn man den Schlüssel zu ihrer Entzifferung besitzt. Bedeutungsvoll sind sie, weil wir nichts Nebensächliches träumen, selbst wenn es sich in einer Sprache ausdrückt, die das Bedeutsame der Traumbotschaft hinter einer nichtssagenden Fassade verbirgt.

Erst in den letzten Jahrhunderten hat man diese Ansicht radikal aufgegeben. Die Traumdeutung wurde in den Bereich des Aberglaubens verwiesen, und die Aufgeklärten und Gebildeten - ob Laien oder Wissenschaftler - zweifelten nicht daran, dass die Träume sinn- und bedeutungslose Manifestationen unserer Seele oder bestenfalls seelische Reflexe körperlicher, im Schlaf empfangener Eindrücke seien. Es war Freud, der zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die alte Auffassung neu bestätigte, dass die Träume sinn- und bedeutungsvoll sind, dass wir nichts träumen, was nicht ein wichtiger Ausdruck unseres Innenlebens ist, und dass man alle Träume verstehen kann, wenn man nur den Schlüssel dazu besitzt. Freud bezeichnete die Traumdeutung als die via regia, als den Königsweg zur Erkenntnis des Unbewussten (S. Freud, 1900a, S. 613) und den Traum als stärkste Kraft, die unser pathologisches wie auch unser normales Verhalten motiviert. Neben dieser mehr allgemeinen Feststellung über das Wesen der Träume hat sich Freud nachdrücklich und etwas unnachgiebig zu einer der ältesten diesbezüglichen Theorien bekannt, dass nämlich Träume die Erfüllung irrationaler Leidenschaften seien, die wir in unserem wachen Dasein verdrängt haben.

Ich möchte an dieser Stelle noch nicht näher auf die Traumtheorien Freuds und auf solche aus früheren Zeiten eingehen, sondern in einem späteren Kapitel darauf zurückkommen. Zunächst möchte ich jetzt das Wesen des Traums erörtern, wie ich es [IX-186] mit Hilfe der Arbeiten Freuds und auf Grund eigener Erfahrungen als Träumender und Traumdeuter verstehen lernte.

Angesichts der Tatsache, dass es keine Äußerung der Seelentätigkeit gibt, die nicht im Traum auftaucht, glaube ich, dass die einzige Definition des Wesens des Traumes, die dieses Phänomen weder entstellt noch bagatellisiert, die allgemein gehaltene Definition ist: Träumen ist eine sinn- und bedeutungsvolle Äußerung jeglicher Seelentätigkeit im Schlafzustand.

Diese Definition ist zweifellos zu allgemein gehalten, als dass sie uns wesentlich zum Verständnis der Natur der Träume weiterhelfen könnte, wenn wir nicht etwas Genaueres über den „Schlafzustand“ und dessen besondere Auswirkung auf unsere Seelentätigkeit sagen können. Wenn wir aber herausfinden können, welche spezifische Wirkung der Schlaf auf unsere Seelentätigkeit hat, können wir vielleicht beträchtlich mehr über das Wesen des Träumens in Erfahrung bringen.

Physiologisch betrachtet ist der Schlaf ein Zustand der chemischen Regeneration des Organismus. Während alle Tätigkeit ruht und so gut wie jede sinnliche Wahrnehmung ausgeschaltet ist, wird neue Energie gespeichert. Psychologisch gesehen unterbricht der Schlaf die für unser waches Dasein kennzeichnende Hauptfunktion: unsere Reaktion auf die Umwelt durch Wahrnehmung und Handeln. Dieser Unterschied zwischen den biologischen Funktionen von Wachen und Schlafen bedeutet tatsächlich einen Unterschied zwischen zwei Zuständen unseres Daseins.

Um die Wirkung des Schlafzustandes auf unser Seelenleben richtig beurteilen zu können, müssen wir uns zunächst mit einem allgemeinen Problem befassen: mit der gegenseitigen Abhängigkeit unserer jeweiligen Tätigkeit und des damit verbundenen Denkprozesses. Was wir denken, wird weitgehend durch das bestimmt, was wir tun und was wir vollbringen möchten. Das soll nicht heißen, dass unser Denken durch unser jeweiliges Interesse entstellt werde, sondern nur, dass es sich dementsprechend verändert.

Welche Einstellung haben zum Beispiel unterschiedliche Menschen zu einem Wald? Ein Maler, der sich in einen Wald begibt, um dort zu malen, der Eigentümer des Waldstücks, der sich darüber klar werden will, was es ihm einbringen wird, ein Offizier, der sich für das taktische Problem interessiert, wie das Gebiet zu verteidigen ist, ein Wanderer, der sich daran erfreuen will - jeder von ihnen wird eine völlig andere Einstellung zu diesem Wald haben, weil einem jeden ein anderer Aspekt desselben wichtig ist. Das Interesse des Malers wird den Formen und Farben gelten, das des Geschäftsmanns wird sich auf Größe, Alter und Anzahl der Bäume richten, der Offizier wird sich für die Sicht- und Deckungsmöglichkeiten interessieren, während es dem Wanderer auf die Waldpfade und seine körperliche Bewegung ankommt. Alle werden sich zwar in Bezug auf die abstrakte Feststellung, dass sie am Rande eines Waldes stehen, einig sein, aber die Art ihres Erlebnisses, „einen Wald zu sehen“, hängt von der verschiedenartigen Tätigkeit ab, die sie im Sinn haben.

Der Unterschied zwischen den biologischen und den psychologischen Funktionen von Schlafen und Wachen ist grundsätzlich anderer Art als irgendein Unterschied zwischen anderen Tätigkeiten, und dementsprechend ist auch der Unterschied zwischen den die beiden Zustände betreffenden Begriffssystemen unvergleichlich [IX-187] größer.[7] Im wachen Zustand reagieren unsere Gedanken und Gefühle in erster Linie auf die an sie gestellten Anforderungen - auf die Aufgabe, mit unserer Umwelt fertig zu werden, sie zu verändern oder uns gegen sie zur Wehr zu setzen. Zu überleben ist die Aufgabe des wachen Menschen; er ist den Gesetzen unterworfen, welche die Realität beherrschen. Das bedeutet, dass er in den Begriffen von Zeit und Raum denken muss.

Während wir schlafen, geben wir uns nicht damit ab, die Außenwelt unseren Zwecken zu unterwerfen. Wir sind hilflos, und man hat den Schlaf daher mit Recht den „Bruder des Todes“ genannt. Aber wir sind auch frei, freier als im Wachen. Wir sind befreit von der Last der Arbeit, von der Aufgabe anzugreifen oder uns zu verteidigen, wir brauchen die Wirklichkeit nicht zu beobachten und zu meistern. Wir brauchen nicht auf die Außenwelt zu achten. Wir richten unseren Blick nach innen und beschäftigen uns ausschließlich mit uns selbst. Im Schlaf könnte man uns mit einem Embryo oder sogar mit einem Toten vergleichen; oder auch mit Engeln, die den Gesetzen der „Realität“ nicht unterworfen sind. Im Schlaf hat das Reich der Notwendigkeit dem Reich der Freiheit Platz gemacht, in dem das „Ich bin“ das einzige ist, auf das sich unsere Gedanken und Gefühle beziehen.

Während des Schlafs weist die seelische Tätigkeit eine andere Logik auf als im wachen Dasein. Im Schlaf brauche ich mich nicht um Dinge zu kümmern, die nur im Umgang mit der Wirklichkeit von Bedeutung sind. Wenn ich zum Beispiel von einem Menschen das Gefühl habe, dass er ein Feigling ist, dann kann ich von ihm träumen, er habe sich aus einem Menschen in ein Huhn verwandelt. Diese Verwandlung ist in Bezug auf mein Gefühl gegenüber dieser Person sinnvoll, unsinnig ist sie nur in Bezug auf meine Orientierung zur Außenwelt (in Bezug darauf, was ich realistisch mit dem Betreffenden tun könnte). Dem Schlaferlebnis fehlt nicht die Logik, aber es handelt sich um andere logische Gesetze, die jedoch in diesem Erlebniszustand völlig gültig sind.

Schlafen und Wachen sind die beiden Pole des menschlichen Daseins. Unser waches Leben ist mit der Aufgabe ausgefüllt zu handeln, im Schlaf sind wir von dieser Aufgabe befreit. Der Schlaf hat lediglich die Funktion der Selbsterfahrung. Wachen wir aus dem Schlaf auf, so begeben wir uns wieder in den Bereich tätigen Lebens. Wir sind dann völlig auf diesen Bereich eingestellt, in welchem sich auch unser Gedächtnis bewegt: Wir erinnern uns an das, was wir zurückrufen können, in raum-zeitlichen Begriffen. Die Schlafwelt ist verschwunden, und wir können uns an das, was wir darin erlebten - an unsere Träume - nur noch unter größten Schwierigkeiten erinnern. (Zum Problem der Gedächtnisfunktion in Beziehung zur Traumtätigkeit vgl. den höchst anregenden Aufsatz On Memory and Childhood Amnesia von E. G. Schachtel, 1947.) Diese Situation ist in vielen Märchen symbolisch dargestellt: In der Nacht bevölkern Gespenster und gute und böse Geister die Szene, aber wenn der Morgen dämmert, verschwinden sie, und von dem ganzen eindrucksvollen Geschehen ist nichts mehr übrig.

Aus diesen Erwägungen ergeben sich gewisse Schlussfolgerungen für das Wesen des Unbewussten:

Es ist weder Jungs mythisches Reich mit seinen aus der Gattungsgeschichte ererbten [IX-188] Erfahrungen, noch Freuds Sitz irrationaler libidinöser Kräfte. Wir müssen es vielmehr gemäß dem Grundsatz verstehen: „Was wir denken und fühlen, wird von dem beeinflusst, was wir tun.“

Das Bewusstsein ist die seelische Tätigkeit in dem Zustand unseres Daseins, in welchem wir uns handelnd mit der Außenwelt beschäftigen. Das Unbewusste ist das seelische Erleben im Zustand unseres Daseins, in welchem wir alle Verbindungen mit der Außenwelt abgebrochen haben, in dem wir nicht mehr bestrebt sind zu handeln und tätig zu sein, sondern in dem wir uns nur noch mit uns selbst beschäftigen. Das Unbewusste ist ein mit einer speziellen Form unseres Daseins - der Inaktivität - verbundenes Erleben, und seine charakteristischen Merkmale ergeben sich aus dem Wesen dieser Daseinsform. Die Eigenschaften des Bewusstseins sind dagegen bestimmt durch das Wesen des tätigen Handelns und durch die Überlebensfunktion des wachen Zustandes.

Das „Unbewusste“ ist nur in Bezug auf unseren „normalen“ Zustand des Tätigseins das Unbewusste. Wenn wir vom „Unbewussten“ reden, wollen wir in Wirklichkeit nur damit sagen, dass eine Erfahrung nicht in den geistig-seelischen Raum hineinpasst, der existiert, während wir tätig sind. Wir empfinden es dann als ein geisterhaftes, störendes Element, das nur schwer zu fassen ist und an das man sich nur schwer erinnern kann. Aber wenn wir schlafen, ist uns die Welt des Tages ebenso unbewusst, wie es die Welt der Nacht in unserem wachen Erleben ist. Gewöhnlich gebrauchen wir den Begriff des „Unbewussten“ nur vom Standpunkt unseres Tageserlebens aus; daher kommt darin nicht zum Ausdruck, dass sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste nur verschiedene Seelenzustände sind, die sich auf unterschiedliche Zustände unseres Erlebens beziehen.

Man wird vermutlich dagegen einwenden, dass auch im wachen Zustand unser Denken und Fühlen nicht ganz den Einschränkungen von Zeit und Raum unterworfen ist und dass unser schöpferisches Vorstellungsvermögen es uns ermöglicht, über vergangene und zukünftige Dinge so nachzudenken, als ob sie gegenwärtig wären, und über weit entfernte Gegenstände so zu urteilen, als ob wir sie vor Augen hätten. Man wird auch einwenden, dass unser waches Fühlen nicht von der physischen Gegenwart des Objekts und auch nicht von seiner zeitlichen Koexistenz abhängt und dass aus diesem Grund das Fehlen des raum-zeitlichen Systems keine Besonderheit unseres Daseins im Schlaf im Gegensatz zum wachen Zustand ist, sondern dass es unser Denken und Fühlen im Gegensatz zu unserem tätigen Handeln kennzeichnet. Das ist mir ein willkommener Einwand, gibt er mir doch die Möglichkeit, einen wesentlichen Punkt meines Arguments klarzustellen.

Wir müssen nämlich zwischen den Inhalten unserer Denkprozesse und den beim Denken verwendeten logischen Kategorien unterscheiden. Während es zutrifft, dass die Inhalte unseres wachen Denkens nicht den Grenzen von Raum und Zeit unterworfen sind, sind die Kategorien des logischen Denkens raum-zeitlicher Natur. So kann ich beispielsweise an meinen Vater denken und feststellen, dass seine Einstellung in einer bestimmten Situation mit der meinen identisch ist. Diese Feststellung ist logisch richtig. Wenn ich andererseits behaupte: „Ich bin mein Vater“, dann ist diese Behauptung „unlogisch“, weil sie den Begriffen der physikalischen Welt nicht [IX-189] entspricht. Rein erlebnismäßig gesehen ist der Satz jedoch logisch, denn ich bringe darin mein Gefühl von Identität mit meinem Vater zum Ausdruck. Logische Denkprozesse im wachen Zustand sind Kategorien unterworfen, die in einer speziellen Daseinsform wurzeln - nämlich in der, in welcher wir zur Realität handelnd in Beziehung treten. In meinem schlafenden Dasein, das durch das Fehlen einer jeden auch nur potenziellen Handlung gekennzeichnet ist, kommen Kategorien zur Anwendung, die sich nur auf das Erlebnis meines Selbst beziehen. Das Gleiche gilt für das Fühlen. Wenn mein Gefühl im wachen Zustand einem Menschen gilt, den ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen habe, so bleibe ich mir immer der Tatsache bewusst, dass der Betreffende nicht anwesend ist. Wenn ich dagegen von ihm träume, dann empfinde ich ihn so, als ob er gegenwärtig wäre. Wenn ich jedoch sage, „so, als ob er gegenwärtig wäre“, drücke ich mein Gefühl in Begriffen aus, die dem „wachen Leben“ entsprechen. Im schlafenden Dasein gibt es kein “als ob“; da ist der Betreffende gegenwärtig.

Ich habe auf den vorangegangenen Seiten den Versuch gemacht, die im Schlaf herrschenden Bedingungen zu beschreiben und aus dieser Beschreibung gewisse Schlüsse auf die Traumtätigkeit zu ziehen. Wir müssen jetzt noch einen Schritt weitergehen und ein spezifisches Element der dem Schlaf eigentümlichen Bedingungen untersuchen, das sich für das Verständnis der Traumprozesse als höchst bedeutsam herausstellen wird. Wir sagten, dass wir uns im Schlaf nicht damit beschäftigen, auf die äußere Realität Einfluss zu nehmen. Wir bemerken sie gar nicht und beeinflussen sie nicht, auch sind wir selbst den Einflüssen der Außenwelt nicht unterworfen. Hieraus folgt, dass es von der Beschaffenheit dieser äußeren Realität abhängt, welche Wirkung unsere Absonderung von ihr auf uns hat. Übt die Außenwelt einen im wesentlichen günstigen Einfluss auf uns aus, so dürfte das Fehlen dieses Einflusses während des Schlafes den Wert unserer Traumtätigkeit so weit herabsetzen, dass dieser Wert geringer ist als der unserer Seelentätigkeit während des Tages, wo diese günstigen Einflüsse der Außenwelt auf uns einwirken.

Aber stimmt es denn, dass der Einfluss der Realität auf uns vor allem günstig ist? Kann er nicht auch schädlich für uns sein, und können daher - wenn dieser Einfluss fehlt - nicht auch Eigenschaften in uns zum Vorschein kommen, die besser sind als die, die wir im wachen Zustand haben?

Wenn wir von der Realität außerhalb unserer selbst sprechen, so meinen wir damit nicht in erster Linie die Welt der Natur. An sich ist die Natur weder gut noch böse. Sie kann hilfreich oder gefährlich für uns sein, und wenn wir von ihr nichts wahrnehmen, so befreit uns das tatsächlich von der Aufgabe, sie zu meistern oder uns gegen sie zur Wehr zu setzen. Allerdings macht uns das weder dümmer noch gescheiter, weder besser noch schlechter. Ganz anders steht es mit der von Menschen geschaffenen Welt um uns, mit der Kultur, in der wir leben. Ihre Wirkung auf uns ist recht zwiespältig, wenn wir auch zu der Annahme neigen, dass sie sich nur zu unserem Vorteil auswirkt.

Tatsächlich spricht ja geradezu überwältigend viel dafür, dass die Kultur einen segensreichen Einfluss auf uns ausübt. Es ist unsere Fähigkeit, Kultur zu schaffen, die uns von der Tierwelt unterscheidet. Der Unterschied im kulturellen Niveau ist es, der [IX-190] den Unterschied zwischen den höheren und den niederen Stufen menschlicher Entwicklung ausmacht. Das wichtigste Merkmal der Kultur, die Sprache, ist die Vorbedingung für jede menschliche Leistung. Man hat den Menschen mit Recht als das Symbole schaffende Tier bezeichnet, denn ohne unsere Fähigkeit zur Sprache könnten wir kaum als Menschen bezeichnet werden. Aber auch jede andere menschliche Funktion hängt von unserem Kontakt mit der Außenwelt ab. Wir lernen denken, indem wir andere beobachten und von ihnen unterrichtet werden. Wir entwickeln unsere emotionalen, intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten dadurch, dass wir mit dem angehäuften Wissen und den von der Gesellschaft geschaffenen künstlerischen Leistungen in Berührung kommen. Wir lernen zu lieben und für andere zu sorgen durch den Kontakt mit ihnen, und wir lernen unsere feindseligen Impulse und unseren Egoismus dadurch im Zaum zu halten, dass wir andere lieben oder zum mindesten fürchten.

Ist demnach die vom Menschen geschaffene Realität außerhalb unserer selbst nicht der wichtigste Faktor für die Entwicklung des Besten in uns, und ist daher nicht zu erwarten, dass wir - wenn wir mit der Außenwelt nicht in Kontakt stehen - zeitweise in einen primitiven, tierähnlichen, unvernünftigen Geisteszustand zurückfallen? Es spricht viel für eine solche Annahme, und viele - von Platon bis Freud -, die sich mit dem Traum beschäftigt haben, vertreten die Ansicht, dass eine derartige Regression das wesentliche Kennzeichen des Schlafzustandes und damit auch der Traumtätigkeit sei. Von diesem Standpunkt aus erwartet man von den Träumen, dass in ihnen die irrationalen, primitiven Strebungen in uns zum Ausdruck kommen, und die Tatsache, dass wir unsere Träume so leicht vergessen, wird weitgehend damit erklärt, dass wir uns jener irrationalen und verbrecherischen Impulse schämen, die wir zum Ausdruck bringen, wenn wir nicht unter der Kontrolle der Gesellschaft stehen. Diese Trauminterpretation ist sicher richtig, und wir werden sogleich darauf zurückkommen und einige Beispiele dafür anführen. Die Frage ist jedoch, ob es die ganze Wahrheit ist und ob nicht die negativen Elemente im Einfluss der Gesellschaft an dem Paradoxon schuld sind, dass wir in unseren Träumen nicht nur weniger vernünftig und anständig, sondern auch intelligenter, klüger und urteilsfähiger sind als im wachen Zustand.

Tatsächlich hat die Kultur nicht nur einen wohltätigen, sondern auch einen schädlichen Einfluss auf unsere intellektuellen und moralischen Funktionen. Die Menschen sind voneinander abhängig und brauchen einander. Aber die Geschichte der Menschheit wurde bis zum heutigen Tag von einer entscheidenden Tatsache beeinflusst, dass nämlich die materielle Produktion nicht ausreicht, um die berechtigten Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen. Der Tisch war immer nur für ein paar von den vielen gedeckt, die sich zum Essen setzen wollten. Die Stärkeren suchten sich ihren Platz zu sichern, und das bedeutete, dass sie anderen ihren Platz wegnehmen mussten. Wenn sie ihre Mitmenschen so geliebt hätten, wie Buddha oder die Propheten oder Jesus das forderten, dann hätten sie ihr Brot mit ihnen geteilt, anstatt ohne sie Fleisch zu essen und Wein zu trinken. Aber da die Liebe die höchste und schwierigste Leistung der Menschheit ist, kann man den Menschen keinen Vorwurf daraus machen, dass die, welche sich an den gedeckten Tisch setzen und die guten Dinge des Lebens genießen konnten, mit den anderen nicht teilen wollten und daher versuchen [IX-191] mussten, über diejenigen, die ihre Privilegien bedrohten, Macht zu bekommen. Diese Macht war oft die Macht des Eroberers, die physische Macht, welche die Mehrheit zwang, sich mit ihrem Los abzufinden. Aber die physischen Machtmittel standen nicht immer zur Verfügung und reichten oft nicht aus. Man musste auch Macht über die Seelen der Menschen gewinnen, um sie davon abzuhalten, ihre Fäuste zu gebrauchen. Diese Macht über das Denken und Fühlen war unentbehrlich, wenn die wenigen sich ihre Privilegien erhalten wollten. Bei diesem Prozess erlitten die Wenigen jedoch einen ebensolchen seelischen Schaden wie die Vielen. Der Gefangenenwärter wird fast ebenso zum Gefangenen wie der Gefangene selbst. Die „Elite“, die diejenigen beherrscht, welche nicht „auserwählt“ sind, wird zu Gefangenen der eigenen restriktiven Tendenzen. So werden Geist und Seele der Herrschenden wie die der Beherrschten von ihrer wesentlichen humanen Aufgabe abgelenkt, menschlich zu fühlen und zu denken, sich der Kräfte der Vernunft und der Liebe, die dem Menschen innewohnen, zu bedienen und sie weiterzuentwickeln, da der Mensch ohne deren volle Entfaltung ein Krüppel bleibt.

Bei diesem Ablenkungs- und Entstellungsprozess wird der Charakter der Menschen verdorben. Ziele, die im Widerspruch zu den Interessen des wahren humanen Selbst stehen, treten in den Vordergrund. Die Liebeskraft erlahmt, was dazu führt, dass man Macht über andere zu gewinnen sucht. Die innere Sicherheit geht verloren, und man sucht einen Ausgleich, indem man leidenschaftlich nach Ruhm und Ansehen strebt. So verliert der Mensch sein Gefühl für Würde und Integrität und sieht sich gezwungen, sich in eine Ware zu verwandeln und seine Selbstachtung von seiner Verkäuflichkeit, seinem Erfolg abhängig zu machen. All das führt dazu, dass wir nicht nur lernen, was recht ist, sondern auch, was falsch ist; dass wir nicht nur hören, was gut ist, sondern ständig unter dem Einfluss von Ideen stehen, die dem Leben schaden.

Das gilt für einen primitiven Stamm, in dem strenge Gesetze und Gebräuche Macht über die Seelen ausüben, aber es gilt ebenso für unsere moderne Gesellschaft, die angeblich von jedem strengen Ritualismus frei ist. Die Beseitigung des Analphabetentums und die Ausbreitung der Massenmedien haben kulturellen Klischeevorstellungen einen ebenso großen Einfluss verschafft, wie dies in einer kleinen Stammeskultur mit ihren außerordentlich starken Restriktionen der Fall ist. Der heutige Mensch ist fast ständig irgendwelchem „Lärm“ ausgesetzt, dem Lärm von Radio und Fernsehen, von Schlagzeilen, Reklamen und Filmen, die uns meist nicht klüger machen, sondern im Gegenteil verdummen. Wir sind lügnerischen Rationalisierungen ausgeliefert, die sich als Wahrheit ausgeben, und schierem Unsinn, der sich als gesunder Menschenverstand oder als die höhere Weisheit der Spezialisten tarnt, heuchlerischem Gerede, intellektueller Trägheit und Unaufrichtigkeit, die je nachdem im Namen der Ehre die Stimme erheben oder sich als „Realismus“ ausgeben. Wir fühlen uns zwar dem Aberglauben früherer Generationen und der sogenannten primitiven Kulturen überlegen, aber man hämmert uns ständig genau die gleiche Art von abergläubischen Ansichten ein, die sich als letzte Entdeckungen der Wissenschaft aufspielen. Ist es da verwunderlich, dass das Wachsein nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch ist? Ist es verwunderlich, dass wir im Schlaf, wenn wir mit uns allein sind, wenn wir in uns hineinblicken können, ohne dabei von dem Lärm und Unsinn gestört zu werden, die uns [IX-192] tagsüber umgeben, besser in der Lage sind, unsere wahrsten und wertvollsten Gefühle zu spüren und Gedanken zu denken?

So kommen wir denn zu folgendem Schluss: Der Zustand des Schlafes hat eine zweideutige Funktion; dadurch, dass wir mit unserer Kultur nicht in Berührung stehen, tritt das Schlechteste und zugleich das Beste in uns in Erscheinung. Daher können wir im Traum weniger gescheit, weniger weise und weniger anständig, aber auch besser und weiser sein als in unserem wachen Leben.

An diesem Punkt stellt sich uns das schwierige Problem: Woher wissen wir, ob ein Traum als Ausdruck des Besten oder des Schlechtesten in uns zu verstehen ist? Gibt es da ein Prinzip, das uns den Weg zeigen könnte?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir unsere allgemeiner gehaltene Diskussion beenden und weitere Einsichten dadurch zu gewinnen suchen, dass wir einige konkrete Traumbeispiele diskutieren.

Den folgenden Traum berichtete ein Mann, der tags zuvor einer „sehr bedeutenden Persönlichkeit“ begegnet war. Der Betreffende stand in dem Ruf, besonders weise und gütig zu sein. Unser Träumer hatte ihn aufgesucht, weil er von dem, was alle über diesen alten Mann berichteten, stark beeindruckt war. Nach etwa einer Stunde hatte er ihn wieder verlassen mit dem Gefühl, einen bedeutenden, gütigen Menschen kennengelernt zu haben.

Ich sehe Herrn X. (die sehr bedeutende Person), und sein Gesicht sieht ganz anders aus als gestern. Ich sehe einen grausamen Mund und ein hartes Gesicht. Er berichtet jemandem lachend, es sei ihm gelungen, eine arme Witwe um ihre letzten paar Groschen zu betrügen. Ich habe ein Gefühl des Abscheus.

Auf die Frage, was ihm zu diesem Traum einfalle, bemerkte der Träumer, er könne sich erinnern, dass er flüchtig ein Gefühl der Enttäuschung empfunden habe, als er das Zimmer des Herrn X. betreten und einen ersten Blick auf dessen Gesicht geworfen habe; dieses Gefühl sei jedoch wieder verschwunden, als X. ein freundliches, liebenswürdiges Gespräch mit ihm begonnen habe.

Wie ist dieser Traum zu verstehen? Vielleicht könnte der Träumer auf den Ruhm des Herrn X. neidisch sein, sodass er ihn deshalb nicht leiden kann? In diesem Fall wäre der Traum Ausdruck des irrationalen Hasses, der den Träumer erfüllt, ohne dass er sich dessen bewusst wäre. Aber im hier berichteten Fall lag die Sache anders. Nachdem unser Träumer durch seine Träume misstrauisch geworden war, beobachtete er Herrn X. aufmerksamer und kam in den folgenden Sitzungen dahinter, dass dieser Mann etwas Rücksichtsloses an sich hatte, das er in seinem Traum zum ersten Mal bemerkt hatte. Dieser Eindruck wurde ihm von einigen Personen bestätigt, die die Meinung der Mehrheit anzuzweifeln wagten, dass X. ein so gütiger Mensch sei. Der ungünstige Eindruck wurde auch durch einige Tatsachen im Leben von X. bestätigt, die zwar keineswegs so krass waren, wie die Geschichte im Traum, die aber immerhin vom gleichen Geist zeugten.

Wir sehen also, dass der Träumer den Charakter von X. im Schlaf viel treffender beurteilte als im Wachen. Der „Lärm“ der öffentlichen Meinung, die immer wieder betonte, X. sei ein wunderbarer Mensch, hinderte ihn daran, sich seines kritischen Gefühls X. gegenüber bewusst zu werden, als er diesen sah. Erst später, nachdem er den [IX-193] Traum gehabt hatte, fiel ihm ein, dass ihm für den Bruchteil einer Sekunde Misstrauen und Zweifel gekommen waren. Im Traum, wo er vor dem „Lärm“ geschützt und in der Lage war, mit sich und seinen Eindrücken und Gefühlen allein zu sein, konnte er sich ein Urteil bilden, das treffender war und der Wahrheit mehr entsprach als sein Eindruck im wachen Zustand.

Bei diesem wie auch bei jedem anderen Traum können wir nur dann entscheiden, ob irrationale Leidenschaft oder Vernunft darin zum Ausdruck kommt, wenn wir die Person des Träumers, seine Stimmung beim Einschlafen und alles berücksichtigen, was wir an realen Daten über die Situation zur Verfügung haben, von der er geträumt hat. In diesem Fall wird unsere Interpretation durch eine ganze Reihe von Daten bestätigt. Der Träumer konnte sich noch daran erinnern, dass X. anfangs einen unsympathischen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Er hegte keine feindseligen Gefühle gegen ihn und hatte auch keinen Anlass dazu. Tatsachen aus dem Leben von X. und spätere Beobachtungen bestätigten den Eindruck, den der Träumer im Schlaf von ihm hatte. Wären alle diese Faktoren nicht vorhanden gewesen, so hätten wir den Traum anders gedeutet. Wenn unser Träumer zum Beispiel dazu geneigt hätte, auf berühmte Leute neidisch zu sein, wenn er keine Beweise für die Richtigkeit des Traumurteils über X. hätte finden können und wenn ihm nicht eingefallen wäre, dass X. ihm unsympathisch vorkam, als er ihn zum ersten Mal sah, dann würden wir natürlich annehmen, dass in diesem Traum nicht seine Einsicht, sondern sein irrationaler Hass zum Ausdruck kam.

Einsicht ist mit Voraussage eng verwandt. Etwas voraussagen heißt soviel wie den zukünftigen Gang der Ereignisse aus der Richtung und Intensität der Kräfte zu schließen, die wir gegenwärtig am Werk sehen. Eine gründliche Kenntnis nicht des oberflächlichen Eindrucks, sondern der in der Tiefe wirkenden Kräfte ermöglicht Voraussagen, und eine ernstzunehmende Voraussage muss sich stets auf solches Wissen stützen. Kein Wunder, dass wir oft Entwicklungen und Ereignisse voraussagen, die später durch Tatsachen bestätigt werden. Wenn wir die Telepathie hier einmal außer acht lassen, so fallen viele Träume, in denen der Träumer zukünftige Ereignisse voraussieht, in die Kategorie rationaler Voraussagen der Art, wie wir sie soeben definiert haben. Einer der ältesten uns überlieferten Träume, die sich bewahrheiteten, war der Josefs (Gen 37, 5-11):

Einst hatte Josef einen Traum. Als er ihn seinen Brüdern erzählte, hassten sie ihn noch mehr. Er sagte zu ihnen: Hört, was ich geträumt habe! Wir banden Garben mitten auf dem Feld. Meine Garbe richtete sich auf und blieb stehen. Eure Garben umringten sie und neigten sich tief vor meiner Garbe. Da sagten seine Brüder zu ihm: Willst du etwa König über uns werden oder dich als Herr über uns aufspielen? Und sie hassten ihn noch mehr wegen seiner Träume und seines Geredes.

Er hatte noch einen anderen Traum. Er erzählte ihn seinen Brüdern und sagte: Ich träumte noch einmal: Die Sonne, der Mond und elf Sterne verneigten sich tief vor mir. Als er davon seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, schalt ihn sein Vater und sagte zu ihm: Was soll das, was du da geträumt hast? Sollen wir vielleicht, ich, deine Mutter und deine Brüder, kommen und uns vor dir zur Erde niederwerfen? Seine Brüder waren eifersüchtig, sein Vater aber vergaß die Sache nicht. [IX-194]

Dieser Bericht aus dem Alten Testament zeigt uns eine Situation, in der Träume vom „Laien“ noch unmittelbar verstanden wurden und wo man noch nicht die Hilfe eines professionellen Traumdeuters brauchte, um einen relativ einfachen Traum zu verstehen. (Dass man zum Verständnis eines schwierigeren Traumes einen Fachmann nötig hatte, zeigt die Geschichte von den Träumen des Pharaos, die sogar die Hof-Wahrsager nicht verstehen konnten, sodass man Josef herbeiholen musste.) Die Brüder verstehen sofort, dass der Traum Josefs Phantasievorstellung ausdrückt, dass er eines Tages über seinem Vater und seinen Brüdern stehen werde und dass sie sich in Ehrfurcht vor ihm werden beugen müssen. Zweifellos kommt in diesem Traum Josefs Ehrgeiz zum Ausdruck, ohne den er die hohe Stellung, die er einmal einnehmen sollte, vermutlich nicht erreicht hätte. Aber der Traum bewahrheitet sich. Er war nicht nur Ausdruck irrationalen Ehrgeizes, sondern gleichzeitig eine Voraussage von Ereignissen, die tatsächlich eintrafen. Wie konnte Josef eine solche Voraussage machen? Seine Lebensgeschichte im biblischen Bericht zeigt, dass er nicht nur ein ehrgeiziger, sondern auch ein ungewöhnlich begabter Mann war. Im Traum ist er sich seiner außergewöhnlichen Gaben deutlicher bewusst, als er das im wachen Leben sein konnte, wo er unter dem Eindruck stand, jünger und schwächer als alle seine Brüder zu sein. Der Traum ist eine Mischung aus seinem leidenschaftlichen Ehrgeiz und einer Einsicht in seine Gaben, ohne die er nicht hätte in Erfüllung gehen können.

Eine Voraussage anderer Art ist im folgenden Traum enthalten: A., der eine Zusammenkunft mit B. hatte, um über eine zukünftige Geschäftsverbindung zu verhandeln, hatte einen günstigen Eindruck von B. und war entschlossen, diesen als Teilhaber in sein Geschäft aufzunehmen. In der Nacht nach der Besprechung hatte er folgenden Traum:

Ich sehe B. in unserem gemeinsamen Büro sitzen. Er sieht die Bücher durch und verändert darin Eintragungen, um die Tatsache zu verschleiern, dass er große Geldsummen unterschlagen hat.

A. wacht auf, und da er gewohnt ist, Träumen eine gewisse Beachtung zu schenken, ist er bestürzt. Da er aber der Überzeugung ist, dass Träume stets Ausdruck irrationaler Wünsche sind, sagt er sich, in diesem Traum komme seine eigene Feindseligkeit gegen andere Menschen und sein Konkurrenzneid zum Ausdruck, und diese Feindseligkeit und dieser Argwohn hätten ihm die Vorstellung eingegeben, dass B. ein Dieb sei. Nachdem er den Traum auf diese Weise gedeutet hat, weist er seinen irrationalen Argwohn als unbegründet weit von sich. Als er dann aber die Geschäftsverbindung mit B. eingegangen war, kam es zu einer Reihe von Vorfällen, die seinen Argwohn aufs Neue weckten. Aber er rief sich seinen Traum und dessen Deutung ins Gedächtnis und war wiederum überzeugt, unter dem Einfluss irrationalen Misstrauens und feindseliger Gefühle zu stehen, und beschloss daher, jenen Vorfällen, die seinen Verdacht erregt hatten, keine weitere Beachtung zu schenken. Ein Jahr darauf entdeckte er jedoch, dass B. beträchtliche Summen veruntreut und dies durch falsche Eintragungen in die Bücher vertuscht hatte. Sein Traum hatte sich buchstäblich bewahrheitet.

Die Analyse der Assoziationen von A. zeigte, dass sein Traum einen Einblick in den Charakter von B. zum Ausdruck brachte, den A. bereits bei ihrer ersten Begegnung [IX-195] gewonnen hatte, der ihm aber in seinem wachen Denken nicht bewusst geworden war. Durch jene zahlreichen komplexen Beobachtungen, die wir in Bezug auf andere Menschen im Bruchteil einer Sekunde machen, ohne uns unserer eigenen Denkprozesse bewusst zu werden, hatte A. erkannt, dass B. nicht ehrlich war. Aber da er keinen „Beweis“ dafür hatte und das Verhalten von B. es für das bewusste Denken von A. schwermachte, an die Unehrlichkeit von B. zu glauben, hatte er den Gedanken daran völlig verdrängt, oder - besser gesagt - ihn im wachen Zustand gar nicht erst registriert. Im Traum war er sich dagegen seines Argwohns deutlich bewusst, und er hätte sich großen Ärger ersparen können, wenn er auf diese Mitteilung seines Selbst gehört hätte. Seine Überzeugung, dass Träume stets Ausdruck unserer irrationalen Phantasien und Wünsche seien, war schuld daran, dass er den Traum und sogar gewisse spätere tatsächliche Beobachtungen falsch auslegte.

Einen Traum, in dem der Träumer ein moralisches Urteil fällte, träumte ein Schriftsteller, dem man eine Stellung angeboten hatte, in der er weit mehr als bisher verdient hätte, wo er aber auch gezwungen gewesen wäre, Dinge zu schreiben, an die er nicht glaubte, und wo er somit seine persönliche Integrität verletzt hätte. Immerhin war das Angebot, was Verdienst und Ansehen betraf, so verlockend, dass er sich nicht sicher war, ob er es ablehnen konnte. Er hielt sich alle Rationalisierungen vor Augen, wie sie die meisten Menschen in solchen Fällen erwägen. Er sagte sich, vielleicht sehe er die Situation zu schwarz und werde am Ende gar keine so großen Zugeständnisse machen müssen. Außerdem würde - falls er wirklich nicht schreiben konnte, was er wollte - dieser Zustand nur ein paar Jahre dauern, dann würde er die Stelle wieder aufgeben und soviel Geld verdient haben, dass er fortan völlig unabhängig und frei an eine Arbeit gehen könne, die für ihn sinnvoll wäre. Er dachte auch an seine Freunde und an seine Familie und überlegte sich, was er alles für sie würde tun können. Manchmal kam es ihm sogar vor, als sei es geradezu seine moralische Pflicht, die Stelle anzunehmen, und als wäre es ein Zeichen einer zu sehr auf sich selbst bedachten, egoistischen Haltung, wenn er sie ablehne. Freilich befriedigte ihn keine dieser Rationalisierungen völlig; er war auch weiterhin im Zweifel und konnte sich nicht entschließen, das Angebot anzunehmen, bis er eines Nachts folgenden Traum hatte:

Ich saß in einem Wagen am Fuß eines hohen Berges, wo ein schmaler, überaus steiler Weg anfing, der zum Gipfel hinaufführte. Ich wusste nicht recht, ob ich hinauffahren sollte, da mir der Weg höchst gefährlich vorkam. Aber ein Mann, der neben meinem Wagen stand, sagte zu mir, ich solle nur hinauffahren und keine Angst haben. Ich hörte auf ihn und beschloss, seinem Rat zu folgen. Ich fuhr hinauf, und der Weg wurde immer gefährlicher. Ich konnte jedoch nicht anhalten, weil ich nirgends wenden konnte. Als ich den Gipfel fast erreicht hatte, setzte der Motor aus, die Bremsen versagten, der Wagen rollte den Berg hinab und stürzte in den Abgrund! Voller Entsetzen wachte ich auf.

Zum vollen Verständnis des Traumes ist noch eine Assoziation zu erwähnen. Der Träumer sagte, der Mann, der ihm zugeredet habe, den Berg hinaufzufahren, sei ein ehemaliger Freund gewesen, ein Maler, der „ausverkauft“ habe und ein Mode-Porträtist geworden sei. Damit habe er eine Menge Geld verdient, habe aber seine [IX-196] schöpferischen Fähigkeiten eingebüßt. Er wisse, dass dieser Freund trotz seines Erfolges ein unglücklicher Mensch sei, der darunter leide, dass er an sich selbst Verrat geübt habe. Es fällt nicht schwer, den ganzen Traum zu verstehen. Der steile Berg, den der Mann hinauffahren sollte, drückt symbolisch die erfolgreiche Laufbahn aus, für oder gegen die er sich entscheiden sollte. Im Traum weiß er, dass dieser Weg gefährlich ist. Er weiß, dass er - wenn er das Angebot annimmt - genau das tun wird, was sein ehemaliger Freund getan hat: das, weswegen er diesen verachtet und ihm die Freundschaft gekündigt hat. Er weiß im Traum, dass ein ähnlicher Entschluss ihn nur ins Verderben führen kann. Die Vernichtung bezieht sich im Traumbild auf sein körperliches Selbst, das sein intellektuelles und spirituelles Selbst symbolisiert, das Gefahr läuft, zugrunde gerichtet zu werden.

Der Träumer hat im Schlaf das moralische Problem deutlich gesehen und erkannt, dass er zwischen dem „Erfolg“ und seiner Integrität und seinem Glück wählen muss. Er hat erkannt, was sein Los sein würde, wenn er die falsche Entscheidung träfe. Im wachen Zustand konnte er die Alternative nicht so deutlich erkennen. Das laute Gerede hatte einen solchen Eindruck auf ihn gemacht, dass er sich überlegte, ob es nicht doch töricht sei, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen, mehr Geld zu verdienen und mehr Macht und Prestige zu gewinnen. Er stand so sehr unter dem Einfluss all derer, die sagen, es sei kindisch und wirklichkeitsfremd, ein „Idealist“ zu sein, dass er sich in die vielen Rationalisierungen verstrickte, deren man sich zu bedienen pflegt, wenn man die Stimme des Gewissens zum Schweigen bringen will. Dieser spezielle Träumer war sich der Tatsache bewusst, dass wir in unseren Träumen oft mehr wissen als im wachen Zustand, und er wurde durch den Traum so aufgerüttelt, dass die Nebel, die ihm den Blick getrübt hatten, schwanden und er die Alternative jetzt deutlich erkennen konnte. Er entschied sich für seine Integrität und gegen die selbstzerstörerische Versuchung.

Nicht nur Einsichten in unsere Beziehung zu anderen Menschen oder in deren Einstellung zu uns, nicht nur Werturteile und Voraussagen kommen in unseren Träumen vor, auch unsere intellektuellen Leistungen sind gelegentlich denen im wachen Zustand überlegen. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn scharfes Nachdenken erfordert eine Konzentration, die uns im wachen Zustand oft versagt ist, während sie im Schlaf erreicht wird. Das bekannteste Beispiel eines derartigen Traumes ist der Traum Kekulés, des Entdeckers des Benzolrings. Dieser hatte schon geraume Zeit nach der chemischen Formel für Benzol gesucht, und eines Nachts sah er im Traum die richtige Formel vor sich. Glücklicherweise erinnerte er sich beim Erwachen noch daran. Es gibt zahlreiche Beispiele für Menschen, die sich über der Lösung eines mathematischen, technischen, philosophischen oder praktischen Problems den Kopf zerbrechen und die dann die Lösung eines Nachts im Traum vollkommen klar vor sich sehen.

Manchmal stellt man im Traum höchst komplizierte intellektuelle Erwägungen an. Der folgende Traum ist ein Beispiel hierfür, wenn er auch außerdem noch ein sehr persönliches Element enthält. Die Träumerin ist eine intelligente Frau. Sie träumte:

Ich sah eine Katze und viele Mäuse. Und ich dachte, ich werde morgen früh meinen Mann fragen, weshalb hundert Mäuse nicht stärker sind als eine Katze und weshalb [IX-197] sie nicht mit ihr fertig werden können. Ich weiß, dass er mir antworten wird, es sei dasselbe wie in der Politik, wo ein Diktator über Millionen Menschen herrschen kann und sie auch nichts gegen ihn ausrichten können. Ich wusste aber, dass es eine Trickfrage war und dass seine Antwort falsch war.

Am nächsten Morgen erzählte sie ihrem Mann den ersten Teil des Traumes und fragte ihn: „Was bedeutet es, dass ich geträumt habe, dass hundert Mäuse nicht mit einer Katze fertig werden?“ Er gab ihr darauf prompt die Antwort, die sie im Traum vorausgesehen hatte. Zwei Tage später las sie ihrem Mann ein kleines Gedicht vor, das sie verfasst hatte. Es handelte von einer schwarzen Katze auf einem schneebedeckten Feld, die von Hunderten von Mäusen umgeben war. Die Mäuse machten sich alle über die Katze lustig, weil sie so schwarz war, dass sie sich deutlich vom Schnee abhob, und die Katze wünschte, sie wäre weiß, damit man sie nicht so leicht erkennen könne. Eine Zeile des Gedichtes lautete: „Und jetzt versteh’ ich, worüber ich mir letzte Nacht den Kopf zerbrach.“

Als sie ihrem Mann das Gedicht vorlas, war sie sich keines Zusammenhangs zwischen dem Gedicht und ihrem Traum bewusst. Er aber merkte den Zusammenhang und sagte: „ Da hast du ja mit deinem Gedicht die Antwort auf deinen Traum. Du hast dich nicht - wie ich zuerst annahm - mit den Mäusen, sondern mit der Katze identifiziert; und in diesem Traum warst du stolz darauf, dass selbst hundert Mäuse dir nichts anhaben konnten. Aber gleichzeitig empfindest du es als demütigend, dass die schwachen Mäuse, denen du dich so überlegen fühlst, dich auslachen, weil sie dich so deutlich sehen können.“ (Die Träumerin liebt Katzen. Sie sind ihr sympathisch, und sie fühlt sich ihnen verwandt.)

4. Der Traum bei Freud und bei Jung

Meine Definition des Träumens als Seelentätigkeit unter Schlafbedingungen gründet sich zwar auf Freuds Traumtheorie, steht jedoch in vieler Hinsicht in scharfem Gegensatz zu ihr. Meiner Ansicht nach können Träume Ausdruck sowohl der niedrigsten und irrationalsten als auch der höchsten und wertvollsten Funktionen unserer Seele sein. Freud nimmt an, Träume seien stets unausweichlich Ausdruck des irrationalen Teils unserer Persönlichkeit. Ich werde im weiteren Verlauf dieses Buchs noch zu zeigen versuchen, dass diese drei Theorien - Träume seien ausschließlich irrationale Erzeugnisse, sie seien ausschließlich rationale Erzeugnisse oder sie seien beides - schon in ferner Vergangenheit in der Geschichte der Traumdeutung zu finden sind. Angesichts der Tatsache, dass Freuds Traumdeutung der Anfang und der bekannteste und bedeutsamste Beitrag der modernen Wissenschaft zur Traumdeutung ist, will ich mit einer Beschreibung und Diskussion von Freuds Traumdeutung beginnen, bevor ich mich dann der Geschichte dieser drei Theorien vor Freud zuwende.

Freuds Traumdeutung beruht auf dem gleichen Prinzip, das seiner gesamten psychologischen Theorie zugrunde liegt: auf der Auffassung, dass wir Strebungen, Gefühle und Wünsche haben können, die die Beweggründe unserer Handlungen sind und deren wir uns trotzdem nicht bewusst sind. Er hat derartige Strebungen als „unbewusst“ bezeichnet, womit er sagen wollte, dass wir uns ihrer nicht nur nicht bewusst sind, sondern dass ein mächtiger „Zensor“ uns davor bewahrt, ihrer gewahr zu werden. Aus vielerlei Gründen, deren wichtigster die Angst ist, die Billigung unserer Eltern und Freunde zu verlieren, verdrängen wir Strebungen, die Schuldgefühle in uns erzeugen und uns Angst vor Strafe einjagen würden, wenn wir uns ihrer bewusst würden. Die Verdrängung solcher Strebungen aus unserem Bewusstsein bedeutet jedoch nicht, dass sie zu existieren aufhören. Tatsächlich leben sie so nachhaltig weiter, dass sie sich auf die verschiedenste Weise Ausdruck verschaffen, freilich so, dass wir uns nicht bewusst sind, dass sie sich sozusagen durch eine Hintertür wieder Eintritt verschaffen. Unser bewusstes System glaubt, solche unerwünschten Gefühle und Wünsche losgeworden zu sein, und ist entsetzt über die Möglichkeit, sie könnten in uns vorhanden sein. Wenn sie trotzdem wieder auftauchen und sich bemerkbar machen, verhüllen und entstellen wir sie daher in einem solchen Maß, dass unser bewusstes Denken sie nicht als das erkennt, was sie in Wirklichkeit sind. [IX-199]

Auf diese Weise hat Freud das neurotische Symptom erklärt. Er nahm an, dass machtvolle Strebungen, die vom „Zensor“ daran gehindert werden, uns bewusst zu werden, sich in Symptomen äußern, jedoch in einer verhüllten Form, sodass wir nur das durch das Symptom verursachte Leiden merken, nicht aber die Befriedigung dieser irrationalen Strebungen. So hat Freud als erster das neurotische Symptom als etwas erkannt, das durch Kräfte in unserem Inneren hervorgerufen wird und das einen bestimmten Sinn hat, zu dem man freilich erst den Schlüssel finden muss.

Ein Beispiel möge dies veranschaulichen. Eine Frau klagt über den Zwang, sich jedesmal, wenn sie etwas angefasst hat, die Hände waschen zu müssen. Natürlich ist das für sie zu einem höchst lästigen Symptom geworden, da es sie bei jeder Tätigkeit stört und sie sehr unglücklich macht. Sie hat keine Ahnung, weshalb sie das tun muss. Sie kann nur dazu sagen, dass sie eine unerträgliche Angst empfindet, wenn sie es zu unterlassen versucht. Allein die Tatsache, dass sie einem Impuls gehorchen muss, der von ihr Besitz ergriffen hat, ohne dass sie wüsste warum, macht ihr Elend noch viel größer. Bei der Analyse ihrer Phantasien und freien Assoziationen stellt sich heraus, dass sie gegen ein intensives Gefühl der Feindseligkeit anzukämpfen hat. Ihr Symptom zeigte sich zuerst, als ihr Mann eine Liebesaffäre mit einer anderen Frau anfing und sie kurz angebunden auf grausame Weise verließ. Sie war von ihrem Mann immer abhängig gewesen und hatte nie gewagt, an ihm Kritik zu üben oder ihm zu widersprechen. Sogar als er ihr seine Absicht eröffnete, sie zu verlassen, sagte sie kaum ein Wort dazu und machte ihm keine Vorwürfe. Sie äußerte keine Klagen und machte ihm keine Szenen. Aber damals fing das Symptom an, von ihr Besitz zu ergreifen. Die weitere Analyse zeigte, dass die Patientin einen grausamen und herrschsüchtigen Vater gehabt hatte, vor dem sie sich fürchtete und dem gegenüber sie nie gewagt hatte, ihren Ärger zu zeigen oder ihm Vorwürfe zu machen. Bei der Analyse stellte sich dann auch heraus, dass ihre Sanftheit und Unterwürfigkeit keine Zeichen dafür waren, dass sie nicht doch innerlich wütend war. Ganz im Gegenteil hatte sich unter ihrem manifesten Verhalten ihre Wut angesammelt. Die Wut äußerte sich aber nur in Phantasien, wie zum Beispiel, dass sie ihren Vater tot, ermordet oder als Krüppel sah. Ihr Verlangen nach Rache und ihr Hass wurden immer stärker, und trotzdem zwangen sie ihre Angst und die Forderungen ihres Gewissens, solche Wünsche fast völlig zu verdrängen. Das Verhalten ihres Mannes ließ ihre aufgespeicherte Wut wieder aufflammen und gab ihr neue Nahrung. Aber auch jetzt konnte sie ihr keinen Ausdruck verleihen, ja sie konnte sie nicht einmal fühlen. Wäre ihr ihre Feindseligkeit bewusst gewesen, dann hätte sie das Bedürfnis gehabt, ihren Mann umzubringen oder ihn doch wenigstens zu verletzen, und sie hätte dann vermutlich keine neurotischen Symptome entwickelt. So aber arbeitete ihre Feindseligkeit in ihr, ohne dass sie sich dessen bewusst war.

Das Symptom dieser Frau war eine Reaktion auf diese Feindseligkeit. In ihrem Unbewussten wurde das Berühren von Gegenständen für sie zu einem Akt der Vernichtung, und sie musste sich die Hände waschen, um sich von der destruktiven Handlung, die sie begangen hatte, zu reinigen. Es war, als hätte sie Blut an den Händen und müsse es immer wieder abwaschen. Der Waschzwang war die Reaktion auf einen feindseligen Impuls, ein Versuch, das Verbrechen, das sie begangen hatte, wieder [IX-200] ungeschehen zu machen; jedoch war ihr nur ihr Bedürfnis, sich die Hände zu waschen, bewusst, während die Gründe dafür ihr nicht bewusst waren. Das scheinbar sinnlose Symptom war als sinnvolles Verhalten zu verstehen, nachdem man einmal zu dem unbewussten Sektor ihrer Persönlichkeit vorgestoßen war, in dem ihr scheinbar sinnloses Verhalten wurzelte. Das Händewaschen war für sie ein Kompromiss, der es ihr ermöglichte - wenn auch unbewusst -, ihre Wut auszuleben und sich dennoch mit Hilfe der Waschzeremonie von der Schuld zu reinigen.

Die Entdeckung, wie solche unbewussten Prozesse zu verstehen waren, führte Freud zu einer Entdeckung, die Licht auch auf unser normales Verhalten wirft. Sie ermöglichte es ihm, eine Fehlleistung wie zum Beispiel das Sich-Versprechen zu erklären, was vielen, die sich damit beschäftigt hatten, Kopfzerbrechen verursacht hatte und wofür man bisher noch keine Erklärung gefunden hatte. Wir alle kennen die Erscheinung, dass wir uns plötzlich nicht mehr an einen Namen erinnern können, den wir sehr wohl kennen. Dieses Vergessen kann eine Reihe von Ursachen haben, aber Freud entdeckte, dass es oft damit zu erklären ist, dass etwas in uns sich nicht an den betreffenden Namen erinnern möchte, weil er mit Angst, Zorn oder einem ähnlichen Gefühl in Zusammenhang steht, dass wir den Namen vergessen haben, weil wir das Unangenehme, das für uns damit verbunden ist, von uns wegschieben möchten. Wie Friedrich Nietzsche (1960, Band 2, S. 625) sagt: „‘Das habe ich getan’, sagt mein Gedächtnis. ‘Das kann ich nicht getan haben’ - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach.“

Das Motiv zu einer solchen Fehlleistung ist nicht unbedingt ein Angst- oder Schuldgefühl. Wenn man jemandem begegnet und anstatt „Guten Tag“ aus Versehen „Adieu“ zu ihm sagt, dann drückt man damit sein wahres Gefühl aus: Man wünscht, man wäre den Betreffenden, dem man gerade begegnet, sofort wieder los oder man hätte ihn am liebsten gar nicht erst getroffen. Die Konvention macht es uns unmöglich, diesem Gefühl Ausdruck zu geben, und trotzdem hat sich unsere Abneigung gegen diesen Menschen sozusagen hinter unserem Rücken durchgesetzt. Sie hat uns eben die Worte in den Mund gelegt, die unsere wahren Gefühle ausdrücken, während wir bewusst die Absicht hatten, unserer Freude über die Begegnung Ausdruck zu verleihen.

Auch in den Träumen sieht Freud den Ausdruck unbewusster Strebungen. Er nimmt an, dass auch der Traum - genau wie das neurotische Symptom oder die Fehlleistung - unbewusste Strebungen zum Ausdruck bringt, deren Gewahrwerden wir uns nicht gestatten und die wir daher aus unserem Bewusstsein fernhalten, solange wir unsere Gedanken voll unter Kontrolle haben. Diese verdrängten Gedanken und Gefühle werden im Schlaf lebendig und finden in dem, was wir als Träume bezeichnen, eine Ausdrucksmöglichkeit.

Aus dieser allgemeinen Auffassung über das Träumen ergeben sich folgende Annahmen:

Die unser Traumleben motivierenden Kräfte sind unsere irrationalen Wünsche. Im Schlaf werden Impulse lebendig, deren Existenz wir im Wachen nicht anzuerkennen wünschen oder wagen. Irrationaler Hass, Ehrgeiz, Eifersucht, Neid und insbesondere inzestuöse oder perverse sexuelle Wünsche, die wir aus unserem Bewusstsein [IX-201] ausschließen, finden in unseren Träumen Ausdruck. Freud nimmt an, dass wir alle solche irrationalen Wünsche in uns tragen, die wir auf Grund der Forderungen der Gesellschaft verdrängt haben, die wir aber doch nicht ganz losgeworden sind. Während des Schlafs lässt die Kontrolle durch unser Bewusstsein nach, und diese Wünsche werden lebendig und verschaffen sich in unseren Träumen Gehör.

Freud geht aber noch einen Schritt weiter. Er bringt diese Traumtheorie mit der Funktion des Schlafs in Verbindung. Der Schlaf ist eine physiologische Notwendigkeit, und unser Organismus sucht ihn auf bestmögliche Weise sicherzustellen. Wenn wir nun aber in unserm Schlaf die intensiven, irrationalen Wünsche fühlen würden, so würden wir durch sie gestört und würden aufwachen. Daher würden diese Wünsche mit der biologischen Notwendigkeit weiterzuschlafen in Konflikt geraten. Was tun wir also, um uns unseren Schlaf zu erhalten? Wir stellen uns vor, die Wünsche wären erfüllt und haben so ein Gefühl der Befriedigung anstelle eines Gefühls störender Versagung.

Freud gelangt so zu der Annahme, dass das Wesen der Träume die halluzinatorische Erfüllung irrationaler Wünsche sei; ihre Funktion ist die Erhaltung des Schlafs. Diese Erklärung ist leichter verständlich in Fällen, in denen der Wunsch nicht irrational ist und in denen der Traum daher nicht entstellt wird, wie dies nach Freud beim durchschnittlichen Traum der Fall ist. Nehmen wir einmal an, jemand habe vor dem Schlafengehen eine sehr stark gesalzene Speise gegessen und habe während der Nacht heftigen Durst. Er träumt dann vielleicht, er sei auf der Suche nach Wasser, finde eine Quelle und trinke große Mengen kühlen, erfrischenden Wassers. Anstatt aufzuwachen, um seinen Durst zu löschen, erlangt der Schläfer dadurch, dass er in seiner Phantasie Wasser trinkt, eine halluzinatorische Befriedigung, die ihm die Möglichkeit gibt weiterzuschlafen. Uns allen ist eine ähnliche halluzinatorische Befriedigung bekannt, wenn wir, durch den Wecker aufgeschreckt, im gleichen Augenblick träumen, wir hörten Kirchenglocken läuten, es sei Sonntag und wir brauchten nicht so früh aufzustehen. Auch in diesem Fall hat der Traum die Funktion, unseren Schlaf zu behüten. Freud nimmt an, dass diese einfachen Wunscherfüllungen, die an und für sich nicht irrational sind, bei Erwachsenen relativ selten, aber bei Kindern häufiger vorkommen, und dass unsere Träume im allgemeinen nicht die Erfüllung solcher rationaler, sondern vielmehr irrationaler Wünsche sind, die wir tagsüber verdrängen.

Weiterhin nimmt Freud an, dass diese irrationalen Wünsche, die wir im Traum als erfüllt erleben, in unserer Kindheit verwurzelt sind, dass sie in uns lebten, als wir noch Kinder waren, dass sie eine unterirdische Existenz weiterführen und in unseren Träumen zu neuem Leben erwachen. Diese Auffassung beruht auf Freuds allgemeiner Überzeugung von der Irrationalität des Kindes.

Nach Freud hat das Kind viele asoziale Impulse. Da es weder die körperliche Stärke noch das nötige Wissen besitzt, um diese Impulse auszuagieren, ist es harmlos, und niemand braucht sich vor seinen bösen Absichten in acht zu nehmen. Richtet man jedoch seine Aufmerksamkeit auf die Qualität dieser Strebungen und nicht auf deren praktische Folgen, dann ist das Kleinkind ein asoziales und amoralisches Wesen. Dies gilt vor allem für seine sexuellen Impulse. Nach Freud gehören alle jene sexuellen Strebungen, die - wenn sie beim Erwachsenen auftreten - als Perversionen [IX-202] bezeichnet werden, zur normalen sexuellen Entwicklung des Kindes. Beim Säugling konzentriert sich die sexuelle Energie (die Libido) um die Mundregion, später steht sie mit der Stuhlentleerung in Zusammenhang, bis sie sich schließlich auf die Genitalien konzentriert. Das Kleinkind empfindet starke sadistische und masochistische Strebungen. Es ist ein Exhibitionist und auch ein kleiner Voyeur. Es ist noch nicht fähig, jemanden zu lieben, sondern ist narzisstisch und liebt ausschließlich sich selbst. Es ist höchst eifersüchtig und voll destruktiver Impulse gegen seine Rivalen. Das Sexualleben der kleinen Jungen und Mädchen wird von inzestuösen Strebungen beherrscht. Sie haben eine starke sexuelle Bindung an den andersgeschlechtlichen Elternteil und sind eifersüchtig auf den gleichgeschlechtlichen und hassen ihn. Nur die Angst vor den Vergeltungsmaßnahmen des verhassten Rivalen veranlasst das Kind, diese inzestuösen Wünsche zu unterdrücken. Indem der kleine Junge sich mit den Geboten und Verboten seines Vaters identifiziert, überwindet er seinen Hass gegen diesen und ersetzt ihn durch den Wunsch, ihm zu gleichen. Die Entwicklung des Gewissens ist das Ergebnis des „Ödipuskomplexes“.

Das Bild, das Freud vom Kind entwirft, zeigt eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Bild, das sich Augustinus von ihm machte. Einer der Hauptbeweise des Augustinus für die dem Menschen innewohnende Sündhaftigkeit ist sein Hinweis auf die Bösartigkeit des kleinen Kindes. Er schließt daraus, dass die Bosheit dem Menschen angeboren sein müsse, da ja das Kind böse sei, bevor es Gelegenheit gehabt habe, von anderen Schlechtes zu lernen und durch schlechte Beispiele verdorben zu werden. Freud wie auch Augustinus heben nicht die Eigenschaften im Kind hervor, die dieses Bild zumindest ausgleichen würden: seine Spontaneität, seine Reaktionsfähigkeit, sein feinfühliges Urteil über andere Menschen, seine Fähigkeit, die Einstellung anderer zu erkennen ohne Rücksicht darauf, was diese sagen, sein unermüdliches Bemühen, die Umwelt zu begreifen - kurz alle jene Eigenschaften, die wir an Kindern bewundern und die sie uns liebenswert machen, sodass wir kindliche Eigenschaften beim Erwachsenen zu dessen kostbarstem Besitz rechnen. Freud hat aus zahlreichen Gründen allen Nachdruck auf die schlechten Seiten des Kindes gelegt. Einer davon ist, dass das Viktorianische Zeitalter die Illusion oder Fiktion vom „unschuldigen“ Kind aufgebracht hatte. Man nahm damals an, dass es keine sexuellen Strebungen oder andere „schlechte“ Impulse besäße. Als Freud sich gegen diese bequeme Fiktion wandte, warf man ihm vor, er besudele die Unschuld des Kindes und greife einen der höchsten Werte der viktorianischen Familie an. Dass Freud bei diesem Streit ins andere Extrem verfiel und ein einseitiges Bild von der Schlechtigkeit des Kindes entwarf, ist verständlich. Ein weiterer Grund für Freuds Beurteilung des Kindes ist darin zu suchen, dass er es als Aufgabe der Gesellschaft begreift, den Menschen zu veranlassen, seine unmoralischen und asozialen Strebungen zu verdrängen und dadurch gesellschaftlich wertvolle Charakterzüge zu entwickeln.[8]

Diese Umwandlung von Bösem in Gutes geschieht nach Freud durch Mechanismen, die er „Reaktionsbildung“ und „Sublimierung“ nennt. Die Verdrängung eines bösen Impulses - etwa eines sadistischen - führt zur Ausbildung eines entgegengesetzten Impulses, etwa des Wohlwollens, dessen Funktion dynamisch gesprochen darin besteht, den verdrängten Sadismus daran zu hindern, sich in Gedanken, Handlungen oder Gefühlen zu äußern. [IX-203] Bei der Sublimierung wird nach Freud ein böser Impuls von seinen ursprünglich asozialen Zielen abgelenkt und für höhere, kulturell wertvolle Ziele verwandt. Ein Beispiel für die Sublimierung ist ein Mensch, der seinen Impuls, andere zu verletzen, zur wertvollen Kunst der Chirurgie sublimiert hat. Freud vertritt die Ansicht, dass wohlwollende, liebevolle und konstruktive Impulse im Menschen nicht primär sind, und behauptet, sie seien sekundär aus der Notwendigkeit entstanden, seine ursprünglich bösen Strebungen zu verdrängen. Er versteht die Kultur als Resultat solcher Verdrängung. Im Gegensatz zu Rousseau steht Freud auf dem Standpunkt, dass der Mensch in seinem ursprünglichen Zustand von bösen Impulsen beherrscht ist. Je weiter sich die Gesellschaft entwickelt und ihn zwingt, diese Impulse zu unterdrücken, umso mehr lernt er, Reaktionsbildungen und Sublimierungen auszubauen. Je höher die kulturelle Entwicklung ist, in umso stärkerem Maße wird verdrängt. Da jedoch die Fähigkeit des Menschen zu Reaktionsbildungen und Sublimierungen beschränkt ist, bleibt diese zunehmende Verdrängung oft unwirksam; die ursprünglichen Strebungen leben wieder auf, und da sie nicht offen ausagiert werden können, führen sie zu neurotischen Symptomen. So nimmt Freud an, dass der Mensch vor einer unvermeidlichen Alternative steht: je höher die kulturelle Entwicklung, umso mehr Verdrängung und umso mehr Neurosen. Diese Auffassung führt notwendigerweise zu der Annahme, dass das Kind im wesentlichen so lange unmoralisch bleibe, wie es nicht den Forderungen der Gesellschaft unterworfen sei, dass aber selbst diese Kontrolle durch die Gesellschaft niemals den Hauptteil dieser bösen Impulse beseitige und dass diese ein unterirdisches Leben weiterführten.

Noch ein anderer Grund veranlasste Freud, die Irrationalität des Kindes zu betonen. Bei der Analyse seiner eigenen Träume fiel ihm auf, dass selbst bei einem normalen, seelisch gesunden Erwachsenen irrationale Strebungen wie Hass, Eifersucht und Ehrgeiz zu finden sind. Ende der neunziger Jahre und zu Anfang unseres Jahrhunderts hatte man das Gefühl, dass zwischen dem Kranken und dem Gesunden eine scharfe Trennungslinie bestehe. Es war unvorstellbar, dass ein normaler, achtbarer Bürger die vielen „verrückten“ Impulse in sich haben sollte oder konnte, die in seinen Träumen auftauchten. Wie konnte man das Vorhandensein dieser Impulse in den Träumen erklären, ohne die Vorstellung von diesem gesunden, „normalen“ Erwachsenen zu zerstören? Freud fand für diese Schwierigkeit eine Lösung, indem er annahm, dass sich in diesen irrationalen Strebungen, das Kind im Erwachsenen bemerkbar machte, das in diesem noch weiterlebte und sich in seinen Träumen äußerte. Seine theoretische Konstruktion lautete, dass gewisse verdrängte kindliche Impulse im Unbewussten ein unterirdisches Dasein weiterführen und im Traum wieder zum Vorschein kommen, wenn auch in einer durch das Bedürfnis des Erwachsenen, sich ihrer selbst im Schlaf nicht voll bewusst zu werden, entstellten und verhüllten Form. Ich zitiere nun einen von Freuds Träumen[9], den er in seinem Buch über die Traumdeutung als Beispiel analysiert hat (S. Freud, 1900a, S. 143-147 und 197-199):

I. (...) Freund R. ist mein Onkel - Ich empfinde große Zärtlichkeit für ihn.

II. Ich sehe sein Gesicht etwas verändert vor mir. Es ist wie in die Länge gezogen, ein gelber Bart, der es umrahmt, ist besonders deutlich hervorgehoben. [IX-204]

Dann folgen die beiden anderen Stücke, wieder ein Gedanke und ein Bild, die ich übergehe.

Die Deutung dieses Traumes vollzog sich folgendermaßen: Als mir der Traum im Laufe des Vormittags einfiel, lachte ich auf und sagte: Der Traum ist Unsinn. Er ließ sich aber nicht abtun und ging mir den ganzen Tag nach, bis ich mir endlich am Abend Vorwürfe machte: „Wenn einer deiner Patienten zur Traumdeutung nichts zu sagen wüsste als: Das ist ein Unsinn, so würdest du es ihm verweisen und vermuten, dass sich hinter dem Traum eine unangenehme Geschichte versteckt, welche zur Kenntnis zu nehmen er sich ersparen will. Verfahr mit dir selbst ebenso; deine Meinung, der Traum sei ein Unsinn, bedeutet nur einen inneren Widerstand gegen die Traumdeutung. Lass dich nicht abhalten!“ Ich machte mich also an die Deutung.

„R. ist mein Onkel.“ Was kann das heißen? Ich habe doch nur einen Onkel gehabt, den Onkel Josef. (Es ist merkwürdig, wie sich hier meine Erinnerung - im Wachen - für die Zwecke der Analyse einschränkt. Ich habe fünf von meinen Onkeln gekannt, einen von ihnen geliebt und geehrt. In dem Augenblicke aber, da ich den Widerstand gegen die Traumdeutung überwunden habe, sage ich mir: Ich habe doch nur einen Onkel gehabt, den, der eben im Traum gemeint ist.) Mit dem war’s allerdings eine traurige Geschichte. Er hatte sich einmal, es sind mehr als dreißig Jahre her, in gewinnsüchtiger Absicht zu einer Handlung verleiten lassen, welche das Gesetz schwer bestraft, und wurde dann auch von der Strafe getroffen. Mein Vater, der damals aus Kummer in wenigen Tagen grau wurde, pflegte immer zu sagen, Onkel Josef sei nie ein schlechter Mensch gewesen, wohl aber ein Schwachkopf; so drückte er sich aus. Wenn also Freund R. mein Onkel Josef ist, so will ich damit sagen: R. ist ein Schwachkopf. Kaum glaublich und sehr unangenehm! Aber da ist ja jenes Gesicht, das ich im Traum sehe, mit den länglichen Zügen und dem gelben Bart. Mein Onkel hatte wirklich so ein Gesicht, länglich, von einem schönen blonden Bart umrahmt. Mein Freund R. war intensiv schwarz, aber wenn die Schwarzhaarigen zu ergrauen anfangen, so büßen sie für die Pracht ihrer Jugendjahre. Ihr schwarzer Bart macht Haar für Haar eine unerfreuliche Farbenwandlung durch; er wird zuerst rotbraun, dann gelbbraun, dann erst definitiv grau. In diesem Stadium befindet sich jetzt der Bart meines Freundes R.; übrigens auch schon der meinige, wie ich mit Missvergnügen bemerke. Das Gesicht, das ich im Traum sehe, ist gleichzeitig das meines Freundes R. und das meines Onkels. Es ist wie eine Mischphotographie von Galton, der, um Familienähnlichkeiten zu eruieren, mehrere Gesichter auf die nämliche Platte photographieren ließ. (...) Es ist also kein Zweifel möglich, ich meine wirklich, dass Freund R. ein Schwachkopf ist - wie mein Onkel Josef.

Ich ahne noch gar nicht, zu welchem Zweck ich diese Beziehung hergestellt, gegen die ich mich unausgesetzt sträuben muss. Sie ist doch nicht sehr tiefgehend, denn der Onkel war ein Verbrecher, mein Freund R. ist unbescholten. Etwa bis auf die Bestrafung dafür, dass er mit dem Rad einen Lehrbuben niedergeworfen. Sollte ich diese Untat meinen? Das hieße die Vergleichung ins Lächerliche ziehen. Da fällt mir aber ein anderes Gespräch ein, das ich vor einigen Tagen mit meinem anderen [IX-205] Kollegen N., und zwar über das gleiche Thema hatte. Ich traf N. auf der Straße; er ist auch zum Professor vorgeschlagen, wusste von meiner Ehrung und gratulierte mir dazu. Ich lehnte entschieden ab. „Gerade Sie sollten sich den Scherz nicht machen, da Sie den Wert des Vorschlags an sich selbst erfahren haben.“ Er darauf wahrscheinlich nicht ernsthaft: „Das kann man nicht wissen. Gegen mich liegt ja etwas Besonderes vor. Wissen Sie nicht, dass eine Person einmal eine gerichtliche Anzeige gegen mich erstattet hat? Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, dass die Untersuchung eingestellt wurde; es war ein gemeiner Erpressungsversuch; ich hatte noch alle Mühe, die Anzeigerin selbst vor Bestrafung zu retten. Aber vielleicht macht man im Ministerium diese Angelegenheit gegen mich geltend, um mich nicht zu ernennen. Sie aber, Sie sind unbescholten.“ Da habe ich ja den Verbrecher, gleichzeitig aber auch die Deutung und Tendenz meines Traumes. Mein Onkel Josef stellt mir da beide nicht zu Professoren ernannten Kollegen dar, den einen als Schwachkopf, den anderen als Verbrecher. Ich weiß jetzt auch, wozu ich diese Darstellung brauche. Wenn für den Aufschub der Ernennung meiner Freunde R. und N. „konfessionelle“ Rücksichten maßgebend sind, so ist auch meine Ernennung in Frage gestellt; wenn ich aber die Zurückweisung der beiden auf andere Gründe schieben kann, die mich nicht treffen, so bleibt mir die Hoffnung ungestört. So verfährt mein Traum; er macht den einen, R., zum Schwachkopf, den anderen, N., zum Verbrecher; ich bin aber weder das eine noch das andere; unsere Gemeinsamkeit ist aufgehoben, ich darf mich auf meine Ernennung zum Professor freuen und bin der peinlichen Anwendung entgangen, die ich aus R.’s Nachricht, was ihm der hohe Beamte bekannt, für meine eigene Person hätte machen müssen.

Ich muss mich mit der Deutung dieses Traumes noch weiter beschäftigen. Er ist für mein Gefühl noch nicht befriedigend erledigt, ich bin noch immer nicht über die Leichtigkeit beruhigt, mit der ich zwei geachtete Kollegen degradiere, um mir den Weg zur Professur frei zu halten. Meine Unzufriedenheit mit meinem Vorgehen hat sich allerdings bereits gemäßigt, seitdem ich den Wert der Aussagen im Traum zu würdigen weiß. Ich würde gegen jedermann bestreiten, dass ich R. wirklich für einen Schwachkopf halte und dass ich N.’s Darstellung jener Erpressungsaffäre nicht glaube. (...) Dennoch, ich wiederhole es, scheint mir der Traum weiterer Aufklärung bedürftig.

Ich entsinne mich jetzt, dass der Traum noch ein Stück enthielt, auf welches die Deutung bisher keine Rücksicht genommen hat. Nachdem mir eingefallen, R. ist mein Onkel, empfinde ich im Traum warme Zärtlichkeit für ihn. Wohin gehört diese Empfindung? Für meinen Onkel Josef habe ich zärtliche Gefühle natürlich niemals gehabt. Freund R. ist mir seit Jahren lieb und teuer; aber käme ich zu ihm und drückte ihm meine Zuneigung in Worten aus, die annähernd dem Grad meiner Zärtlichkeit im Traume entsprechen, so wäre er ohne Zweifel erstaunt. Meine Zärtlichkeit gegen ihn erscheint mir unwahr und übertrieben, ähnlich wie mein Urteil über seine geistigen Qualitäten, das ich durch die Verschmelzung seiner Persönlichkeit mit der des Onkels ausdrücke; aber in entgegengesetztem Sinne übertrieben. Nun dämmert mir aber ein neuer Sachverhalt. Die Zärtlichkeit des [IX-206] Traumes gehört nicht zum latenten Inhalt, zu den Gedanken hinter dem Traume; sie steht im Gegensatz zu diesem Inhalt; sie ist geeignet, mir die Kenntnis der Traumdeutung zu verdecken. Wahrscheinlich ist gerade dies ihre Bestimmung. Ich erinnere mich, mit welchem Widerstand ich an die Traumdeutung ging, wie lange ich sie aufschieben wollte und den Traum für baren Unsinn erklärte. Von meinen psychoanalytischen Behandlungen her weiß ich, wie ein solches Verwerfungsurteil zu deuten ist. Es hat keinen Erkenntniswert, sondern bloß den einer Affektäußerung. Wenn meine kleine Tochter einen Apfel nicht mag, den man ihr angeboten hat, so behauptet sie, der Apfel schmeckt bitter, ohne ihn auch nur gekostet zu haben. Wenn meine Patienten sich so benehmen wie die Kleine, so weiß ich, dass es sich bei ihnen um eine Vorstellung handelt, welche sie verdrängen wollen. Dasselbe gilt für meinen Traum. Ich mag ihn nicht deuten, weil die Deutung etwas enthält, wogegen ich mich sträube. Nach vollzogener Traumdeutung erfahre ich, wogegen ich mich gesträubt hatte; es war die Behauptung, dass R. ein Schwachkopf ist. Die Zärtlichkeit, die ich gegen R. empfinde, kann ich nicht auf die latenten Traumgedanken, wohl aber auf dies mein Sträuben zurückführen. Wenn mein Traum im Vergleich zu seinem latenten Inhalt in diesem Punkte entstellt, und zwar ins Gegensätzliche entstellt ist, so dient die im Traum manifeste Zärtlichkeit dieser Entstellung oder, mit anderen Worten, die Entstellung erweist sich hier als absichtlich, als ein Mittel der Verstellung. Meine Traumgedanken enthalten eine Schmähung für R.; damit ich diese nicht merke, gelangt in den Traum das Gegenteil, ein zärtliches Empfinden für ihn. (...)

Ich setze an dieser Stelle die Deutung eines Traumes fort, aus dem wir bereits einmal neue Belehrung geschöpft haben, ich meine den Traum: Freund R. ist mein Onkel. Wir haben dessen Deutung soweit gefördert, dass uns das Wunschmotiv, zum Professor ernannt zu werden, greifbar entgegentrat, und wir erklärten uns die Zärtlichkeit des Traumes für Freund R. als eine Oppositions- und Trotzschöpfung gegen die Schmähung der beiden Kollegen, die in den Traumgedanken enthalten war. Der Traum war mein eigener; ich darf darum dessen Analyse mit der Mitteilung fortsetzen, dass mein Gefühl durch die erreichte Lösung noch nicht befriedigt war. Ich wusste, dass mein Urteil über die in den Traumgedanken misshandelten Kollegen im Wachen ganz anders gelautet hatte; die Macht des Wunsches, ihr Schicksal in betreff der Ernennung nicht zu teilen, erschien mir zu gering, um den Gegensatz zwischen wacher und Traumschätzung voll aufzuklären. Wenn mein Bedürfnis, mit einem anderen Titel angeredet zu werden, so stark sein sollte, so beweist dies einen krankhaften Ehrgeiz, den ich nicht an mir kenne, den ich ferne von mir glaube. Ich weiß nicht, wie andere, die mich zu kennen glauben, in diesem Punkte über mich urteilen würden; vielleicht habe ich auch wirklich Ehrgeiz besessen; aber wenn, so hat er sich längst auf andere Objekte als auf Titel und Rang eines Professor extraordinarius geworfen.

Woher dann also der Ehrgeiz, der mir den Traum eingegeben hat? Da fällt mir ein, was ich so oft in der Kindheit erzählen gehört habe, dass bei meiner Geburt eine alte Bäuerin der über den Erstgeborenen glücklichen Mutter prophezeit, dass sie der Welt einen großen Mann geschenkt habe. Solche Prophezeiungen müssen sehr [IX-207] häufig vorfallen; es gibt so viel erwartungsfrohe Mütter und so viel alte Bäuerinnen oder andere alte Weiber, deren Macht auf Erden vergangen ist, und die sich darum der Zukunft zugewendet haben. Es wird auch nicht der Schaden der Prophetin gewesen sein. Sollte meine Größensehnsucht aus dieser Quelle stammen? Aber da besinne ich mich eben eines anderen Eindrucks aus späteren Jugendjahren, der sich zur Erklärung noch besser eignen würde: Es war eines Abends in einem der Wirtshäuser im Prater, wohin die Eltern den elf- oder zwölfjährigen Knaben mitzunehmen pflegten, dass uns ein Mann auffiel, der von Tisch zu Tisch ging und für ein kleines Honorar Verse über ein ihm aufgegebenes Thema improvisierte. Ich wurde abgeschickt, den Dichter an unseren Tisch zu bestellen, und er erwies sich dem Boten dankbar. Ehe er nach seiner Aufgabe fragte, ließ er einige Reime über mich fallen und erklärte es in seiner Inspiration für wahrscheinlich, dass ich noch einmal „Minister“ werde. An den Eindruck dieser zweiten Prophezeiung kann ich mich noch sehr wohl erinnern. Es war die Zeit des Bürgerministeriums, der Vater hatte kurz vorher die Bilder der bürgerlichen Doktoren Herbst, Giskra, Uriger, Berger u.a. nach Hause gebracht, und wir hatten diesen Herren zur Ehre illuminiert. Es waren sogar Juden unter ihnen; jeder fleißige Judenknabe trug also das Ministerportefeuille in seiner Schultasche. Es muss mit den Eindrücken jener Zeit sogar zusammenhängen, dass ich bis kurz vor der Inskription an der Universität willens war, Jura zu studieren, und erst im letzten Moment umsattelte. Dem Mediziner ist ja die Ministerlaufbahn überhaupt verschlossen. Und nun mein Traum! Ich merke es erst jetzt, dass er mich aus der trüben Gegenwart in die hoffnungsfrohe Zeit des Bürgerministeriums zurückversetzt und meinen Wunsch von damals nach seinen Kräften erfüllt. Indem ich die beiden gelehrten und achtenswerten Kollegen, weil sie Juden sind, so schlecht behandle, den einen, als ob er ein Schwachkopf, den anderen, als ob er ein Verbrecher wäre, indem ich so verfahre, benehme ich mich, als ob ich der Minister wäre, habe ich mich an die Stelle des Ministers gesetzt. Welch gründliche Rache an Seiner Exzellenz! Er verweigert es, mich zum Professor extraordinarius zu ernennen, und ich setze mich dafür im Traum an seine Stelle.“

Die Deutung dieses Traumes ist ein ausgezeichnetes Beispiel für Freuds Neigung, irrationale Strebungen wie den Ehrgeiz als unvereinbar mit der Persönlichkeit des Erwachsenen und daher als Teil des Kindes in ihm zu betrachten. Der Traum zeigt deutlich die Ambitionen, die Freud zur Zeit des Traumes hatte. Er aber leugnet geradeheraus, dass er einen so ausgesprochenen Ehrgeiz aufweisen könnte. Tatsächlich liefert er damit ein gutes Beispiel für den Rationalisierungsprozess, den er so glänzend beschreibt. Er argumentiert folgendermaßen: „Wenn mein Bedürfnis, mit einem anderen Titel angeredet zu werden (mit diesem Ausdruck bagatellisiert er das, worum es ihm in Wirklichkeit ging, nämlich das Ansehen, das dieser Titel mit sich brachte), so stark sein sollte, so beweist dies einen krankhaften Ehrgeiz.“ Und er meint, dass er diesen Ehrgeiz nicht an sich kenne. Sollten jedoch andere ihn für so ehrgeizig halten, so versichert er, dass dieser Ehrgeiz sich seiner Meinung nach nicht auf den Titel eines Professor extraordinarius beziehen könne. Er sieht sich daher zu der Vermutung gezwungen, dass dieser Ehrgeiz sich auf Wünsche aus seiner Kindheit beziehe und nicht auf seine gegenwärtige Persönlichkeit. [IX-208]

Während es natürlich zutrifft, dass Strebungen wie der Ehrgeiz sich im Charakter des Kindes entwickeln und ihre Wurzeln bereits im frühen Lebensalter haben, so stimmt es doch nicht, dass es sich dabei um etwas handelt, das mit der gegenwärtigen Persönlichkeit nichts zu tun hat. Wenn Freud von einem normalen Menschen wie sich selbst spricht, so fühlt er sich gezwungen, einen scharfen Trennungsstrich zwischen dem Kind in sich und sich selbst zu ziehen. Es ist weitgehend seinem Einfluss zuzuschreiben, dass wir heute nicht mehr das Gefühl haben, dass eine solche scharfe Trennungslinie existiert. Es wird heute weithin als Tatsache anerkannt, dass selbst der normale Mensch von allen möglichen irrationalen Wünschen motiviert sein kann, und dass es sich dabei um seine Wünsche handelt, wenn sie auch aus einer früheren Entwicklungsstufe stammen.

Wir haben bisher den einen Aspekt von Freuds Traumtheorie erörtert. Die Träume werden als halluzinatorische Erfüllung irrationaler Wünsche verstanden, und zwar speziell sexueller Wünsche, die ihren Ursprung in der frühen Kindheit haben und nicht völlig in Reaktionsbildungen oder Sublimierungen umgewandelt wurden. Diese Wünsche erscheinen als erfüllt, wenn - wie das im Schlaf der Fall ist - die Kontrolle durch unser Bewusstsein nachlässt. Wenn wir uns jedoch gestatten würden, die Erfüllung dieser irrationalen Wünsche in unseren Träumen voll auszuleben, dann wären diese Träume nicht so rätselhaft und verwirrend. Wir träumen nur selten, dass wir einen Mord, einen Inzest oder ein anderes Verbrechen begehen, und selbst wenn wir es tun, so gewährt uns die Erfüllung dieser Wünsche im Traum keine Befriedigung. Freud nimmt zur Erklärung dieses Phänomens an, dass der moralische Zensor in uns in unserem Schlaf ebenfalls halb schläft. Auf diese Weise können Gedanken und Phantasien in unser Schlafbewusstsein eindringen, die sonst vollkommen ausgeschlossen sind. Aber der Zensor schläft nur halb. Er ist noch wach genug, um zu verhindern, dass verbotene Gedanken deutlich und unmissverständlich in Erscheinung treten. Wenn es die Funktion des Traumes ist, Hüter unseres Schlafs zu sein, müssen die im Traum auftauchenden irrationalen Wünsche so verkleidet werden, dass sie den Zensor täuschen. Wie die neurotischen Symptome sind sie ein Kompromiss zwischen den verdrängten Kräften des Es und der verdrängenden Kraft des die Zensur ausübenden Über-Ichs. Gelegentlich kommt es vor, dass dieser Entstellungsmechanismus nicht richtig funktioniert und dass unser Traum zu deutlich wird, als dass der Zensor es übersehen könnte - dann wachen wir auf. Freud nimmt daher an, das Hauptmerkmal der Traumsprache sei der Verhüllungs- und Entstellungsprozess der irrationalen Wünsche, der uns die Möglichkeit gibt, ungestört weiterzuschlafen. Dieser Gedanke hat Freuds Auffassung der Symbolik entscheidend beeinflusst. Er glaubt, die Hauptfunktion des Symbols bestehe darin, den ihm zugrunde liegenden Wunsch zu verhüllen und zu entstellen. Er fasst die Symbolsprache als eine Art Geheimcode auf und die Traumdeutung als dessen Dechiffrierung.

Die Annahme vom irrationalen, infantilen Wesen des Trauminhaltes wie auch von der Funktion der Traumarbeit, diesen zu entstellen, hat zu einer weit engeren Auffassung von der Traumsprache geführt als der, die ich bei meiner Erörterung der Symbolsprache vorgeschlagen habe. Nach Freud handelt es sich bei der Symbolsprache nicht um eine Sprache, die jede Art von Gefühl und Gedanken auf eine besondere [IX-209] Weise ausdrücken kann, sondern um eine, die nur gewisse primitive triebhafte Wünsche zum Ausdruck bringt. Die allermeisten Symbole sind sexueller Natur. Das männliche Geschlechtsorgan wird durch Stöcke, Bäume, Regenschirme, Messer, Bleistifte, Hämmer, Flugzeuge und viele andere Gegenstände symbolisiert, die es entweder durch ihre Gestalt oder ihre Funktion repräsentieren können. Das weibliche Genitale wird in ähnlicher Weise durch Höhlen, Flaschen, Kästen, Türen, Schmuckdosen, Gärten, Blumen usw. repräsentiert. Sexuelle Lust symbolisieren Betätigungen wie Tanzen, Reiten, Klettern, Fliegen. Das Ausfallen von Haaren oder Zähnen gilt als symbolische Darstellung der Kastration. Neben sexuellen Elementen drücken Symbole die Grunderfahrungen des Kleinkindes aus. Vater und Mutter werden als König und Königin oder als Kaiser und Kaiserin, Kinder als kleine Tiere und der Tod als eine Reise symbolisiert.

In seiner Traumdeutung führt Freud mehr zufällige als universale Symbole an. Er steht auf dem Standpunkt, dass man den Traum in mehrere Teile zerlegen müsse, wenn man ihn deuten wolle, um auf diese Weise seine halblogische Reihenfolge zu beseitigen. Dann solle man versuchen, zu jedem Traumelement die entsprechenden Assoziationen zu finden und die uns bei diesem Assoziationsprozess einfallenden Gedanken an die Stelle der im Traum auftretenden Elemente zu setzen. Setzt man dann die durch freie Assoziation erlangten Gedanken zusammen, so erlangt man einen neuen Text, der einen inneren Zusammenhang und eine innere Logik besitzt und uns die wahre Bedeutung des Traumes enthüllt.

Diesen wahren Traum, der Ausdruck unserer verborgenen Wünsche ist, bezeichnet Freud als den „latenten Traum“. Die entstellte Version des Traumes, an die wir uns erinnern, ist der „manifeste Traum“, und der Entstellungs- und Verhüllungsprozess ist die „Traumarbeit“. Die Hauptmechanismen, durch welche die Traumarbeit den latenten in den manifesten Traum übersetzt, sind Verdichtung, Verschiebung und sekundäre Bearbeitung. Unter Verdichtung versteht Freud die Tatsache, dass der manifeste Traum viel kürzer ist als der latente Traum. Er lässt eine Reihe der Elemente des latenten Traumes aus, kombiniert Bruchstücke verschiedener Elemente und verdichtet sie zu einem neuen Element im manifesten Traum. Träumt man zum Beispiel von einer männlichen Autoritätsperson, vor der man Angst hat, dann könnte man im manifesten Traum einen Mann sehen, dessen Haar wie das unseres eigenen Vaters aussieht, der das Gesicht eines angsteinflößenden Schullehrers hat und wie unser Chef gekleidet ist. Oder wenn man von einer Situation träumt, in der man sich traurig und unglücklich fühlte, träumt man vielleicht von einem Haus, das durch die Form seines Daches ein Haus symbolisiert, in dem man sich einmal unglücklich gefühlt hat, und das durch die Form des Zimmers ein anderes Haus repräsentiert, in welchem man ein ähnliches Gefühlserlebnis hatte. Im manifesten Traum erscheinen beide Elemente im zusammengesetzten Bild eines einzigen Hauses. Diese Beispiele zeigen, dass nur solche Elemente zu einem Bild verdichtet werden, die ihrem emotionalen Inhalt nach identisch sind. Bedenkt man das Wesen der symbolischen Sprache, so ist der Verdichtungsprozess leicht zu verstehen. Während für die äußere Wirklichkeit die Tatsache, dass zwei Menschen oder zwei Dinge voneinander verschieden sind, wichtig ist, hat diese Tatsache vom Standpunkt der inneren Realität aus keine Bedeutung. [IX-210] Worauf es ankommt, ist, dass sie zu dem gleichen inneren Erlebnis in Beziehung stehen und es zum Ausdruck bringen.

Unter Verschiebung versteht Freud die Tatsache, dass ein Element des latenten Traumes - und oft ein sehr wichtiges - im manifesten Traum durch ein weit abliegendes Element ausgedrückt wird, das gewöhnlich recht unwichtig zu sein scheint. Folglich behandelt der manifeste Traum oft die wirklich wichtigen Elemente so, als ob sie ohne besondere Bedeutung wären, wodurch die wahre Bedeutung des Traumes verdeckt wird.

Unter sekundärer Bearbeitung versteht Freud den Teil der Traumarbeit, der den Prozess der Verhüllung vollendet. Lücken im manifesten Traum werden ausgefüllt, Ungereimtheiten werden ausgebügelt mit dem Erfolg, dass der manifeste Traum die Form einer logisch zusammenhängenden Geschichte annimmt, hinter deren Fassade sich das erregende und dramatische Traumspiel verbirgt.

Freud erwähnt noch zwei weitere Faktoren, die das Verstehen des Traumes erschweren und die zur entstellenden Funktion der Traumarbeit hinzukommen. Einmal stehen diese Traumelemente oft für das ihnen gerade Entgegengesetzte. Bekleidetsein kann Nacktheit bedeuten, Reichtum kann für Armut und das Gefühl besonderer Zuneigung kann für Feindseligkeit und Wut stehen. Hinzu kommt, dass der manifeste Traum keine logischen Beziehungen zwischen seinen verschiedenen Elementen zum Ausdruck bringt. Es gibt in ihm kein „aber“, kein „deshalb“, kein „weil“ und kein „wenn“, sondern diese logischen Beziehungen werden durch die Beziehung zwischen den einzelnen Traumbildern ausgedrückt. Der Träumer kann zum Beispiel von einem Mann träumen, der aufsteht, den Arm hebt und dann in ein Huhn verwandelt wird. In der Sprache des Wachzustandes würde der im Traum ausgedrückte Gedanke etwa bedeuten: „Er tut so, als ob er stark wäre, aber in Wirklichkeit ist er schwach und feige wie ein Huhn.“ Im manifesten Traum wird diese logische Beziehung durch zwei aufeinanderfolgende Bilder ausgedrückt.

Dieser kurzen Darstellung der Freudschen Traumtheorie ist noch eine wichtige Ergänzung hinzuzufügen. Die Betonung der infantilen Eigenart des Trauminhalts könnte zur Meinung verleiten, Freud nehme nicht an, dass zwischen dem Traum und der Gegenwart ein bedeutsamer Zusammenhang bestehe, sondern er sehe nur die Beziehung zur Vergangenheit. Das stimmt jedoch keineswegs. Freud nimmt an, dass der Traum stets durch ein gegenwärtiges Ereignis ausgelöst wird, das gewöhnlich vom Tag oder Abend zuvor stammt. Aber ein Traum wird nur von Ereignissen hervorgerufen, die mit Strebungen der frühen Kindheit in Beziehung stehen. Die für die Erzeugung des Traumes notwendige Energie stammt aus der intensiven Kindheitserfahrung, doch würde es nicht zu dem Traum kommen, wenn das aktuelle Ereignis nicht an das frühere Erlebnis gerührt und es ihm so ermöglicht hätte, eben in diesem Augenblick wieder neu aufzuleben. Ein einfaches Beispiel mag dies verdeutlichen: Ein Mann, der unter einem autoritären Chef arbeitet, kann deshalb eine übertriebene Angst vor diesem haben, weil er sich als Kind vor seinem Vater fürchtete. In der Nacht nach dem Tag, an dem der Chef ihn aus irgendeinem Grund kritisierte, hat er einen Albtraum, in dem er eine Gestalt sieht, die eine Mischung aus seinem Vater und seinem Chef ist und die ihn umzubringen versucht. Wenn er sich nicht als Kind vor [IX-211] seinem Vater gefürchtet hätte, so hätte ihm der Ärger seines Chefs keine Angst eingejagt. Wenn aber andererseits sich der Chef nicht an jenem Tag über ihn geärgert hätte, so wäre diese tief sitzende Furcht nicht mobilisiert worden, und es wäre nicht zu dem Traum gekommen.

Der Leser wird noch eine bessere Vorstellung von Freuds Methode der Traumdeutung gewinnen, wenn er sieht, wie Freud die eben erwähnten Prinzipien bei seiner Deutung bestimmter Träume anwendet. Im Mittelpunkt des ersten der beiden folgenden Träume steht ein universales Symbol: die Nacktheit. Im zweiten Traum kommen fast ausschließlich zufällige Symbole vor (S. Freud, 1900a, S. 247-251):

Der Verlegenheitstraum der Nacktheit

Der Traum, dass man nackt oder schlecht bekleidet in Gegenwart Fremder sei, kommt auch mit der Zutat vor, man habe sich dessen gar nicht geschämt u. dgl. Unser Interesse gebührt aber dem Nacktheitstraum nur dann, wenn man in ihm Scham und Verlegenheit empfindet, entfliehen oder sich verbergen will und dabei der eigentümlichen Hemmung unterliegt, dass man nicht von der Stelle kann und sich unvermögend fühlt, die peinliche Situation zu verändern. Nur in dieser Verbindung ist der Traum typisch; der Kern seines Inhalts mag sonst in allerlei andere Verknüpfungen einbezogen werden oder mit individuellen Zutaten versetzt sein. Es handelt sich im wesentlichen um die peinliche Empfindung von der Natur der Scham, dass man seine Nacktheit, meist durch Lokomotion, verbergen möchte und es nicht zustande bringt. Ich glaube, die allermeisten meiner Leser werden sich in dieser Situation im Traume bereits befunden haben.

Für gewöhnlich ist die Art und Weise der Entkleidung wenig deutlich. Man hört etwa erzählen, ich war im Hemd, aber dies ist selten ein klares Bild; meist ist die Unbekleidung so unbestimmt, dass sie durch eine Alternative in der Erzählung wiedergegeben wird: „Ich war im Hemd oder im Unterrock.“ In der Regel ist der Defekt der Toilette nicht so arg, dass die dazugehörige Scham gerechtfertigt schiene. Für den, der den Rock des Kaisers getragen hat, ersetzt sich die Nacktheit häufig durch eine vorschriftswidrige Adjustierung. „Ich bin ohne Säbel auf der Straße und sehe Offiziere näherkommen, oder ohne Halsbinde, oder trage eine karierte Zivilhose u. dgl.“

Die Leute, vor denen man sich schämt, sind fast immer Fremde mit unbestimmt gelassenen Gesichtern. Niemals ereignet es sich im typischen Traum, dass man wegen der Kleidung, die einem selbst solche Verlegenheit bereitet, beanstandet oder auch nur bemerkt wird. Die Leute machen ganz im Gegenteil gleichgültige, oder wie ich es in einem besonders klaren Traum wahrnehmen konnte, feierlich steife Mienen. Das gibt zu denken.

Die Schamverlegenheit des Träumers und die Gleichgültigkeit der Leute ergeben mitsammen einen Widerspruch, wie er im Traume häufig vorkommt. Zu der Empfindung des Träumenden würde doch nur passen, dass die Fremden ihn erstaunt ansehen und verlachen oder sich über ihn entrüsten. Ich meine aber, dieser anstößige Zug ist durch die Wunscherfüllung beseitigt worden, während der andere, durch irgendwelche Macht gehalten, stehen blieb, und so stimmen die beiden [IX-212] Stücke dann schlecht zueinander. Wir besitzen ein interessantes Zeugnis dafür, dass der Traum in seiner durch Wunscherfüllung partiell entstellten Form das richtige Verständnis nicht gefunden hat. Er ist nämlich die Grundlage eines Märchens geworden, welches uns allen in der Andersen’schen Fassung (Des Kaisers neue Kleider) bekannt ist, und in der jüngsten Zeit durch L. Fulda im Talisman poetischer Verwertung zugeführt worden ist. Im Andersen’schen Märchen wird von zwei Betrügern erzählt, die für den Kaiser ein kostbares Gewand weben, das aber nur den Guten und Treuen sichtbar sein soll. Der Kaiser geht mit diesem unsichtbaren Gewand bekleidet aus, und durch die prüfsteinartige Kraft des Gewebes erschreckt, tun alle Leute, als ob sie die Nacktheit des Kaisers nicht merken.

Letzteres ist aber die Situation unseres Traumes. Es gehört wohl nicht viel Kühnheit dazu anzunehmen, dass der unverständliche Trauminhalt eine Anregung gegeben hat, um eine Einkleidung zu erfinden, in welcher die vor der Erinnerung stehende Situation sinnreich wird. Dieselbe ist dabei ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt und fremden Zwecken dienstbar gemacht worden. Aber wir werden hören, dass solches Missverständnis des Trauminhalts durch die bewusste Denktätigkeit eines zweiten psychischen Systems häufig vorkommt und als ein Faktor für die endgültige Traumgestaltung anzuerkennen ist; ferner, dass bei der Bildung von Zwangsvorstellungen und Phobien ähnliche Missverständnisse - gleichfalls innerhalb der nämlichen psychischen Persönlichkeit - eine Hauptrolle spielen. Es lässt sich auch für unseren Traum angeben, woher das Material für die Umdeutung genommen wird. Der Betrüger ist der Traum, der Kaiser der Träumer selbst, und die moralisierende Tendenz verrät eine dunkle Kenntnis davon, dass es sich im latenten Trauminhalt um unerlaubte, der Verdrängung geopferte Wünsche handelt. Der Zusammenhang, in welchem solche Träume während meiner Analysen bei Neurotikern auftreten, lässt nämlich keinen Zweifel darüber, dass dem Traume eine Erinnerung aus der frühesten Kindheit zugrunde liegt. Nur in unserer Kindheit gab es die Zeit, dass wir in mangelhafter Bekleidung von unseren Angehörigen wie von fremden Pflegepersonen, Dienstmädchen, Besuchern gesehen wurden, und wir haben uns damals unserer Nacktheit nicht geschämt. (Das Kind tritt aber auch im Märchen auf, denn dort ruft plötzlich ein kleines Kind: „Aber er hat ja gar nichts an.“) An vielen Kindern kann man noch in späteren Jahren beobachten, dass ihre Entkleidung wie berauschend auf sie wirkt, anstatt sie zur Scham zu leiten. Sie lachen, springen herum, schlagen sich auf den Leib, die Mutter oder wer dabei ist, verweist es ihnen, sagt: „Pfui, das ist eine Schande, das darf man nicht.“ Die Kinder zeigen häufig Exhibitionsgelüste; man kann kaum durch ein Dorf in unseren Gegenden gehen, ohne dass man einem zwei- bis dreijährigen Kleinen begegnet, welches vor dem Wanderer, vielleicht ihm zu Ehren, sein Hemdchen hochhebt. Einer meiner Patienten hat in seiner bewussten Erinnerung eine Szene aus seinem achten Lebensjahr bewahrt, wie er nach der Entkleidung vor dem Schlafengehen im Hemd zu seiner kleinen Schwester im nächsten Zimmer hinaustanzen will, und wie die dienende Person es ihm verwehrt. In der Jugendgeschichte von Neurotikern spielt die Entblößung vor Kindern des anderen Geschlechts eine große Rolle; in der Paranoia ist der Wahn, beim An- und Auskleiden beobachtet zu werden, auf [IX-213] diese Erlebnisse zurückzuführen; unter den pervers Gebliebenen ist eine Klasse, bei denen der infantile Impuls zum Symptom erhoben worden ist, die der Exhibitionisten.

Diese der Scham entbehrende Kindheit erscheint unserer Rückschau später als ein Paradies, und das Paradies selbst ist nichts anderes als die Massenphantasie von der Kindheit des einzelnen. Darum sind auch im Paradies die Menschen nackt und schämen sich nicht vor einander, bis ein Moment kommt, in dem die Scham und die Angst erwachen, die Vertreibung erfolgt, das Geschlechtsleben und die Kulturarbeit beginnt. In dieses Paradies kann uns nun der Traum allnächtlich zurückführen; wir haben bereits der Vermutung Ausdruck gegeben, dass die Eindrücke aus der ersten Kindheit (der prähistorischen Periode bis etwa zum vollendeten dritten Jahr) an und für sich, vielleicht ohne dass es auf ihren Inhalt weiter ankäme, nach Reproduktion verlangen, dass deren Wiederholung eine Wunscherfüllung ist. Die Nacktheitsträume sind also Exhibitionsträume.

Den Kern des Exhibitionstraumes bildet die eigene Gestalt, die nicht als die eines Kindes, sondern wie in der Gegenwart gesehen wird, und die mangelhafte Bekleidung, welche durch die Überlagerung so vieler späterer Negligeerinnerungen oder der Zensur zu Liebe undeutlich ausfällt; dazu kommen nun die Personen, vor denen man sich schämt. Ich kenne kein Beispiel, dass die tatsächlichen Zuschauer bei jenen infantilen Exhibitionen im Traume wieder auftreten. Der Traum ist eben fast niemals eine einfache Erinnerung. Merkwürdigerweise werden jene Personen, denen unser sexuelles Interesse in der Kindheit galt, in allen Reproduktionen des Traums, der Hysterie und der Zwangsneurose ausgelassen; erst die Paranoia setzt die Zuschauer wieder ein und schließt, obwohl sie unsichtbar geblieben sind, mit fanatischer Überzeugung auf ihre Gegenwart. Was der Traum für sie einsetzt, „viele fremde Leute“, die sich nicht um das gebotene Schauspiel kümmern, ist geradezu ein Wunschgegensatz zu jener einzelnen, wohlvertrauten Person, der man die Entblößung bot. „Viele fremde Leute“ finden sich in Träumen übrigens auch häufig in beliebigem anderen Zusammenhang; sie bedeuten immer als Wunschgegensatz „Geheimnis“. Man merkt, wie auch die Restitution des alten Sachverhalts, die in der Paranoia vor sich geht, diesem Gegensatze Rechnung trägt. Man ist nicht mehr allein, man wird ganz gewiss beobachtet, aber die Beobachter sind „viele, fremde, merkwürdig unbestimmt gelassene Leute“.

Außerdem kommt im Exhibitionstraum die Verdrängung zur Sprache. Die peinliche Empfindung des Traums ist ja die Reaktion des zweiten psychischen Systems dagegen, dass der von ihr verworfene Inhalt der Exhibitionsszene dennoch zur Vorstellung gelangt ist. Um sie zu ersparen, hätte die Szene nicht wieder belebt werden dürfen.

Traum von der botanischen Monographie (S. Freud, 1900a, S. 175-182)[10]:

Ich habe eine Monographie über eine gewisse Pflanze geschrieben. Das Buch liegt vor mir, ich blättere eben eine eingeschlagene farbige Tafel um. Jedem Exemplar ist ein getrocknetes Spezimen der Pflanze beigebunden, ähnlich wie aus einem Herbarium. [IX-214]

Analyse

Ich habe am Vormittage im Schaufenster einer Buchhandlung ein neues Buch gesehen, welches sich betitelt: Die Gattung Zyklamen -, offenbar eine Monographie über diese Pflanze.

Zyklamen ist die Lieblingsblume meiner Frau. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich so selten daran denke, ihr Blumen mitzubringen, wie sie sich’s wünscht. - Bei dem Thema: Blumen mitbringen erinnere ich mich einer Geschichte, welche ich unlängst im Freundeskreis erzählt und als Beweis für meine Behauptung verwendet habe, dass Vergessen sehr häufig die Ausführung einer Absicht des Unbewussten sei und immerhin einen Schluss auf die geheime Gesinnung des Vergessenden gestatte. Eine junge Frau, welche daran gewöhnt war, zu ihrem Geburtstage einen Strauß von ihrem Mann vorzufinden, vermisst dieses Zeichen der Zärtlichkeit an einem solchen Festtag und bricht darüber in Tränen aus. Der Mann kommt hinzu, weiß sich ihr Weinen nicht zu erklären, bis sie ihm sagt: Heute ist mein Geburtstag. Da schlägt er sich vor die Stirne, ruft aus: Entschuldige, hab’ ich doch ganz daran vergessen, und will fort, ihr Blumen zu holen. Sie lässt sich aber nicht trösten, denn sie sieht in der Vergesslichkeit ihres Mannes einen Beweis dafür, dass sie in seinen Gedanken nicht mehr dieselbe Rolle spielt wie einstens. - Diese Frau L. ist meiner Frau vor zwei Tagen begegnet, hat ihr mitgeteilt, dass sie sich wohlfühlt, und sich nach mir erkundigt. Sie stand in früheren Jahren in meiner Behandlung.

Ein neuer Ansatz: Ich habe wirklich einmal etwas Ähnliches geschrieben wie eine Monographie über eine Pflanze, nämlich einen Aufsatz über die Cocapflanze, welcher die Aufmerksamkeit von K. Koller auf die anästhesierende Eigenschaft des Kokains gelenkt hat. Ich hatte diese Verwendung des Alkaloids in meiner Publikation selbst angedeutet, aber war nicht gründlich genug, die Sache weiter zu verfolgen. Dazu fällt mir ein, dass ich am Vormittag des Tages nach dem Traume (zu dessen Deutung ich erst abends Zeit fand) des Kokains in einer Art von Tagesphantasie gedacht habe. Wenn ich je Glaukom bekommen sollte, würde ich nach Berlin reisen und mich dort bei meinem Berliner Freunde von einem Arzt, den er mir empfiehlt, inkognito operieren lassen. Der Operateur, der nicht wüsste, an wem er arbeitet, würde wieder einmal rühmen, wie leicht sich diese Operationen seit der Einführung des Kokains gestaltet haben; ich würde durch keine Miene verraten, dass ich an dieser Entdeckung selbst einen Anteil habe. An diese Phantasie schlossen sich Gedanken an, wie unbequem es doch für den Arzt sei, ärztliche Leistungen von Seiten der Kollegen für seine Person in Anspruch zu nehmen. Den Berliner Augenarzt, der mich nicht kennt, würde ich wie ein anderer entlohnen können. Nachdem dieser Tagtraum mir in den Sinn gekommen, merke ich erst, dass sich die Erinnerung an ein bestimmtes Erlebnis hinter ihm verbirgt. Kurz nach der Entdeckung Kollers war nämlich mein Vater an Glaukom erkrankt; er wurde von meinem Freunde, dem Augenarzt Dr. Königstein, operiert. Dr. Koller besorgte die Kokainanästhesie und machte dann die Bemerkung, dass bei diesem Falle alle die drei Personen sich vereinigt fänden, die an der Einführung des Kokains Anteil gehabt haben.

Meine Gedanken gehen nun weiter, wann ich zuletzt an diese Geschichte des [IX-215] Kokains erinnert worden bin. Es war dies vor einigen Tagen, als ich die Festschrift in die Hand bekam, mit deren Erscheinen dankbare Schüler das Jubiläum ihres Lehrers und Laboratoriumsvorstandes gefeiert hatten. Unter den Ruhmestiteln des Laboratoriums fand ich auch angeführt, dass dort die Entdeckung der anästhesierenden Eigenschaft des Kokains durch K. Koller vorgefallen sei. Ich bemerke nun plötzlich, dass mein Traum mit einem Erlebnis des Abends vorher zusammenhängt. Ich hatte gerade Dr. Königstein nachhause begleitet, mit dem ich in ein Gespräch über eine Angelegenheit geraten war, die mich jedesmal, wenn sie berührt wird, lebhaft erregt. Als ich mich in dem Hausflur mit ihm aufhielt, kam Professor Gärtner mit seiner jungen Frau hinzu. Ich konnte mich nicht enthalten, die beiden darüber zu beglückwünschen, wie blühend sie aussehen. Nun ist Professor Gärtner einer der Verfasser der Festschrift, von der ich eben sprach, und konnte mich wohl an diese erinnern. Auch die Frau L., deren Geburtstagsenttäuschung ich unlängst erzählte, war im Gespräch mit Dr. Königstein, in anderem Zusammenhange allerdings, erwähnt worden. Ich will versuchen, auch die anderen Bestimmungen des Trauminhalts zu deuten. Ein getrocknetes Spezimen der Pflanze liegt der Monographie bei, als ob es ein Herbarium wäre. Ans Herbarium knüpft sich eine Gymnasialerinnerung. Unser Gymnasialdirektor rief einmal die Schüler der höheren Klassen zusammen, um ihnen das Herbarium der Anstalt zur Durchsicht und zur Reinigung zu übergeben. Es hatten sich kleine Würmer eingefunden - Bücherwurm. Zu meiner Hilfeleistung scheint er nicht Zutrauen gezeigt zu haben, denn er überließ mir nur wenige Blätter. Ich weiß noch heute, dass Kruziferen darauf waren. Ich hatte niemals ein besonders intimes Verhältnis zur Botanik. Bei meiner botanischen Vorprüfung bekam ich wiederum eine Kruzifere zur Bestimmung und - erkannte sie nicht. Es wäre mir schlecht ergangen, wenn nicht meine theoretischen Kenntnisse mir herausgeholfen hätten. - Von den Kruziferen gerate ich auf die Kompositen. Eigentlich ist auch die Artischocke eine Komposite, und zwar die, welche ich meine Lieblingsblume heißen könnte. Edler als ich, pflegt meine Frau mir diese Lieblingsblume vom Markte heimzubringen.

Ich sehe die Monographie vor mir liegen, die ich geschrieben habe. Auch dies ist nicht ohne Bezug. Mein visueller Freund schrieb mir gestern aus Berlin: „Mit deinem Traumbuche beschäftige ich mich sehr viel. Ich sehe es fertig vor mir liegen und blättere darin.“ Wie habe ich ihn um diese Sehergabe beneidet! Wenn ich es doch auch schon fertig vor mir liegen sehen könnte!

Die zusammengelegte farbige Tafel: Als ich Student der Medizin war, litt ich viel unter dem Impuls, nur aus Monographien lernen zu wollen. Ich hielt mir damals, trotz meiner beschränkten Mittel, mehrere medizinische Archive, deren farbige Tafeln mein Entzücken waren. Ich war stolz auf diese Neigung zur Gründlichkeit. Als ich dann selbst zu publizieren begann, musste ich auch die Tafeln für meine Abhandlungen zeichnen und ich weiß, dass eine derselben so kümmerlich ausfiel, dass mich ein wohlwollender Kollege ihretwegen verhöhnte. Dazu kommt noch, ich weiß nicht recht wie, eine sehr frühe Jugenderinnerung. Mein Vater machte sich einmal den Scherz, mir und meiner ältesten Schwester ein Buch mit farbigen Tafeln (Beschreibung einer Reise in Persien) zur Vernichtung zu überlassen. Es war [IX-216] erziehlich kaum zu rechtfertigen. Ich war damals fünf Jahre, die Schwester unter drei Jahren alt, und das Bild, wie wir Kinder überselig dieses Buch zerpflücken (wie eine Artischocke, Blatt für Blatt, muss ich sagen), ist nahezu das einzige, was mir aus dieser Lebenszeit in plastischer Erinnerung geblieben ist. Als ich dann Student wurde, entwickelte sich bei mir eine ausgesprochene Vorliebe, Bücher zu sammeln und zu besitzen (analog der Neigung, aus Monographien zu studieren; eine Liebhaberei, wie sie in den Traumgedanken betreffs Zyklamen und Artischocke bereits vorkommt). Ich wurde ein Bücherwurm (vgl. Herbarium). Ich habe diese erste Leidenschaft meines Lebens, seitdem ich über mich nachdenke, immer auf diesen Kindereindruck zurückgeführt, oder vielmehr, ich habe erkannt, dass diese Kinderszene eine „Deckerinnerung“ für meine spätere Bibliophilie ist. Natürlich habe ich auch frühzeitig erfahren, dass man durch Leidenschaften leicht in Leiden gerät. Als ich siebzehn Jahre alt war, hatte ich ein ansehnliches Konto beim Buchhändler und keine Mittel, es zu begleichen, und mein Vater ließ es kaum als Entschuldigung gelten, dass sich meine Neigungen auf nichts Böseres geworfen hatten. Die Erwähnung dieses späteren Jugenderlebnisses bringt mich aber sofort zu dem Gespräch mit meinem Freunde Dr. Königstein zurück. Denn um dieselben Vorwürfe wie damals, dass ich meinen Liebhabereien zuviel nachgebe, handelte es sich auch im Gespräch am Abend des Traumtages.

Aus Gründen, die nicht hierher gehören, will ich die Deutung dieses Traumes nicht verfolgen, sondern bloß den Weg angeben, welcher zu ihr führt. Während der Deutungsarbeit bin ich an das Gespräch mit Dr. Königstein erinnert worden, und zwar von mehr als einer Stelle aus. Wenn ich mir vorhalte, welche Dinge in diesem Gespräch berührt worden sind, so wird der Sinn des Traumes mir verständlich. Alle angefangenen Gedankengänge, von den Liebhabereien meiner Frau und meinen eigenen, vom Kokain, von den Schwierigkeiten ärztlicher Behandlung unter Kollegen, von meiner Vorliebe für monographische Studien und meiner Vernachlässigung gewisser Fächer wie der Botanik, dies alles erhält dann seine Fortsetzung und mündet in irgendeinen der Fäden der vielverzweigten Unterredung ein. Der Traum bekommt wieder den Charakter einer Rechtfertigung, eines Plädoyers für mein Recht, wie der erstanalysierte Traum von Irmas Injektion; ja er setzt das dort begonnene Thema fort und erörtert es an einem neuen Material, welches im Intervall zwischen beiden Träumen hinzugekommen ist. Selbst die scheinbar indifferente Ausdrucksform des Traumes bekommt einen Akzent. Es heißt jetzt: Ich bin doch der Mann, der die wertvolle und erfolgreiche Abhandlung (über das Kokain) geschrieben hat, ähnlich wie ich damals zu meiner Rechtfertigung vorbrachte: Ich bin doch ein tüchtiger und fleißiger Student; in beiden Fällen also: Ich darf mir das erlauben. Ich kann aber auf die Ausführung der Traumdeutung hier verzichten, weil mich zur Mitteilung des Traumes nur die Absicht bewogen hat, an einem Beispiele die Beziehung des Trauminhalts zu dem erregenden Erlebnis des Vortages zu untersuchen. Solange ich von diesem Traume nur den manifesten Inhalt kenne, wird mir nur eine Beziehung des Traumes zu einem Tageseindruck augenfällig; nachdem ich die Analyse gemacht habe, ergibt sich eine zweite Quelle des Traumes in einem anderen Erlebnis desselben Tages. Der erste der Eindrücke, auf welche [IX-217] sich der Traum bezieht, ist ein gleichgültiger, ein Nebenumstand. Ich sehe im Schaufenster ein Buch, dessen Titel mich flüchtig berührt, dessen Inhalt mich kaum interessieren dürfte. Das zweite Erlebnis hatte einen hohen psychischen Wert; ich habe mit meinem Freund, dem Augenarzt, wohl eine Stunde lang eifrig gesprochen, ihm Andeutungen gemacht, die uns beiden nahe gehen mussten, und Erinnerungen in mir wachgerufen, bei denen die mannigfaltigsten Erregungen meines Innern mir bemerklich wurden. Überdies wurde dieses Gespräch unvollendet abgebrochen, weil Bekannte hinzukamen. Wie stehen nun die beiden Eindrücke des Tages zueinander und zu dem in der Nacht erfolgenden Traum?

Im Trauminhalte finde ich nur eine Anspielung auf den gleichgültigen Eindruck und kann so bestätigen, dass der Traum mit Vorliebe Nebensächliches aus dem Leben in seinen Inhalt aufnimmt. In der Traumdeutung hingegen führt alles auf das wichtige, mit Recht erregende Erlebnis hin. Wenn ich den Sinn des Traumes, wie es einzig richtig ist, nach dem latenten, durch die Analyse zutage geförderten Inhalt beurteile, so bin ich unversehens zu einer neuen und wichtigen Erkenntnis gelangt. Ich sehe das Rätsel zerfallen, dass der Traum sich nur mit den wertlosen Brocken des Tageslebens beschäftigt; ich muss auch der Behauptung widersprechen, dass das Seelenleben des Wachens sich in den Traum nicht fortsetzt, und der Traum dafür psychische Tätigkeit an läppisches Material verschwendet. Das Gegenteil ist wahr; was uns bei Tage in Anspruch genommen hat, beherrscht auch die Traumgedanken, und wir geben uns die Mühe zu träumen nur bei solchen Materien, welche uns bei Tage Anlass zum Denken geboten hätten.

Die naheliegendste Erklärung dafür, dass ich doch vom gleichgültigen Tageseindruck träume, während der mit Recht aufregende mich zum Traume veranlasst hat, ist wohl die, dass hier wieder ein Phänomen der Traumentstellung vorliegt, welche wir oben auf eine als Zensur waltende psychische Macht zurückgeführt haben. Die Erinnerung an die Monographie über die Gattung Zyklamen erfährt eine Verwendung, als ob sie eine Anspielung auf das Gespräch mit dem Freunde wäre, ganz ähnlich wie im Traum von dem verhinderten Souper die Erwähnung der Freundin durch die Anspielung „geräucherter Lachs“ vertreten wird. Es fragt sich nur, durch welche Mittelglieder kann der Eindruck der Monographie zu dem Gespräche mit dem Augenarzt in das Verhältnis der Anspielung treten, da eine solche Beziehung zunächst nicht ersichtlich ist. (...) In unserem (...) Beispiel handelt es sich um zwei gesonderte Eindrücke, die zunächst nichts gemeinsam haben, als dass sie am nämlichen Tage erfolgen. Die Monographie fällt mir am Vormittag auf, das Gespräch führte ich dann am Abend. Die Antwort, welche die Analyse an die Hand gibt, lautet: Solche erst nicht vorhandene Beziehungen zwischen den beiden Eindrücken werden nachträglich vom Vorstellungsinhalt des einen zum Vorstellungsinhalt des anderen angesponnen. Ich habe die betreffenden Mittelglieder bereits bei der Niederschrift der Analyse hervorgehoben. An die Vorstellung der Monographie über Zyklamen würde sich ohne Beeinflussung von anderswoher wohl nur die Idee knüpfen, dass diese die Lieblingsblume meiner Frau ist, etwa noch die Erinnerung an den vermissten Blumenstrauß der Frau L. Ich glaube nicht, dass diese Hintergedanken genügt hätten, einen Traum hervorzurufen. [IX-218]

„There needs no ghost, my lord, come from the grave to tell us this“ heißt es im Hamlet. Aber siehe da, in der Analyse werde ich daran erinnert, dass der Mann, der unser Gespräch störte, Gärtner hieß, dass ich seine Frau blühend fand; ja ich besinne mich eben jetzt nachträglich, dass eine meiner Patientinnen, die den schönen Namen Flora trägt, eine Weile im Mittelpunkt unseres Gespräches stand. Es muss so zugegangen sein, dass sich über diese Mittelglieder aus dem botanischen Vorstellungskreis die Verknüpfung der beiden Tageserlebnisse, des gleichgültigen und des aufregenden, vollzog. Dann stellten sich weitere Beziehungen ein, die des Kokains, welche mit Fug und Recht zwischen der Person des Dr. Königstein und einer botanischen Monographie, die ich geschrieben habe, vermitteln kann, und befestigten diese Verschmelzung der beiden Vorstellungskreise zu einem, sodass nun ein Stück aus dem ersten Erlebnis als Anspielung auf das zweite verwendet werden konnte.

Ich bin darauf gefasst, dass man diese Aufklärung als eine willkürliche oder als eine gekünstelte anfechten wird. Was wäre geschehen, wenn Professor Gärtner mit seiner blühenden Frau nicht hinzugetreten wäre, wenn die besprochene Patientin nicht Flora sondern Anna hieße? Und doch ist die Antwort leicht. Wenn sich nicht diese Gedankenbeziehungen ergeben hätten, so wären wahrscheinlich andere ausgewählt worden. Es ist so leicht, derartige Beziehungen herzustellen, wie ja die Scherz- und Rätselfragen, mit denen wir uns den Tag erheitern, zu beweisen vermögen. Der Machtbereich des Witzes ist ein uneingeschränkter. Um einen Schritt weiter zu gehen: Wenn sich zwischen den beiden Eindrücken des Tages keine genug ausgiebigen Mittelbeziehungen hätten herstellen lassen, so wäre der Traum eben anders ausgefallen; ein anderer gleichgültiger Eindruck des Tages, wie sie in Scharen an uns herantreten und von uns vergessen werden, hätte für den Traum die Stelle der „Monographie“ übernommen, wäre in Verbindung mit dem Inhalt des Gesprächs gelangt und hätte dieses im Trauminhalt vertreten. Da kein anderer als der von der Monographie dieses Schicksal hatte, so wird er wohl der für die Verknüpfung passendste gewesen sein. Man braucht sich nie wie Hänschen Schlau bei Lessing darüber zu wundern, „dass nur die Reichen in der Welt das meiste Geld besitzen“.

Diese beiden Träume geben uns Gelegenheit, nicht nur die Anwendung von Freuds allgemeinen Grundsätzen auf spezielle Träume zu studieren, sondern auch Freuds Deutung mit der zu vergleichen, die ich im zweiten Kapitel dieses Buches vorgeschlagen habe. Bei der Deutung des Nacktheitstraumes hält sich Freud an das oben beschriebene allgemeine Prinzip. Der Traum stellt die Erfüllung infantiler, irrationaler Wünsche dar, aber er entstellt und verhüllt die Wunscherfüllung unter dem Einfluss des Zensors. Der irrationale Wunsch, der erfüllt wird, ist der exhibitionistische Wunsch aus der Kindheit, seine Genitalien zu zeigen. Unsere erwachsene Persönlichkeit fürchtet sich vor solchen Wünschen und wird verlegen bei der Erfüllung des Wunsches, der im Kind in uns noch weiterlebt.

Diese Deutung ist zweifellos weitgehend richtig. Aber sie stimmt nicht immer, weil der Trauminhalt nicht unbedingt infantiler Natur sein muss. Freud übersieht die Tatsache, dass Nacktheit auch ein Symbol für andere Dinge als nur für den sexuellen [IX-219] Exhibitionismus sein kann. Nacktheit kann zum Beispiel Wahrheitsliebe symbolisieren. Nackt sein kann auch bedeuten, dass man völlig aufrichtig ist, und bekleidet sein kann heißen, dass man Gedanken und Gefühle äußert, die andere von uns erwarten, während sie in Wirklichkeit nicht die unseren sind. Der nackte Körper kann demnach das wahre Selbst symbolisieren; die Kleider können das gesellschaftliche Selbst symbolisieren, das dem gerade herrschenden kulturellen Muster entsprechend fühlt und denkt. Wenn jemand träumt, er sei nackt, dann kann in diesem Traum sein Wunsch zum Ausdruck kommen, er selber zu sein, alle falschen Vorspiegelungen aufzugeben, und in seiner Verlegenheit im Traum kann sich seine Angst spiegeln, die anderen könnten es am Ende missbilligen, wenn er wagt, er selbst zu sein.

Die Deutung des Märchens von Andersen im Zusammenhang mit seiner Interpretation des Nacktheitstraumes ist ein gutes Beispiel dafür, wie Freud dieses Märchen auf Grund seiner Annahme missversteht, Märchen seien genau wie die Träume und Mythen unter allen Umständen Ausdruck verdrängter sexueller Wünsche. Das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern ist kein entstellter Ausdruck eines exhibitionistischen Wunsches. Es befasst sich mit einer völlig anderen Erfahrung, nämlich mit unserer Bereitschaft, an die eingebildeten wunderbaren Eigenschaften von Autoritätspersonen zu glauben, und unserer Unfähigkeit, ihr wahres Format zu erkennen. Das Kind, das noch nicht von dieser Ehrfurcht vor der Autorität durchdrungen ist, kann allein sehen, dass der Kaiser nackt ist und keine unsichtbaren Kleider trägt. Alle anderen, die unter dem Eindruck der unausgesprochenen Drohung stehen, dass sie nicht zu den Guten und Treuen gehörten, wenn sie die Kleidung nicht sähen, unterliegen dieser Suggestion und glauben, sie sähen etwas, das ihre Augen unmöglich sehen können. Die Geschichte handelt von der Entlarvung der irrationalen Ansprüche von Autoritätspersonen und nicht vom Exhibitionismus.

Der Traum von der botanischen Monographie ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die vielen Assoziationsfäden, die in diesen sehr kurzen Traum hineingewoben sind. Jeder, der Träume zu deuten versucht, indem er den Assoziationen nachgeht, die bei jedem einzelnen Traumelement auftauchen, kann nicht umhin, von dem außerordentlichen Reichtum an Assoziationen und der fast wunderbaren Art tief beeindruckt zu sein, wie sie zu dem Traumtext verdichtet werden.

Das Beispiel hat jedoch den Nachteil, dass Freud von einer umfassenden Deutung Abstand nimmt und nur einen einzigen, in dem Traum zum Ausdruck kommenden Wunsch erwähnt, nämlich den, sich selbst ins rechte Licht zu rücken, indem er auf seine Leistungen hinweist. Wenn wir uns nicht darauf versteifen, dass jeder Traum Ausdruck einer Wunscherfüllung ist, sondern erkennen, dass er auch alle möglichen anderen Arten von Seelentätigkeit zum Ausdruck bringen kann, werden wir auch hier zu einer anderen Deutung gelangen.

Im Mittelpunkt des Traumes steht das Symbol der getrockneten Blume. Eine getrocknete und sorgfältig aufbewahrte Blume enthält ein Element des Widerspruchs. Eine Blume ist etwas, das Lebendigkeit und Schönheit symbolisiert, das jedoch im getrockneten Zustand eben diese Eigenschaften verliert und zum Gegenstand objektiver wissenschaftlicher Untersuchung wird. Freuds Assoziationen zu dem Traum weisen auf diesen Widerspruch im Symbol hin. Er erwähnt, dass die Blume, eine [IX-220] Zyklame, deren Monographie er im Schaufenster der Buchhandlung gesehen hatte, die Lieblingsblume seiner Frau sei, und er macht sich den Vorwurf, dass er so selten daran denkt, ihr Blumen zu schenken. Die Monographie über die Zyklame weckt in ihm also das Gefühl, dass er in dem Bereich des Lebens, der durch Liebe und Zärtlichkeit symbolisiert wird, versagt. Alle übrigen Assoziationen weisen in eine einzige Richtung - sie deuten auf seinen Ehrgeiz. Die Monographie erinnert ihn an seine Arbeit über Kokain und den Ärger darüber, dass seine Entdeckung nicht die gebührende Anerkennung fand. Es fällt ihm ein, wie enttäuscht er war, als sein Schuldirektor so wenig Zutrauen zu seiner Fähigkeit zeigte, bei der Reinigung des Herbariums mitzuhelfen. Und die farbigen Tafeln erinnern ihn an einen weiteren Schlag, den sein Selbstgefühl erlitt, als sein Kollege ihn verspottete, weil eine der bunten Platten so schlecht ausgefallen war.

So scheint im Traum ein Konflikt zum Ausdruck zu kommen, den Freud, während er träumt, deutlich empfindet, dessen er sich aber in seinem wachen Dasein nicht bewusst zu sein scheint. Er wirft sich vor, die durch die Blumen und durch seine Frau symbolisierte Seite des Lebens um seines Ehrgeizes und seiner einseitig intellektuell wissenschaftlichen Einstellung zur Welt willen vernachlässigt zu haben. In dem Traum kommt tatsächlich ein tiefer Widerspruch in Freuds Gesamtpersönlichkeit und in seinem Lebenswerk zum Ausdruck. Der Hauptgegenstand seines Interesses und seiner wissenschaftlichen Arbeit sind Liebe und Sexualität. Aber er ist ein Puritaner; was wir vor allem anderen an ihm bemerken, ist seine viktorianische Abneigung gegen Sexualität und Lust, verbunden mit einer resignativen Toleranz gegenüber den diesbezüglichen menschlichen Schwächen. Er hat die Blume getrocknet und Sexualität und Liebe zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung und Spekulation gemacht, anstatt sie am Leben zu lassen. Der Traum drückt das große Paradoxon bei Freud aus: Er ist keineswegs - wie er oft fälschlich hingestellt wird - der Vertreter der „sinnlich-frivolen, unmoralischen Wiener Atmosphäre“, sondern ganz im Gegenteil ein Puritaner, der nur deshalb so freimütig über die Sexualität und die Liebe schreiben konnte, weil er sie in ein Herbarium verbannt hatte. Er versucht, eben diesen Konflikt zu verbergen, indem er den Sinn des Traumes falsch auslegt.

Bei seiner Interpretation von Mythen und Märchen hält sich Freud an das gleiche Prinzip wie bei seiner Traumdeutung. Er sieht in der Symbolik, wie wir sie im Mythos finden, eine Regression auf frühere Stufen der menschlichen Entwicklung, wo bestimmte Tätigkeiten wie Pflügen und Entfachen von Feuer noch mit sexueller Libido erfüllt waren. Im Mythos wird diese frühzeitliche und heute verdrängte libidinöse Befriedigung durch „Ersatzbefriedigungen“ ausgedrückt, die es dem Menschen ermöglichen, die Befriedigung triebhafter Wünsche auf das Reich der Phantasie zu beschränken.

Im Mythos, wie im Traum, werden die primitiven Impulse nicht offen, sondern verhüllt zum Ausdruck gebracht. Sie betreffen jene Strebungen, von denen Freud entdeckt zu haben glaubte, dass sie regelmäßig im Leben des Kindes auftreten, besonders inzestuöse Wünsche, sexuelle Neugier und Kastrationsangst. Ein Beispiel für diese Methode der Mythenauslegung ist Freuds Interpretation des Rätsels der Sphinx. Die Sphinx hat verkündet, die Pest, die Theben mit Vernichtung bedrohte, werde erst [IX-221] aufhören, wenn jemand die richtige Antwort auf das von ihr gestellte Rätsel finde. Das Rätsel lautete: „Was ist das: Es geht zuerst auf vieren, dann auf zweien und zuletzt auf dreien?“ Freud sieht in dem Rätsel und seiner Lösung - der Mensch - die Verkleidung einer anderen Frage, die die kindliche Phantasie vor allem beschäftige, das Rätsel: „Woher kommen die Kinder?“ Der Frage der Sphinx liege die sexuelle Neugier des Kindes zugrunde, eine Neugier, die durch die elterliche Autorität entmutigt und in den Untergrund verdrängt werde. So nahm Freud an, dass im Rätsel der Sphinx die dem Menschen tief innewohnende sexuelle Neugier zum Ausdruck komme, jedoch so verhüllt, als ob es sich um eine harmlose intellektuelle Sache handele, die von der verbotenen Sexualsphäre weit entfernt sei.

Jung und Silberer, zwei der begabtesten Schüler Freuds, erkannten schon bald diese Schwäche in Freuds Traumdeutung und versuchten, sie zu korrigieren. Silberer unterschied zwischen der sogenannten „anagogischen“ und der „analytischen“ Traumdeutung. Jung unterschied entsprechend zwischen der „prospektiven“ und der „retrospektiven“ Deutung. Sie vertraten die Ansicht, dass jeder Traum Wünsche aus der Vergangenheit repräsentiert, aber dass er auch auf die Zukunft gerichtet sei und Hinweise auf Ziele und Bestrebungen des Träumers gebe. Jung sagte dazu: „Die Seele ist Durchgangspunkt, daher notwendigerweise nach zwei Seiten bestimmt. Sie gibt einerseits ein Bild vom Niederschlag alles Vergangenen, und in diesem andererseits ein Bild der keimenden Erkenntnis alles Kommenden, insofern die Seele selber die Zukunft schafft“ (C. G. Jung, 1968, S. 205). Jung und Silberer nahmen an, dass jeder Traum sowohl nach seiner anagogischen wie auch nach seiner analytischen Bedeutung zu verstehen sei, und man konnte mit einer gewissen Berechtigung erwarten, dass Freud diese Abänderung akzeptieren würde. Aber wenn beide einen Kompromiss mit Freud anstrebten, so schlug dieser Versuch fehl. Freud weigerte sich hartnäckig, irgendeine Änderung zu akzeptieren, und beharrte darauf, dass die einzig mögliche Interpretation eines Traumes die der Wunscherfüllungstheorie sei. Nachdem es zu einer Spaltung zwischen den Jungianern und der Freudschen Schule gekommen war, bemühte sich Jung, Freuds Begriffe aus seinem Denksystem herauszulösen und sie durch neue zu ersetzen; damals änderte sich auch Jungs Traumtheorie. Während Freud dazu neigte, sich hauptsächlich auf die freie Assoziation zu verlassen und den Traum als Ausdruck infantiler, irrationaler Wünsche zu verstehen, verzichtete Jung immer mehr auf die freie Assoziation und interpretierte nun den Traum nicht weniger dogmatisch als Ausdruck der Weisheit des Unbewussten.[11]

Diese Auffassung passt zu Jungs Verständnis des Unbewussten überhaupt. Er glaubte, „dass das Unbewusste zu Zeiten fähig ist, eine Intelligenz und Zweckgerichtetheit zu manifestieren, welche der zur Zeit möglichen bewussten Einsicht überlegen sind“ (C. G. Jung, 1937, S. 41). Soweit habe ich gegen diese Behauptung nichts einzuwenden; sie entspricht meiner oben (S. 192) dargelegten Erfahrung mit der Traumdeutung. Aber Jung geht noch weiter und behauptet, diese Tatsache sei „ohne Zweifel ein grundlegendes religiöses Phänomen“, und die Stimme, die in unseren Träumen spreche, sei nicht unsere eigene, sondern komme aus einer Quelle, die uns transzendiere. Auf den Einwand, „dass die von der Stimme vertretenen Gedanken nichts anderes seien als die Gedanken des Individuums selbst“, antwortete er [IX-222] (C. G. Jung, 1937, S. 41 f.):

Das mag sein; aber ich würde einen Gedanken nur dann meinen eigenen nennen, wenn ich ihn gedacht habe, ebenso wie ich Geld nur dann als mein eigenes bezeichnen würde, wenn ich es bewusst und legitim erworben habe. Wenn jemand mir das Geld als Geschenk gibt, werde ich zu meinem Wohltäter sicherlich nicht sagen: „Ich danke dir für mein Geld“, obwohl ich nachher zu einer dritten Person sagen könnte: „Dies ist mein eigenes Geld.“ Mit der Stimme bin ich in einer ähnlichen Lage. Die Stimme gibt mir gewisse Inhalte, genau so, wie ein Freund mir seine Ideen mitteilen würde. Es wäre weder anständig noch wahrheitsgemäß, sondern ein Plagiat, zu behaupten, dass, was er sagt, ursprünglich und zuerst meine eigenen Ideen gewesen seien.

Zum gleichen Punkt äußert er sich an anderer Stelle sogar noch deutlicher, wo er behauptet, dem Menschen werde nie geholfen durch das, was er selbst denke, sondern durch die Offenbarungen einer Weisheit, die größer sei als seine eigene.

Der Unterschied zwischen Jungs Interpretation und meiner eigenen lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Ich stimme mit ihm darin überein, dass wir in unserem Schlaf oft weiser und anständiger sind als in unserem wachen Dasein. Jung erklärt dieses Phänomen mit der Annahme einer uns transzendierenden Offenbarungsquelle, während ich glaube, dass das, was wir im Schlaf denken, unser Denken ist, und dass die Einflüsse, denen wir in unserem wachen Leben ausgesetzt sind, auf unsere intellektuellen und moralischen Fähigkeiten in vieler Hinsicht einen verdummenden Einfluss ausüben.

Auch das Verständnis der Jung’schen Methode wird die Wiedergabe einer seiner eigenen Traumanalysen erleichtern. Der Traum stammt aus einer Reihe von über vierhundert Träumen, die ein Patient Jungs niedergeschrieben hat. Der Träumer ist katholisch erzogen, jedoch kein praktizierender Katholik mehr, und interessiert sich auch nicht für religiöse Probleme. Einer seiner Träume war der folgende:

Alle Häuser haben etwas Bühnenhaftes, Theaterhaftes. Kulissen und Dekorationen. Der Name Bernard Shaw fällt. Das Stück soll in ferner Zukunft spielen. Über einer Kulisse steht englisch und deutsch: „Dies ist die allgemeine katholische Kirche. Sie ist die Kirche des Herrn. Alle, die sich als Werkzeug des Herrn fühlen, mögen eintreten.“ Darunter kleiner gedruckt: „Die Kirche ist gegründet von Jesus und Paulus“ - wie wenn man das Alter einer Firma anpreisen wollte. Ich sage zu meinem Freunde: „Komm, das wollen wir uns einmal ansehen.“ Er antwortete: „Ich sehe nicht ein, warum viele Menschen beisammen sein müssen, wenn sie religiöse Gefühle haben.“ Da antwortete ich: „Als Protestant wirst du das nie verstehen.“ (Eine Frau stimmt mir sehr zu. Nun sehe ich eine Art Aufruf an der Wand der Kirche: Er lautet:

„Soldaten!

Wenn Ihr fühlt, in der Macht des Herrn zu stehen, vermeidet es, ihn direkt anzusprechen. Der Herr ist durch Worte unerreichbar. Wir empfehlen Euch weiter dringend, [IX-223] keine Diskussionen über die Attribute des Herrn untereinander zu veranstalten. Es ist unfruchtbar, denn das Wertvolle und Wichtigste ist unsagbar. Gezeichnet: Papst... (Name unleserlich).“

Nun gehen wir hinein. Das Innere ist ähnlich einer Moschee, besonders ähnlich der Hagia Sophia. Keine Bänke - schöne Raumwirkung, keine Bilder, eingerahmte Sprüche als Ornamente an der Wand (wie dort die Koransprüche). Einer der Sprüche lautet: „Schmeichelt eurem Wohltäter nicht.“ Die Frau, die mir früher zugestimmt hatte, bricht in Tränen aus und ruft: „Da bleibt ja nichts mehr übrig.“ Ich antworte: „Ich finde das alles ganz richtig“, aber sie verschwindet. Erst stehe ich so, dass ein Pfeiler vor mir ist und ich nichts sehen kann. Dann wechsle ich meine Stellung und sehe eine Menge von Menschen vor mir. Ich gehöre nicht zu ihnen und stehe allein. Aber sie sind deutlich vor mir, und ich sehe ihre Gesichter. Sie sagen alle unisono: „Wir bekennen, in der Macht des Herrn zu stehen. Das Himmelreich ist in uns.“ Dies wird sehr feierlich gesprochen, dreimal. Dann wird Orgel gespielt, eine Bach’sche Fuge mit Chor wird gesungen. Der ursprüngliche Text ist fortgelassen. Manchmal nur eine Art Koloratur, sodann wiederholt die Worte: „Alles andere ist Papier“ (soll heißen: wirkt auf mich nicht lebendig). Nachdem der Chor verklungen, beginnt sozusagen in studentischer Weise der gemütliche Teil der Sitzung. Es sind lauter heitere und ausgeglichene Menschen da. Man geht auf und ab, spricht miteinander, begrüßt einander, und es werden Wein (aus einem bischöflichen Priesterseminar) und Erfrischungen gereicht. Man wünscht der Kirche ein fröhliches Gedeihen und, wie um der Freude am Zuwachs von Vereinsmitgliedern Ausdruck zu geben, wird von einem Lautsprecher ein Schlager gespielt mit dem Refrain: „Karl ist jetzt auch dabei. Ein Priester erklärt mir: „Diese nebensächlichen Vergnügungen sind offiziell gebilligt und zugelassen. Wir müssen uns den amerikanischen Methoden etwas anpassen. Bei einem Massenbetrieb, wie wir ihn haben, ist das unvermeidlich. Von den amerikanischen Kirchen unterscheiden wir uns aber grundsätzlich durch eine ausgesprochen antiasketische Richtung.“ Dann erwache ich. Gefühl großer Erleichterung. (C. G. Jung, 1937, S. 25-27.)

Beim Versuch, diesen Traum zu deuten, weist Jung darauf hin, dass er mit Freud nicht übereinstimme, wenn dieser den Traum als eine bloße Fassade bezeichne, hinter der etwas absichtlich verborgen werde. Jung sagt (C. G. Jung, 1937, S. 27 f.):

Es besteht kein Zweifel, dass Neurotiker unangenehme Dinge verbergen, wahrscheinlich genau so, wie das auch normale Leute tun. Aber es ist eine andere Frage, ob eine solche Kategorie auf ein so normales und über die ganze Welt verbreitetes Phänomen angewandt werden darf, wie es der Traum ist. Ich zweifle daran, ob wir annehmen dürfen, dass ein Traum etwas anderes sei als das, was er zu sein scheint. Ich bin eher geneigt, eine andere jüdische Autorität anzurufen, nämlich den Talmud, welcher sagt, dass der Traum seine eigene Deutung sei. Mit andern Worten, ich nehme den Traum als das, was er ist. Der Traum ist ein derartig schwieriger und verwickelter Stoff, dass ich nicht wage, irgendwelche Annahmen über eine ihm möglicherweise innewohnende Täuschungstendenz zu machen. Der Traum ist ein Naturereignis, und es gibt keinen ersichtlichen Grund zur Annahme, dass er eine schlaue Erfindung sei, [IX-224] bestimmt, uns irrezuführen. Der Traum geschieht, wenn Bewusstsein und Wille größtenteils ausgelöscht sind. Es scheint ein Naturprodukt zu sein, das sich auch bei Leuten findet, die nicht neurotisch sind. Überdies wissen wir so wenig über die Psychologie des Traumprozesses, dass wir mehr als vorsichtig sein müssen, wenn wir in seine Erklärung Elemente einführen, die dem Traum selber fremd sind.

Aus allen diesen Gründen glaube ich, dass unser Traum wirklich von Religion spricht. Da der Traum zusammenhängend und wohlgeformt ist, macht er den Eindruck einer gewissen Logik und Absichtlichkeit, d.h. es liegt ihm eine sinnvolle Motivation zugrunde, welche ihren direkten Ausdruck im Trauminhalt findet.

Wie interpretiert Jung diesen Traum? Er bemerkt, dass die katholische Kirche, obwohl sie allgemeines Ansehen genießt, doch mit einer seltsamen heidnischen Anschauung gepaart sei, die mit einer von Grund auf christlichen Einstellung unvereinbar sei. In dem ganzen Traum seines Patienten sei keine Opposition gegen das kollektive Gefühl, gegen Massenreligion und Heidentum, abgesehen von dem bald zum Schweigen gebrachten protestantischen Freund. Die unbekannte Frau im Traum erklärt er als eine Repräsentation der „Anima“, in der er eine psychische Darstellung der Minderheit der weiblichen Gene in einem männlichen Körper sieht. Die Anima repräsentiert in der Regel das Unbewusste und gibt ihm seinen eigentümlich unangenehmen oder irritierenden Charakter.

Die negative Reaktion der Anima im Kirchentraum weist darauf hin, dass die weibliche Seite des Träumers, also sein Unbewusstes mit seiner Einstellung nicht einverstanden ist (...).

Wir erfahren also aus dem Traum, dass die unbewusste Funktion des Träumers einen ziemlich flachen Kompromiss zwischen Katholizismus und einer heidnischen “joie de vivre“ hervorbringt. Das Produkt des Unbewussten drückt nicht einen festen Gesichtspunkt oder eine endgültige Meinung aus, sondern entspricht eher der dramatischen Exposition eines Überlegungsaktes. Man könnte dies vielleicht folgendermaßen formulieren: „Wie steht es nun mit deiner religiösen Angelegenheit? Du bist Katholik, nicht wahr? Ist das nicht gut genug? Aber Asketentum - schön und gut, doch auch die Kirche muss sich ein wenig anpassen - Kino, Radio, Jazz usw. - warum nicht auch etwas kirchlicher Wein und fröhliche Bekanntschaften?“ Aber aus irgendeinem Grunde scheint diese unangenehme, aus vielen früheren Träumen wohlbekannte, mysteriöse Frau tief enttäuscht zu sein und geht fort. (C. G. Jung, 1937, S. 32 f.)

Jung sagt von seinem Patienten, er sei wegen „einer sehr schwerwiegenden Erfahrung“ zu ihm gekommen.

Er war äußerst rationalistisch und intellektuell und hatte erlebt, dass seine Geisteshaltung und seine Philosophie ihn angesichts seiner Neurose und ihrer demoralisierenden Kräfte vollständig im Stich ließen. In seiner ganzen Weltanschauung fand er nichts, das ihm zu einer genügenden Selbstbeherrschung hätte verhelfen können. Er war deshalb so ziemlich in der Lage eines Mannes, den seine bis dahin gehegten Überzeugungen und Ideale im Stich gelassen hatten. Es ist keineswegs ein außergewöhnlicher Fall, dass ein Mensch unter solchen Umständen zu der Religion seiner Kindheit zurückkehrt, in der Hoffnung, dort etwas Hilfreiches zu finden. Es war [IX-225] indessen kein bewusster Versuch oder Entschluss, frühere religiöse Glaubensformen wieder zu beleben. Er träumte es bloß; d.h. sein Unbewusstes produzierte eine eigenartige Konstatierung über seine Religion. Es ist gerade so, als ob Geist und Fleisch, die beiden ewigen Feinde im christlichen Bewusstsein, miteinander Frieden gemacht hätten in Form einer sonderbaren Abschwächung ihrer gegensätzlichen Natur. Geistigkeit und Weltlichkeit kommen in unerwarteter Friedfertigkeit zusammen. Die Wirkung ist einigermaßen grotesk und komisch. Der unerbittliche Ernst des Geistes scheint durch eine fast antike Fröhlichkeit unterminiert zu sein, mit Wein und Rosen parfümiert. Der Traum beschreibt jedenfalls eine geistliche und weltliche Atmosphäre, welche die Schärfe des moralischen Konfliktes abstumpft und alle seelischen Schmerzen und Nöte in Vergessenheit geraten lässt. (C. G. Jung, 1937, S. 3.)

Aus dem Traum und der Beschreibung des Träumers, die Jung gibt, scheint mir diese Deutung nicht gerechtfertigt. Seine Interpretation bleibt an der Oberfläche und berücksichtigt nicht die zugrunde liegenden seelischen Kräfte, welche diesen Traum produziert haben. Meiner Ansicht nach ist der Traum alles andere als ein flacher Kompromiss zwischen Weltlichkeit und Religion, sondern eine bittere Anklage gegen die Religion und gleichzeitig ein ernsthaftes Verlangen nach geistiger Unabhängigkeit. Die Kirche wird als ein Theater, als eine Firma, eine Armee beschrieben. Der durch die Hagia Sophia repräsentierte Islam kommt bei einem Vergleich mit der christlichen Kirche besser weg, weil er keine Bilder und nur eingerahmte Sprüche hat, wie „Schmeichelt eurem Wohltäter nicht“. Dieser Satz stellt natürlich die eigene Kritik des Träumers an der Gewohnheit der Kirche dar, Gott zu schmeicheln. Im weiteren macht sich der Träumer über die Kirche lustig, indem er träumt, der Gottesdienst entarte zu einer heiteren Versammlung, in der Getränke herumgereicht werden und wo eine Ragtime-Melodie gespielt wird mit dem Refrain Charles is now also in the game. (Es scheint Jungs Aufmerksamkeit entgangen zu sein, dass der Vers Charles is now also in the game auf seinen eigenen ersten Vornamen Carl Bezug nimmt und dass dieser spöttische Hinweis auf den Analytiker genau dem Geist der Auflehnung gegen die Autorität entspricht, der den ganzen Traum durchzieht.) Der Träumer hebt diesen Punkt ausdrücklich hervor, indem er den Priester selbst einräumen lässt, die Kirche müsse „amerikanische Methoden“ anwenden, um für die Massen attraktiv zu sein.

Die Rolle der Frau in diesem Traum kann man nur ganz verstehen, wenn man die anti-autoritäre, rebellische Tendenz des gesamten Traumes berücksichtigt. Der Träumer ist - trotz seiner bewussten Gleichgültigkeit gegenüber der Religion - auf einer tieferen seelischen Ebene immer noch mit ihr verbunden, oder - genauer gesagt - er hängt noch an dem autoritären Typ der Religion, der ihm in seiner Kindheit vermittelt worden war. Seine Neurose ist ein Versuch, sich von der Bindung an irrationale Autoritäten zu befreien, aber das ist ihm bisher nicht gelungen, und die Folge ist, dass er neurotische Verhaltensmuster entwickelt hat. Zur Zeit des Traumes ist bei ihm der Versuch, aufzubegehren und sich von der Beherrschung durch Autoritäten zu befreien, ein dominierender seelischer Zug, der sich in seinem Traumleben bemerkbar macht. Die Frau, welche vermutlich seine Mutter symbolisiert, erkennt, dass er, wenn er das autoritäre Prinzip, der starken Vaterfigur (dem Wohltäter) zu [IX-226] schmeicheln, ablehnt, erwachsen werden wird und auch sie ihn verlieren wird. Deshalb weint sie und sagt: „Da bleibt ja nichts mehr übrig.“

Der Träumer ist tatsächlich an der Religion interessiert, aber er gelangt dabei nicht - wie Jung annimmt - zu einem flachen Kompromiss, sondern zu einer sehr klaren Auffassung vom Unterschied zwischen einer autoritären und einer humanistischen Religion. Die autoritäre Religion, in der Gehorsam die Haupttugend ist und in der der Mensch sich selbst klein und ohnmächtig macht, indem er alle Macht und Kraft Gott zuschreibt, ist die Art von Religion, gegen die er ankämpft; es ist der gleiche Kampf, der auch sein persönliches Leben durchzieht, die Rebellion gegen jede Art von autoritärer Beherrschung. Was er erstrebt, ist eine humanistische Religion, bei welcher die Betonung auf der Kraft und Güte des Menschen liegt und wo Tugend nicht gleichbedeutend mit Gehorsam, sondern mit der Verwirklichung der dem Menschen eigenen humanen Kräfte ist. (Vgl. meine Erörterung der autoritären und der humanistischen Religion in Psychoanalyse und Religion (1950a), GA VI, S. 248-258.) Aus der Reihenfolge der Traumbilder geht dies sehr klar hervor. Er hört die Menge „sehr feierlich“ die Worte sprechen: „Das Himmelreich ist in uns. (...) Alles andere ist Papier.“ Der Träumer hat die Kirche als eine große Organisation, als eine Art Firma oder Armee verhöhnt, er hat sie beschuldigt, mit Hilfe von Schmeicheleien Gottes Gunst gewinnen zu wollen, und er sagt jetzt, Gott lebe in uns und abgesehen von dieser Erfahrung sei „alles andere Papier“, weil es auf ihn nicht lebendig wirke.

Die gleiche Auffassung finden wir auch im zweiten Traum desselben Patienten, den Jung ebenfalls in Psychologie und Religion (C. G. Jung, 1937, S. 37 f.) erörtert:

Ich komme in ein besonders weihevolles Haus, das „Haus der Sammlung“. Im Hintergrund sind viele Kerzen, die in einer besonderen Form mit vier nach oben zulaufenden Spitzen angeordnet sind. Außen an der Türe des Hauses steht ein alter Mann. Es gehen Leute hinein. Sie sprechen nichts und stehen regungslos, um sich innerlich zu sammeln. Der Mann an der Türe sagt von den Besuchern des Hauses: „Sobald sie wieder heraustreten, sind sie rein.“ Nun gehe ich selbst in das Haus hinein und kann mich ganz konzentrieren. Da spricht eine Stimme: „Was du tust, ist gefährlich. Die Religion ist nicht die Steuer, die du bezahlen sollst, um das Bild der Frau entbehren zu können, denn dieses Bild ist unentbehrlich. Wehe denen, welche die Religion als Ersatz für eine andere Seite des Lebens der Seele gebrauchen; sie sind im Irrtum und werden verflucht sein. Kein Ersatz ist die Religion, sondern sie soll als letzte Vollendung zur anderen Tätigkeit der Seele hinzukommen. Aus der Fülle des Lebens sollst du deine Religion gebären, nur dann wirst du selig sein.“ Bei dem besonders laut gesprochenen letzten Satz höre ich ferne Musik, einfache Akkorde auf einer Orgel. Etwas daran erinnert an das Feuerzaubermotiv von Wagner. Als ich nun aus dem Haus trete, da sehe ich einen brennenden Berg, und ich fühle, „ein Feuer, das nicht gelöscht werden kann, ist ein heiliges Feuer“.

In diesem Traum greift der Träumer die Kirche nicht mehr in der spaßhaften Weise an wie im vorigen Traum. Er macht eine tiefe und klare Feststellung über die humanistische im Gegensatz zur autoritären Religion. Einen Punkt hebt er dabei besonders hervor: Die Religion darf nicht versuchen, Liebe und Sexualität (das Bild der Frau) [IX-227] zu unterdrücken, und darf kein Ersatz für diese Seite des Lebens sein. Nicht aus der Unterdrückung, sondern aus der „Fülle des Lebens“ muss die Religion geboren werden. Die letzte Feststellung, dass „ein Feuer, das nicht gelöscht werden kann, ein heiliges Feuer ist“, bezieht sich, wie aus dem gesamten Kontext des Traumes hervorgeht, auf das, was durch das „Bild der Frau“ ausgedrückt ist, auf das Feuer von Liebe und Sexualität.

Dieser Traum ist interessant als Beispiel für die Art von Träumen, in denen die Seele Gedanken und Urteile mit einer Klarheit und Schönheit zum Ausdruck bringt, wie sie der Träumer in seinem wachen Leben nicht erreicht hat. Aber ich habe ihn hauptsächlich angeführt, um die Mängel von Jungs einseitiger, dogmatischer Interpretation zu veranschaulichen. Für ihn symbolisiert das „unauslöschliche Feuer“ Gott, und „das Bild der Frau“ und „die andere Seite des Lebens“ repräsentieren das Unbewusste. Nun stimmt es zwar durchaus, dass das Feuer häufig ein Symbol Gottes ist, aber es ist auch oft ein Symbol der Liebe und der sexuellen Leidenschaft. Freud hätte den Traum vermutlich nicht so gedeutet, dass darin eine philosophische Behauptung zum Ausdruck komme, sondern er hätte darin die Erfüllung der infantilen, inzestuösen Wünsche des Träumers gesehen. Nicht weniger dogmatisch, lässt Jung diesen Aspekt völlig außer acht und denkt nur an die religiöse Symbolik. Mir scheint die Wahrheit in keiner dieser beiden Richtungen zu liegen. Der Träumer beschäftigt sich zwar mit einem religiösen und philosophischen Problem, aber er zieht keinen Trennungsstrich zwischen seinem philosophischen Interesse und seiner Sehnsucht nach Liebe. Ganz im Gegenteil stellt er fest, dass man sie nicht voneinander trennen darf, und er kritisiert die Kirche wegen ihres Verständnisses von Sünde.

5. Die Geschichte der Traumdeutung

Wir haben bisher drei Ansätze zur Traumdeutung vorgestellt: erstens Freuds Auffassung, dass alle Träume Ausdruck der irrationalen und asozialen Natur des Menschen seien; zweitens Jungs Interpretation, dass die Träume Offenbarungen einer den Einzelnen transzendierenden unbewussten Weisheit seien; drittens die Ansicht, dass die Träume jede Art von Seelentätigkeit ausdrücken, dass in ihnen sowohl unsere irrationalen Strebungen wie auch unsere Vernunft und Moralität - das Schlechteste wie auch das Beste in uns - zum Ausdruck kommen. Diese drei Theorien sind keineswegs neueren Datums. Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Traumdeutung zeigt, dass die gegenwärtige Kontroverse über die Bedeutung von Träumen eine Auseinandersetzung enthält, die schon dreitausend Jahre alt ist.

a) Die frühe, nicht-psychologische Traumdeutung

Die Geschichte der Traumdeutung beginnt mit Versuchen, die Bedeutung der Träume nicht als psychologisches Phänomen, sondern als reale Erlebnisse der vom Körper losgelösten Seele oder als die Stimme von Geistern oder Gespenstern zu verstehen. So ist nach Auffassung der Aschantis ein Mann, der träumt, er habe mit der Frau eines anderen Geschlechtsverkehr gehabt, mit der üblichen Buße für Ehebruch zu bestrafen, weil seine und ihre Seele sexuellen Verkehr miteinander hatten. (Vgl. R. S. Rattray, 1947.) Die Kiwai Papuans von (Britisch) Neuguinea glauben, wenn es einem Zauberer gelinge, jemandes Seele im Traumzustand zu fangen, werde der Schläfer nie wieder aufwachen. (Vgl. G. Landtman, 1947.) Eine andere Form des Glaubens, dass die Vorkommnisse im Traum realer Natur seien, ist die Vorstellung, dass die Geister Verstorbener im Traum erscheinen, um uns zu ermahnen, zu warnen oder uns Botschaften anderer Art zu überbringen. Bei den Mohave- und bei den Yuma-Indianern zum Beispiel ist die Erscheinung von kürzlich verstorbenen Verwandten im Traum besonders gefürchtet. (Vgl. E. W. Gifford, 1947.)

Andere primitive Völker haben eine Vorstellung von der Bedeutung der Träume, die der Auffassung nähersteht, welche in den großen Kulturen des Ostens zu finden ist. [IX-229] Hier wird der Traum entsprechend einem festgelegten religiösen und ethischen Bezugssystem gedeutet. Jedes Symbol hat seine bestimmte Bedeutung, und die Interpretation besteht in der Auslegung dieser festgelegten Bedeutung der Symbole. Ein Beispiel für diese Art der Deutung gibt J. S. Lincoln (1947) in seiner Arbeit über die Navaho-Indianer.

Der Traum:

Ich träumte von einem sehr großen Ei aus einer steinharten Substanz. Ich schlug es auf, und heraus flog ein junger, aber bereits voll ausgewachsener Adler. Es geschah im Hausinneren, und der Adler flog hin und her und versuchte hinauszufliegen, doch konnte er nicht hinausgelangen, weil das Fenster geschlossen war.

Die Deutung:

Der Adler gehört zur Vogelgruppe der höheren Geister, die eine der drei verbündeten Geistergruppen ist, der Geister des Windes, des Blitzes und der Vögel, die alle auf dem Gipfel des San Francisco-Berges wohnen. Wenn diese Geister beleidigt werden, können sie große Verwüstung und Zerstörung anrichten. Sie können auch freundlich sein. Der Adler kann nicht hinausfliegen, weil du den Vogelgeist beleidigt haben musst, vielleicht weil du auf sein Nest getreten bist, oder vielleicht war es auch dein Vater, der ihn gekränkt hat.

Die frühe orientalische Traumdeutung gründete sich ebenfalls nicht auf eine psychologische Traumtheorie, sondern auf die Annahme, dass der Traum eine Botschaft darstellt, die den Menschen von göttlichen Mächten gesandt wird. Die bekanntesten Beispiele für diese Art der nicht-psychologischen Traumdeutung sind die Träume des Pharao, wie sie die Bibel berichtet. Als der Pharao einen Traum hatte, der ihn beunruhigte, schickte er hin „und ließ alle Wahrsager und Weisen Ägyptens rufen. Der Pharao erzählte ihnen seine Träume, doch keiner war da, der sie ihm hätte deuten können“ (Gen 41,8). Als er dann Josef auffordert, den Traum zu deuten, antwortet dieser: „Nicht ich, sondern Gott wird zum Wohl des Pharao eine Antwort geben“ (Gen 41,16). Der Traum war folgender (Gen 41,17-24):

In meinem Traum stand ich am Nilufer. Aus dem Nil stiegen sieben wohlgenährte stattliche Kühe und weideten im Riedgras. Nach ihnen stiegen sieben andere Kühe herauf, elend, sehr hässlich und mager. Nie habe ich in ganz Ägypten so hässliche Kühe gesehen. Die mageren und hässlichen Kühe fraßen die sieben ersten, fetten auf (...) Dann wachte ich auf. Weiter sah ich in meinem Traum: Auf einem einzigen Halm gingen sieben volle, schöne Ähren auf. Nach ihnen wuchsen sieben taube, kümmerliche, vom Ostwind ausgedörrte Ähren. Die kümmerlichen Ähren verschlangen die sieben schönen Ähren. Ich habe das den Wahrsagern erzählt, aber keiner konnte mir die Deutung sagen.

Josefs Deutung lautet (Gen 41,26-36):

(...) Die sieben schönen Kühe sind sieben Jahre, und die sieben schönen Ähren sind sieben Jahre. Es ist ein und derselbe Traum. Die sieben mageren und hässlichen Kühe, die nachher heraufkamen, sind sieben Jahre, und die sieben leeren, vom Ostwind ausgedörrten Ähren sind sieben Jahre Hungersnot. Das ist es, was ich meinte, als ich zum Pharao sagte: Gott ließ den Pharao sehen, was er vorhat. Sieben Jahre kommen, da wird großer Überfluss in ganz Ägypten sein. Nach ihnen aber werden sieben Jahre Hungersnot heraufziehen: Da wird der ganze Überfluss in Ägypten vergessen sein, und Hunger wird das Land auszehren. Dann wird man nichts mehr vom Überfluss im [IX-230] Land merken wegen des Hungers, der danach kommt; denn er wird sehr drückend sein. Dass aber der Pharao gleich zweimal träumte, bedeutet: Die Sache steht bei Gott fest, und Gott wird sie bald ausführen. Nun sehe sich der Pharao nach einem klugen, weisen Mann um und setze ihn über Ägypten. Der Pharao möge handeln: Er bestelle Bevollmächtigte über das Land und besteuere Ägypten mit einem Fünftel in den sieben Jahren des Überflusses. Die Bevollmächtigten sollen alles Brotgetreide der kommenden guten Jahre sammeln und auf Weisung des Pharao Korn aufspeichern; das Brotgetreide sollen sie in den Städten sicherstellen. Es soll dem Land als Rücklage dienen für die sieben Jahre der Hungersnot, die über Ägypten kommen werden. Dann wird das Land nicht an Hunger zugrunde gehen.

Der biblische Bericht besagt, dass der Traum als eine den Menschen von Gott offenbarte Vision angesehen wurde. Man kann den Traum des Pharao jedoch auch vom psychologischen Standpunkt aus betrachten. Es konnten ihm gewisse Faktoren bekannt sein, die möglicherweise die Fruchtbarkeit des Bodens in den nächsten vierzehn Jahren beeinflussen würden, doch war ihm dieses intuitive Wissen vielleicht nur im Schlaf zugänglich. Es ist Ansichtssache, ob der Traum so oder so zu verstehen ist. Jedenfalls zeigt der biblische Bericht - genau wie viele andere Berichte aus alten orientalischen Quellen -, dass man im Traum nicht etwas sah, was menschlichen Ursprungs war, sondern dass man darin eine göttliche Botschaft erblickte.

Besonders in Indien und Griechenland glaubte man, dass Träume noch eine andere Funktion besäßen, nämlich Krankheiten vorauszusagen. Man glaubte, dass bestimmte Symbole auf gewisse somatische Symptome hinweisen. Aber auch hier ist - ebenso wie im prophetischen Traum des Pharao - eine psychologische Deutung möglich. Wir dürfen annehmen, dass wir im Schlaf ein viel feineres Wahrnehmungsvermögen für bestimmte körperliche Veränderungen besitzen als in unserem wachen Dasein und dass wir solche Wahrnehmungen in das Traumbild übertragen, sodass sie uns dazu dienen können, Krankheiten zu diagnostizieren und bestimmte somatische Vorgänge vorauszusagen. (In welchem Ausmaß das zutrifft, müsste man durch eine umfangreiche Untersuchung von Träumen feststellen, die von bestimmten Personen geträumt wurden, bevor bei ihnen eine Krankheit zum Ausbruch kam.)

b) Die psychologische Traumdeutung

Im Gegensatz zur nicht-psychologischen Traumdeutung, die den Traum als Ausdruck „realer“ Vorkommnisse oder als Botschaft von Mächten außerhalb des Menschen auffasst, versucht die psychologische Deutung, den Traum als Ausdruck der eigenen Seele des Träumers zu verstehen. Diese beiden Methoden sind keineswegs immer voneinander getrennt. Ganz im Gegenteil finden wir bis zum Mittelalter viele Autoren, die beide Standpunkte miteinander verbinden und zwischen Träumen unterscheiden, die als religiöse Phänomene zu interpretieren sind, und solchen, die man psychologisch verstehen muss. Ein Beispiel dieser Methode gibt uns ein indischer Autor, der etwa zu Beginn der christlichen Zeitrechnung lebte:

Sechs Arten von Menschen gibt es, die Träume sehen - der Mensch von stürmischem [IX-231] oder von cholerischem oder von phlegmatischem Temperament, der Mensch, der unter eines Gottes Einfluss träumt, der dies unter dem Einfluss seiner eigenen Gewohnheiten tut, und derjenige, der es in der Art einer Prophezeiung tut. Und von diesen, o König, ist nur die letzte Art von Träumen wahr; alle übrigen sind falsch. (Aus The Questions of King Milinda; unbekannter Verfasser, niedergeschrieben im Norden von Indien zu Beginn der christlichen Zeitrechnung; zitiert nach R. Wood, 1947.)

Im Gegensatz zur nicht-psychologischen Deutung, wo der Traum so interpretiert wird, dass man bestimmte Symbole aus ihrem religiösen Kontext heraus versteht, befolgt unsere indische Quelle die Methode aller psychologischen Traumdeutung: Sie bringt den Traum mit der Persönlichkeit des Träumers in Beziehung. Ihre drei ersten Kategorien sind in Wirklichkeit nur eine, da sie sich alle auf das Temperament des Träumers beziehen - auf dessen psychische Eigenschaften, die in einer körperlichen Anlage begründet sind. Der Autor weist auf einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen Temperament und Trauminhalt hin, der in unserer gegenwärtigen Traumdeutung kaum Beachtung findet, obwohl es sich um einen wichtigen Aspekt der Traumdeutung handelt, wie weitere Forschungen zweifellos zeigen werden. Die von einem Gott gesandten Träume sind für ihn nur ein Traumtyp unter anderen. Er unterscheidet dann zwischen Träumen, die von den Gewohnheiten des Träumers beeinflusst sind, und solchen, die eine Voraussage enthalten. Unter Gewohnheiten versteht er vermutlich die in der Charakterstruktur des Betreffenden dominierenden Strebungen; unter die prognostischen Träume dürfte er die rechnen, die Ausdruck einer höheren Einsicht während des Schlafes sind.

Eines der ältesten Beispiele für die Auffassung, dass Träume entweder Ausdruck unserer vernünftigsten oder unserer unvernünftigsten Kräfte sein können, findet sich bei Homer. Er sagt, es gebe zwei verschiedene Tore für die Träume: das aus Horn für die Wahrheit, und das aus Elfenbein für Irrtum und Wahn (womit er sich auf die Durchsichtigkeit des Horns und die Undurchsichtigkeit des Elfenbeins bezieht). Man könnte diese zwei Möglichkeiten der Traumtätigkeit kaum klarer und knapper ausdrücken.

Sokrates war - wie Platon im Phaidon berichtet - der Auffassung, dass die Träume die Stimme des Gewissens repräsentieren und dass es von größter Wichtigkeit sei, diese Stimme ernst zu nehmen und zu befolgen. In einem Gespräch kurz vor seinem Tod bringt er diesen Standpunkt sehr klar zum Ausdruck:

Darauf nahm Kebes das Wort und sagte: Beim Zeus, Sokrates, das ist gut, dass du mich daran erinnerst. Denn nach deinen Gedichten, die du gemacht hast, indem du die Fabeln des Äsop in Verse gebracht, und nach dem Hymnus an den Apollon haben mich auch andere schon gefragt, und noch neulich Euenos, wie es doch zugehe, dass, seitdem du dich hier befindest, du Verse machest, da du es zuvor nie getan hast. Ist dir nun etwas daran gelegen, dass ich dem Euenos zu antworten weiß, wenn er mich wieder fragt, und ich weiß gewiss, das wird er: so sprich, was ich ihm sagen soll. - Sage ihm denn, sprach er, o Kebes, die Wahrheit, dass ich es nicht tue, um etwa gegen ihn und seine Gedichte aufzutreten, denn das wüsste ich wohl, wäre nicht leicht, sondern um zu versuchen, was wohl ein gewisser Traum meine, und mich vor Schaden zu hüten, wenn etwa dies die musische Tätigkeit sein sollte, die er mir anbefiehlt. Es war [IX-232] nämlich dieses: Es ist mir oft derselbe Traum vorgekommen in dem nun vergangenen Leben, der mir, bald in dieser, bald in jener Gestalt erscheinend, immer dasselbe sagte: Sokrates, sprach er, schaff und treibe musische Kunst! Und ich dachte zuerst, der Traum wolle mich zu dem ermuntern und antreiben, was ich schon tat, und wie man die Laufenden anzutreiben pflegt, so ermuntere mich auch der Traum zu dem, was ich schon tat, Musenkunst zu treiben, weil nämlich die Philosophie die vortrefflichste Musenkunst ist und ich diese doch trieb. Jetzt aber, seit das Urteil gefällt ist und das Fest des Gottes meinen Tod noch verschoben hat, dachte ich doch, ich müsse, falls etwa der Traum mir doch befähle, mich mit dieser volkstümlichen Musenkunst zu beschäftigen, auch dann nicht ungehorsam sein, sondern es tun. Denn es sei doch sicherer, nicht abzuscheiden, bis ich mein Gewissen beruhigt und Gedichte gemacht habe, um dem Traum zu gehorchen. So habe ich denn ein Gedicht auf den Gott gemacht, dem das gegenwärtige Opferfest galt, und nächst dem Gott habe ich in dem Gedanken, ein Dichter müsse, wenn er ein solcher sein wolle, Fabeln dichten und dürfe sich nicht in nüchterner Prosa ergehen, und weil ich selbst mich nicht auf Fabeln verstehe, die nächsten besten Fabeln des Äsop, die mir geläufig waren und die ich kannte, in Verse gebracht. Dies also, Kebes, sage dem Euenos, ich lasse ihm Lebewohl sagen, und wenn er verständig sei, soll er mir so bald als möglich nachkommen. Ich werde aber, wie es scheint, noch heute weggehen. Denn so wollen es die Athener. (Platon, 1931, S. 72 f.)

Ganz im Gegensatz zu Sokrates’ Auffassung ist die Theorie Platons eine fast wörtliche Vorausnahme von Freuds Traumtheorie (Platon, 1939, S. 298 f.):

(Sokrates:) „(...) Unter den entbehrlichen sinnlichen Genüssen und Trieben befinden sich einige, die verbrecherisch sind. Sie drohen, sich bei jedem bemerkbar zu machen. Werden sie aber durch die Gesetze und die edleren Triebe unter dem Beistand der Vernunft in Schranken gehalten, so verlieren sie sich bei manchen Menschen völlig oder sind doch nur gering an Zahl wie an Kraft; bei anderen ist ihre Zahl und Kraft größer.“

(Adeimantos:) „Was für Triebe meinst du damit?“

(Sokrates:) „Ich meine die, welche im Schlafe hervortreten. Der eine Teil der Seele, der vernünftige, gemäßigte Herr des anderen Teiles ruht; dieser andere aber, der tierische, ungebändigte, gekräftigt durch Speise und Trank, wird lebendig. (...) Du weißt, er ist dann zu allem fähig; alle Scham und Besinnung ist ihm abhanden gekommen. Er schrickt nicht davor zurück, in Gedanken die eigne Mutter zu umarmen, ebenso jeden anderen Menschen, jeden Gott, jedes Tier. Er begeht jeden Mord und genießt jede Speise, nach der es ihn gelüstet. Mit einem Wort, es gibt keine Torheit und Frechheit, die er nicht beginge.“

(Adeimantos:) „Das ist vollkommen wahr.“

(Sokrates:) „Anders ist es, wenn ein innerlich Gesunder und Besonnener nach Anregung und [IX-233] Stärkung seiner Vernunft durch gute Gespräche und Betrachtungen zur Ruhe geht. Er ist zur Selbstbesinnung gekommen und hat seine Triebe weder unbefriedigt gelassen, noch ihnen zu viel Nahrung gegeben. Sie sollen nun ruhen und dem edelsten Teile der Seele nicht beschwerlich fallen durch ihre Lust oder ihren Schmerz. Sie sollten ihn ungestört und unberührt nachdenken lassen, damit er seinem Verlangen nach neuen Erkenntnissen nachgehen kann, Erkenntnissen vergangener oder gegenwärtiger oder künftiger Dinge. Ebenso hat er seinen Willen beruhigt und ihn nicht durch zornige Wallungen aufgeregt. Diese beiden Teile hat er eingeschläfert, und den dritten, dessen Aufgabe das Denken ist, zum Leben erweckt. Wenn er sich so dem Schlafe hingibt, so findet er im Traume, wie du weißt, am besten die Wahrheit, und am wenigsten suchen ihn die verbrecherischen Träume heim.“

(Adeimantos:) „Meiner Meinung nach durchaus.“

(Sokrates:) „Wir haben uns zu weit führen lassen. Was wir uns klarmachen wollen, ist nur, dass in jedem Menschen, sogar in manchen von uns, die so maßvoll scheinen, ein arges, ungebändigtes, verbrecherisches Geschlecht von Trieben haust. Im Schlaf kommt das zutage. Ist das eine vernünftige Behauptung, mit der du dich einverstanden erklärst?“

(Adeimantos:) „Ja.“

Während Platon wie Freud die Träume als Ausdruck unserer irrationalen Triebnatur ansieht, nimmt er doch eine Qualifikation vor, die diese Interpretation in gewissem Maß wieder einschränkt. Er nimmt an, dass der Schläfer, wenn er in einer ruhigen, friedlichen inneren Stimmung einschläft, am wenigsten von irrationalen Träumen heimgesucht wird. Man darf diese Auffassung jedoch nicht mit der dualistischen Interpretation verwechseln, dass die Träume Ausdruck sowohl unserer irrationalen wie auch unserer rationalen Natur seien; für Platon sind sie im wesentlichen Ausdruck des Wilden und Schrecklichen in uns, und nur bei Menschen, welche die höchste Reife und Weisheit erlangt haben, ist dies weniger der Fall.

Aristoteles betont die rationale Seite der Träume. Er nimmt an, dass wir im Schlaf eine verfeinerte Wahrnehmungsgabe für subtile körperliche Vorgänge haben und dass wir uns außerdem mit Plänen und Verhaltensmaßregeln beschäftigen, die wir klarer erkennen als tagsüber. Er nimmt allerdings nicht an, dass alle Träume bedeutungsvoll sind, sondern dass viele rein zufällig zustande kommen und es nicht verdienen, dass man ihnen prognostische Funktionen zuschreibe. Der folgende Abschnitt aus den Parva naturalia, der Über Weissagung durch Träume handelt (Aristoteles, 1953, S. 104-106), zeigt deutlich seinen Standpunkt:

Die Träume müssten entweder Ursachen der Ereignisse sein oder Anzeichen oder mit ihnen zusammenfallen, sei es alles dies auf einmal oder nur einiges oder eines davon. Unter Ursache verstehe ich z.B. den Mond für die Sonnenfinsternis und die Anstrengung für die Erhitzung, unter Anzeichen der Verfinsterung, dass das Gestirn in die Sonnenscheibe eindringt, oder die belegte Zunge für das Fieber, unter [IX-234] Zusammentreffen, dass während eines Spazierganges die Sonnenfinsternis eintritt; dies letzte ist ja weder ein Anzeichen für die Verfinsterung noch eine Ursache, auch die Verfinsterung nicht für den Spaziergang. Daher findet ein Zusammentreffen weder immer noch auch nur meistens statt.

Sind nun die Träume teils Ursachen, teils Anzeichen, z.B. etwa für körperliche Vorgänge? Jedenfalls gibt es tüchtige Ärzte, die behaupten, man müsse sehr auf die Träume achten. Und diese Auffassung empfiehlt sich auch für Nichtfachleute, die auf Erkenntnis und Weisheit aus sind.

Die tagsüber verlaufenden Bewegungen nämlich bleiben, wenn sie nicht nachhaltig und stark genug sind, neben größeren Bewegungen des Wachseins verborgen. Im Schlaf dagegen ist es umgekehrt, da erscheinen auch die kleinen groß, wie man häufig aus den Vorgängen beim Schlaf erkennt: man glaubt, es habe gepoltert und gedonnert, wenn nur ein kleiner Nachhall im Ohre ist, und man glaubt, Honig und süßen Geschmack auf der Zunge zu haben, wenn nur ein Tröpfchen Speichel herabrinnt, und durch Feuer zu waten und zu verbrennen, wenn nur eine kleine Erwärmung an irgendeiner Stelle eintritt. Wird man wach, dann entpuppt es sich so. Da also aller Dinge Anfang geringfügig ist, so ist begreiflich, dass es auch bei Krankheiten und andern körperlichen Leiden, die sich anbahnen, so ist. Man sieht also, dass diese in den Schlafzuständen sich eher bemerkbar machen müssen, als im Wachen. Aber auch das ist nicht unwahrscheinlich, dass manche Erscheinungen im Schlaf sogar Ursache sind für die besonderen Vorgänge in einem Körper. Denn wie man oft in den Traum hinein verfolgt wird von dem, was man vorhat oder womit man beschäftigt ist oder was man eben getan hat - der Grund ist, dass die Bahn für solche Bewegungen durch das am Tage Begonnene vorbereitet ist -, so müssen ja umgekehrt oft auch die im Schlaf erfolgenden Bewegungen die Ursache sein für die Handlungen des Tages, weil nun wieder für sie die Bahn des Nachdenkens frei gemacht ist durch die nächtlichen Vorstellungsbilder. Auf diese Weise können manche von den Träumen Ursachen und Anzeichen sein. Aber die meisten sind doch einem Zusammentreffen gleich zu achten, besonders alle überschwänglichen und solche, deren Inhalt man nicht selbst in der Hand hat, wenn man z.B. von einer Seeschlacht träumt und von weit entfernten Dingen. Hiermit wird es sich so verhalten, wie wenn etwas gerade dann eintritt, wenn man daran denkt. Warum soll dies nicht auch für die Vorgänge beim Schlafen gelten? Ja, es ist nur natürlich, dass viel derartiges sich ereignet. So wenig also, wie man die Erinnerung als Ursache oder Anzeichen für die Ankunft des Freundes auffasst, ist auch der Traum für das, was sich am Träumenden erfüllt, Ursache oder Anzeichen, sondern nur ein Zusammentreffen. Daher gehen viele Träume nicht in Erfüllung, weil Zusammentreffen weder immer noch auch nur meist erfolgen.

Die Traumauffassung der Römer hält sich ziemlich eng an die in Griechenland entwickelten Theorien, doch erreicht sie nicht immer die Klarheit und Tiefe der Einsicht, die wir bei Platon und Aristoteles antreffen. Lukrez kommt in seinem Werk De rerum natura (1960, Verse 962-986) der Freudschen Theorie von der Wunscherfüllung nahe, wenn er auch die Irrationalität dieser Wünsche nicht so stark wie Freud hervorhebt. Er stellt fest, dass unsere Träume sich mit Dingen befassen, für die wir uns [IX-235] tagsüber interessieren, oder auch mit körperlichen Bedürfnissen, die im Traum befriedigt werden:

Welchem Geschäfte man nun im Geist am eifrigsten obliegt,
Oder wobei sich zuvor das Gemüt am meisten verweilt hat,
Sich der Verstand darauf mit strengerem Fleiße verwendet,
Ebendasselbe kömmt gewöhnlich uns wieder im Traum vor.
Rechtsgelehrte verfassen Gesetz’ und führen Prozesse;
Feldherrn ordnen das Heer und liefern blutige Schlachten;
Schiffer führen den Kampf, den sie mit den Winden beschlossen;
Und ich treibe nun dies und forsche der Dinge Natur nach,
Lege dann, was ich erforscht, im vaterländischen Vers dar.

Also scheinen im Schlaf’ auch andere Künst’ und Geschäfte
Immer des Menschen Gemüt mit spielender Täuschung zu halten.
Mancher, welcher mit Fleiß das Schauspiel mehrere Tage
Hintereinander besucht, und sind die Dinge nun nicht mehr
Ihm vor Augen, so bleiben im Geist doch offen die Wege,
Ebendieselbigen Bilder zu diesem gelangen zu lassen.
Und so schweben sie noch ihm mehrere Tage vor Augen,
Dass er wachend sogar die Tanzenden sieht, wie die weichen
Glieder sie regen; das schmelzende Lied zur Zither, der Saiten
Sprechende Töne glaubt mit dem Ohr zu vernehmen, und jenen
Kreis der Versammlung zu sehn und den Reiz des bunten Theaters.
So viel lieget am Fleiß und an der beharrlichen Neigung,
Und in welcher Beschäftigung man sich zu üben gewöhnt hat;
Nicht bei den Menschen allein, auch selbst bei der Tiere Geschlechtern.

Eine systematische Traumtheorie hat uns Artemidor von Daldis in seinem Traumbuch hinterlassen. Er lebte im zweiten Jahrhundert und hatte mit seiner Schrift einen großen Einfluss auf die Ansichten des Mittelalters. Nach ihm gibt es fünf verschiedene Kategorien von Traumgebilden: der Traum, das Traumgesicht, das Orakel, das Phantasma (oder die pure Einbildung) und die Vision.[12] „Traum“ wird genannt, was die „Zustände der Gegenwart enthüllt“ (Artemidor von Daldis, 1979, S. 9); hierzu gehört etwa Josefs Deutung von Pharaos Traum, dass die sieben mageren Kühe die sieben fetten verschlingen werden, oder etwa der Traum von den Kornähren. Das „Traumgesicht“ enthüllt die Zukunft: Es „wirkt als Schlaferleben in der Weise, dass es die Aufmerksamkeit des Träumenden auf die Vorhersage der Zukunft lenkt“ (Artemidor von Daldis, 1979, S. 10); so etwa widerfuhr es Vespasian, als er den Chirurgen sah, der Heros den Zahn zog. Ein „Orakel“ ist eine Offenbarung oder Verkündigung, die uns im Schlaf durch einen Engel oder Heiligen zuteil wird, damit wir Gottes Willen ihrer Mitteilung gemäß erfüllen; so etwa geschah es Josef, dem Mann der Heiligen Jungfrau, und den drei Weisen. Das „Phantasma“, das wie der Traum „für die Voraussage der [IX-236] Zukunft bedeutungslos ist“ (Artemidor von Daldis, 1979, S. 12), kommt so zustande: „Es gibt gewisse Affekte, die so geartet sind, dass sie im Schlaf wieder emporsteigen, sich der Seele wieder darbieten und Träume hervorrufen“ (Artemidor von Daldis, 1979, S. 9). Wir stellen uns also nachts im Phantasma das wieder vor, womit wir am Tage beschäftigt waren. „So träumt zum Beispiel der Liebhaber zwangsläufig von einem Zusammensein mit seinem Lieblingsknaben“ (Artemidor von Daldis, 1979, S. 9); oder es träumt jemand, der den ganzen Tag über gefastet hat, nachts davon, dass er isst; oder es träumt einer, der tagsüber durstig war, nachts vom Trinken und ist darüber höchst erfreut. Und der Geizhals und Wucherer träumt von Geldsäcken, ja er pflegt gar davon im Schlafe zu sprechen. Schließlich gibt es die „Vision“, die Schwache und Greise nachts heimsucht, wenn diese sich einbilden, ein Schreckgespenst nähere sich ihnen, um ihnen Angst einzujagen oder um ihnen wehzutun.

Wie wir sehen, nimmt Artemidor von Daldis an, dass das, was er als „Traum“ bezeichnet, eine in symbolischer Sprache ausgedrückte Einsicht ist. Der Traum des Pharao ist für ihn kein von Gott gesandtes Traumgesicht, sondern symbolischer Ausdruck dessen eigener rationaler Einsicht. Er behauptet, es gäbe auch Träume, in denen ein Engel Gottes Willen offenbare, doch diese bezeichnet er als „Orakel“. Das Traumgebilde, in dem sich unsere irrationalen Wünsche artikulieren, wird der Kategorie des Traums zugerechnet, und er bezeichnet dabei den Traum, auf den Platons und Freuds Deutung zutrifft, als Phantasma (oder pure Einbildung). Angstträume, die er „Visionen“ nennt, erklärt er mit dem besonderen Zustand von schwachen Kindern und alten Menschen. Artemidor von Daldis weist ausdrücklich darauf hin, dass es keine allgemeingültigen Regeln für die Traumdeutung gebe und dass man die Träume auch nicht für alle gleichermaßen zufriedenstellend deuten könne, da sie oft je nach Zeit und Person unterschiedlich zu deuten seien.

Unser Bild von der Traumdeutung der Römer wäre unvollständig, wenn wir nicht auch die Stimme eines reinen Skeptikers zu Wort kommen ließen. In seinem Gedicht Über die Weissagung formulierte Cicero (1947):

Träume verdienen keinerlei Glauben oder Beachtung. Wenn also Träume nicht von Gott kommen und es keine Dinge in der Natur gibt, zu denen sie in einer unabänderlichen Wechselwirkung und Beziehung stehen, und wenn es unmöglich ist, durch Versuche und Beobachtung zu einer sicheren Deutung derselben zu gelangen, so ist die Folge, dass sie keinerlei Glauben noch Beachtung verdienen (...) Lehnen wir es deshalb ab, an die Weissagung von Träumen, wie auch an Weissagungen jeder anderen Art zu glauben. Denn, um die Wahrheit zu sagen, hat dieser Aberglaube, der bei allen Völkern Verbreitung gefunden hat, die geistigen Kräfte aller Menschen beeinträchtigt und sie zu endlosen Torheiten verleitet.

Im Talmud wird von einer etwa in die gleiche Zeit zurückreichenden, kunstvoll ausgearbeiteten Theorie der Traumdeutung berichtet. Die Tatsache, dass es nach dem Talmud zur Zeit Jesu in Jerusalem 24 Traumdeuter gab, weist darauf hin, welche Rolle die Traumdeutung spielte. „Rabbi Chisda sagte: Jeder Traum bedeutet etwas, ausgenommen ein solcher, der durch Fasten kommt. Ferner sagte Rabbi Chisda: Ein ungedeuteter Traum gleicht einem ungelesenen Brief“ (Talmud, Berachot 55a). Diese Behauptung formuliert eine Einstellung, wie sie Freud mit ähnlichen Worten fast zweitausend Jahre später verkündet hat: dass alle Träume ausnahmslos [IX-237] eine Bedeutung haben, dass sie wichtige Mitteilungen an uns selbst sind und dass wir es uns nicht leisten könnten, ihre Deutung zu unterlassen. Rabbi Chisda fügt noch eine wichtige Einschränkung hinzu, indem er bei seiner psychologischen Traumdeutung besonders auf die durch Fasten hervorgerufenen Träume hinweist. Diese Einschränkung bedeutet allgemeiner ausgedrückt, dass die durch starke körperlich-somatische Reize hervorgerufenen Träume die einzige Ausnahme von der Regel sind, dass die Träume seelische Ursachen haben.

Die talmudischen Autoren nahmen an, dass gewisse Arten von Träumen Voraussagen enthielten. Rabbi Jochanan sagte: „Drei Träume gehen in Erfüllung: ein Morgentraum, ein Traum, den sein Genosse über ihn träumte, und ein Traum, der im Traum selbst gedeutet wurde. Manche sagen: Auch ein Traum, der sich wiederholt hat, wird sich bewahrheiten“ (Talmud, Berachot 55b).

Wenn für diese Behauptung auch keine Gründe angegeben werden, so sind diese doch nicht schwer zu entdecken. Der Schlaf am Morgen ist weniger tief als der in den ersten Stunden der Nacht, und der Schläfer ist daher seinem wachen Bewusstsein näher. Offenbar nimmt Rabbi Jochanan an, dass in diesem Schlafzustand das vernünftige Urteilsvermögen den Traumprozess beeinflusst, wodurch wir die Möglichkeit zu einer klareren Einsicht in die Kräfte haben, die in uns oder in anderen am Werk sind, und deshalb zukünftige Ereignisse voraussehen können. Die Annahme, dass ein Traum, den ein anderer über uns träumt, sich bewahrheitet, dürfte sich auf die Idee gründen, dass andere uns oft besser beurteilen können als wir selbst und dass im Schlafzustand ihre Einsicht in uns besonders deutlich ist, weshalb sie Voraussagen ermöglicht. Die Überlegung, die der Theorie zugrunde liegt, dass Träume sich bewahrheiten, die von einem anderen Traum gedeutet werden, ist vermutlich, dass wir im Schlafzustand zu intuitiven Einsichten fähig sind, die uns erlauben, einen Traum dadurch zu deuten, dass wir seine „Deutung“ träumen. Neuere Experimente mit der Trauminterpretation unter Hypnose scheinen diese Ansicht zu bestätigen. Als man Versuchspersonen unter Hypnose aufforderte, verschiedene Träume zu deuten, lieferten sie ohne Zögern eine sinnvolle Interpretation der im Traum verwendeten symbolischen Sprache. Als sie nicht mehr unter Hypnose standen, erschienen ihnen dieselben Träume völlig sinnlos. Diese Experimente deuten darauf hin, dass wir alle die Gabe besitzen, die symbolische Sprache zu verstehen, dass aber dieses Wissen nur in jenem unkontrollierten Zustand wirksam wird, der durch die Hypnose erzeugt wird. Unser talmudischer Autor steht auf dem Standpunkt, dass das Gleiche auch für den Schlafzustand gilt, dass wir im Schlaf die Bedeutung eines anderen Traumes verstehen und ihn richtig auslegen können. Darüber, dass der sich wiederholende Traum eine besondere Bedeutung besitzt, besteht kaum ein Zweifel. Viele heutige Psychologen haben die Beobachtung gemacht, dass ein Traum, den jemand wiederholt träumt, wichtige Lebensfragen des Betreffenden zum Ausdruck bringt. Wenn dann jemand dazu neigt, sich immer wieder einem solchen Leitmotiv entsprechend zu verhalten, kann man sagen, dass derartige sich wiederholende Träume oft zukünftige Ereignisse im Leben des Betreffenden voraussagen.

Von besonderem Interesse ist die talmudische Deutung von Symbolen. Sie folgt der Methode Freuds, zum Beispiel bei der Deutung eines Traumes, dass jemand einen [IX-238] Ölbaum mit Olivenöl begießt. (Vgl. Talmud, Berachot 55b.) Die Deutung lautet, der Traum symbolisiere einen Inzest. In einem Traum, in dem der Träumer sieht, wie seine Augen sich küssen, bedeutet dieses Symbol Geschlechtsverkehr mit der Schwester. Aber während den an sich nicht-sexuellen Symbolen eine sexuelle Bedeutung beigemessen wird, werden ausgesprochen sexuelle Symbole interpretiert, als ob sie etwas Nicht-Sexuelles bedeuteten. So sagt unsere talmudische Quelle, ein Traum, in dem jemand Geschlechtsverkehr mit seiner Mutter habe, bedeute, dass er hoffen könne, großer Weisheit teilhaftig zu werden. Oder jemand, der von sexuellen Beziehungen mit einer verheirateten Frau träumt, kann sich seiner eigenen Erlösung sicher sein. Die talmudische Deutung gründet sich offenbar auf den Gedanken, dass ein Symbol stets etwas anderes bedeutet und dass deshalb ein Symbol, das an und für sich sexueller Natur ist, etwas anderes bedeuten muss als seine manifeste Bedeutung aussagt. Dabei wird jedoch eine interessante Einschränkung gemacht. Ein Mann, der träumt, er habe mit einer verheirateten Frau Geschlechtsverkehr gehabt, kann seiner Erlösung nur dann sicher sein, wenn er die Frau aus dem Traum zuvor nicht gekannt hat und wenn er beim Einschlafen keine sexuellen Begierden hatte. (Vgl. Talmud, Berachot 55b.) Wir sehen hier, welche Bedeutung der Talmud dem Seelenzustand des Träumers vor dem Einschlafen beimisst. Wenn er sexuelle Wünsche hatte oder wenn er die Frau, von der er träumt, auch nur beiläufig kennt, ist anzunehmen, dass dann die allgemeine Regel, wonach ein Symbol etwas anderes repräsentiert, nicht gilt, und dass hier in der sexuellen Symbolik tatsächlich ein sexueller Wunsch zum Ausdruck kommt.

Die mittelalterliche Traumdeutung folgt ziemlich genau der Richtung, die wir in der klassischen Antike angetroffen haben. Synesius von Cyrene, ein Schriftsteller des vierten Jahrhunderts, hat uns eine der präzisesten und schönsten Darstellungen der Theorie hinterlassen, dass Träume auf eine erhöhte Fähigkeit zur Einsicht während des Schlafes zurückzuführen sind:

Wenn Träume die Zukunft voraussagen, wenn Erscheinungen, die sich während des Schlafes der Seele darbieten, einige Indizien geben, nach denen man Zukünftiges vorausahnen kann - dann werden Träume gleichzeitig wahr und dunkel sein, und selbst in ihrer Dunkelheit wird noch die Wahrheit wohnen. „Die Götter haben das menschliche Leben mit einem dichten Schleier verhüllt“ (Hesiod).

Ich wundere mich nicht darüber, dass manche die Auffindung eines Schatzes dem Schlaf verdanken und dass manch einer ganz unwissend sich schlafen gelegt hat und dann - nachdem er im Traum ein Gespräch mit den Musen geführt hat - als begabter Dichter aufwacht, was zu meiner Zeit manchen geschehen ist und woran nichts Merkwürdiges ist. Ich spreche nicht von Menschen, denen im Schlaf eine drohende Gefahr oder ein Mittel angekündigt wurde, das ihnen Heilung bringen würde. Aber wenn der Schlaf der Seele, die dies zuvor weder erstrebt noch an den Aufstieg in die intellektuelle Sphäre gedacht hat, den Weg zu einer höchst vollkommenen Einsicht in die Wahrheit eröffnet und sie dazu veranlasst, sich über die Natur zu erheben und sich mit der intelligiblen Sphäre aufs Neue zu vereinigen, von der sie sich so weit entfernt hat, dass sie nicht einmal mehr weiß, woher sie kam, dann ist dies meiner Meinung nach höchst wunderbar und dunkel. [IX-239]

Wenn jemand es als etwas Außergewöhnliches ansieht, dass die Seele so zu den höheren Regionen emporsteigen kann, und wenn er nicht glauben will, dass der Weg zu dieser glückseligen Vereinigung über die Einbildungskraft geht, dann möge er auf die heiligen Orakel hören, wenn sie über die verschiedenen Wege sprechen, die in die höhere Sphäre führen. Nach Aufzählung der verschiedenen subsidia, die der Seele zum Aufstieg verhelfen, indem sie ihre Kräfte wecken und entwickeln, sagen sie:

„Durch Belehrung werden die einen aufgeklärt,
Durch Schlaf die anderen erleuchtet“ (Sybillinische Orakel).

Du siehst, dass das Orakel folgendermaßen unterscheidet: einerseits haben wir die Inspiration und andererseits das Studium. Letzteres ist - so sagt das Orakel - Belehrung im Wachen, ersteres im Schlaf. Im Wachen ist der Lehrer stets ein Mensch, aber wenn wir schlafen, kommt uns die Erkenntnis von Gott (...) Die Erleuchtung im Traum ist so beschaffen, dass sie jedermann erreichbar ist. Sie ist leicht verständlich und erfordert keine besondere Geschicklichkeit. Sie ist heilig, weil sie sich keiner gewalttätigen Methoden bedient, und kann überall angewandt werden. Sie kommt aus ohne Quellen, Felsen und Klüfte und ist deshalb das, was wahrhaft göttlich ist. Zu ihrer Anwendung brauchen wir unsere Beschäftigungen nicht zu vernachlässigen und keinen Augenblick unseren Geschäften zu schaden (...) Niemand wird angehalten, seine Arbeit liegen zu lassen und schlafen zu gehen, insbesondere um zu träumen. Aber da unser Körper lange Nachtwachen nicht aushält, bringt uns die Zeit, welche die Natur uns zum Ausruhen vorbehalten hat, zusammen mit dem Schlaf noch eine noch kostbarere Beigabe, als es der Schlaf selber ist: Das Bedürfnis unserer Natur wird zu einer Quelle der Freude, und wir schlafen nicht nur um zu leben, sondern um zu lernen, ein gutes Leben zu führen (...) Doch ist in der Zukunftsschau durch Träume jeder von uns sein eigenes Werkzeug; was wir auch immer tun mögen, wir können uns nicht von unserem Orakel trennen; es wohnt in uns; es folgt uns überall hin nach, auf unseren Reisen in den Krieg, ins öffentliche Leben, in unsere landwirtschaftlichen Beschäftigungen und unsere kaufmännischen Unternehmungen. Die Gesetze einer argwöhnischen Republik untersagen diese Vorausschau zukünftiger Ereignisse nicht. Aber selbst wenn sie es täten, könnten sie doch nichts damit ausrichten: denn wie könnte man eine Übertretung dieser Gesetze nachweisen? Was ist am Schlaf Schlimmes? Kein Tyrann kann ein Edikt gegen Träume erlassen und noch weniger in seinem Herrschaftsbereich den Schlaf untersagen. Es wäre Narrheit, das Unmögliche zu gebieten, und außerdem Gottlosigkeit, wenn man sich dem Willen der Natur und Gottes widersetzen würde.

So wollen wir uns denn alle der Traumdeutung widmen, Mann und Frau, jung und alt, reich und arm, private Bürger und öffentliche Beamte, Stadt- und Landbewohner, Handwerker und Redner. Niemand genießt dabei besondere Vorrechte, weder auf Grund seines Geschlechts noch seines Alters noch seines Vermögens noch seines Berufes. Der Schlaf steht allen zur Verfügung; er ist ein Orakel, das stets bereit ist, uns ein unfehlbarer und stiller Ratgeber zu sein; in diesen neuartigen Mysterien ist jeder zugleich Priester und Eingeweihter. Genau wie die Weissagung kündigt es uns künftige Freuden an, und da es uns gleichsam ermöglicht, das Glück im Voraus zu genießen, verleiht es unseren Freuden eine längere Dauer; auch warnt es uns vor [IX-240] drohendem Missgeschick, sodass wir auf der Hut sein können. Die lieblichen Verheißungen der Hoffnung, die dem Menschen so teuer sind, die weitreichenden Berechnungen drohender Gefahren, all das wird uns durch unsere Träume zuteil. Nichts ist besser dazu geeignet, unsere Hoffnung zu nähren. Dieses Gut ist so groß und kostbar, dass wir - wie einer der berühmtesten Sophisten einmal gesagt hat - ohne es das Leben nicht ertragen könnten. (Synesius von Cyrene, 1947)

Dem von Synesius vertretenen Standpunkt ähnlich sind die Traumtheorien der jüdischen Aristoteliker im zwölften und dreizehnten Jahrhundert. Maimonides, der größte unter ihnen, stellt fest, dass die Träume - genau wie die Prophezeiungen - auf die Tätigkeit der imaginativen Fähigkeit während des Schlafes zurückzuführen sind:

Je nachdem, ob der Empfänger der Offenbarung sie rein oder getrübt aufzunehmen vermag und ob sein Denkvermögen stärker oder schwächer entwickelt ist, ist er selbst imstande, den geistigen Gehalt aus der sinnlichen Verhüllung abzulösen oder bedarf dazu der Hilfe eines vom Intellekt erleuchteten Deuters. (J. Guttmann, 1933, S. 101.)

Thomas von Aquin unterscheidet vier Arten von Träumen:

Wie schon dargelegt ist die Weissagung, die sich auf eine falsche Meinung stützt, abergläubisch und unerlaubt. Daher muss bedacht werden, was in Bezug auf das Vorausahnen zukünftiger Dinge aus Träumen wahr ist. Manchmal nämlich sind Träume die Ursache zukünftiger Ereignisse: Wenn zum Beispiel der Geist eines Menschen über das, was er in Träumen schaut, erregt ist, wird er veranlasst, etwas zu unternehmen oder etwas zu meiden.

Manchmal sind Träume Zeichen für zukünftige Ereignisse, insoweit diese Zeichen zurückgeführt werden (können) auf eine gemeinsame Ursache, sowohl für die Träume als auch für die zukünftigen Ereignisse. Auf diese Weise kommen am häufigsten Vorausahnungen zukünftiger Ereignisse aus Träumen zustande. Es muss daher überlegt werden, was die Ursache von Träumen ist, und ob es möglich ist, dass diese Ursache auch die Ursache zukünftiger Ereignisse sein könne, und ob man diese Ursache erkennen kann.

Man muss deshalb wissen, dass die Ursache von Träumen bisweilen eine innere, bisweilen eine äußere ist. Die innere Ursache der Träume ist eine zweifache. Eine davon ist seelischer Natur: insoweit nämlich im Schlaf der menschlichen Phantasie solche Dinge einfallen, bei denen das Denken und die Neigung im Wachzustand verweilt hatten. Eine solche Traumursache ist nicht Ursache zukünftiger Ereignisse. Daher haben solche Träume nur ein Verhältnis beiläufiger Art zu zukünftigen Ereignissen; und wenn Traum und Ereignis manchmal übereinstimmen, so ist das Zufall.

Manchmal aber ist die innere Ursache der Träume körperlicher Art. Aus einer inneren Disposition des Körpers bildet sich dann eine Bewegung in der Phantasie, die dieser Disposition entspricht: so wie sich bei einem Menschen, in dem die kalten Säfte überwiegen, Träume einstellen, er befinde sich im Wasser oder im Schnee. Daher lehren die Ärzte, es müsse auf die Träume geachtet werden, wenn man die inneren Dispositionen kennen lernen wolle.

Die äußere Ursache von Träumen ist gleichermaßen zweifach: nämlich körperlich und geistig. Körperlich ist sie, insoweit das Vorstellungsvermögen eines Schlafenden [IX-241] entweder von eingeschlossener Luft verändert wird oder durch den Einfluss eines Himmelskörpers, sodass dadurch einem Schläfer irgendwelche Phantasiebilder erscheinen, die dem Stand der Himmelskörper gleichförmig sind.

Die geistige Ursache aber stammt manchmal von Gott, der durch die Hilfe der Engel dem Menschen irgendwelche Dinge in Träumen offenbart, nach jenem Wort (Num 12,6): „Wenn es bei euch einen Propheten gibt, so gebe ich mich ihm in Visionen zu erkennen und rede mit ihm im Traum.“ Manchmal jedoch erscheinen durch die Tätigkeit von Dämonen den Schlafenden irgendwelche Phantasiebilder. Durch diese offenbaren die Dämonen manchmal denen zukünftige Dinge, mit denen sie unerlaubte Pakte geschlossen haben.

Deshalb ist zu sagen: Wenn jemand Träume benutzt, um zukünftige Dinge in Erfahrung zu bringen, dann ist es keine unerlaubte Weissagung, wenn diese Träume aus göttlicher Offenbarung stammen; ebenso wenig bei einer natürlichen Ursache, sei sie innerlich oder äußerlich, wie weit sich eben die Kraft einer solchen Ursache erstrecken kann. Wenn aber eine derartige Weissagung verursacht wird aus einer Offenbarung durch Dämonen, mit denen Pakte geschlossen wurden - seien diese deutlich ausgehandelt, weil die Dämonen zu diesem Zweck angerufen werden, oder seien es stillschweigende Pakte, weil eine derartige Weissagung ausgedehnt wird auf Dinge, auf die sie sich nicht erstrecken kann - dann ist eine solche Weissagung unerlaubt und abergläubisch. - Dies genügt als Entgegnung auf die Einwände. (Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-II, q. 95, a. 6; Übersetzung Christoph Berchtold).

Thomas von Aquin glaubte - wie Artemidorus und andere - dass manche Träume von Gott gesandt sind. Die Träume, die er als aus der eigenen Seele des Träumers entstammend interpretiert, versteht er nicht wie Maimonides als Ausdruck der höchsten intellektuellen Fähigkeiten, sondern als Produkte der Phantasie des Träumers, der sich mit den gleichen Wünschen und Interessen beschäftigt wie tagsüber. Interessant ist, dass Thomas von Aquin genau wie die indischen und griechischen Denker der Ansicht ist, dass gewisse somatische Prozesse durch die Traumsymbole angezeigt werden und dass innere körperliche Dispositionen durch die Deutung von Träumen zu erkennen sind.

Die neuere Traumdeutung (seit dem siebzehnten Jahrhundert) ist im wesentlichen eine Variation der Theorien der Antike und des Mittelalters, wenn auch gewisse neue Denkrichtungen auftauchen.

Während die Theorie, dass Träume Ausdruck somatischer Dispositionen sein können, von mehreren älteren Autoren vertreten wird, nimmt Hobbes an, dass sämtliche Träume durch somatische Reize hervorgerufen werden, eine bis zum heutigen Tage weit verbreitete Auffassung, die oft zur Widerlegung Freuds herangezogen wird:

Weil indes die Entstehung der Träume in der Unbehaglichkeit einiger innerer Teile des Körpers ihren Grund haben soll, werden notwendig, je nachdem sie verschieden ist, auch verschiedene Träume entstehen. Daher kommt es, dass diejenigen, welche auf dem Lager Kälte empfinden, gewöhnlich fürchterliche Träume haben und Schreckbilder zu erblicken glauben (denn die Bewegung vom Gehirn zu den übrigen inneren Teilen geht von hier aus zu jenem wieder zurück). So wie auch ferner der Zorn im Wachen einige innere Teile erhitzt, bewirkt die Erhitzung dieser Teile im [IX-242] Schlafe den Zorn und schafft im Gehirn das Bild eines Feindes. Und wie der Anblick von Liebenden im Wachen Liebe erzeugt und einige innere Teile erhitzt, so bringt gleichfalls die Erhitzung dieser Teile im Schlafe das Bild der Liebe hervor. Mit einem Worte: die Träume und Vorstellungen eines Wachenden sind umgekehrt miteinander verbunden; beim Wachen nämlich entsteht die Bewegung im Gehirn, beim Schlafe hingegen in den inneren Teilen. (Th. Hobbes, 1951, S. 17 f.)

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Philosophen der Aufklärung allen Behauptungen, die Träume seien von Gott gesandt oder könnten zu Voraussagen gebraucht werden, skeptisch gegenüberstanden.

Voltaire bezeichnet die Idee, Träume könnten Zukünftiges voraussagen, als abergläubischen Unsinn. Aber trotz dieser Auffassung vertritt er die Ansicht, dass die Träume zwar oft Ausdruck körperlicher Reize und Folge von Exzessen „in Bezug auf die Leidenschaften der Seele“ seien, dass wir aber uns im Schlaf auch oft unserer höchsten rationalen Fähigkeiten bedienen:

Wir müssen Petronius beipflichten, wenn er sagt: quidquid luce, tenebris agit. Ich habe Advokaten gekannt, die in Träumen ihre Plädoyers hielten, Mathematiker, die Probleme zu lösen versuchten, und Dichter, die Verse machten. Auch ich selber habe Verse gemacht, die ganz leidlich sind. Deshalb findet im Schlaf genau wie im Wachen unbestreitbar ein folgerichtiger Gedankenablauf statt, und diese Ideen kommen uns sicherlich ohne unser Zutun. Wir denken im Schlaf, so wie wir uns im Bett bewegen, ohne dass unser Wille mit der Bewegung oder dem Denken irgend etwas zu tun hätte. Euer Vater Malebranche hat recht, wenn er behauptet, dass wir nicht in der Lage seien, uns unsere Einfälle selber zu geben. Denn weshalb sollten wir im Wachen mehr Herr darüber sein als während des Schlafes? (Voltaire, 1973)

Kants Traumtheorie ist der Voltaires ähnlich. Auch er glaubte, dass wir in unseren Träumen keine Visionen und heilige Eingebungen haben. Unsere Träume werden „einfach durch einen verdorbenen Magen verursacht“. Aber er behauptet auch folgendes:

Ich vermute vielmehr, dass dieselben (Vorstellungen) klärer und ausgebreiteter sein mögen, als selbst die kläresten im Wachen, weil dieses bei der völligen Ruhe äußerer Sinne von einem so tätigen Wesen als die Seele ist, zu erwarten ist, wiewohl, da der Körper des Menschen zu der Zeit nicht mit empfunden ist, beim Erwachen die begleitende Idee desselben ermangelt, welche den vorigen Zustand der Gedanken als zu ebenderselben Person gehörig zum Bewusstsein verhelfen könnte. Die Handlungen einiger Schlafwanderer, welche bisweilen in solchem Zustand mehr Verstand als sonsten zeigen, ob sie gleich nichts davon beim Erwachen erinnern, bestätigen die Möglichkeit dessen, was ich vom festen Schlafe vermute. Die Träume dagegen, das ist, die Vorstellungen des Schlafenden, deren er sich beim Erwachen erinnert, gehören nicht hierher. Denn alsdenn schläft der Mensch nicht völlig; er empfindet in einem gewissen Grade klar und webt seine Geisteshandlungen in die Eindrücke der äußeren Sinne. Daher er sich ihrer zum Teil nachhero erinnert, aber auch an ihnen lauter wilde und abgeschmackte Chimären antrifft, wie sie es denn notwendig sein müssen, da in ihnen Ideen der Phantasie und die der äußeren Empfindung untereinander geworfen werden. (I. Kant, 1922, S. 353.) [IX-243]

Auch Goethe hebt unsere im Schlaf gesteigerten rationalen Fähigkeiten hervor. Als Eckermann ihm einmal einen „recht artigen“ Traum erzählte, den er geträumt hatte, sagte Goethe:

Man sieht (...), dass die Musen Sie auch im Schlaf besuchen, und zwar mit besonderer Gunst; denn Sie werden gestehen, dass es Ihnen im wachen Zustande schwer werden würde, etwas so Eigentümliches und Hübsches zu erfinden. „Nicht nur ist unsere Einbildungskraft im Schlaf größer als im wachen Dasein, das uns angeborene Streben nach Gesundheit und Glück macht sich in unserem Schlaf oft stärker geltend, als wenn wir wach sind: „Es liegen in der menschlichen Natur wunderbare Kräfte“ erwiderte Goethe, „und eben, wenn wir es am wenigsten hoffen, hat sie etwas Gutes für uns in Bereitschaft. - Ich habe in meinem Leben Zeiten gehabt, wo ich mit Tränen einschlief; aber in meinen Träumen kamen nun die lieblichsten Gestalten, mich zu trösten und zu beglücken, und ich stand am anderen Morgen wieder frisch und froh auf den Füßen. (J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe, 12. März 1828.)

Eine der schönsten und prägnantesten Aussagen über die höhere Vernunft unserer seelischen Prozesse im Schlaf stammt von R. W. Emerson:

Träume besitzen eine dichterische Integrität und Wahrheit. In dieser Rumpelkammer und Abfallgrube des Denkens herrscht auch eine gewisse Vernunft. Ihre Abweichung von der Natur vollzieht sich auf einer höheren Ebene. Sie scheinen uns ein Hinweis auf eine Fülle und Beweglichkeit des Denkens zu sein, die wir im Wachen nicht kennen. Sie irritieren uns durch ihre Unabhängigkeit von uns, und trotzdem erkennen wir uns in diesem verrückten Durcheinander wieder und verdanken unseren Träumen eine Art Hellsicht und Weisheit. Meine Träume sind nicht ich; sie sind nicht die Natur oder das Nicht-Ich; sie sind beides. Sie haben ein doppeltes Bewusstsein, sie sind gleichzeitig sub- und ob-jektiv. Wir bezeichnen die aufsteigenden Phantome als Schöpfungen unserer Phantasie, aber sie benehmen sich wie Meuterer und schießen auf ihren Befehlshaber; sie zeigen uns, dass jede Handlung, jeder Gedanke, jede Ursache bipolar ist, dass in jeder Handlung bereits die Gegenhandlung enthalten ist. Wenn ich zuschlage, werde ich geschlagen; wenn ich jage, werde ich verfolgt.

Weise und zuweilen furchtbare Hinweise werden dem Menschen von einer unbekannten Intelligenz in seine Träume eingestreut. Zwei- oder dreimal in seinem Leben soll er durch die Gerechtigkeit und die Bedeutsamkeit dieser Phantasien aufgerüttelt werden. Ein- oder zweimal soll er den Eindruck gewinnen, dass die Fesseln seines Bewusstseins gelöst werden, sodass er sich freier äußern kann. Ein prophetischer Geist hat zu allen Zeiten in ihnen sein Wesen getrieben. Oft gelangen in ihnen Meinungen zur Reife, die wir in unserem Bewusstsein noch nicht formulieren konnten, über deren Elemente wir aber bereits verfügten. So kenne ich im Wachen Ruperts Charakter, weiß aber nicht, was er möglicherweise tun wird. Im Traum sehe ich ihn bestimmte Handlungen begehen, die mir widersinnig und völlig unschicklich vorkommen. Er benimmt sich feindselig, grausam, schrecklich, er ist ein Feigling. Ein Jahr später erweist sich dies als Prophezeiung. Aber ich hatte ihn bereits als einen solchen Charakter im Kopf, und die sibyllinischen Träume haben meine Gedanken über ihn nur Gestalt annehmen lassen. Weshalb sollten deshalb Symptome, Vorzeichen, Ahnungen nicht - wie man sagt - die Ausgeburt unseres Geistes sein? [IX-244]

Durch diese Erfahrung werden wir in die hohe Region der „Ursache“ geführt und mit der Identität von durchaus unähnlich scheinenden Wirkungen bekanntgemacht. Wir lernen, dass Handlungen, deren Schändlichkeit sehr unterschiedlich beurteilt wird, aus ein- und denselben Neigungen stammen. Der Schlaf entkleidet uns des Kostüms der äußeren Umstände, er wappnet uns mit einer schrecklichen Freiheit, sodass jeder Wille sofort in die Tat umgesetzt wird. Ein darin geübter Mensch liest seine Träume, um sich selbst kennenzulernen; jedoch nicht die Einzelheiten, sondern seine (innere) Qualität. Welche Rolle spielt er in ihnen - eine heitere, männliche Rolle oder eine erbärmliche, kindische Rolle? Wie ungeheuerlich und grotesk die Traumerscheinungen auch immer sein mögen, sie haben einen Kern von Wahrheit. Die gleiche Behauptung kann man auch auf Vorzeichen und Zufälle ausdehnen, über die wir uns vielleicht schon gewundert haben. Für sie alle gilt, dass die Ursache für sie stets im betreffenden Individuum latent vorhanden ist. Goethe sprach einmal davon, dass diese wunderlichen Bilder, die ja aus uns selber entstehen, wohl eine Analogie zu unserem ganzen Leben und Schicksal bilden mögen. (R. W. Emerson, 1904, S. 7 f.)

Emersons Ausführungen sind deshalb so wichtig, weil er deutlicher als irgendjemand vor ihm den Zusammenhang zwischen Charakter und Traum erkannt hat. Unser Charakter spiegelt sich in unseren Träumen und vor allem jene Aspekte desselben, die in unserem manifesten Verhalten nicht in Erscheinung treten. Das Gleiche gilt auch für den Charakter anderer. Wenn wir wach sind, sehen wir meist nur ihr Verhalten und ihre Handlungen. In unseren Träumen erkennen wir die ihrem Verhalten und ihren Träumen zugrunde liegenden verborgenen Kräfte, weshalb wir oft in der Lage sein werden, künftige Handlungen vorauszusagen.

Ich möchte diesen kurzen Überblick über die Geschichte der Traumdeutung mit einer der originellsten und interessantesten Theorien über Träume beschließen: der von Henri Bergson. Wie Nietzsche glaubt auch Bergson, dass verschiedene somatische Reize den Traumprozess auslösen. Im Unterschied zu Nietzsche glaubt er jedoch nicht, dass diese Reize als die in uns dominierenden Strebungen und Leidenschaften zu deuten sind, sondern dass wir aus unserem reichen, ja fast unbegrenzten Schatz an Erinnerungen diejenigen auswählen, die zu diesen somatischen Reizen passen, und dass diese vergessenen Erinnerungen die Trauminhalte bilden. Bergsons Theorie von den Erinnerungen kommt der Freudschen sehr nahe. Auch er nimmt an, dass wir nichts vergessen und dass das, woran wir uns erinnern, nur ein kleiner Ausschnitt aus unserem Gesamtgedächtnis ist. Er sagt:

Unsere Erinnerungen bilden in einem gegebenen Augenblick ein einheitliches Ganze, eine Pyramide, wenn Sie so wollen, deren unaufhörlich bewegter Gipfel mit unserer Gegenwart zusammenfällt und mit dieser in die Zukunft taucht. Aber hinter diesen Erinnerungen, die sich derart auf unserer gegenwärtigen Beschäftigung niederlassen und sich mittels ihrer offenbaren, gibt es viele andere, tausend und abertausend andere, die unten, unterhalb der vom Bewusstsein erhellten Zone bleiben. Ja, ich glaube, unser vergangenes Leben ist immer da, aufbewahrt bis in seine geringsten Einzelheiten; wir vergessen nichts, und alles, was wir vom ersten Erwachen unseres Bewusstseins an empfunden, gedacht und gewollt haben, besteht endlos fort. Doch leben die Erinnerungen, die mein Gedächtnis so in seinen tiefsten Tiefen aufbewahrt, [IX-245] dort im Zustande unsichtbarer Phantome. Sie streben vielleicht nach dem Licht, und doch versuchen sie, nicht zu ihm emporzusteigen; sie wissen, dass das unmöglich ist und dass ich als lebendes und handelndes Wesen etwas anderes zu tun habe, als mich mit ihnen zu befassen. Aber setzen Sie den Fall, dass ich in einem bestimmten Moment das Interesse an der gegenwärtigen Situation, an meinen dringendsten Geschäften, kurz an dem, was bisher alle Aktivität meines Gedächtnisses auf einen einzigen Punkt konzentrierte, verliere. Anders ausgedrückt, setzen Sie den Fall, ich schlafe ein. Dann würden diese reglosen Erinnerungen merken, dass das Hindernis weggeräumt ist, dass die Falltür geöffnet ist, die sie bis dahin im Kellergeschoß des Bewusstseins eingesperrt hielt, und nun geraten sie in Bewegung. Sie werden sich rühren, sich erheben und in der Nacht des Unbewusstseins einen ungeheuren Totentanz aufführen. Und alle miteinander werden zur Tür laufen, die sich eben halb geöffnet hat. Sie möchten gern alle hindurch. Sie können nicht, es sind ihrer zu viele. Bei dieser Fülle der Berufenen, welche werden die Auserwählten sein? Das erraten Sie ohne Mühe. Soeben, als ich wachte, wurden diejenigen Erinnerungen zugelassen, die sich auf Verwandtschaftsbeziehungen mit meiner gegenwärtigen Situation, mit meinen aktuellen Wahrnehmungen berufen konnten. Jetzt sind es vagere Formen, die sich vor meinem Blick abzeichnen; die Töne, die mein Ohr treffen, sind unbestimmter, das Gefühl, das über die Oberfläche meines Körpers verstreut ist, ist undeutlicher; zahlreicher aber sind dafür die Empfindungen, die mir aus dem Innern meines Körpers zukommen. Nun, von all diesen Erinnerungsphantomen, die danach streben, sich mit Farbe, Ton, kurz mit Materie zu behaften, werden nur diejenigen Erfolg haben, die sich dem von mir erblickten farbigen Lichtstaub, den von mir gehörten äußeren und inneren Geräuschen usw. angleichen können, und die außerdem in Einklang stehen mit dem allgemeinen Gemütszustand, der von meinen organischen Eindrücken herrührt. Wenn diese Verbindung zwischen Erinnerung und Empfindung zustande kommt, dann habe ich einen Traum. (H. Bergson, 1928, S. 84 f.)

Bergson betont den Unterschied zwischen dem Zustand des Wachens und dem des Schlafes:

Du fragst mich, was ich tue, wenn ich träume? Ich will dir zunächst einmal sagen, was du tust, wenn du wachst. Du nimmst mich - das Traum-Ich, mich, die Totalität deiner Vergangenheit - und durch Zusammenballung und immer weitere Zusammenballung bringst du mich dahin, dass ich mich in den ganz kleinen Kreis einschließe, den du um dein gegenwärtiges Handeln ziehst. Das heißt Wachen; das bedeutet das normale psychische Leben leben; das ist Kämpfen; das ist Wollen. Brauche ich dir nun noch den Traum zu erklären? Er ist der Zustand, in dem du dich natürlicherweise befindest, sobald du dich gehen lässt, sobald du davon absiehst, dich auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren, sobald du aufhörst zu wollen. Wenn du noch mehr wissen willst, wenn du eine Erklärung verlangst, dann frage dich selbst, wie dein Wille es anstellt, damit er es in jedem Augenblick des Wachens erreicht, dass alles, was du in dir hast, sich sofort und beinahe unbewusst gerade auf den Punkt konzentriert, der dich interessiert. Aber dazu musst du dich an die Psychologie des Wachens wenden. Ihre Aufgabe ist es, dir zu antworten, denn Wachen und Wollen sind ein und dasselbe. (H. Bergson, 1928, S. 92 f.)

Bergsons nachdrückliche Betonung des Unterschiedes zwischen dem Zustand des [IX-246] Wachens und dem des Schlafens stimmt mit der Ansicht überein, die meiner eigenen Traumtheorie zugrunde liegt. Wir unterscheiden uns indessen dadurch, dass Bergson annimmt, wir seien im Schlaf lediglich desinteressiert und interessierten uns nur für die somatischen Reize, während wir meiner Ansicht nach intensiv an unseren eigenen Wünschen, Ängsten und Einsichten interessiert sind, wenn auch nicht an der Aufgabe, mit der Realität fertig zu werden.

Schon aus dieser kurzen Übersicht über die Geschichte der Traumdeutung ist zu ersehen, dass wir auf diesem, wie auf so vielen anderen Gebieten der Wissenschaft vom Menschen, wenig Grund zur Annahme haben, wir wüssten mehr darüber als die großen Kulturen der Vergangenheit. Allerdings gibt es einige Entdeckungen, die in keiner der älteren Theorien zu finden sind: Freuds Prinzip der freien Assoziation als Schlüssel zum Verständnis der Träume und seine Einsicht in das Wesen der „Traumarbeit“, besonders in die Mechanismen der Verdichtung und Verschiebung. Selbst wenn man sich viele Jahre lang mit Träumen beschäftigt hat, ist man immer wieder erstaunt, wenn man sieht, wie Assoziationen, die aus vielen verschiedenen und oft weit hergeholten Erinnerungen stammen, zusammenpassen und es ermöglichen, das Bild der wahren Gedanken des Schläfers unter dem manifesten Traum bloßzulegen, der selbst oft unverständlich oder irreführend ist.

Was den Inhalt der alten Traumtheorien betrifft, so möchte ich dazu nur zusammenfassend sagen, dass von den meisten, die sich mit Träumen beschäftigt haben, entweder die eine oder die andere Ansicht darüber vertreten wird: nämlich, dass sie entweder Manifestationen unserer tierischen Natur - das Tor des Wahns - oder der höchsten Kräfte unserer Vernunft - das Tor zur Wahrheit - sind. Wie Freud glauben einige, dass alle Träume ihrem Wesen nach irrational sind; andere - wie Jung - sehen in ihnen stets die Offenbarung einer höheren Weisheit. Aber viele Wissenschaftler teilen auch die in diesem Buch zum Ausdruck gebrachte Ansicht, dass Träume sowohl an unserer irrationalen als auch an unserer rationalen Natur teilhaben und dass es das Ziel der Kunst der Traumdeutung ist, zu erkennen, wann unser besseres Selbst und wann unsere tierische Natur sich im Traum vernehmen lässt.

6. Die Kunst der Traumdeutung

Das Verständnis der Traumsprache ist eine Kunst, die - wie jede andere Kunst - Kenntnisse, Talent, Erfahrung und Geduld erfordert. Talent, die praktische Anwendung des Gelernten und Geduld kann man nicht aus Büchern erwerben. Dagegen kann man die für das Verständnis der Traumsprache erforderlichen Kenntnisse übermitteln, und das eben ist der Zweck dieses Kapitels. Da dieses Buch jedoch für Laien und Studenten der ersten Semester geschrieben ist, will ich versuchen, hier nur relativ einfache Beispiele zur Veranschaulichung der wichtigsten Prinzipien der Traumdeutung zu bringen.

Aus unseren theoretischen Erwägungen über die Bedeutung und Funktion des Traumes folgt, dass eines der wichtigsten und oft auch schwierigsten Probleme bei der Traumdeutung darin besteht, dass man erkennt, ob ein Traum einen irrationalen Wunsch und dessen Erfüllung, eine schlichte Furcht oder Angst oder eine Einsicht in innere oder äußere Kräfte und Ereignisse zum Ausdruck bringt. Ist der Traum als Stimme unseres niedrigeren oder unseres höheren Selbst zu verstehen und auf welche Weise können wir herausfinden, mit welchem Schlüssel er sich uns erschließt?

Andere die Technik der Traumdeutung betreffende Fragen sind: Benötigen wir die Assoziationen des Träumers, wie Freud das postuliert, oder können wir den Traum auch ohne sie verstehen? Außerdem ist zu fragen, in welcher Beziehung der Traum zu jüngsten Ereignissen, insbesondere zu den Erlebnissen des Träumers vom Tag zuvor und zu dessen Gesamtpersönlichkeit, zu seinen Ängsten und Wünschen steht, die in seinem Charakter wurzeln.

Ich möchte mit einem einfachen Traum beginnen, der zeigt, dass kein Traum sich mit bedeutungslosem Material befasst:

Eine junge Frau, die sich für die Probleme der Traumdeutung interessiert, erzählt ihrem Mann beim Frühstück: „Heute Nacht hatte ich einen Traum, der zeigt, dass es auch Träume gibt, die keine Bedeutung haben. Ich habe lediglich geträumt, dass ich dir Erdbeeren zum Frühstück vorgesetzt habe.“ Der Mann lacht und sagt: „Offenbar hast du nur vergessen, dass Erdbeeren das einzige Obst ist, das ich nicht esse.“

Offensichtlich ist der Traum alles andere als bedeutungslos. Sie bietet ihrem Mann etwas an, wovon sie weiß, dass er es nicht annehmen kann und dass es ihm weder nützt [IX-248] noch Freude bereitet. Geht aus diesem Traum hervor, dass sie ein Mensch ist, der den anderen enttäuschen möchte, dem es Spaß macht, ihm gerade das zu geben, womit er nichts anfangen kann? Ist er ein Hinweis auf einen tief sitzenden Konflikt in der Ehe dieser beiden Menschen, der durch ihren Charakter verursacht, ihr aber völlig unbewusst geblieben ist? Oder ist der Traum nur eine Reaktion auf eine Enttäuschung, die ihr ihr Mann am Tag zuvor bereitet hat, und Ausdruck eines vorübergehenden Ärgers, den sie sich vom Hals schafft, indem sie nachts träumt, dass sie sich dafür revanchiert. Wir können diese Fragen nicht beantworten, ohne mehr über die Träumerin und ihre Ehe zu wissen, aber wir wissen bestimmt, dass der Traum alles andere als bedeutungslos ist.

Der folgende Traum ist komplizierter, wenn auch nicht wirklich schwer zu verstehen[13]:

Ein achtundzwanzigjähriger Rechtsanwalt erinnert sich beim Aufwachen an folgenden Traum, den er später dem Analytiker erzählt: „Ich sah mich auf einem weißen Schlachtross reiten und eine Truppenschau mit vielen Soldaten abhalten, die mir alle stürmisch zujubelten.“

Die erste Frage, die der Analytiker dem Träumer stellt, ist ziemlich allgemeiner Art: „Was fällt Ihnen dabei ein?“ - „Nichts“, antwortet der Mann, „der Traum ist dumm. Sie wissen doch, dass mir Krieg und Militär verhasst sind und dass ich ganz gewiss nicht den Wunsch habe, ein General zu sein.“ Er fügt hinzu: „Ich möchte auch nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und mich von Tausenden von Soldaten anstarren lassen, ob sie mir zujubeln oder nicht. Aus dem, was ich Ihnen gesagt habe, wissen Sie ja über meine Berufsprobleme Bescheid - wie schwer es mir fällt, bei Gericht einen Fall zu vertreten, wenn mich alle anschauen.“

Der Analytiker antwortet: „Dennoch stimmt es, dass es sich um Ihren Traum handelt, dass Sie die Handlung entworfen und sich Ihre Rolle zugeteilt haben. Trotz aller augenscheinlichen Ungereimtheiten muss er irgendeine Bedeutung haben und irgendwie sinnvoll sein. Beginnen wir also mit Ihren Assoziationen zu den Trauminhalten. Konzentrieren Sie sich auf das Traumbild, wie Sie auf dem weißen Pferd sitzen und die Truppen Ihnen zujubeln - und sagen Sie mir, was Ihnen bei diesem Bild einfällt.“

„Merkwürdig, jetzt sehe ich ein Bild, das ich mir, als ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, sehr oft betrachtet habe. Es war ein Bild von Napoleon - ja, tatsächlich, er saß auf einem weißen Pferd und ritt an der Spitze seiner Truppen - nur: ihm zugejubelt haben die Soldaten auf dem Bild nicht.“

„Diese Erinnerung ist gewiss interessant. Erzählen Sie mir noch mehr über Ihre Vorliebe für dieses Bild und über Ihr Interesse an Napoleon.“

„Darüber könnte ich Ihnen eine ganze Menge erzählen, aber es ist mir etwas peinlich. Ja, im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren war ich ziemlich schüchtern. Ich war nicht sehr gut im Sport und hatte irgendwie Angst vor großen Jungen. Ach ja, jetzt fällt mir ein Vorfall aus dieser Zeit ein, den ich völlig vergessen hatte. Ich mochte einen von diesen starken Jungen gern und hätte ihn gern zum Freund gehabt. Wir hatten bis dahin kaum miteinander geredet, aber ich hoffte, dass er mich auch gut leiden könnte, wenn wir nur erst besser miteinander bekannt wären. Eines Tages nahm ich allen Mut zusammen und ging zu ihm hin und fragte ihn, ob er nicht mit mir [IX-249] heimgehen wolle; ich hätte ein Mikroskop und könnte ihm eine Menge interessanter Dinge zeigen. Er sah mich einen Augenblick lang an, dann fing er an zu lachen und er lachte und lachte. „Du Waschlappen, geh doch heim und lade dir ein paar von den kleinen Freundinnen deiner Schwestern ein!“ Ich wandte mich ab, um mein Schluchzen zu verbergen. Damals fing ich an, Bücher über Napoleon zu verschlingen; ich sammelte Abbildungen von ihm und schwelgte in Tagträumen, so zu werden wie er: ein berühmter General, der von der ganzen Welt bewundert würde. War er nicht auch klein gewesen? War er nicht auch als Junge schüchtern gewesen, genau wie ich? Warum sollte ich nicht auch so etwas wie er werden können? Viele Stunden am Tag träumte ich vor mich hin, wobei ich mich fast nie konkret mit den Mitteln und Wegen dazu befasste, sondern immer nur mit der vollendeten Tatsache. Ich war Napoleon, bewundert und beneidet und trotzdem großmütig und bereit, meinen Verleumdern zu vergeben. Als ich ins College ging, hatte ich meine Heldenverehrung und meine Tagträume über Napoleon überwunden. Tatsächlich habe ich seit vielen Jahren nicht mehr an diese Zeit gedacht, und ganz gewiss habe ich noch nie mit jemand darüber gesprochen. Es ist mir selbst jetzt noch irgendwie peinlich, mit Ihnen darüber zu reden.“

„Sie haben es vergessen, aber Ihr anderes Ich, das viele Ihrer Handlungen und Gefühle bestimmt, das sich vor dem, was Sie tagsüber wahrnehmen, gut versteckt, sehnt sich immer noch danach, berühmt und bewundert zu werden und Macht zu besitzen. Dieses andere Ich hat letzte Nacht zu Ihnen gesprochen. Aber sehen wir einmal nach, weshalb das gerade letzte Nacht der Fall war. Erzählen Sie mir, was gestern geschehen ist und Ihnen wichtig war.“

„Überhaupt nichts, es war ein Tag wie jeder andere. Ich bin ins Büro gegangen und habe das Gesetzesmaterial für einen Schriftsatz zusammengesucht. Dann bin ich nach Hause gegangen, habe gegessen, bin im Kino gewesen und dann schlafen gegangen. Das ist alles.“

„Das scheint mir aber noch keine Erklärung dafür, weshalb Sie auf einem weißen Streitross in die Nacht hinaus geritten sind. Erzählen Sie mir etwas mehr darüber, was sich in Ihrem Büro abgespielt hat.“

„Ach ja, jetzt fällt mir etwas ein, (...) aber das kann doch nichts mit dem Traum zu tun haben; (...) nun, ich werde es Ihnen trotzdem erzählen. Als ich zu meinem Chef hineinging - dem Seniorchef der Firma -, für den ich das Gesetzesmaterial zusammengesucht hatte, entdeckte er einen Fehler, den ich gemacht hatte. Er sah mich kritisch an und bemerkte: „Ich muss mich wirklich wundern - ich hatte gedacht, Sie würden Ihre Sache besser machen.“ Im ersten Augenblick war ich darüber recht erschrocken, und es schoss mir der Gedanke durch den Kopf, er würde mich am Ende später nicht als seinen Partner in die Firma hereinnehmen, wie ich gehofft hatte. Aber ich sagte mir, dass das Unsinn war, dass jeder einmal einen Fehler machen kann, dass er nur schlechte Laune hatte und dass der Zwischenfall auf meine Zukunft keinerlei Einfluss haben werde. Im Laufe des Nachmittags habe ich den Vorfall vergessen.“

„In welcher Stimmung waren Sie dann? Waren sie nervös oder irgendwie deprimiert?“

„Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, ich war nur etwas müde und schläfrig. Es fiel [IX-250] mir schwer weiterzuarbeiten, und ich war sehr froh, als es soweit war, dass ich das Büro verlassen konnte.“

„Das letzte, was Ihnen an diesem Tag wichtig war, war dann wohl Ihr Kinobesuch. Wollen Sie mir erzählen, was gespielt wurde?“

„Ja, es war der Film Juarez, der mir sehr gut gefallen hat. Ich habe sogar ein bisschen dabei geweint.“

„An welcher Stelle denn?“

„Zuerst bei der Beschreibung von Juarez’ Armut und seinen Leiden, und dann als er gesiegt hat; ich kann mich kaum an einen anderen Film erinnern, der mich so bewegt hätte.“

„Dann sind Sie zu Bett gegangen, sind eingeschlafen und haben sich selbst auf dem weißen Pferd gesehen, während die Truppen sie umjubelten. Jetzt verstehen wir etwas besser, weshalb Sie das geträumt haben, nicht wahr? Als Junge fühlten Sie sich schüchtern, linkisch und zurückgesetzt. Aus unserer bisherigen Arbeit wissen wir, dass das sehr viel mit Ihrem Vater zu tun hat, der so stolz auf seine Erfolge war und der so ganz und gar unfähig war, Ihnen nahe zu kommen und eine Zuneigung zu Ihnen zu empfinden - geschweige denn, sie zu zeigen - und der es nicht verstanden hat, Ihnen Mut zu machen. Der Vorfall, den Sie heute erwähnten, die Zurückweisung durch den groben Jungen, war sozusagen nur das letzte Glied einer langen Kette. Ihr Selbstgefühl hatte bereits schweren Schaden gelitten, und diese Episode bestätigte Sie nur noch darin, dass es Ihnen niemals gelingen würde, es Ihrem Vater gleichzutun, dass Sie es nie zu etwas bringen würden und dass die Menschen, die Sie bewunderten, Sie stets ablehnen würden. Was konnten Sie tun? Sie flüchteten sich in Ihre Phantasien, in denen Sie genau das erreichten, wovon Sie glaubten, Sie könnten es im wirklichen Leben nie fertigbringen. In der Welt Ihrer Phantasie, in die niemand eindringen und wo niemand sie ablehnen konnte, da waren Sie Napoleon, der große Held, der von Tausenden - und was vielleicht noch wichtiger ist - von Ihnen selbst bewundert wurde. Solange Sie diese Phantasien aufrechterhalten konnten, schützten diese Sie vor dem akuten Schmerz, den Ihnen Ihre Minderwertigkeitsgefühle im Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit verursachten. Dann kamen Sie ins College. Sie waren jetzt von Ihrem Vater nicht mehr so abhängig. Sie fanden eine gewisse Befriedigung in Ihren Studien. Sie hatten das Gefühl, einen neuen und besseren Anfang machen zu können. Außerdem schämten Sie sich über Ihre „kindischen“ Tagträume, deshalb schoben Sie sie zur Seite. Sie hatten das Gefühl, auf dem Weg zu sein, ein richtiger Mann zu werden. (...) Doch war diese Zuversicht, wie wir gesehen haben, etwas trügerisch. Sie hatten vor jedem Examen schreckliche Angst; sie hatten das Gefühl, dass sich kein junges Mädchen wirklich für Sie interessieren könnte, sobald ein anderer junger Mann auf der Bildfläche erschien; sie fürchteten stets die Kritik Ihres Chefs. Das führt uns hin zu den Ereignissen am Tage des Traumes. Genau das, was Sie so unbedingt hatten vermeiden wollen, war eingetreten - Ihr Chef hatte etwas an Ihnen auszusetzen; das alte Gefühl der Unzulänglichkeit kam schon wieder in Ihnen hoch, aber sie taten es zur Seite; Sie fühlten sich müde, anstatt sich ängstlich und traurig zu fühlen. Dann sahen Sie sich den Film an, der an Ihre alten Tagträume rührte, an den Helden, der zum bewunderten Erretter seines Volkes wurde, nachdem er als [IX-251] Junge verachtet und machtlos gewesen war. Wie in Ihrer Jugend stellten Sie sich auch jetzt als den bewunderten Helden vor, dem alle zujubelten. Merken Sie denn nicht, dass Sie immer noch nicht ganz aufgegeben haben, Ihre Zuflucht zu Phantasien von Ruhm und Ehre zu nehmen, dass Sie die Brücken noch nicht abgebrochen haben, die Sie zurück ins Land der Phantasie führen, sondern dass Sie im Begriff sind, immer wieder dorthin zurückzukehren, sobald die Wirklichkeit Sie enttäuscht oder Ihnen bedrohlich vorkommt? Sehen Sie denn nicht, dass aber gerade das immer wieder dazu beiträgt, die Gefahr heraufzubeschwören, vor der Sie solche Angst haben, nämlich noch ein Kind und noch immer kein Erwachsener zu sein und deshalb von Erwachsenen - und von Ihnen selbst - nicht ernst genommen zu werden?

Dieser Traum eignet sich sehr gut dazu, die verschiedenen Elemente zu untersuchen, die für die Kunst der Traumdeutung wichtig sind. Ist es ein Wunscherfüllungstraum oder enthält er eine Einsicht? Über die Antwort kann kaum ein Zweifel bestehen: Es handelt sich um die Erfüllung eines irrationalen Wunsches nach Ruhm und Anerkennung, den der Träumer als Reaktion auf die schweren Schläge, die sein Selbstgefühl erlitten hatte, entwickelt hat. Auf die irrationale Eigenart dieses Wunsches weist die Tatsache hin, dass er sich kein Symbol auswählt, das in der Realität sinnvoll und erreichbar wäre. Er interessiert sich in Wirklichkeit nicht für militärische Dinge; er hat niemals die geringste Anstrengung unternommen, General zu werden, und wird das auch in Zukunft ganz gewiss nicht tun. Das Material stammt aus den unreifen Tagträumen eines unsicheren Adoleszenten.

Welche Rolle spielen seine Assoziationen beim Versuch, den Traum zu verstehen? Könnten wir ihn auch verstehen, wenn wir die Assoziationen des Träumers nicht besäßen? Die im Traum benutzten Symbole sind universale Symbole. Der Mann auf dem weißen Schlachtross, dem die Truppen zujubeln, ist ein universal verständliches Symbol der Herrlichkeit, der Macht und Bewunderung (universal natürlich in dem eingeschränkten Sinn, dass es nur einigen Kulturen, aber nicht unbedingt allen gemeinsam ist). Aus seinen Assoziationen über seine Napoleon-Verehrung gewinnen wir die weitere Einsicht, weshalb er gerade dieses Symbol wählte und welche psychologische Funktion es besitzt. Wenn wir diese Assoziation nicht hätten, könnten wir nur sagen, dass der Träumer Phantasien von Ruhm und Macht habe. Im Zusammenhang mit der Napoleon-Verehrung aus seiner Adoleszenz verstehen wir, dass diese Traumsymbolik das Wiederaufleben einer alten Phantasie bedeutet, welche ihm als Kompensation für sein Gefühl der Niederlage und Machtlosigkeit diente.

Wir erkennen auch die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen dem Traum und wichtigen Erlebnissen am vorangegangenen Tag. Bewusst hat der Träumer das Gefühl der Enttäuschung und Angst vor der Kritik des Chefs aus seinen Gedanken verdrängt. Der Traum zeigt uns, dass die Kritik ihn wieder einmal an seiner empfindlichen Stelle getroffen hatte, seiner Angst vor Unzulänglichkeit und Versagen, und dass sie den alten Fluchtweg wieder erstehen ließ - den Tagtraum vom Ruhm. Dieser Tagtraum war latent immer gegenwärtig, aber er wurde erst manifest - und tauchte im Traum auf -, weil er etwas Entsprechendes in Wirklichkeit erlebt hatte. Es gibt kaum einen Traum, der nicht eine Reaktion - oft auch eine verspätete Reaktion - auf ein bedeutsames vorangegangenes Erlebnis wäre. Tatsächlich ist es so, dass oft erst der Traum zeigt, [IX-252] dass eine Begebenheit, die bewusst nicht als bedeutsam erlebt wurde, doch wichtig war, und dass er uns darauf hinweist, worin seine Wichtigkeit für uns bestand. Um voll verstanden zu werden, muss man einen Traum als Reaktion auf ein wichtiges Ereignis verstehen, das sich zutrug, bevor es zu dem Traum kam.

Wir treffen hier noch auf einen anderen Zusammenhang - wenn auch anderer Art - mit einem Erlebnis vom vorangegangenen Tag, nämlich mit dem Film, der ähnliches Material enthielt wie die Tagträume des Träumers. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie der Traum es fertigbringt, verschiedene Fäden miteinander zu verweben. Hätte der Träumer diesen Traum nicht geträumt, wenn er den Film nicht gesehen hätte? Man kann diese Frage unmöglich beantworten. Zweifellos hätte das Erlebnis mit seinem Chef und seine tief eingeprägte Phantasie von Ruhm und Ehre genügt, diesen Traum zu produzieren; aber vielleicht musste noch der Film hinzukommen, um die grandiose Phantasie so deutlich neu erstehen zu lassen. Doch selbst wenn man die Frage beantworten könnte, wäre die Antwort nicht von Bedeutung. Wichtig ist, dass wir den Traumtext verstehen, in dem Vergangenheit und Gegenwart, Charakter und realistisches Erlebnis zu einem Bild zusammengewoben sind, das uns viel über die Beweggründe des Träumers erzählt - über die Gefahren, vor denen er sich hüten muss, und die Ziele, die er sich setzen muss, um glücklich zu werden.

Der folgende Traum ist ein weiteres Beispiel von Träumen, die im Sinne von Freuds Wunscherfüllung zu verstehen sind. Der Träumer, ein Mann von dreißig Jahren, unverheiratet, litt seit vielen Jahren an schweren Angstanfällen, an einem überwältigenden Schuldgefühl und fast ständigen Selbstmordphantasien. Er fühlte sich schuldig wegen seiner angeblichen Schlechtigkeit und seiner bösen Strebungen. Er beschuldigte sich selbst, er habe das Bedürfnis, alles und jeden zu vernichten, er habe den Wunsch, Kinder umzubringen, und in seinen Phantasien schien der Suizid der einzige Ausweg zu sein, die Welt vor seiner bösen Gegenwart zu schützen und für seine Schlechtigkeit zu büßen. Aber diese Phantasien hatten auch noch einen anderen Aspekt: Nach seinem Opfertod hoffte er als allmächtiger, von allen geliebter Mensch wiedergeboren zu werden, der allen anderen Menschen an Macht, Weisheit und Güte weit überlegen sei. Zu Anfang seiner Analyse hatte er folgenden Traum:

Ich steige auf einen Berg; rechts und links vom Weg liegen die Körper toter Männer. Keiner ist lebendig. Als ich oben auf dem Gipfel ankomme, sehe ich dort meine Mutter sitzen; ich bin plötzlich wieder ein ganz kleines Kind und sitze auf ihrem Schoß.

Der Träumer erwachte aus seinem Traum mit einem Angstgefühl. Zur Zeit dieses Traumes war er so sehr von Angst gepeinigt, dass er zu keiner Assoziation zu irgendeiner Einzelheit des Traumes in der Lage war und sich auch nicht an ein besonderes Ereignis vom Vortage erinnern konnte. Aber die Bedeutung des Traumes wird klar, wenn wir die Gedanken und Phantasien des Träumers aus der Zeit vor dem Traum mitheranziehen. Er ist der älteste Sohn und hat einen jüngeren Bruder, der ein Jahr nach ihm geboren wurde. Der Vater, ein autoritärer, strenger Pfarrer, hegte für den älteren Jungen - und übrigens auch für die anderen Menschen - nur wenig Liebe; seine einzige Beziehung zu dem Jungen bestand darin, dass er ihn unterrichtete, ausschalt, ermahnte, lächerlich machte und bestrafte. Das Kind hatte solche Angst vor ihm, dass es seiner Mutter Glauben schenkte, als diese ihm sagte, der Vater hätte ihn [IX-253] umgebracht, wenn sie nicht dazwischengetreten wäre. Die Mutter war ganz anders als der Vater. Sie war eine pathologisch besitzgierige Frau, die von ihrer Ehe enttäuscht war und sich für niemand und nichts interessierte als für die Herrschaft über ihre Kinder. Aber an ihren Erstgeborenen hatte sie eine besonders starke Bindung entwickelt. Sie jagte ihm Angst ein, indem sie ihm Geschichten von gefährlichen Gespenstern erzählte, und stellte sich dann als seine Beschützerin hin, die für ihn beten, ihn leiten und stark machen würde, sodass er eines Tages stärker sein würde als der gefürchtete Vater. Als der jüngere Bruder geboren wurde, war der Ältere offensichtlich tief verstört und eifersüchtig. Er selbst konnte sich an diese Zeit nicht erinnern, doch berichteten Verwandte von unmissverständlichen Anzeichen tiefer Eifersucht kurz nach der Geburt des Brüderchens.

Diese Eifersucht hätte vielleicht nicht so gefährliche Dimensionen angenommen, wie dies nach zwei oder drei Jahren der Fall war, wenn der Vater nicht das Neugeborene als sein Kind auserwählt hätte. Den Grund dafür kennen wir nicht. Vielleicht tat er es wegen der auffallenden körperlichen Ähnlichkeit mit sich selbst, oder vielleicht auch, weil seine Frau immer noch für ihren Lieblingssohn derart voreingenommen war. Als unser Träumer vier oder fünf Jahre alt war, war die Rivalität zwischen beiden Brüdern bereits in vollem Gang und nahm von Jahr zu Jahr zu. In der Feindschaft der beiden Brüder spiegelte sich die Feindschaft der Eltern, die von den Kindern ausgefochten wurde. In diesem Alter wurden die Grundlagen für die spätere schwere Neurose des Träumers gelegt: die intensive Feindschaft gegen den Bruder, der leidenschaftliche Wunsch zu beweisen, dass er diesem überlegen war, die große Angst vor dem Vater, die durch Schuldgefühle noch erheblich gesteigert wurde, weil er den Bruder hasste und heimlich den Wunsch hatte, später einmal stärker zu sein als der Vater. Das Gefühl von Angst, Schuld und Machtlosigkeit wurde durch die Mutter noch vergrößert. Wie bereits erwähnt, flößte sie ihm noch zusätzlich Angst ein. Aber sie bot ihm auch eine verlockende Lösung an: Wenn er ihr kleines Baby blieb, das ihr ganz gehörte und sich für niemand anderen interessierte, dann würde sie ihn groß und dem verhassten Rivalen überlegen machen. Das war die Basis für seine Tagträume von Macht und Größe, wie auch für seine enge Bindung an die Mutter - jener Zustand kindlicher Abhängigkeit, der ihn veranlasste sich zu weigern, seine Rolle als Erwachsener anzunehmen.

Vor diesem Hintergrund ist der Traum leicht zu verstehen. „Er steigt auf einen Berg“ - sein Ehrgeiz, allen überlegen zu sein, ist das Ziel seines Strebens. „Rechts und links vom Weg liegen die Körper toter Männer. Keiner ist lebendig“ - die Erfüllung seines Wunsches nach Ausrottung aller Rivalen. Da er sich so ohnmächtig fühlt, kann er vor ihnen nur sicher sein, wenn sie tot sind. „Als er oben auf dem Gipfel ankommt“ - als er das Ziel seiner Wünsche erreicht hat - „findet er dort seine Mutter vor, und er sitzt auf ihrem Schoß“ - er ist wieder eins mit der Mutter, ist ihr Baby, das ihre Kraft und ihren Schutz empfängt. Alle Rivalen sind beseitigt - er ist mit ihr allein, frei, und braucht keine Angst mehr zu haben. Und trotzdem erwacht er mit einem Gefühl des Entsetzens. Gerade die Erfüllung seiner irrationalen Wünsche stellt eine Bedrohung seiner rationalen, erwachsenen Persönlichkeit dar, die nach Gesundheit und Glück strebt. Der Preis für die Erfüllung seiner infantilen Wünsche ist, dass er [IX-254] das Baby bleibt, das hilflos an seine Mutter gebunden und von ihr abhängig ist, das nicht selbständig denken und niemanden außer ihr lieben darf. Gerade die Erfüllung seiner Wünsche ist Angst erregend.

Zwischen diesem Traum und dem zuvor erwähnten besteht in einer Hinsicht ein beträchtlicher Unterschied. Der erste Träumer ist ein schüchterner, gehemmter Mensch, der im Leben Schwierigkeiten hat, welche sein Glück beeinträchtigen und ihn schwach machen. Ein unbedeutender Vorfall, wie die Kritik seines Chefs, verletzt ihn tief und wirft ihn auf die Tagträume aus seiner Kindheit zurück. Im Ganzen gesehen funktioniert er aber normal, und es bedarf eines solchen Vorfalls, um seine Größenphantasien von Ruhm und Ehre im Schlaf wieder auftauchen zu lassen. Unser zweiter Träumer ist schwerer krank. Sein gesamtes Leben - im Schlaf wie im Wachen - ist von Angst und Schuldgefühlen besessen und von dem intensiven Verlangen, zur Mutter zurückzukehren. Es bedarf keines besonderen Ereignisses, um den Traum hervorzurufen; fast jeder beliebige Vorfall kann es bewirken, weil er sein Leben nicht als Realität, sondern im Licht seiner frühen Erfahrungen erlebt.

In anderer Hinsicht sind die beiden Träume einander ähnlich. Sie stellen die Erfüllung irrationaler Wünsche dar, die in die Kindheit zurückreichen. Der erste erregt Befriedigung, weil der Wunsch mit den herkömmlichen Zielen eines Erwachsenen (Macht und Ansehen) vereinbar ist. Der zweite erregt Angst, weil er mit dem Leben eines Erwachsenen in keiner Weise vereinbar ist. Beide Träume sprechen die Sprache universaler Symbole und sind auch ohne Assoziationen zu verstehen, wenn wir auch - um ihre Bedeutung voll zu erfassen - etwas über die persönliche Vorgeschichte des Träumers wissen müssen. Aber selbst wenn wir darüber nichts wüssten, würden wir doch aus diesen Träumen eine gewisse Vorstellung von ihrem Charakter gewinnen.

Ich füge zwei kurze Träume an, die einen ähnlichen Inhalt haben, die sich jedoch in Bezug auf ihre Bedeutung von den vorigen unterscheiden. Beide Träume stammen von einem jungen Homosexuellen.

Der erste Traum:

Ich sehe mich mit einer Pistole in der Hand. Der Lauf ist merkwürdig verlängert.

Der zweite Traum:

Ich halte einen langen, schweren Stock in der Hand. Ich habe das Gefühl, jemanden zu schlagen - obgleich sonst niemand im Traum vorhanden ist.

Nach Freuds Theorie müssten wir annehmen, dass beide Träume einen homosexuellen Wunsch zum Ausdruck bringen, wobei im ersten Traum die Pistole und im zweiten Traum der Stock das männliche Genitale symbolisieren. Auf die Frage, welche Ereignisse der vorangegangenen Tage ihm dabei einfielen, berichtete der Patient von zwei völlig verschiedenen Vorkommnissen:

Am Abend vor dem Pistolentraum hatte er sich mit einem anderen jungen Mann getroffen und einen intensiven sexuellen Drang verspürt. Vor dem Einschlafen hatte er sich sexuellen Phantasien hingegeben, deren Gegenstand jener junge Mann war.

Die Erörterung des zweiten Traumes, die etwa zwei Monate später erfolgte, entlockte ihm eine ganz andere Assoziation. Er hatte sich wütend über seinen College-Professor geärgert, weil er sich von diesem ungerecht behandelt fühlte. Er war zu schüchtern, um mit dem Professor darüber zu reden, dachte sich jedoch vorm Einschlafen einen [IX-255] Racheplan aus, was seiner Gewohnheit entsprach, abends im Bett sich Tagträumen hinzugeben. Eine weitere Assoziation im Zusammenhang mit dem Stock war die Erinnerung daran, dass einer seiner Lehrer, den er als Zehnjähriger nicht leiden konnte, einmal einen anderen Jungen mit einem Stock geschlagen hatte. Er hatte immer Angst vor diesem Lehrer gehabt, und eben diese Angst hatte ihn daran gehindert, seine Wut zu äußern.

Was bedeutet das Symbol des Stocks im zweiten Traum? Ist dieser ebenfalls ein Sexualsymbol? Kommt in diesem Traum ein gut getarntes homosexuelles Verlangen zum Ausdruck, dessen Objekt der College-Professor oder vielleicht der verhasste Lehrer aus seiner Kindheit ist? Wenn wir annehmen, dass die Ereignisse des vorangegangenen Tages und insbesondere die Stimmung des Träumers kurz vor dem Einschlafen wichtige Schlüssel für die Symbolik des Traumes sind, dann werden wir die Symbole trotz ihrer scheinbaren Ähnlichkeit unterschiedlich deuten.

Der erste Traum folgte auf einen Tag, an dem der Träumer homosexuelle Phantasien gehabt hatte, und wir müssen daher annehmen, dass die Pistole mit dem verlängerten Lauf einen Penis symbolisiert. Es ist jedoch kein Zufall, dass das Geschlechtsorgan durch eine Waffe repräsentiert wird. Diese symbolische Gleichsetzung ist ein wichtiger Hinweis auf die psychischen Kräfte, die den homosexuellen Strebungen des Träumers zugrunde liegen. Für ihn ist die Sexualität nicht ein Ausdruck von Liebe, sondern es kommt darin der Wunsch, zu herrschen und zu zerstören zum Ausdruck. Der Träumer hatte aus Gründen, auf die wir hier nicht näher einzugehen brauchen, von jeher gefürchtet, als Mann nicht vollwertig zu sein. Frühe Schuldgefühle wegen Masturbation, Angst, hierdurch seine Geschlechtsorgane zu schädigen, später dann die Angst, sein Penis sei kleiner als der anderer Jungen, und eine intensive Eifersucht auf alle Männer - all das zusammen hatte in ihm das Verlangen nach intimen Beziehungen mit Männern geweckt, bei denen er seine Überlegenheit zeigen und sein Sexualorgan als mächtige Waffe benutzen konnte.

Der zweite Traum hatte einen ganz anderen emotionalen Hintergrund. Hier war er zornig eingeschlafen; er hatte Hemmungen gehabt, seinen Zorn zu äußern; er hatte sogar im Schlaf noch Hemmungen, seinen Zorn unmittelbar zu äußern, indem er träumte, dass er seinen Professor mit dem Stock schlüge; er träumte, er halte den Stock in der Hand, und hatte das Gefühl, „irgend jemanden“ zu schlagen. Dass er sich ausgerechnet einen Stock als Symbol für seinen Zorn wählte, kam von seinem Kindheitserlebnis mit dem verhassten Lehrer, der den anderen Jungen geschlagen hatte. Sein gegenwärtiger Zorn auf den Professor vermengte sich mit seinem früheren Zorn über den Schullehrer. Die beiden Träume sind deshalb interessant, weil sie den allgemeinen Grundsatz veranschaulichen, dass ähnliche Symbole eine unterschiedliche Bedeutung besitzen können und dass die richtige Interpretation von der Stimmung des Träumers vor dem Einschlafen abhängt, die während des Schlafs ihren Einfluss weiter ausübt.

Ich füge hier noch einen weiteren kurzen Traum an, der ebenfalls die Erfüllung eines irrationalen Wunsches enthält und in krassem Gegensatz zu den Gefühlen steht, deren sich der Träumer bewusst war.

Der Träumer war ein intelligenter junger Mann, der sich wegen unbestimmter [IX-256] Depressionsgefühle in analytische Behandlung begeben hatte, obwohl er sonst „normal“ war - wenn man das Wort „normal“ in einem oberflächlichen, konventionellen Sinn versteht. Er hatte sein Studium zwei Jahre, bevor er die Analyse begann, abgeschlossen und arbeitete seither in einer Stellung, die seinen Interessen entsprach und die in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, das Gehalt usw. recht günstig war. Man hielt ihn für einen guten, ja glänzenden Arbeiter. Aber dieses äußere Bild täuschte. Er war von einem ständigen Unbehagen erfüllt, hatte das Gefühl, nicht so viel zu leisten, wie er eigentlich gekonnt hätte (was stimmte), und fühlte sich trotz seines offensichtlichen Erfolges deprimiert. Besonders unangenehm empfand er das Verhältnis zu seinem Chef, der zu einem etwas autoritären Auftreten neigte, wenn sich dieses auch in vernünftigen Grenzen hielt. Der Patient schwankte in seinem Auftreten zwischen Aufbegehren und Unterwerfung hin und her. Oft hatte er das Gefühl, dass man unfaire Anforderungen an ihn stellte, auch wenn das nicht der Fall war. Dann pflegte er schlechter Laune zu sein oder Streit anzufangen. Manchmal unterliefen ihm bei solchen „Zwangsarbeiten“ auch Fehler. Andererseits war er überhöflich, ja fast unterwürfig dem Chef und anderen Autoritätspersonen gegenüber. Ganz im Gegensatz zu seiner rebellischen Einstellung bewunderte er in übertriebener Weise seinen Vorgesetzten und war überglücklich, wenn er von ihm gelobt wurde. Das ständige Hin- und Herschwanken zwischen diesen beiden Haltungen war sehr anstrengend und verschlimmerte seine depressive Stimmung. Hinzuzufügen ist, dass er als glühender Nazigegner nach Hitlers Machtergreifung aus Deutschland auswanderte. Er war allerdings ein leidenschaftlicher, intelligenter Gegner der Nazis, und nicht nur „anderer Meinung“ als sie. Diese politische Überzeugung war vielleicht von Zweifeln freier als irgendetwas anderes, was er dachte oder fühlte. Man kann sich sein Erstaunen und seine Bestürzung vorstellen, als er sich eines Morgens klar und lebhaft an folgenden Traum erinnerte:

Ich saß mit Hitler zusammen, und wir führten eine angenehme und interessante Unterhaltung. Ich fand ihn liebenswürdig und war sehr stolz darauf, dass er dem, was ich zu sagen hatte, mit großer Aufmerksamkeit zuhörte.

Auf die Frage, was er denn zu Hitler gesagt habe, erwiderte er, er habe nicht die geringste Erinnerung an den Inhalt des Gesprächs. Zweifellos ist dieser Traum die Erfüllung eines Wunsches. Das Bemerkenswerte daran ist, dass dieser Wunsch seinem bewussten Denken so völlig fremd war und dass er sich im Traum in so unverhüllter Form präsentierte.

So überraschend der Traum für den Träumer im Augenblick war, ist er für uns doch nicht ganz so rätselhaft, wenn wir die Charakterstruktur des Träumers in Betracht ziehen, auch wenn wir uns dabei nur auf die wenigen hier mitgeteilten Daten stützen. Sein Hauptproblem ist seine Einstellung zur Autorität. Im täglichen Leben schwankt er hin und her zwischen Aufbegehren und unterwürfiger Bewunderung. Hitler repräsentiert die extreme Form der irrationalen Autorität, und der Traum zeigt uns deutlich, dass die unterwürfige Seite des Träumers trotz seines Hasses auf ihn stark entwickelt ist. Der Traum gibt uns die Möglichkeit, die Stärke dieser unterwürfigen Neigungen richtiger einzuschätzen, als es die Auswertung des bewussten Materials erlaubte. [IX-257]

Bedeutet der Traum, dass der Träumer „wirklich“ für die Nazis ist und dass der Hass auf Hitler „nur“ eine bewusste Tarnung seiner tiefer liegenden Gefühle ist, die seine wahren Gefühle sind? Ich stelle diese Frage, weil der Traum uns die Möglichkeit gibt, ein Problem zu diskutieren, das für die Deutung aller Träume wichtig ist.

Freuds Antwort auf diese Frage wäre wohl recht aufschlussreich. Er hätte gesagt, der Patient habe in Wirklichkeit gar nicht von Hitler geträumt. Hitler sei ein Symbol für etwas anderes; er repräsentiere den von dem jungen Mann gehassten und bewunderten Vater. Im Traum bediene sich der Patient sozusagen des gut geeigneten Hitler-Symbols, um Gefühle auszudrücken, die nicht der Gegenwart, sondern der Vergangenheit angehörten, nicht seiner Existenz als Erwachsener, sondern dem in ihm eingekapselten Kind. Freud hätte noch hinzugefügt, dass es mit den Gefühlen des Patienten seinem Chef gegenüber nicht anders sei; auch sie hätten nichts mit dem Chef zu tun, sondern seien vom Vater des Patienten auf diesen übertragen.

In gewissem Sinne mag das alles stimmen. Die Mischung von Rebellion und Unterwürfigkeit entstand und entwickelte sich in der Beziehung des Patienten zu seinem Vater. Aber die alte Einstellung existiert noch immer und macht sich auch in Bezug auf andere Menschen bemerkbar, mit denen der Patient in Berührung kommt. Er neigt noch immer dazu, aufzubegehren und sich ihnen unterzuordnen; er und nicht das Kind in ihm oder „das Unbewusste“ oder wie man auch immer eine Person bezeichnen will, die angeblich in ihm existiert, die aber nicht er ist. Die Vergangenheit ist - vom rein historischen Interesse abgesehen - nur insofern von Bedeutung, als sie noch gegenwärtig ist, und das ist bei dem Autoritätskomplex unseres Träumers der Fall.

Aber wird der Traum nicht zu einem machtvollen Zeugen gegen den Träumer, wenn wir nicht einfach sagen können, es sei nicht er, sondern das Kind in ihm, das mit Hitler auf freundschaftlichem Fuß stehen möchte? Verrät er uns dann nicht trotz allen Protests des Träumers, dass er „tief drinnen“ ein Nazi ist und sich nur „oberflächlich“ für einen Gegner Hitlers hält?

Eine solche Auffassung lässt einen wichtigen Faktor bei der Traumdeutung außer Acht, nämlich das quantitative Element. Träume sind gleichsam ein Mikroskop, durch das wir die verborgenen Vorgänge in unserer Seele betrachten. Eine verhältnismäßig geringe Neigung in der komplexen Struktur von Wünschen und Ängsten kann im Traum ebenso bedeutungsvoll erscheinen wie eine andere, die im Seelenleben des Träumers weit größeres Gewicht hat. Ein relativ geringfügiger Ärger über einen anderen kann zum Beispiel einen Traum hervorrufen, in dem dieser andere krank wird und deshalb nicht mehr in der Lage ist, uns zu ärgern. Trotzdem würde das nicht bedeuten, dass wir einen solchen Zorn auf ihn haben, dass wir „wirklich“ wünschen, er würde krank. Träume geben uns Hinweise auf die Qualität verborgener Wünsche und Ängste, aber nicht auf ihre Quantität; sie ermöglichen eine qualitative, jedoch keine quantitative Analyse. Um die Quantität einer Tendenz festzustellen, müssen wir noch andere Aspekte in Betracht ziehen: die Wiederholung des betreffenden Themas oder ähnlicher Themen in anderen Träumen, die Assoziationen des Träumers, sein Verhalten im täglichen Leben und noch vieles andere - wie etwa seinen Widerstand gegen die Analyse einer solchen Tendenz; all das kann uns zu einer besseren Erkenntnis [IX-258] der Intensität der Wünsche und Ängste verhelfen. Übrigens genügt es noch nicht, die Intensität eines Wunsches zu berücksichtigen; um beurteilen zu können, welche Rolle und Funktion er im gesamten Seelenleben hat, müssen wir auch die Kräfte kennen, die gegen diese Tendenz aufgebaut worden sind, die sie als Handlungsmotiv bekämpfen und besiegen. Aber selbst das genügt noch nicht. Wir müssen wissen, ob diese Abwehrkräfte, die gegen die irrationalen Wünsche eingesetzt werden, hauptsächlich in der Angst vor Strafe oder Liebesverlust wurzeln und bis zu welchem Grad sie auf dem Vorhandensein konstruktiver Kräfte basieren, die sich den irrationalen, verdrängten Kräften widersetzen, oder - genauer gesagt - ob triebhafte Tendenzen durch Angst oder die stärkeren Kräfte von Liebe und Zärtlichkeit in Zaum gehalten und verdrängt werden. Alle diese Erwägungen sind unbedingt notwendig, wenn wir über die qualitative Traumdeutung hinausgehen wollen, um quantitativ festzustellen, welches Gewicht bestimmte irrationale Wünsche haben.

Kehren wir noch einmal zu dem Mann zurück, der von Hitler träumte. Der Traum beweist nicht, dass seine Einstellung gegen die Nazis nicht echt oder nicht besonders stark war. Aber er zeigt, dass der Träumer sich noch immer mit dem Verlangen auseinandersetzte, sich einer irrationalen Autorität unterzuordnen, selbst einer, die er so intensiv hasste, aus dem Wunsch heraus, er könnte sie doch nicht so widerwärtig finden, wie er geglaubt hatte.

Ich habe bisher nur Träume vorgestellt, auf die sich Freuds Wunscherfüllungstheorie anwenden ließ. Es handelt sich bei allen um die halluzinatorische Erfüllung irrationaler Wünsche während des Schlafes. Dabei haben wir weit weniger Assoziationen herangezogen, als Freud das gewöhnlich tat. Der Grund dafür ist, dass wir in zwei zuvor angeführten Träumen - nämlich dem Traum von der „botanischen Monographie“ und im „Onkel-Traum“ - bereits Beispiele für Träume gesehen haben, in denen die Assoziationen eine unentbehrliche Rolle spielen. Ich möchte jetzt noch einige Träume erörtern, die ebenfalls Wunscherfüllungen sind, in denen die Wünsche jedoch nicht so irrational sind wie in den bisher besprochenen Träumen.

Ein interessantes Beispiel dieser Art von Wunscherfüllung ist folgender Traum:

Ich bin Zeuge eines Experiments. Ein Mann wurde in Stein verwandelt. Dann hat eine Bildhauerin aus diesem Stein eine Figur gemeißelt. Plötzlich wird die Figur lebendig und geht wütend auf die Bildhauerin zu. Ich sehe voller Entsetzen zu, wie er sie tötet. Dann wendet er sich gegen mich, und ich denke, wenn es mir gelingt, ihn ins Wohnzimmer zu schaffen, wo sich meine Eltern befinden, bin ich gerettet. Ich ringe mit ihm, und es gelingt mir, ihn ins Wohnzimmer zu drängen. Dort sitzen meine Eltern mit einigen ihrer Freunde. Aber sie blicken kaum auf, als sie mich um mein Leben kämpfen sehen. Ich denke: Ich hätte schon längst wissen müssen, dass ihnen nichts an mir liegt. Ich lächle triumphierend.

Hier endet der Traum. Um ihn zu verstehen, müssen wir einiges über die Person des Träumers wissen. Es handelt sich um einen jungen, vierundzwanzigjährigen Arzt, der ein routinemäßiges Leben führt und völlig unter der Herrschaft seiner Mutter steht, die bestimmt, was in der Familie geschieht. Er denkt und fühlt nicht spontan, geht pflichtgemäß in die Klinik, ist wegen seines bescheidenen Verhaltens gern gesehen, doch fühlt er sich müde und deprimiert und weiß nicht recht, wozu er auf der Welt [IX-259] ist. Er ist der gehorsame Sohn, der zu Hause bleibt, der das tut, was seine Mutter von ihm erwartet und kaum ein eigenes Leben führt. Die Mutter liegt ihm in den Ohren, mit jungen Mädchen auszugehen, doch hat sie an jeder etwas auszusetzen, sobald er etwas Interesse zeigt. Zuweilen, wenn die Mutter noch größere Ansprüche an ihn stellt als gewöhnlich, begehrt er gegen sie auf. Sie lässt ihn dann fühlen, wie sehr er sie verletzt, wie undankbar er ist, und so kommt es, dass solche Wutausbrüche zu einer Orgie von Gewissensbissen führen und dass er sich ihr nur noch mehr unterordnet. Am Tag vor diesem Traum hatte er auf eine Untergrundbahn gewartet und beobachtet, wie sich drei Männer etwa seines Alters auf dem Bahnsteig miteinander unterhielten. Es waren offensichtlich Büroangestellte, die aus einem Kaufhaus heimgingen. Sie redeten über ihren Chef; einer sprach von seinen Aussichten auf eine Gehaltserhöhung, ein anderer erzählte, der Chef habe heute mit ihm über Politik gesprochen. Es war eine Unterhaltung zwischen jungen Leuten, deren routinemäßiges Leben sich in der Trivialität des Kaufhauses und im Interesse an ihrem Chef erschöpfte. Unser Träumer erschrak plötzlich, als er diese Leute beobachtete. „Das bin ja ich“, ging es ihm durch den Kopf, „das ist ja mein Leben! Ich bin ja auch nicht besser als diese drei Büroangestellten. Ich bin genau so tot wie sie! „In der darauffolgenden Nacht hatte er den erwähnten Traum.

Da wir die allgemeine seelische Situation des Träumers und die Ursache kennen, die den Traum unmittelbar auslöste, ist er nicht schwer zu verstehen. Der Träumer merkt, dass er in Stein verwandelt ist; er hat keine eigenen Gefühle und Gedanken mehr. Er hat das Gefühl, er sei tot. Dann merkt er, dass eine Frau aus dem Stein eine Figur meißelt. Zweifellos bezieht sich dieses Symbol auf seine Mutter und auf das, was sie mit ihm gemacht hat. Er erkennt, in welchem Ausmaß sie ihn zu einer leblosen Figur gemacht hat, von der sie völlig Besitz ergreifen konnte. Wenn er sich auch im wachen Leben gelegentlich über ihre Ansprüche an ihn beschwert hatte, war er sich doch nicht bewusst, in welchem Ausmaß sie ihn geformt hatte. Bis hierher enthält der Traum eine weit richtigere und klarere Einsicht, als er sie in seinem wachen Dasein hatte: eine Einsicht in seine eigene Situation und in die Rolle, die seine Mutter in seinem Leben spielte. Dann ändert sich die Situation. Der Träumer tritt in zwei Rollen auf (wie das oft in Träumen vorkommt). Er ist der Zuschauer, der beobachtet, was da vorgeht, aber er ist zugleich auch die Statue, die lebendig geworden ist und zornentbrannt die Bildhauerin tötet. Hier erlebt er eine Wut auf seine Mutter, die er völlig verdrängt hatte. Weder er selbst noch irgendjemand sonst hätte ihn einer solchen Wut für fähig gehalten, und dass seine Mutter deren Zielscheibe sein könnte. Im Traum erlebt er seine Wut nicht als seine eigene, sondern als die der zum Leben erwachten Statue. „Er“, der Zuschauer, ist entsetzt über den wütenden Mann, der sich dann gegen ihn wendet.

Diese Spaltung einer Person in zwei, zu der es so offenkundig in diesem Traum kommt, ist eine Erfahrung, die wir alle gelegentlich mehr oder weniger deutlich machen. Der Träumer hat Angst vor seiner eigenen Wut; tatsächlich ist diese Wut seinem bewussten Denken so fremd, dass er den wütenden Mann als eine andere Person erlebt. Trotzdem aber ist „er“ dieser wütende Mann, sein vergessenes, wütendes Ich, das im Traum zum Leben erwacht. Der Träumer, der Beobachter, der Mensch, der [IX-260] er in seinem täglichen Leben ist, fühlt sich von dieser Wut bedroht und hat Angst - Angst vor sich selbst. Er ringt mit sich selbst und hofft, wenn er den Konflikt, den „Feind“ zu seinen Eltern bringe, werde er gerettet sein. In diesem Gedanken kommen die sein Leben beherrschenden Wünsche zum Ausdruck.

Wenn du eine Entscheidung zu treffen hast, wenn du mit Schwierigkeiten nicht fertig wirst, dann lauf zu deinen Eltern, lauf zu irgendeiner Autoritätsperson; sie werden dir sagen, was du tun sollst, sie werden dich retten - auch dann, wenn der Preis ständige Abhängigkeit und Unzufriedenheit ist. Mit dem Entschluss, den Angreifer ins Wohnzimmer zu drängen, folgt er seiner alten, immer wieder angewandten Methode. Aber sobald er die Eltern erblickt, kommt ihm eine völlig neue, überraschende Einsicht: seine Eltern - und speziell die Mutter, von der er doch Hilfe, Schutz und Rat erwartet hatte und von deren Weisheit und Liebe alles für ihn abzuhängen schien - diese Eltern blicken nicht einmal auf. Sie kümmern sich nicht um ihn und können ihm nicht helfen. Er ist allein und muss sein Leben selbst in die Hand nehmen. Alles, was er in der Vergangenheit erhoffte, war eine Illusion, die jetzt plötzlich in Trümmer geht. Aber eben diese Einsicht, die in gewisser Hinsicht bitter und enttäuschend ist, gibt ihm ein Gefühl, als ob er gewonnen hätte; er lächelt triumphierend, weil er einen Blick in die Wahrheit und einen ersten Schritt in die Freiheit getan hat.

Dieser Traum enthält eine Mischung verschiedener Motivationen. Wir finden tiefe Einsichten in sich selbst und in seine Eltern, die über alles hinausgehen, was er bisher wusste. Er sieht, wie sehr er zu Stein erstarrt und tot war, wie seine Mutter ihn nach ihren eigenen Wünschen geformt hatte, und er erkennt endlich, wie wenig den Eltern an ihm liegt und wie wenig sie ihm helfen können. Bis hierher handelt es sich bei diesem Traum um einen jener Träume, deren Inhalt nicht Wunscherfüllung, sondern Einsicht ist. Aber er enthält zugleich auch ein Wunscherfüllungselement. Seine im wachen Leben verdrängte Wut kommt zum Vorschein, er sieht sich selbst, wie er seine Mutter überwältigt und tötet. Sein Wunsch nach Rache erfüllt sich im Traum.

Diese Analyse des Wunsches scheint sich von den vorigen Beispielen für die Erfüllung irrationaler Wünsche im Traum nicht zu unterscheiden. Aber trotz dieser offensichtlichen Ähnlichkeit, gibt es einen bedeutsamen Unterschied. Wenn wir uns beispielsweise an den Traum mit dem weißen Schlachtross erinnern, so war der darin erfüllte Wunsch das kindliche Verlangen des Träumers nach Ruhm und Ehre. Sein Wunsch richtete sich nicht auf Wachstum und Selbstverwirklichung, sondern nur auf die Befriedigung seines irrationalen Selbst, das vor den Prüfungen der Wirklichkeit zurückschreckte. Und auch der Mann, der von seiner freundschaftlichen Unterhaltung mit Hitler träumte, befriedigte nur seinen höchst irrationalen Wunsch, sich selbst einer verhassten Autorität zu unterwerfen.

Die Wut auf die Bildhauerin, wie sie in dem hier analysierten Traum erlebt wurde, ist anderer Art. Auch die Wut des Träumers auf seine Mutter ist in gewissem Sinn irrational. Sie ist die Folge seiner Unfähigkeit, unabhängig zu werden, seiner Kapitulation vor ihr und seines daraus resultierenden Unglücks. Aber es gibt hier auch noch einen anderen Aspekt. Seine Mutter ist eine herrschsüchtige Frau, deren Einfluss auf ihn zu einer Zeit begann, als er noch ein kleiner Junge war und ihr noch keinen rechten Widerstand bieten konnte. Hier, wie stets in der Beziehung zwischen Kindern und [IX-261] Eltern, sind die Eltern die Stärkeren, solange das Kind noch klein ist. Wenn es dann alt genug ist, seinen eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen, haben dieser Wille und die Fähigkeit sich durchzusetzen bereits einen solchen Schaden erlitten, dass es nicht mehr „wollen“ kann. Ist die Konstellation Unterwerfung-Beherrschung erst einmal festgefahren, so ist die unausbleibliche Folge Wut. Wenn dann dem Kind zugestanden würde, seine Wut bewusst zu empfinden, so könnte das die Grundlage für ein gesundes Aufbegehren sein; es würde zu einer Neuorientierung führen in dem Sinn, dass das Kind lernt, sich durchzusetzen und so schließlich zu Freiheit und Reife zu gelangen. Ist dieses Ziel erreicht, dann verschwindet auch die Wut und macht einem Verständnis, ja vielleicht sogar einer freundschaftlichen Haltung gegenüber der Mutter Platz. Während diese Wut so an und für sich ein Symptom für mangelnde Selbstbehauptung ist, ist sie doch auch ein notwendiger Schritt bei einer gesunden Entwicklung, und nicht irrational. Im Fall dieses Träumers wurde die Wut jedoch verdrängt. Die Angst vor der Mutter und seine Abhängigkeit von ihrer Lenkung und Autorität ließen sie dem Träumer nicht zu Bewusstsein kommen, und so führte die Wut weit unter der Oberfläche dort ein geheimes Leben, wo sie der Träumer nie erreichen konnte. Durch die beängstigende und zugleich erhellende Vision seines eigenen Totseins erwachte er samt seiner Wut im Traum zum Leben. Diese Wut ist eine notwendige Übergangsstufe in seinem Reifungsprozess und unterscheidet sich daher grundsätzlich von jenen Wünschen, mit denen wir uns in den zuvor behandelten Träumen beschäftigten, deren Erfüllung rückwärts und nicht vorwärts führt.

Der Träumer des nun folgenden Traumes ist ein Mann, der unter einem intensiven Schuldgefühl leidet. Noch jetzt, im Alter von vierzig Jahren, wirft er sich vor, am zwanzig Jahre zuvor erfolgten Tod seines Vaters schuld zu sein. Er hatte einen Ausflug gemacht, und während seiner Abwesenheit starb sein Vater an einem Herzanfall. Er hatte damals wie heute das Gefühl, dass er dafür verantwortlich war, weil sich der Vater vielleicht aufgeregt hatte und daran gestorben war, während, wenn er - der Sohn - dagewesen wäre, vielleicht jede Art von Aufregung hätte vermieden werden können.

Der Träumer hat ständig Angst, es könnte durch seine Schuld jemand erkranken, oder es könnte sonst ein Schaden entstehen. Er hat eine große Zahl privater Rituale entwickelt, welche die Funktion haben, für seine „Sünden“ zu büßen und schlimme Folgen seiner Taten abzuwenden. Er gönnt sich nur selten ein Vergnügen, und ein Genuss ist ihm nur möglich, wenn es ihm gelungen ist, es als „Pflicht“ zu klassifizieren. Er arbeitet äußerst hart und hat nur gelegentliche und oberflächliche sexuelle Beziehungen zu Frauen, die gewöhnlich mit der niederdrückenden Befürchtung enden, er habe das Mädchen verletzt, und es hasse ihn jetzt. Nach beträchtlicher analytischer Arbeit hatte er folgenden Traum:

Es ist ein Verbrechen begangen worden. Ich erinnere mich nicht, um was für ein Verbrechen es sich handelte, und ich glaube, dass ich es im Traum auch nicht wusste. Ich gehe auf die Straße, und obgleich ich sicher bin, kein Verbrechen begangen zu haben, weiß ich doch, dass ich mich nicht verteidigen könnte, wenn plötzlich ein Detektiv auftauchte und mich des Mordes beschuldigte. Ich gehe immer schneller auf den Fluss zu. Als ich schon ganz nahe am Fluss bin, sehe ich plötzlich in der Ferne einen Berg, auf [IX-262] dem eine herrliche Stadt steht. Der Berg erstrahlt im Licht, ich sehe Leute auf den Straßen tanzen, und ich habe das Gefühl, alles käme in Ordnung, wenn ich nur den Fluss überqueren könnte.

Der Analytiker: „Welche Überraschung! Es ist das erste Mal, dass Sie davon überzeugt sind, kein Verbrechen begangen zu haben, und dass Sie nur befürchten, sich gegen die Beschuldigung nicht verteidigen zu können. Ist Ihnen gestern etwas Gutes widerfahren?“

Der Träumer: „Nichts von Bedeutung, außer dass ich mit einiger Befriedigung feststellte, dass ein Versehen, das im Büro vorgekommen war, eindeutig die Schuld eines anderen und nicht meine Schuld war, was die anderen meiner Befürchtung nach vielleicht hätten glauben können.“

Der Analytiker: „Ich finde das auch recht befriedigend - aber vielleicht erzählen Sie mir, worin das Versehen bestand.“

Der Träumer: „Eine Dame hatte angerufen und wollte einen Teilhaber unserer Firma, Herrn X., sprechen. Ich telefonierte mit ihr und war von ihrer netten Stimme recht beeindruckt. Ich riet ihr, am nächsten Tag um vier Uhr hierherzukommen, und legte eine entsprechende Notiz auf den Schreibtisch von Herrn X. Seine Sekretärin nahm die Notiz an sich, aber anstatt ihn davon zu unterrichten, legte sie sie weg und vergaß sie völlig. Am nächsten Tag kam die junge Dame und war ärgerlich und enttäuscht, als sie hörte, dass Herr X. nicht im Hause war und dass die ganze Geschichte vergessen worden war. Ich sprach mit ihr und entschuldigte mich, und nach ein paar Minuten brachte ich sie dazu, mir das Problem zu unterbreiten, das sie mit Herrn X. besprechen wollte. All das hat sich gestern zugetragen.“

Der Analytiker: „Ich nehme an, die Sekretärin erinnerte sich an ihr Versäumnis und sagte es Ihnen oder der jungen Dame?“

Der Träumer: „Ach ja, natürlich; komisch, dass ich vergessen habe, das zu erwähnen; gestern ist mir das äußerst wichtig vorgekommen - aber natürlich ist das Unsinn.“

Der Analytiker: „Hören wir uns den Unsinn an. Sie wissen ja aus Erfahrung, dass unser Unsinn gewöhnlich die weiseste Stimme in uns ist.“

Der Träumer: „Nun, ich möchte sagen, dass ich merkwürdig glücklich war, als ich mit der Dame sprach. Es handelte sich um ihre Scheidung, und ich entnahm ihrem Bericht, dass sie von ihrer ehrgeizigen Mutter durch Einschüchterung zu einer unmöglichen Ehe überredet worden war. Sie hatte es vier Jahre lang ausgehalten und sich jetzt entschlossen, der Sache ein Ende zu machen.“

Der Analytiker: „Sie haben doch auch Visionen von Freiheit, nicht wahr? Mich interessiert da ein kleines Detail. Sie sehen Leute auf den Straßen tanzen, und das ist das einzige Detail, das sie an der Stadt erkennen können. Haben Sie jemals eine solche Szene beobachtet?“

Der Träumer: „Warten Sie einen Augenblick. (...) Das ist doch merkwürdig (...) - jetzt fällt es mir ein (...). Ja, als ich 14 Jahre war, habe ich mit meinem Vater eine Reise nach Frankreich gemacht. Wir waren am 14. Juli in einer kleinen Stadt und sahen uns die Feier an, und am Abend sah ich zu, wie die Leute auf den Straßen tanzten. Wissen Sie, das war das letzte Mal, dass ich - soweit ich mich erinnern kann - richtig glücklich war.“ [IX-263]

Der Analytiker: „Nun, letzte Nacht ist es Ihnen gelungen, den Faden wieder aufzugreifen. Sie konnten sich Freiheit, Licht, Glück und Tanz als eine Möglichkeit vorstellen, als etwas, das Sie schon einmal erlebt hatten und wieder aufs Neue erleben können.“

Der Träumer: „Vorausgesetzt, dass ich weiß, wie ich den Fluss überqueren kann.“

Der Analytiker: „Ja: Sie erkennen zum ersten Mal, dass Sie in Wirklichkeit das Verbrechen nicht begangen haben, dass es die Stadt gibt, in der Sie frei sind, und dass nur ein Fluss, den man überqueren kann, Sie von diesem besseren Leben trennt. Waren keine Alligatoren im Fluss?“

Der Träumer: „Nein, es war ein gewöhnlicher Fluss, so einer wie der in unserer Stadt, vor dem ich als Kind immer ein wenig Angst hatte.“

Der Analytiker: „Dann muss es auch eine Brücke darüber geben. Sie haben wahrhaftig lange damit gewartet, sie zu überschreiten. Wir müssen jetzt herausfinden, was Sie noch immer daran hindert, es zu tun.“

Es ist dies einer jener wichtigen Träume, in denen ein entscheidender Schritt aus einer seelischen Erkrankung gewagt wird. Gewiss ist der Patient noch nicht gesund, aber er hat die wichtigste Vorbedingung für seine Gesundheit erlebt: Er hat eine klare und lebendige Vision von einem Leben gehabt, in dem er nicht der verfolgte Verbrecher, sondern ein freier Mensch ist. Ihm wird deutlich, dass er, um dorthin zu gelangen, einen Fluss überqueren muss - ein altes, universal gebrauchtes Symbol für eine wichtige Entscheidung, für den Beginn einer neuen Daseinsform; für Geburt oder Tod und dafür, dass man eine Lebensweise für eine andere aufgibt. Die Vision der Stadt ist eine Wunscherfüllung, aber es handelt sich um einen rationalen Wunsch; er repräsentiert das Leben, er stammt aus jenem Teil des Träumers, der verborgen und ihm selbst entfremdet war. Diese Vision ist real, genauso real wie alles, was seine Augen im Laufe des Tages sehen, nur dass er immer noch die Einsamkeit und Freiheit des Schlafs braucht, um ihrer sicher zu sein.

Ich möchte noch einen weiteren „Flussüberquerungstraum“ anführen. Der Träumer ist ein verwöhntes Einzelkind, ein Junge. Er wurde von seinen Eltern verzärtelt, er wurde von ihnen als künftiges Genie bewundert, alles wurde ihm leicht gemacht und keinerlei Anstrengung von ihm erwartet - vom Frühstück an, das ihm seine Mutter morgens ans Bett brachte, bis zu den Unterredungen des Vaters mit seinen Lehrern, die immer damit endeten, dass dieser seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass sein Junge wunderbare Gaben besitze. Beide Eltern hatten eine krankhafte Angst davor, er könne in Gefahr geraten; er durfte nicht schwimmen, nicht wandern und nicht auf der Straße spielen. Manchmal hatte er Lust, gegen diese lästigen Behinderungen aufzubegehren, aber weshalb sollte er sich beklagen, wo er doch alle diese schönen Dinge besaß: Bewunderung, zärtliche Liebe und so viele Spielsachen, dass er sie wegwerfen konnte, und wo er doch vor allen äußeren Gefahren fast völlig geschützt war. Er war tatsächlich ein begabter Junge, aber es war ihm nie ganz gelungen, auf eigenen Füßen zu stehen. Er versuchte nicht, das Leben zu meistern, sondern wollte Beifall ernten und bewundert werden. So wurde er von anderen abhängig und - bekam Angst. Aber gerade dieses Bedürfnis nach Lob und die Angst, es könne ihm versagt werden, machte ihn wütend, ja sogar grausam. Er war in die analytische Behandlung [IX-264] gekommen, weil ihn eine ständige innere Unruhe erfüllte, die seiner kindischen Angeberei, seiner Unselbständigkeit, seiner Angst und seinen Wutanfällen entsprang. Nach sechs Monaten analytischer Arbeit hatte er folgenden Traum:

Ich soll einen Fluss überqueren. Ich sehe mich nach einer Brücke um, aber da ist keine. Ich bin noch klein, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Ich kann nicht schwimmen. (Tatsächlich lernte er erst mit achtzehn Jahren schwimmen.) Dann sehe ich einen großen dunklen Mann, der mir ein Zeichen gibt, er könne mich auf seinen Armen hinübertragen. Der Fluss ist nur ungefähr 1,5 Meter tief. Zuerst bin ich froh und lasse es geschehen. Als er mich aber auf den Armen hält und losgeht, gerate ich plötzlich in Panik. Ich weiß, dass ich sterben muss, wenn ich mich nicht davonmache. Wir befinden uns bereits im Fluss, aber ich nehme allen Mut zusammen und springe aus den Armen des Mannes ins Wasser. Zuerst denke ich, ich würde ertrinken. Aber dann fange ich an zu schwimmen und erreiche bald das andere Ufer. Der Mann ist verschwunden.

Der Träumer war am vorhergehenden Tag auf einer Party gewesen, und es war ihm dort plötzlich aufgegangen, dass sein ganzes Sinnen und Trachten sich darauf richtete, bewundert und gern gesehen zu werden. Er hatte - zum ersten Mal - gefühlt, wie kindisch er in Wirklichkeit war und dass er eine Entscheidung treffen müsse. Er konnte das für nichts verantwortliche Kind bleiben, oder er konnte sich für den schmerzhaften Übergang zur Reife entscheiden. Er fühlte, dass er sich nicht länger vormachen durfte, alles sei so, wie es sein sollte, und dass er seine Beliebtheit nicht länger für eine echte Leistung halten durfte. Diese Gedanken hatten ihn stark erschüttert, und er war darüber eingeschlafen.

Der Traum ist nicht schwer zu verstehen. Das Überqueren des Flusses steht für die Entscheidung, die er treffen muss, vom Ufer der Kindheit zu dem der Reife überzusetzen. Aber wie ist ihm das möglich, wenn er sich für einen Fünf- oder Sechsjährigen hält, der nicht schwimmen kann? Der Mann, der sich anbietet, ihn hinüberzutragen, symbolisiert viele Personen: den Vater, die Lehrer, einen jeden, der bereit war, ihn zu tragen - bestochen durch seinen Charme und seine vielversprechenden Anlagen. Bis hierher symbolisiert der Traum genau sein inneres Problem und die Art und Weise, wie er es immer wieder gelöst hatte. Aber jetzt kommt ein neuer Faktor hinzu. Er sagt sich, es werde sein Untergang sein, wenn er sich wieder tragen lasse. Es ist dies eine scharfe, klare Einsicht. Er fühlt, dass er einen Entschluss fassen muss, und springt ins Wasser. Er merkt, dass er tatsächlich schwimmen kann (offensichtlich ist er im Traum jetzt nicht mehr fünf oder sechs Jahre alt) und dass er das andere Ufer ohne fremde Hilfe erreicht. Das ist wiederum eine Wunscherfüllung, aber es ist - genau wie im vorigen Traum - eine Vision seines Zieles als Erwachsener; er entdeckt, dass seine übliche Methode, sich tragen zu lassen, zu seinem Ruin führen muss; außerdem weiß er, dass er tatsächlich schwimmen kann, wenn er nur den Mut hat, ins Wasser zu springen.

Natürlich verlor diese Vision im Laufe der Zeit ihre ursprüngliche Klarheit. Der „Lärm“ des Tages legte es ihm nahe, dass man nichts „übertreiben“ sollte, dass alles in bester Ordnung war, dass kein Grund bestand, alle Freundschaften aufzugeben, dass wir allesamt Hilfe brauchen und dass er sie ganz gewiss verdiente und so weiter - es gibt so viele Gründe, die wir uns zurechtmachen, um eine klare, aber unbequeme [IX-265] Einsicht zu vernebeln. Nach einiger Zeit jedoch war er auch tagsüber ebenso klug und mutig, wie er es nachts gewesen war und der Traum bewahrheitete sich.

Diese letzten Träume veranschaulichen einen wichtigen Unterschied zwischen rationalen und irrationalen Wünschen. Wir wünschen uns oft Dinge, die in unserer Schwäche wurzeln und sie kompensieren; wir träumen, wir seien berühmt, allmächtig, von jedermann geliebt, usw. Aber manchmal träumen wir auch von Wünschen, die unsere wertvollsten Ziele vorwegnehmen. Es kommt vor, dass wir uns tanzen oder fliegen sehen; wir sehen die Lichterstadt; wir erleben die beglückende Gegenwart von Freunden. Selbst wenn wir in unserem wachen Dasein noch nicht fähig sind, die Freude des Traums zu erleben, so zeigt uns doch das Traumerlebnis, dass wir wenigstens fähig sind, es uns zu wünschen und es in einer Traumphantasie erfüllt zu sehen. Phantasien und Träume sind der Beginn vieler Taten, und nichts wäre verkehrter, als sie geringzuschätzen und dem Betreffenden den Mut dazu zu nehmen. Es kommt auf die Art der Phantasien an, die wir haben - ob sie uns voranführen oder ob sie uns im Nicht-Produktiven zurückhalten.

Der folgende Traum drückt eine tiefe Einsicht in das Problem des Träumers aus und ist ein gutes Beispiel für die Funktion des assoziativen Materials. Der Träumer, ein fünfunddreißigjähriger Mann, litt seit seiner Adoleszenz an einer leichten, aber hartnäckigen Depression. Der Vater war ein leichtlebiger, aber liebloser Mann gewesen. Die Mutter hatte, seit der Junge acht oder neun Jahre alt war, an schweren Depressionen gelitten. Er durfte nicht mit anderen Kindern spielen; wenn er das Haus verließ, warf ihm die Mutter vor, er tue ihr damit weh. Nur bei seinen Büchern und in Gesellschaft seiner Phantasien in einer Zimmerecke war er vor ihren Vorwürfen sicher. Jede Äußerung von Begeisterung wurde von der Mutter mit einem Achselzucken und Bemerkungen abgetan, für ein derartiges Glücksgefühl und das ganze Getue bestehe kein Grund. Mit seinem Verstand erkannte der Träumer zwar, dass die Vorwürfe der Mutter nicht berechtigt waren, aber er hatte trotzdem das Gefühl, dass sie recht habe und dass er an ihrem Unglück schuld sei. Auch hatte er das Gefühl, schlecht für das Leben ausgerüstet zu sein, weil ihm in seiner Kindheit bestimmte wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Lebensgestaltung gefehlt hatten. Er fürchtete ständig, die anderen könnten die Gefühlsarmut (nicht die materielle Armut) in seiner Familie bemerken. Ein besonderes Problem stellte für ihn der Umgang mit anderen Menschen dar, besonders wenn diese ihn angriffen oder neckten. Einem solchen Verhalten gegenüber war er völlig hilflos, und er fühlte sich nur im Umgang mit ein paar guten Freunden wohl in seiner Haut. Er hatte folgenden Traum:

Ich sehe einen Mann in einem Rollstuhl sitzen. Er eröffnet eine Schachpartie, jedoch ziemlich lustlos. Plötzlich unterbricht er das Spiel und sagt: „Man hat schon vor langer Zeit zwei Figuren aus meinem Spiel herausgenommen. Aber ich werde sie durch ‚Thessail’ ersetzen.“ Dann fügt er noch hinzu: „Eine Stimme (die meiner Mutter) hat mir zugeflüstert: Das Leben ist nicht lebenswert.“

Teilweise ist dieser Traum leicht verständlich, wenn wir etwas über die Geschichte und das Problem des Träumers wissen. Der Mann im Rollstuhl ist er selbst. Das Schachspiel ist das Spiel des Lebens, besonders jener Aspekt desselben, wo er angegriffen wird und zum Gegenangriff übergehen oder irgendeine andere Strategie [IX-266] anwenden muss. Er hat keine rechte Lust, dieses Spiel zu spielen, weil er meint, er sei schlecht dafür gerüstet. „Man hat schon vor langer Zeit zwei Figuren aus meinem Spiel herausgenommen.“ Das entspricht dem Gefühl, das er auch im wachen Zustand hat, dass er in seiner Kindheit gewisse Dinge entbehren musste und dass dies der Grund für seine Hilflosigkeit im Lebenskampf ist. Aber welche Figuren waren aus dem Spiel entfernt worden? Der König und die Königin, sein Vater und seine Mutter, die nicht wirklich da waren - außer in der negativen Funktion, dass sie ihn enttäuschten, an ihm herumnörgelten, ihn quälten und ihm Vorwürfe machten. Aber mit Hilfe von „Thessail“ bringt er es trotzdem fertig zu spielen. Hier kommen wir nicht weiter, der Träumer selbst auch nicht.

Der Träumer: „Ich sehe das Wort deutlich vor mir, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was es bedeutet.“

Der Analytiker: „Im Traum wussten Sie offenbar, was es bedeutete; schließlich ist es Ihr Traum, und Sie haben das Wort geprägt. Versuchen Sie doch einfach, frei zu assoziieren. Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an das Wort denken?“

Der Träumer: „Das erste, was mir einfällt, ist Thessalien, ein Teil Griechenlands. Ja, jetzt erinnere ich mich, dass ich als Kind von Thessalien sehr beeindruckt war. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich so ist, aber ich stelle mir Thessalien als einen Teil Griechenlands mit einem warmen, ausgeglichenen Klima vor, wo Hirten friedlich und glücklich leben. Es hat mir immer besser gefallen als Sparta und Athen. Sparta verabscheute ich wegen seines militaristischen Geistes - Athen gefiel mir nicht, weil die Athener mir wie überkultivierte Snobs vorkamen. Ich fühlte mich zu den Hirten von Thessalien hingezogen.“

Der Analytiker: „Das Wort, von dem Sie geträumt haben, ist aber „Thessail“ und nicht Thessalien. Weshalb haben Sie es verändert?“

Der Träumer: „Komisch, jetzt denke ich an einen Dreschflegel, an das Gerät, das die Bauern zum Dreschen verwenden. Aber sie können es auch als Waffe benutzen, wenn sie nichts anderes haben.“

Der Analytiker: „Das ist sehr interessant. Thessail setzt sich demnach zusammen aus Thess-alien und fl-ail (= Dreschflegel). Auf eine merkwürdige Weise steht Thessalien - oder besser gesagt, das, was es für sie bedeutet - in enger Beziehung zu einem Dreschflegel, Hirten und Bauern, das einfache, idyllische Leben. Kommen wir noch einmal auf Ihren Traum zurück. Im Traum spielen Sie Schach und wissen, dass man zwei Figuren aus Ihrem Spiel herausgenommen hat, aber Sie können sie durch „Thessail“ ersetzen.“

Der Träumer: „Jetzt ist es mir ziemlich klar. Im Spiel des Lebens fühle ich mich durch die Entbehrungen meiner Kindheit im Nachteil. Ich habe nicht alle Waffen (die Schachfiguren, mit denen gekämpft wird), welche die anderen haben, aber ich könnte mich in ein einfaches, idyllisches Leben zurückziehen, und ich könnte sogar mit einem Dreschflegel als Ersatz für die mir fehlenden Waffen - die Schachfiguren - kämpfen.“

Der Analytiker: „Aber damit ist der Traum nicht zu Ende. Nachdem Sie Ihr Schachspiel unterbrochen haben, sagen Sie: „Eine Stimme hat mir zugeflüstert: Das Leben ist nicht lebenswert.“ [IX-267]

Der Träumer: „Das verstehe ich sehr gut. Schließlich spiele ich das Spiel des Lebens nur, weil ich es muss. Aber ich bin nicht wirklich interessiert an diesem Leben. Das Gefühl, das ich mehr oder weniger stark seit meiner Kindheit habe, ist genau das, was ich im Traum sage: „Das Leben ist nicht lebenswert.“

Der Analytiker: „Ja, dieses Gefühl hatten Sie ja schon immer. Doch gibt es da nicht eine wichtige Mitteilung, eine Botschaft, die Sie sich im Traum zugesandt haben?“

Der Träumer: „Sie meinen, dass mir das Depressive von meiner Mutter eingegeben wurde?“

Der Analytiker: „Ja, das meine ich. Wenn Sie erst einmal erkannt haben, dass Ihre depressive Beurteilung des Lebens nicht von Ihnen selbst stammt, sondern dass immer noch die Stimme Ihrer Mutter ihre gleichsam posthypnotische Wirkung auf Sie ausübt, dann haben Sie schon einen Schritt in die Richtung getan, sich von dieser Stimme zu befreien. Dass Ihre depressive Weltanschauung in Wirklichkeit gar nicht Ihre eigene ist, ist eine wichtige Entdeckung, die Sie gemacht haben - und die konnten Sie nur im Schlaf machen.“

Ein Traumtyp, für den wir bisher noch kein Beispiel gebracht haben, ist der Albtraum. Nach Freuds Auffassung bildet der Albtraum keine Ausnahme von der allgemeinen Regel, dass der latente Trauminhalt die Erfüllung eines irrationalen Wunsches ist. Natürlich gibt es einen naheliegenden Einwand gegen diese Ansicht, den jeder vorbringen wird, der schon einmal einen Albtraum hatte: Wenn man in einem Traum alle Schrecken der Hölle durchmacht und dann mit einer schier unerträglichen Angst aufwacht, ist es dann sinnvoll zu sagen, das sei eine Wunscherfüllung?

Dieser Einwand ist aber bei weitem nicht so treffend, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte. Denn erstens kennen wir einen pathologischen Zustand, bei dem die Menschen sich getrieben fühlen, genau das zu tun, was sie zerstört. Der Masochist hat den - wenn auch unbewussten - Wunsch, einen Unfall zu erleiden, krank zu werden, gedemütigt zu werden. Bei der masochistischen Perversion - wo dieser Wunsch sexuell gefärbt und für den Betreffenden weniger gefährlich ist - ist dieses masochistische Verlangen sogar bewusst. Außerdem wissen wir, dass ein Suizid das Ergebnis eines übermächtigen Impulses nach Rache und Vernichtung sein kann, die sich gegen die eigene Person und nicht gegen andere richtet. Jedoch kann ein zur Selbstzerstörung oder zu einer anderen Schmerz verursachenden Handlung getriebener Mensch mit dem anderen Teil seiner Persönlichkeit eine echte und intensive Angst empfinden.[14] Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Angst die Folge seiner eigenen selbstzerstörerischen Wünsche ist. Aber nach der Beobachtung Freuds kann ein Wunsch nicht nur dann Angst hervorrufen, wenn es sich dabei um einen masochistischen oder selbstzerstörerischen Impuls handelt. Wenn wir uns etwas wünschen, was andere Menschen veranlassen wird, uns zu hassen oder wofür die Gesellschaft uns bestrafen wird, dann wird die Erfüllung dieses Wunsches in uns natürlich auch Angst hervorrufen. Ein Beispiel eines Angsttraums dieser Art ist der folgende:

Ich gehe an einem Obstgarten vorbei und pflücke mir einen Apfel von einem Baum. Ein großer Hund kommt und springt mich an. Ich erschrecke furchtbar und wache laut um Hilfe rufend auf. [IX-268]

Um diesen Traum zu verstehen, braucht man nur zu wissen, dass der Träumer am Abend zuvor einer verheirateten Frau begegnet war, zu der er sich stark hingezogen fühlte. Sie hatte ihm offenbar Hoffnung gemacht, und er war mit der Phantasie eingeschlafen, mit ihr ein Verhältnis zu haben. Wir brauchen hier nicht zu untersuchen, ob die Angst, die er im Traum empfand, von seinem schlechten Gewissen oder von der Angst vor der öffentlichen Meinung kam - das Wesentliche bleibt, dass die Angst die Folge seiner Wunscherfüllung ist, des Wunsches, den gestohlenen Apfel zu essen.

Obwohl man auf diese Weise viele Angstträume als versteckte Wunscherfüllungen verstehen kann, möchte ich doch bezweifeln, dass dies bei allen oder auch nur bei den meisten der Fall ist. Wenn wir annehmen, dass das Träumen jede Art seelischer Tätigkeit im Schlafzustand ausdrückt, weshalb sollten wir uns im Schlaf dann nicht ebenso wie im wachen Zustand vor Gefahren fürchten?

Aber - so könnte jemand argumentieren - wird nicht jede Angst durch unsere Begierden erzeugt? Hätten wir Angst, wenn wir keinen „Durst“ hätten - wie die Buddhisten sagen - wenn wir also nicht Dinge begehrten? Können wir daher nicht in einem allgemeinen Sinn sagen, dass jede Angst im Wachen wie im Traum das Resultat von Wünschen sei? Dies ist ein treffendes Argument, und wenn wir sagten, es gäbe keinen Angsttraum (oder keine Angst im wachen Zustand) ohne das Vorhandensein eines Wunsches - einschließlich des fundamentalen Wunsches zu leben - so gäbe es wohl keinen Einwand gegen diese Behauptung. Aber Freuds Interpretation ist nicht in diesem allgemeinen Sinn gemeint. Es könnte zur Klärung des Problems beitragen, wenn wir uns noch einmal mit dem Unterschied zwischen den drei Arten von Angstträumen, die wir soeben besprochen haben, befassen.

Bei dem masochistischen, selbstzerstörerischen Albtraum ist der Wunsch selbst schmerzhaft und selbstzerstörerisch. Beim zweiten Typ des Angsttraums, wie bei dem Traum mit dem Apfel, ist der Wunsch selbst nicht selbstzerstörerisch, aber er ist von einer Art, dass seine Erfüllung in einem anderen Teil unseres Seelenbereiches Angst hervorruft. Der Traum ist von einem Wunsch verursacht, der als Nebenprodukt Angst erzeugt. Beim dritten Typ, bei dem man sich vor einer wirklichen oder eingebildeten Bedrohung seines Lebens, seiner Freiheit usw. fürchtet, wird der Traum von dieser Bedrohung verursacht, während der Wunsch zu leben, frei zu sein usw., der allgegenwärtige Impuls ist, der diesen spezifischen Traum nicht hervorruft. Die Angst wird also in der ersten und in der zweiten Kategorie durch das Vorhandensein eines Wunsches erzeugt, in der dritten Kategorie dagegen durch das Vorhandensein einer (wirklichen oder eingebildeten) Gefahr, wenn auch der Wunsch zu leben oder andere universale Wünsche vorhanden sind. In dieser dritten Kategorie ist der Angsttraum zweifellos nicht die Erfüllung des Wunsches, sondern die Angst vor seiner Versagung.

Der folgende Traum ist ein Angsttraum, der vielen anderen Albträumen ähnlich ist:

Ich befinde mich in einem Gewächshaus. Plötzlich sehe ich eine Schlange, die auf mich losgeht. Meine Mutter steht neben mir und lächelt mir boshaft zu. Dann geht sie weg, ohne mir zu helfen. Ich laufe zur Tür, aber die Schlange ist bereits dort - und versperrt mir den Weg. Voller Entsetzen wache ich auf. [IX-269]

Die Träumerin ist eine fünfundvierzigjährige Frau, die unter schweren Angstzuständen leidet. Der hervorstechende Zug in ihrer Geschichte ist der auf Gegenseitigkeit beruhende Hass zwischen ihr und ihrer Mutter. Das Gefühl, dass ihre Mutter sie hasste, war keine Einbildung. Die Mutter war mit einem Mann verheiratet, den sie nie geliebt hatte; sie grollte ihrem erstgeborenen Kind, der Träumerin, das sie ihrer Meinung nach durch seine bloße Existenz zwang, ihre Ehe fortzusetzen. Als die Träumerin drei Jahre alt war, erzählte sie ihrem Vater etwas, das in ihm den Verdacht erregte, dass seine Frau mit einem anderen Mann ein Verhältnis hatte. Das kleine Mädchen wusste zwar nicht genau, was es beobachtet und gesagt hatte, intuitiv wusste sie es jedoch recht gut, und die Wut der Mutter auf sie war begründeter, als es nach außen hin den Anschein hatte. Je älter das Mädchen wurde, umso mehr versuchte es, die Mutter zu provozieren, und umso mehr versuchte die Mutter, sie dafür zu bestrafen und schließlich zugrunde zu richten. Ihr Leben war ein ständiger Kampf gegen irgendwelche Angriffe. Hätte der Vater ihr geholfen und ihr den Rücken gestärkt, so wäre die Sache vielleicht anders ausgegangen. Aber er hatte selbst Angst vor seiner Frau und stellte sich nie offen auf die Seite seiner Tochter. Das Resultat von all dem und von vielen anderen Umständen war, dass die Tochter, ein sehr begabter und stolzer Mensch, sich immer mehr von allen Leuten zurückzog, dass sie sich von ihrer Mutter „geschlagen“ fühlte und in der Hoffnung lebte, es werde ihr selbst doch noch „eines Tages“ gelingen, diese zu besiegen. Dieser ganze Hass und diese ganze Unsicherheit versetzte sie in einen Zustand ständiger Angst, der sie im Wachen und Schlafen quälte.

Der Traum ist eine der vielen Äußerungen dieser Angst. Zum „Gewächshaus“ assoziiert sie, dass es auf dem Landgut ihrer Eltern stand. Sie ging oft allein dorthin, niemals mit ihrer Mutter. Im Traum ist die Gefahr nicht ihre Mutter, sondern die Schlange. Was bedeutet das? Offenbar ist der Wunsch vorhanden, eine Mutter zu haben, die sie vor Gefahr beschützt. (Tatsächlich hatte sie gelegentlich Tagträume, dass ihre Mutter sich ändern und ihr helfen würde.) Hier ist sie wieder einmal in Gefahr. Aber ihre Mutter lächelt nur boshaft und geht weg. Darin zeigt die Mutter ihr wahres Gesicht. Zuerst wird sozusagen der Versuch gemacht, die böse Mutter (die Schlange) von der guten Mutter abzuspalten, die ihr helfen könnte. Als die Mutter sie aber boshaft anschaut und ihr nicht hilft, ist diese Illusion zerstört, Mutter und Schlange sind ein und dasselbe - Kräfte, die sie zu vernichten drohen. Da läuft die Träumerin zur Tür und hofft auf diese Weise zu entkommen, aber es ist zu spät: Der Weg ist versperrt. Sie ist jetzt mit der giftigen Schlange und einer destruktiven Mutter eingesperrt. Im Traum erlebt die Patientin die gleiche Angst, die sie tagsüber verfolgt, nur noch intensiver und noch deutlicher auf die Mutter bezogen. Es handelt sich hierbei nicht um eine realistische Furcht, sondern um eine krankhafte Angst. Die Mutter ist für sie keine Bedrohung mehr, und tatsächlich wird sie von überhaupt niemandem bedroht oder in Gefahr gebracht. Trotzdem hat sie Angst, und im Traum kommt diese Angst zum Durchbruch. Ist der Traum die Erfüllung eines Wunsches? Bis zu einem gewissen Grade trifft das zu. Sie hat den Wunsch, die Mutter als Beschützerin zu haben, und erst als diese - anstatt ihr zu Hilfe zu kommen - sie boshaft anblickt, fängt das Entsetzen an. Das Verlangen nach einer Mutter, die sie liebt und beschützt, jagt [IX-274a] ihr Angst vor dieser Frau ein. Wenn sie die Mutter nicht mehr brauchte, hätte sie auch keine Angst mehr vor ihr. Aber noch wichtiger als diese Wünsche nach Liebe und Schutz einer Mutter sind andere Wünsche, ohne welche die Angst vor der Mutter nicht hätte fortbestehen können: ihr Wunsch nach Rache, ihr Wunsch, den Vater erkennen zu lassen, dass seine Frau böse ist, ihn ihr wegzunehmen; und dies nicht, weil sie ihren Vater so sehr liebt, und auch nicht wegen einer sexuellen Bindung an ihn aus ihrer frühen Kindheit, sondern wegen der tiefen Demütigung durch ihre Niederlage als Kind und durch das Gefühl, dass sie ihren Stolz und ihr Selbstvertrauen nur wiedergewinnen kann, wenn sie ihre Mutter vernichtet. Weshalb diese frühzeitige Demütigung so unausrottbar war und noch ist, weshalb das Verlangen nach Rache und Triumph so unbesiegbar ist, ist eine andere Frage, die zu komplex ist, als dass wir sie in diesem Zusammenhang erörtern könnten. Die Träumerin hat noch andere Angstträume, in denen das eine in diesem Traum enthaltene Element, nämlich der Wunsch, dass die Mutter ihr helfen soll, völlig fehlt.

Solche Träume sind:

Ich bin in einem Käfig mit einem Tiger. Niemand ist da, der mir hilft.

Oder:

Ich gehe auf einem schmalen Landstreifen über einen Sumpf. Es ist dunkel, und ich kann den Weg nicht sehen. Ich habe die Orientierung völlig verloren und habe das Gefühl, dass ich ausrutschen und ertrinken werde, wenn ich noch einen Schritt weitergehe.

Oder:

Ich bin die Angeklagte in einem Prozess; ich bin des Mordes angeklagt und weiß, dass ich unschuldig bin. Aber ich kann es den Gesichtern des Richters und der Geschworenen ansehen, dass sie sich schon darüber einig sind, dass ich schuldig bin. Das Verhör ist eine reine Formsache. Ich weiß, dass der Fall bereits entschieden ist, was ich oder die Zeugen auch immer sagen werden (übrigens sehe ich gar keine Zeugen), und dass es keinen Sinn hat, mich zu verteidigen.

Das Wesentliche in all diesen Träumen ist das Gefühl völliger Hilflosigkeit, das zu einer Lähmung aller Funktionen und zur Panik führt. Leblose Gegenstände, Tiere, Menschen - sie alle kennen keine Gnade; kein Freund ist in Sicht; keine Hilfe ist zu erwarten. Das Gefühl der Ohnmacht ist in der Unfähigkeit der Träumerin begründet, ihr Verlangen nach Rache aufzugeben und dem Kampf mit ihrer Mutter ein Ende zu machen. Aber das ist noch nicht die Erfüllung irgendeines Wunsches. Wir haben hier den Wunsch zu leben, daher die Angst, Angriffen ausgesetzt zu sein, gegen die sie sich nicht wehren kann.

Besonders interessant und bedeutsam sind Träume, die ständig wiederkehren und von denen einige Leute berichten, dass sie sie jahrelang geträumt hätten, manchmal solange sie zurückdenken könnten. Diese Träume drücken gewöhnlich das Hauptthema, das Leitmotiv im Leben dieser Menschen aus; oft bieten sie den Schlüssel zu ihrer Neurose oder zum wichtigsten Aspekt ihrer Persönlichkeit. Manchmal bleibt der Traum unverändert, manchmal kommen mehr oder weniger subtile Veränderungen vor, die ein Hinweis darauf sind, dass der Träumer einen inneren Fortschritt oder - je nachdem - einen Rückschritt erlebt hat.

Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das unter den unmenschlichsten und destruktivsten [IX-271] Verhältnissen aufwuchs (sie hatte einen gewalttätigen Alkoholiker zum Vater, der sie schlug, die Mutter lief immer wieder mit einem anderen Mann weg; kein Essen, keine Kleider, Schmutz) machte mit zehn Jahren einen Selbstmordversuch, den sie hinterher noch fünfmal wiederholte. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie immer wieder folgenden Traum:

Ich befinde mich tief unten in einer Grube. Ich versuche hochzuklettern und bin schon am oberen Rand, an dem ich mich mit den Händen anklammere, da kommt jemand und tritt mir auf die Hände. Ich muss loslassen und falle wieder hinunter in die Grube.

Der Traum bedarf kaum einer Erklärung; er bringt die Lebenstragödie dieses Mädchens voll zum Ausdruck - was man ihr angetan hat und was sie fühlt. Hätte sie den Traum nur einmal geträumt, so dürften wir annehmen, dass eine bestimmte Angst darin zum Ausdruck kommt, welche die Träumerin gelegentlich verspürt und die durch spezifische, belastende Umstände hervorgerufen wird. So aber müssen wir auf Grund der regelmäßigen Wiederholung annehmen, dass die Traumsituation das zentrale Thema im Leben des jungen Mädchens ist, dass der Traum eine so tiefe und unabänderliche Überzeugung ausdrückt, dass wir verstehen können, weshalb sie immer wieder Selbstmordversuche gemacht hat.

Ein sich wiederholender Traum, in dem das Thema das Gleiche bleibt, bei dem es aber trotzdem zu beträchtlichen Veränderungen kommt, gehört in eine Reihe, die mit folgendem Traum begann:

Ich bin im Gefängnis - ich kann nicht hinaus.

Später wurde geträumt:

Ich will über die Grenze - aber ich habe keinen Pass und werde an der Grenze zurückgehalten.

Noch später:

Ich bin in Europa - ich bin am Hafen und will auf ein Schiff - aber es ist kein Schiff da, und ich weiß nicht, wie ich wegkommen soll.

Die letzte Version dieses Traumes war:

Ich bin in einer großen Stadt - in meinem Haus - ich will hinaus. Als ich die Tür aufmachen will, geht es schwer - ich gebe ihr einen heftigen Stoß - sie geht auf, und ich gehe hinaus.

Das allen diesen Träumen zugrunde liegende Thema ist die Angst, eingeschlossen, gefangen gehalten zu sein, nicht „hinaus zu können“. Was diese Angst im Leben des Träumers bedeutet, ist in diesem Zusammenhang nicht wichtig. Die Traumreihe zeigt, dass die Angst zwar jahrelang vorhanden war, dass sie aber immer schwächer wurde - vom Aufenthalt im Gefängnis bis zur schwer zu öffnenden Tür. Während der Träumer sich anfangs unfähig fühlte zu entrinnen, bringt er es im letzten Traum fertig - mit einem kleinen zusätzlichen Ruck - die Tür zu öffnen und hinauszugehen.

Während dieser Jahre hat der Träumer eine beträchtliche Entwicklung erlebt.

7. Die symbolische Sprache in Mythos, Märchen, Ritual und Roman

Genau wie der Traum bietet auch der Mythos eine Geschichte, die sich in Raum und Zeit abspielt, eine Geschichte, die in symbolischer Sprache religiöse und philosophische Ideen, Erfahrungen der Seele ausdrückt, in denen die wahre Bedeutung des Mythos liegt. Erfasst man diese wahre Bedeutung des Mythos nicht, so steht man vor der Alternative, dass er entweder ein vorwissenschaftliches, naives Bild der Welt und Geschichte und bestenfalls ein Produkt von Phantasievorstellungen von poetischer Schönheit ist, oder - und das ist die orthodoxe Auffassung - dass die manifeste Geschichte des Mythos wahr ist, und dass man darin einen wahrheitsgetreuen Bericht von Ereignissen zu sehen hat, die sich „in Wirklichkeit“ abgespielt haben. Diese Alternative schien im neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in den westlichen Kulturen noch unausweichlich, doch findet langsam eine Annäherung statt. Heute stellt man die religiöse und philosophische Bedeutung des Mythos in den Vordergrund, und man sieht in der manifesten Geschichte den symbolischen Ausdruck dieser Bedeutung. Aber auch was den manifesten Inhalt betrifft, hat man begreifen gelernt, dass es sich dabei nicht nur um das Erzeugnis phantastischer Vorstellungen „primitiver“ Völker handelt, sondern dass darin für wertvoll gehaltene Erinnerungen der Vergangenheit enthalten sind. (Die historische Echtheit einiger dieser Erinnerungen wurde durch zahlreiche Ausgrabungsfunde in den letzten Jahrzehnten bestätigt.) Unter denen, die einem neuen Verständnis des Mythos den Weg geebnet haben, stehen Johann Jakob Bachofen und Sigmund Freud allen voran. Ersterer hat mit einem unübertrefflichen Scharfsinn und mit großer Brillanz den Mythos in seiner religiösen und psychologischen wie auch in seiner historischen Bedeutung erfasst.[15] Letzterer hat dadurch zum Verständnis des Mythos beigetragen, dass er durch seine Traumdeutung für das Verständnis der symbolischen Sprache bahnbrechend war. Es war dies mehr ein indirekter als ein direkter Beitrag zur Mythologie, weil Freud dazu neigte, im Mythos - genau wie im Traum - lediglich den Ausdruck irrationaler, antisozialer Impulse, und nicht die Weisheit vergangener Zeiten zu sehen, die in einer besonderen Sprache, nämlich der der Symbole, ausgedrückt ist. [IX-273]

a) Der Ödipusmythos

Der Ödipusmythos ist das hervorragende Beispiel für Freuds Methode der Mytheninterpretation und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, eine abweichende Auffassung darzulegen, welche nicht in sexuellen Wünschen, sondern in der Einstellung zur Autorität - einem der wichtigsten Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen - das Hauptthema des Mythos sieht. Außerdem ist dieser Mythos ein Beispiel für die Entstellungen und Veränderungen, die Erinnerungen an ältere Gesellschaftsformen und Ideen bei der Bildung seines manifesten Textes erleiden. (Zum Folgenden vgl. E. Fromm, The Oedipus Complex and the Oedipus Myth, 1949b.)

Sigmund Freud schreibt:

Wenn der König Ödipus den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern weiß als den zeitgenössischen Griechen, so kann die Lösung wohl nur darin liegen, dass die Wirkung der griechischen Tragödie nicht auf dem Gegensatz zwischen Schicksal und Menschenwillen ruht, sondern in der Besonderheit des Stoffes zu suchen ist, an welchem dieser Gegensatz erwiesen wird. Es muss eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist, während wir Verfügungen wie in der ‘Ahnfrau’ oder in anderen Schicksalstragödien als willkürliche zurückzuweisen vermögen. Und ein solches Motiv ist in der Tat in der Geschichte des Königs Ödipus enthalten. Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Hass und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Ödipus, der seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. Aber glücklicher als er, ist es uns seitdem, insofern wir nicht Psychoneurotiker geworden sind, gelungen, unsere sexuellen Regungen von unseren Müttern abzulösen, unsere Eifersucht gegen unsere Väter zu vergessen. Vor der Person, an welcher sich jener urzeitliche Kindheitswunsch erfüllt hat, schaudern wir zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, welche diese Wünsche in unserem Innern seither erlitten haben. Während der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Ödipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres eigenen Innern, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind. Die Gegenüberstellung, mit der uns der Chor verlässt,

„(...)sehet, das ist Ödipus,
der entwirrt die hohen Rätsel und der erste war an Macht,
dessen Glück die Bürger alle priesen und beneideten;
seht, in welches Missgeschickes grause Wogen er versank!“

- diese Mahnung trifft uns selbst und unseren Stolz, die wir seit den Kinderjahren so weise und so mächtig geworden sind in unserer Schätzung. Wie Ödipus leben wir in Unwissenheit der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns aufgenötigt hat, und nach deren Enthüllung möchten wir wohl alle den Blick abwenden von den Szenen unserer Kindheit. (S. Freud, 1900a, S. 269 f.)

Das Verständnis des Ödipuskomplexes, das Freud so bewundernswert dargestellt hat, [IX-274] wurde zu einem Eckpfeiler seines psychologischen Systems. Er hielt diese Auffassung für den Schlüssel zum Verständnis der Geschichte und der Entwicklung von Religion und Moral. Er war der Überzeugung, dass eben dieser Komplex der entscheidende Mechanismus in der Entwicklung des Kindes sei, und er behauptete, der Ödipuskomplex sei die Ursache einer psychopathologischen Entwicklung und der „Kern der Neurose“.

Freud bezieht sich auf den Ödipusmythos in jener Version, die ihm Sophokles in der Tragödie König Ödipus gegeben hat.[16] In dieser Tragödie erfahren wir, dass ein Orakel dem König Laios von Theben und seiner Gemahlin Jokaste verkündete, wenn ihnen ein Sohn geboren würde, werde dieser seinen Vater töten und die eigene Mutter heiraten. Bei der Geburt ihres Sohnes Ödipus beschließt Jokaste, dem vom Orakel vorausgesagten Schicksal dadurch zu entrinnen, dass sie das Kind tötet. Sie übergibt Ödipus einem Hirten, der es im Wald mit zusammengebundenen Füßen aussetzen soll, sodass es umkommen muss. Aber der Hirte hat Mitleid mit dem Kind und übergibt es einem Mann, der in den Diensten des Königs von Korinth steht und der es seinerseits zu seinem Herrn bringt. Der König nimmt den Knaben an Sohnes Statt an, und der kleine Prinz wächst in Korinth heran, ohne zu wissen, dass er nicht der echte Sohn des Königs von Korinth ist. Das Orakel von Delphi verkündet ihm, es sei sein Schicksal, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten. Er beschließt, diesem Schicksal dadurch zu entgehen, dass er niemals mehr zu seinen vermeintlichen Eltern zurückkehrt. Auf dem Rückweg von Delphi gerät er in einen Streit mit einem alten, in einem Wagen daherkommenden Mann; er verliert die Selbstbeherrschung und tötet diesen Mann und seinen Diener, ohne zu wissen, dass er seinen Vater, den König von Theben, erschlagen hat.

Auf seiner Wanderschaft gelangt er nach Theben. Dort verschlingt die Sphinx die jungen Männer und Jungfrauen der Stadt und will erst damit aufhören, wenn sich jemand findet, der die richtige Antwort auf ihr Rätsel weiß. Das Rätsel lautet: „Was ist das: Es geht zuerst auf vieren, dann auf zweien und zuletzt auf dreien?“ Die Stadt Theben hat versprochen, den, der das Rätsel lösen und so die Stadt von der Sphinx befreien könne, zum König zu machen und ihm die Witwe des Königs zur Gemahlin zu geben. Ödipus unternimmt das Wagnis. Er findet die Antwort für das Rätsel: Es ist der Mensch, der als Kind auf allen Vieren, als Erwachsener auf zwei Beinen und im Alter auf dreien (mit einem Stock) geht. Die Sphinx stürzt sich ins Meer, die Stadt ist von ihrer Heimsuchung befreit, und Ödipus wird König und heiratet seine Mutter Jokaste.

Nachdem Ödipus eine Zeitlang glücklich regiert hat, wird die Stadt von einer Pest heimgesucht, der viele Bürger zum Opfer fallen. Der Seher Teiresias enthüllt, dass die Pest die Strafe für das von Ödipus begangene zweifache Verbrechen ist, den Vatermord und den Inzest. Ödipus versucht zunächst verzweifelt, die Wahrheit nicht zu sehen, und als er sich gezwungen sieht, sie zu erkennen, blendet er sich selbst, und Jokaste begeht Selbstmord. Die Tragödie endet damit, dass Ödipus die Strafe für ein Verbrechen erleidet, das er unwissentlich und trotz seiner bewussten Bemühungen, es zu vermeiden, beging. War Freuds Annahme gerechtfertigt, dass dieser Mythos seine Ansicht bestätigt, unbewusste inzestuöse Triebe und der daraus entspringende [IX-275] Hass gegen den Vater-Rivalen seien in jedem männlichen Kind zu finden? Es sieht tatsächlich so aus, als ob der Mythos Freuds Theorie bestätigt, dass der Ödipuskomplex seinen Namen zu Recht trägt.

Wenn wir den Mythos jedoch genauer untersuchen, stellen sich Fragen, die Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung aufkommen lassen. Zunächst fällt uns folgendes auf: Wenn Freuds Interpretation richtig wäre, so sollten wir erwarten, dass der Mythos uns berichtete, dass Ödipus Jokaste begegnete, ohne zu wissen, dass sie seine Mutter war, dass er sich in sie verliebte und dann - wiederum unwissentlich - seinen Vater tötete. Aber im Mythos weist nichts darauf hin, dass Ödipus sich zu Jokaste hingezogen fühlt oder dass er sich in sie verliebt. Der einzige Grund, der uns für die Heirat von Ödipus und Jokaste angegeben wird, ist der, dass sie sozusagen mit zum Thron gehört. Sollten wir tatsächlich glauben, ein Mythos, dessen zentrales Thema eine inzestuöse Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist, würde das Element der Zuneigung zwischen beiden völlig auslassen? Diese Frage erhält umso mehr Gewicht durch die Tatsache, dass in den älteren Versionen des Orakels die Prophezeiung der Heirat mit der Mutter nur in einem Fall, nämlich in der Version des Nikolaus von Damaskus, erwähnt wird, die nach Carl Robert auf eine relativ späte Quelle zurückgeht. (Vgl. C. Robert, 1915.)

Außerdem wird Ödipus als ein mutiger und weiser Held beschrieben, der zum Wohltäter Thebens wird. Wie können wir begreifen, dass vom gleichen Ödipus gesagt wird, er habe das in den Augen seiner Zeitgenossen grässlichste Verbrechen begangen? Man hat diese Frage zuweilen mit dem Hinweis beantwortet, dass das Wesen der Tragödie nach Auffassung der Griechen eben darin besteht, dass die Mächtigen und Starken plötzlich vom Unheil betroffen werden. Ob eine derartige Antwort genügt, oder ob eine andere Auffassung eine befriedigendere Antwort gibt, werden wir noch sehen.

Die erwähnten Fragen stellen sich bei der Betrachtung des Dramas König Ödipus. Wenn wir diese Tragödie allein untersuchen, ohne auch die beiden anderen Teile der Trilogie, Ödipus auf Kolonos und Antigone mit in Betracht zu ziehen, so ist eine definitive Antwort unmöglich. Aber wir sind wenigstens in der Lage, die Hypothese zu formulieren, dass der Mythos nicht als Symbol der inzestuösen Liebe zwischen Mutter und Sohn, sondern als Rebellion des Sohnes gegen die Autorität des Vaters in der patriarchalischen Familie zu verstehen ist und dass die Heirat von Ödipus und Jokaste nur ein sekundäres Element, nur eines der Symbole für den Sieg des Sohnes ist, der den Platz des Vaters mit allen seinen Privilegien einnimmt.

Man kann die Gültigkeit dieser Hypothese testen, indem man den gesamten Ödipusmythos untersucht, insbesondere in der Form, wie ihn Sophokles in den beiden anderen Teilen seiner Trilogie, Ödipus auf Kolonos und Antigone, darstellt. (Es trifft zwar zu, dass die Trilogie nicht in dieser Reihenfolge geschrieben wurde, und einige Gelehrte könnten mit ihrer Annahme recht haben, dass Sophokles die drei Tragödien nicht als Trilogie geplant hat; dennoch muss man die drei als ein Ganzes interpretieren. Man kann kaum annehmen, dass Sophokles das Schicksal des Ödipus und seiner Kinder in drei Tragödien geschildert hat, ohne den inneren Zusammenhang des Ganzen im Sinn zu haben.) [IX-276]

In Ödipus auf Kolonos finden wir Ödipus kurz vor seinem Tode im Hain der Eumeniden in der Nähe von Athen. Nachdem er sich selbst geblendet hat, ist er zunächst in Theben geblieben, das von seinem Onkel Kreon regiert wird, der ihn nach einiger Zeit verbannt. Ödipus’ Töchter Antigone und Ismene begleiten ihn in die Verbannung, während seine beiden Söhne, Eteokles und Polyneikes sich weigern, ihrem blinden Vater zu helfen. Nachdem dieser Theben verlassen hat, kämpfen die beiden Brüder um den Thron. Eteokles siegt, aber Polyneikes weigert sich, sich zu fügen, und versucht, die Stadt mit fremder Hilfe zu erobern und dem Bruder die Macht zu entreißen. In Ödipus auf Kolonos sehen wir, wie er seinen Vater um Verzeihung bittet und ihn um Unterstützung angeht. Aber Ödipus ist erbarmungslos im Hass gegen seine Söhne. Trotz des leidenschaftlichen Flehens des Polyneikes, das Antigone mit ihren Bitten unterstützt, versagt er ihm die Verzeihung. Seine letzten Worte sind:

Fort, Scheusal, das hier keinen Vater hat!
Elender Heuchler, nimm die Flüche mit,
Die ich dir sende: Nie besiegt dein Speer
Die Vaterstadt und nie kehrst du zurück
Nach Argos, denn, ihn selber tötend, fällst
Du von des Bruders Hand, die dich verstieß.
Hört meine Flüche, holt ihn schnell hinweg,
Du grauenvolle Nacht des Vaters Tartaros,
Ihr Geister dieses Haines, Ares auch,
Der ihren bösen Bruderhass geweckt!
Du hast’s vernommen. Geh und sag es an
Dem Volk von Theben und zugleich dem Bund,
Der sich mit dir verschwor: dass Ödipus
Den Söhnen diese Ehrengaben schickt.“
(Sophokles, 1968, S. 396.)

In Antigone finden wir einen weiteren Vater-Sohn-Konflikt als eines der Hauptthemen der Tragödie. Hier steht Kreon, der Vertreter des autoritären Prinzips in Staat und Familie, seinem Sohn Haimon gegenüber, der ihm seinen erbarmungslosen Despotismus und seine Grausamkeit gegen Antigone vorwirft. Haimon versucht, seinen Vater zu töten und begeht Selbstmord, als ihm dies misslingt.

Das die drei Tragödien durchziehende Thema ist der Konflikt zwischen Vater und Sohn. In König Ödipus tötet Ödipus seinen Vater Laios, der ihn als kleines Kind hatte umbringen wollen. In Ödipus auf Kolonos lässt Ödipus seinem wilden Hass auf seine Söhne freien Lauf, und in Antigone treffen wir auf den gleichen Hass zwischen Kreon und Haimon. Das Inzestproblem existiert weder in der Beziehung zwischen Ödipus’ Söhnen und ihrer Mutter, noch in der Beziehung zwischen Haimon und seiner Mutter Eurydike. Wenn wir König Ödipus im Hinblick auf die gesamte Trilogie interpretieren, so scheint die Annahme einleuchtend, dass das wahre Problem, um das es auch in König Ödipus geht, der Konflikt zwischen Vater und Sohn und nicht das Inzestproblem ist. [IX-277]

Freud hatte die Feindschaft zwischen Ödipus und seinem Vater als die durch die inzestuösen Strebungen des Sohnes verursachte unbewusste Rivalität interpretiert. Wenn wir dieser Deutung nicht zustimmen, erhebt sich das Problem, wie wir uns sonst den in allen drei Tragödien anzutreffenden Konflikt zwischen Vater und Sohn erklären sollen.

Einen Schlüssel dazu liefert Antigone. Haimons Rebellion gegen Kreon hat ihre Ursache in der besonderen Beziehung Kreons zu Haimon. Kreon repräsentiert das streng autoritäre Prinzip sowohl in der Familie als auch im Staat, und gegen diese Art Autorität rebelliert Haimon. Eine Analyse der gesamten Ödipus-Trilogie wird zeigen, dass der Kampf gegen die väterliche Autorität das Hauptthema ist, und dass die Ursprünge dieses Kampfes weit zurückreichen, bis in die uralten Kämpfe zwischen dem patriarchalischen und dem matriarchalischen Gesellschaftssystem. Ödipus repräsentiert ebenso wie Haimon und Antigone das matriarchalische Prinzip; sie greifen alle eine gesellschaftliche und religiöse Ordnung an, die sich auf die Macht und die Privilegien des Vaters gründet, welche durch Laios und Kreon repräsentiert wird.

Da diese Interpretation sich auf Bachofens Analyse der griechischen Mythologie gründet, ist es notwendig, den Leser kurz mit den Prinzipien der Bachofen’schen Theorie bekanntzumachen.

In seinem 1861 erschienenen Buch Das Mutterrecht stellt Bachofen die Vermutung auf, dass zu Beginn der Menschheitsgeschichte die sexuellen Beziehungen promiscue waren und dass aus diesem Grund die Elternschaft nur von der Mutter her gesichert war, dass die Blutsverwandtschaft nur auf sie zurückgeführt werden konnte und dass daher sie die Autorität und der Gesetzgeber - der Herrscher - sowohl in der Familiengruppe wie auch in der Gesellschaft war. Bei der Analyse von religiösen Dokumenten aus der griechischen und römischen Antike kam Bachofen zu dem Schluss, dass die Vorherrschaft der Frauen nicht nur im Bereich der Gesellschaft und in der Familienorganisation zum Ausdruck kam, sondern auch in der Religion. Er fand Beweise dafür, dass vor dem Glauben an die olympischen Götter eine Religion existiert hatte, in welcher die obersten Gottheiten Göttinnen, Mutterfiguren waren.

Bachofen nahm an, dass in einem sich über lange Zeiträume hinziehenden Prozess die Männer die Frauen besiegt und unterworfen hatten und dass es ihnen gelungen war, sich zu Herrschern in einer gesellschaftlichen Hierarchie zu machen. Das auf diese Weise zustande gekommene patriarchalische System ist gekennzeichnet durch Monogamie (wenigstens was die Frauen betrifft), durch die Autorität des Vaters in der Familie und durch die beherrschende Rolle der Männer in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft. Die Religion dieser patriarchalischen Kultur entsprach ihrer gesellschaftlichen Organisation. Anstelle der Muttergottheiten wurden nur männliche Götter zu den obersten Herrschern über den Menschen, analog zur Macht des Familienvaters.

Eines der interessantesten und glänzendsten Beispiele für Bachofens Interpretation der griechischen Mythen ist seine Analyse von Äschylos’ Orestie, die seiner Deutung nach eine symbolische Darstellung des Endkampfes zwischen den mütterlichen Gottheiten und den siegreichen Vatergottheiten ist. Klytämnestra hat ihren Gatten [IX-278] Agamemnon getötet, um ihren Liebhaber Ägist nicht aufgeben zu müssen. Orest, ihr Sohn von Agamemnon, rächt den Tod seines Vaters, indem er seine Mutter und deren Liebhaber tötet. Die die alten Muttergottheiten und das matriarchalische Prinzip repräsentierenden Erynnien verfolgen Orest und verlangen seine Bestrafung, während Apollo und Athene (die nicht von einem Weib geboren wurde, sondern dem Haupte des Zeus entsprungen ist) als Vertreter der neuen patriarchalischen Religion auf der Seite von Orest stehen. Die Auseinandersetzung geht um das Prinzip der patriarchalischen beziehungsweise der matriarchalischen Religion. Für die matriarchalische Welt gibt es nur eine heilige Bindung, die von Mutter und Kind; daher ist auch der Muttermord das äußerste, unverzeihliche Verbrechen. Vom patriarchalischen Standpunkt aus ist die Liebe des Sohns zum Vater und seine Ehrfurcht vor ihm die oberste Pflicht, weshalb der Vatermord das größte Verbrechen ist. Klytämnestras Mord an ihrem Gatten, vom patriarchalischen Standpunkt aus ein schweres Verbrechen wegen der beherrschenden Stellung des Gatten, wird vom matriarchalischen Standpunkt aus anders beurteilt, da „sie mit dem Mann, den sie getötet, nicht durch Bande des Blutes verbunden war“. Der Mord am Gatten berührt die Erynnien nicht, da für sie nur die Blutsbande und die Heiligkeit der Mutter zählen. Für die Olympischen Götter dagegen ist der Muttermord kein Verbrechen, wenn damit der Tod des Vaters gerächt wird. In Äschylos’ Orestie wird Orest freigesprochen, wenn auch dieser Sieg des patriarchalischen Prinzips durch einen Kompromiss mit den besiegten Göttinnen etwas gemildert wird. Sie erklären sich mit der neuen Ordnung einverstanden und begnügen sich mit der untergeordneten Rolle von Beschützerinnen der Erde und Göttinnen der Fruchtbarkeit des Ackerbodens.

Bachofen hat gezeigt, dass der Unterschied zwischen der patriarchalischen und der matriarchalischen Ordnung weit über die soziale Vorherrschaft der Männer, beziehungsweise der Frauen hinausging, dass sie sich sowohl auf die gesellschaftlichen als auch auf die moralischen Grundsätze bezog. Die matriarchalische Kultur ist dadurch gekennzeichnet, dass der Nachdruck auf den Banden des Blutes, der Bindung an den Boden und auf der passiven Hinnahme aller Naturgegebenheiten liegt. Dagegen ist die patriarchalische Gesellschaft gekennzeichnet durch die Achtung vor dem vom Menschen geschaffenen Gesetz, durch ein vorwiegend rationales Denken und durch das Bestreben, die natürlichen Gegebenheiten zu verändern. In Bezug auf diese Grundsätze ist die patriarchalische Kultur ein entschiedener Fortschritt gegenüber der matriarchalischen Welt. In anderer Hinsicht jedoch waren die matriarchalischen Grundsätze den siegreichen patriarchalischen überlegen. Nach matriarchalischer Auffassung sind alle Menschen gleich, da sie alle die Kinder von Müttern sind und jedermann ein Kind der Mutter Erde ist. Eine Mutter hat alle ihre Kinder gleich lieb, und zwar bedingungslos, weil sich ihre Liebe darauf gründet, dass sie eben ihre Kinder sind, und nicht auf ein besonderes Verdienst oder eine besondere Leistung. Das Ziel des Lebens ist das Glück der Menschen, und es gibt nichts, was wichtiger oder würdiger wäre als die menschliche Existenz und das Leben. Das patriarchalische System dagegen sieht im Gehorsam gegenüber der Autorität die Haupttugend. Anstelle des Gleichheitsprinzips finden wir den Begriff des Lieblingssohnes und eine hierarchische Ordnung in der Gesellschaft. [IX-279]

Bachofen sagt in seiner Vorrede zu Das Mutterrecht:

Dasjenige Verhältnis, an welchem die Menschheit zuerst zur Gesittung emporwächst, das der Entwicklung jeder Tugend, der Ausbildung jeder edlern Seite des Daseins zum Ausgangspunkt dient, ist der Zauber des Muttertums, der inmitten eines gewalterfüllten Lebens als das göttliche Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird. In der Pflege der Leibesfrucht lernt das Weib früher als der Mann seine liebende Sorge über die Grenzen des eigenen Ich auf andere Wesen erstrecken und alle Erfindungsgabe, die sein Geist besitzt, auf die Erhaltung und Verschönerung des fremden Daseins richten. Von ihm geht jetzt jede Erhebung der Gesittung aus, von ihm jede Wohltat im Leben, jede Hingebung, jede Pflege und jede Totenklage.

(...) Aber nicht nur inniger, auch allgemeiner und weitere Kreise umfassend ist die aus dem Muttertum stammende Liebe. (...) Wie in dem väterlichen Prinzip die Beschränkung, so liegt in dem mütterlichen das der Allgemeinheit (...) Aus dem gebärenden Muttertum stammt die allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen, deren Bewusstsein und Anerkennung mit der Ausbildung der Paternität untergeht. Die auf das Vaterrecht gegründete Familie schließt sich zu einem individuellen Organismus ab, die mutterrechtliche dagegen trägt jenen typisch-allgemeinen Charakter, mit dem alle Entwicklung beginnt, und der das stoffliche Leben vor dem höhern geistigen auszeichnet. Der Erdmutter Demeter sterbliches Bild, wird jedes Weibes Schoß den Geburten des andern Geschwister schenken, das Heimatland nur Brüder und Schwestern kennen, und dies so lange, bis mit der Ausbildung der Paternität die Einheitlichkeit der Masse aufgelöst und das Ununterschiedene durch das Prinzip der Gliederung überwunden wird.

In den Mutterstaaten hat diese Seite des Mutterprinzips vielfältigen Ausdruck, ja selbst rechtlich formulierte Anerkennung gefunden. Auf ihr ruht jenes Prinzip allgemeiner Freiheit und Gleichheit, das wir als einen Grundzug im Leben gynaikokratischer Völker öfter finden werden. (...) Abwesenheit innerer Zwietracht, Abneigung gegen Unfrieden wird gynaikokratischen Staaten besonders nachgerühmt. (...) Ein Zug milder Humanität, den man selbst in dem Gesichtsausdruck der ägyptischen Bildwerke hervortreten sieht, durchdringt die Gesittung der gynaikokratischen Welt (...). (J. J. Bachofen, 1926, S. 14-16)

Bachofens Entdeckung wurde durch den Amerikaner Lewis H. Morgan bestätigt, der völlig unabhängig von ihm zu dem Schluss kam, dass sich das Verwandtschaftssystem der amerikanischen Indianer - ähnlich dem in Asien, Afrika und Australien - auf das matriarchalische Prinzip gründete und dass die wichtigste Institution in solchen Kulturen, der Stammesverband (gens), nach dem matriarchalischen Prinzip aufgebaut war. (Vgl. die noch etwas vorsichtigen Ausführungen in L. H. Morgan, 1870, und die entschiedeneren in L. H. Morgan, 1877.) Morgans Ansichten über die Wertprinzipien in einer matriarchalischen Gesellschaft waren denen Bachofens recht ähnlich. Er stellte die Theorie auf, dass die höhere Form der Kultur eine Wiederholung - allerdings auf einer höheren Ebene - der Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sein wird, welche für die alten Stammesverbände (gens) kennzeichnend waren. Sowohl Bachofens als auch Morgans Theorien über das Matriarchat wurden - soweit man sie nicht überhaupt völlig ignorierte - von den meisten Anthropologen [IX-280] angefochten. Dasselbe Schicksal hatte auch das Werk Robert Briffaults, der Bachofens Forschungen fortsetzte und durch eine glänzende Analyse neuer anthropologischer Daten bestätigte. (Vgl. R. Briffault, 1928.[17]) Die Heftigkeit, mit der man die Theorie vom Matriarchat angriff, lässt den Verdacht aufkommen, dass die Kritik nicht frei war von emotional begründeten Vorurteilen gegen eine Auffassung, die dem Denken und Fühlen unserer patriarchalischen Kultur so fremd ist. Zweifellos sind viele Einzeleinwände gegen die Matriarchatstheorie berechtigt. Trotzdem aber erscheint mir Bachofens Hauptthese, dass wir unter der neueren patriarchalischen Religion Griechenlands die ältere Schicht einer matriarchalischen Religion vorfinden, von ihm überzeugend begründet.

Nach diesem kurzen Überblick über Bachofens Theorie sind wir nunmehr besser in der Lage, die Diskussion über unsere Hypothese wieder aufzunehmen, dass die Feindschaft zwischen Vater und Sohn - das die ganze Trilogie von Sophokles durchziehende Thema - als ein Angriff der Vertreter des besiegten matriarchalischen Systems gegen die siegreiche patriarchalische Ordnung zu verstehen ist.

König Ödipus liefert nur wenige direkte Beweise für unsere Theorie, von einigen Punkten abgesehen, auf die wir nun eingehen wollen. Historisch gesehen gibt uns der ursprüngliche Ödipusmythos mit seinen verschiedenen in Griechenland existierenden Versionen, auf die Sophokles seine Tragödie aufbaute, einen wichtigen Anhaltspunkt. In den verschiedenen Formulierungen des Mythos stand die Gestalt des Ödipus stets in Beziehung zum Kult der Erdgöttinnen, der Vertreterinnen einer matriarchalischen Religion. In fast allen Versionen dieses Mythos, von den Teilen, die sich mit der Aussetzung des Kindes befassen, bis zu denen, in deren Mittelpunkt der Tod des Ödipus steht, sind Spuren dieses Zusammenhanges zu erkennen. (Vgl. F. W. Schneidewin, 1852, S. 192.) So besaß zum Beispiel Eteonos, die einzige böotische Stadt, die einen Kultschrein des Ödipus unterhielt und wo der gesamte Mythos wahrscheinlich seinen Ursprung hatte, auch ein Heiligtum der Erdgöttin Demeter. (Vgl. C. Robert, 1915, S. 1 ff.) In Kolonos (in der Nähe von Athen), wo Ödipus seine letzte Ruhestätte fand, befand sich ein altes Heiligtum der Demeter und der Erynnien, das vermutlich bereits vor der Entstehung des Ödipusmythos existierte. (Vgl. C. Robert, 1915, S. 21.) Wie wir noch sehen werden, hat Sophokles diesen Zusammenhang zwischen Ödipus und den chthonischen Gottheiten in Ödipus auf Kolonos nachdrücklich hervorgehoben.

Ein weiterer Aspekt des Ödipusmythos - Ödipus’ Beziehung zur Sphinx - scheint ebenfalls auf den Zusammenhang zwischen Ödipus und dem matriarchalischen Prinzip, wie Bachofen es geschildert hat, hinzuweisen. Die Sphinx hatte verkündet, dass derjenige, der ihr Rätsel lösen könne, die Stadt von ihrem Wüten erretten könne. Ödipus gelingt es, während alle anderen vor ihm gescheitert waren, und er wird so zum Retter Thebens. Betrachten wir jedoch das Rätsel genauer, so fällt uns auf, wie nichtssagend es ist im Vergleich zur Höhe der Belohnung für seine richtige Lösung. Jeder gescheite Zwölfjährige könnte erraten, dass das, was zuerst auf vieren, dann auf zweien und schließlich auf dreien geht, der Mensch ist. Weshalb sollte die richtige Lösung der Beweis solch außergewöhnlicher Kräfte sein, dass sie deren Besitzer zum Retter der Stadt machen? Die Antwort auf diese Frage finden wir, wenn wir die wahre [IX-281] Bedeutung des Rätsels analysieren und wenn wir uns bei dieser Analyse nach den Grundsätzen für die Deutung von Mythen und Träumen richten, wie sie von Bachofen und Freud entwickelt wurden. (Allerdings weicht deren Deutung des Sphinxmythos von der hier folgenden ab. Bachofen legt den Nachdruck auf das Wesen der Frage und stellt fest, dass die Sphinx den Menschen im Hinblick auf seine tellurische, materielle Existenz, d.h. nach matriarchalischen Gesichtspunkten, definiert. Freud nimmt an, dass im Rätsel die sexuelle Neugier des Kindes ihren symbolischen Ausdruck findet.) Aber Bachofen wie Freud haben gezeigt, dass das wichtigste Element des wahren Inhaltes eines Traums oder Mythos oft als ziemlich unwichtiger oder gar bedeutungsloser Teil der manifesten Formulierung erscheint. Das, worauf es wirklich ankommt, scheint nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.

Wenn wir dieses Prinzip auf den Sphinxmythos anwenden, so dürfte nicht der Teil im Rätsel das wichtigste Element sein, der in der manifesten Formulierung des Mythos besonders hervorgehoben wird - nämlich das Rätsel selbst -, sondern die Lösung des Rätsels: der Mensch. Übersetzen wir die Worte der Sphinx aus der symbolischen in die unverhüllte Sprache, dann hören wir sie sagen: Derjenige, der weiß, dass die wichtigste Antwort, die der Mensch auf die schwierigste Frage geben kann, die ihm gestellt ist, der Mensch selbst ist, der kann die Menschheit erretten. Das Rätsel selbst, dessen Lösung nichts erfordert als ein wenig Klugheit, dient nur als Schleier für den latenten Sinn der Frage, bei der es um die Bedeutung des Menschen geht. Gerade diese nachdrückliche Betonung der Wichtigkeit des Menschen gehört aber zum Prinzip der matriarchalischen Welt, so wie Bachofen sie beschrieben hat. In seiner Antigone macht Sophokles dieses Prinzip zum Mittelpunkt von Antigones Einstellung im Gegensatz zu der Kreons. Das Wichtigste für Kreon und die von ihm vertretene patriarchalische Ordnung sind der Staat, die von Menschen geschaffenen Gesetze, und dass man ihnen gehorcht. Antigone aber geht es um den Menschen selbst, um das Naturgesetz und die Liebe. Ödipus wird zum Retter Thebens, weil er durch seine Antwort der Sphinx bewiesen hat, dass er der gleichen Welt angehört, die Antigone repräsentiert und die in der matriarchalischen Ordnung zum Ausdruck kommt.

Nur eine Gestalt im Mythos und in Sophokles’ König Ödipus scheint unserer Hypothese zu widersprechen - nämlich Jokaste. Nehmen wir an, dass sie das mütterliche Prinzip repräsentiert, so erhebt sich die Frage, weshalb die Mutter zugrunde geht, anstatt den Sieg davonzutragen, falls die hier gegebene Deutung stimmt. Die Beantwortung dieser Frage wird zeigen, dass die Rolle der Jokaste nicht nur unserer Hypothese nicht widerspricht, sondern sie im Gegenteil bestätigt. Jokastes Vergehen besteht darin, dass sie ihre Pflicht als Mutter nicht erfüllt hat, dass sie ihr Kind umbringen wollte, um den Gatten zu retten. Es war dies vom Standpunkt der patriarchalischen Gesellschaft aus eine legitime Entscheidung, aber vom Standpunkt der matriarchalischen Gesellschaft und der matriarchalischen Ethik aus ist es ein unverzeihliches Verbrechen. Sie ist es, die durch dieses Verbrechen die Kette von Ereignissen auslöst, die schließlich zu ihrem eigenen Untergang wie auch zu dem ihres Gatten und ihres Sohnes führt. Um das zu verstehen, dürfen wir die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass der Mythos, so wie Sophokles ihn kannte, bereits dem patriarchalischen System entsprechend geändert war, dass der manifeste und bewusste Bezugsrahmen [IX-282] das Patriarchat ist und dass die latente, ältere Bedeutung nur in verhüllter und oft entstellter Form noch in Erscheinung tritt. Das patriarchalische System hatte gesiegt, und der Mythos erklärt die Gründe für den Niedergang des Matriarchats. Er will uns klar machen, dass die Mutter, dadurch dass sie ihre oberste Pflicht verletzte, ihren eigenen Untergang herbeiführte. Wir können jedoch erst, nachdem wir die beiden anderen Teile der Trilogie, Ödipus auf Kolonos und Antigone analysiert haben, ein endgültiges Urteil darüber fällen, ob diese Interpretation der Rolle Jokastes und des Königs Ödipus richtig ist.

In Ödipus auf Kolonos sehen wir den blinden Ödipus in Begleitung seiner beiden Töchter in der Nähe Athens beim Hain der Göttinnen der Erde ankommen. Das Orakel hat prophezeit, wenn Ödipus in diesem Hain bestattet würde, werde er Athen vor einem Überfall seiner Feinde schützen. Im weiteren Verlauf der Tragödie teilt Ödipus Theseus den Orakelspruch mit. Theseus nimmt erfreut das Angebot an, dass Ödipus posthum zum Wohltäter Athens werden soll. Ödipus zieht sich in den Hain der Göttinnen zurück und stirbt auf geheimnisvolle Weise, über die nur Theseus Bescheid weiß.

Wer sind diese Göttinnen? Weshalb bieten sie Ödipus eine Kultstätte an? Was bedeutet das Orakel, das uns verkündet, Ödipus werde wieder seine Rolle als Erretter und Wohltäter spielen, wenn er in diesem Hain seine letzte Ruhestätte fände?

In Ödipus auf Kolonos fleht Ödipus zu den Göttinnen:

Ehrwürdge Frauen mit dem hellen Blick,
Da ich zuerst bei euch mich niederließ,
So ehrt in mir Apollons Seherspruch!
Als er das viele Unheil prophezeit,
Verhieß er langer Jahre späte Rast:
Im letzten Land ein gastlich Dach am Sitz,
Der Hochverehrten Frauen. Dort beschloss
Ich meine schweren Tage, reichen Lohn
Verleihend dem, der gastlich mich empfängt,
Doch schweres Unheil dem, der mich vertrieb.
(Sophokles, 1968, S. 350 f.)

Ödipus nennt die Göttinnen „ehrwürdge Frauen“ und „hochverehrte Frauen“. Warum sind sie so ehrfurchtgebietend, wo sie doch für ihn die Göttinnen seiner letzten Ruhestätte sind, die ihm endlich Frieden schenken werden? Und weshalb sagt der Chor:

Von Lande zu Land treibt der Greis,
Denn wär er vom Orte,
Nie hätt er betreten
Unnahbaren Garten
Der schrecklichen Frauen,
Den kaum wir benennen: [IX-283]
Wir ziehen vorüber
Als Blinde, als Stumme,
Bewegen die Lippen
Zum lautlosen Ruf -
Und da kommt einer her ohne Ehrfurcht!
(Sophokles, 1968, S. 352)

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich nur aus dem von Bachofen und Freud erkannten Deutungsprinzip, das sowohl für Mythen als auch für Träume gültig ist. Wenn ein in einem Mythos oder Traum auftauchendes Element einer viel früheren Entwicklungsphase angehört und nicht zu dem bewussten Bezugssystem zur Zeit der endgültigen Formulierung des Mythos gehört, dann hat es oft etwas Schreckliches und Furchterregendes an sich. Da es an etwas Verborgenes rührt, das tabu ist, erfasst den bewussten Verstand eine besondere Art von Angst - die Furcht vor dem Unbekannten und Geheimnisvollen.

Goethe hat in einer der am wenigsten verstandenen Stellen des Faust das Problem der Furcht vor den geheimnisvollen Müttern sehr ähnlich wie Sophokles in seinem Ödipus auf Kolonos behandelt. Mephistopheles sagt (Faust, 2. Teil, „Finstere Galerie“):

Ungern entdeck’ ich höheres Geheimnis. -
Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit,
von ihnen sprechen ist Verlegenheit,
Die Mütter sind es!
Faust (aufgeschreckt): Mütter!
Mephistopheles: Schaudert’s dich?
Faust: Die Mütter! Mütter! - ‘s klingt so wunderlich.
Mephistopheles: Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt
euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen;
Du selbst bist schuld, dass ihrer wir bedürfen.

Auch hier - wie in der Tragödie des Sophokles - versetzt die bloße Erwähnung der Göttinnen in Angst und Schrecken, da sie einer uralten Welt angehören, die aus dem Tageslicht, aus dem Bewusstsein verbannt ist.

Wie aus diesem kurzen Abschnitt zu ersehen ist, hat Goethe Bachofens Theorie vorweggenommen; nach Eckermanns Tagebuch (10. Januar 1830) erwähnte Goethe, er habe „beim Plutarch gefunden, dass im griechischen Altertume von Müttern als Gottheiten die Rede gewesen“ sei. Die eben zitierte Stelle im Faust kam den meisten Kommentatoren rätselhaft vor, und sie versuchten die Mütter als ein Symbol platonischer Ideen, als das gestaltlose Reich der inneren Welt des Geistes usw. zu erklären. [IX-284]

Es muss ja auch rätselhaft bleiben, wenn man es nicht im Sinn von Bachofens Erkenntnissen versteht.

Im Hain dieser „schrecklichen“ Göttinnen kommt Ödipus, der Wanderer, endlich zur Ruhe, und hier findet er sein wirkliches Zuhause. Obwohl Ödipus selbst ein Mann ist, gehört er doch der Welt dieser matriarchalischen Göttinnen an, und seine Kraft beruht auf seiner Verbundenheit mit ihnen.

Ödipus’ Rückkehr in den Hain der Göttinnen ist zwar der wichtigste, aber keineswegs der einzige Schlüssel zum Verständnis seiner Position als Vertreter der matriarchalischen Ordnung. Wir finden bei Sophokles noch eine weitere Anspielung auf das Matriarchat, wenn Ödipus beim Lob seiner Töchter auf das ägyptische Matriarchat hinweist (Sophokles bezieht sich hier vermutlich auf eine Stelle bei Herodot, II, 35):

Wie hat ihr Sinn, ihr ganzer Tageslauf
Sich der Ägypter Weise angepasst!
Dort sitzt der Mann zuhaus und webt und spinnt,
Indes das Weibervolk sich draußen müht
Und für des Lebens Notdurft Sorge trägt.
Den Söhnen kam dies harte Leben zu,
Doch hüten sie wie Frauen das Gemach,
Und ihr tragt willig ihre Last und sorgt
Des armen Vaters.
(Sophokles, 1968, S. 359)

In ähnlichem Sinn äußert sich Ödipus, als er seine Töchter mit seinen Söhnen vergleicht und von Antigone und Ismene sagt:

Von diesen beiden, die nur Mädchen sind,
Wird mir nach ihren Kräften täglich Brot,
Ein nächtlich Lager, jeder Kindesdienst;
Sie aber stürzten sich auf meinen Thron,
Auf Stab und Herrscherwürde meines Lands.
Doch niemals sieht man mich in ihrem Bund,
Und niemals werden sie des Thrones froh.
(Sophokles, 1968, S. 362 f.)

Wir haben bereits die Frage gestellt, ob das Drama uns nicht hätte berichten müssen, dass Ödipus sich unwissentlich in Jokaste verliebte, wenn der Inzest wirklich das Wesentliche an seinem Verbrechen wäre. In Ödipus auf Kolonos lässt Sophokles Ödipus selbst diese Frage beantworten. Die Ehe mit ihr entsprach nicht seinem eigenen Begehren und war nicht sein eigener Entschluss; sie war eine der Belohnungen für den Retter der Stadt.

An ein furchtbares Bett
Band mich, wehe, die Stadt,
Keiner ahnte den Fluch.
(Sophokles, 1968, S. 365).

Wir wiesen bereits darauf hin, dass das Hauptthema der Trilogie, der Konflikt zwischen Vater und Sohn, in Ödipus auf Kolonos voll zum Ausdruck kommt. Hier ist der Hass zwischen Vater und Sohn nicht - wie in König Ödipus - unbewusst. Ödipus ist sich im Gegenteil seines Hasses gegen seine Söhne durchaus bewusst, und er wirft ihnen vor, sich gegen das ewige Gesetz der Natur vergangen zu haben. Er behauptet, sein Fluch sei stärker als das Gebet seiner Söhne zu Poseidon, „wenn jene hohe Dike noch“ (die Göttin der Gerechtigkeit, die Beschützerin der natürlichen Bande und nicht der vom Menschen geschaffenen Rechte des erstgeborenen Sohnes) „den alten Sitz behauptet neben Zeus“ (Sophokles, 1968, S. 396). Gleichzeitig verleiht er seinem Hass gegen die eigenen Eltern Ausdruck, indem er ihnen vorwirft, sie hätten die Absicht gehabt, sein Leben zu opfern. In Ödipus auf Kolonos gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Feindschaft der Söhne des Ödipus gegen ihren Vater irgendwie mit dem Inzestmotiv in Verbindung steht. Das einzige Motiv, das wir in der Tragödie finden können, ist ihr Verlangen nach Macht und die Rivalität mit ihrem Vater.

Das Ende von Ödipus auf Kolonos verdeutlicht noch klarer den Sinn seiner Verbundenheit mit den Göttinnen der Erde. Nachdem der Chor zu den „Unsichtbaren Göttinnen“, zu „der Göttin der Unterwelt“ gebetet hat, berichtet der Bote, wie Ödipus gestorben ist. Er hat von seinen Töchtern Abschied genommen und geht dann - nur von Theseus begleitet, jedoch nicht geführt - in das Heiligtum der Göttinnen. Offenbar braucht er keine Führung, denn hier ist er endlich zu Hause und kennt seinen Weg. Der Bote sagt von Theseus:

Und dass der König seine Hand als Schild
Vors Auge hielt, als hätte schaudernd er
Ein unerhörtes Bild vor sich erblickt.
(Sophokles, 1968, S. 406)

Auch hier haben wir wieder den nachdrücklichen Hinweis auf etwas Schreckliches und Furchterregendes. Die dem obigen Zitat folgenden Verse zeigen deutlich, wie die Überreste der matriarchalischen Religion mit dem herrschenden patriarchalischen System vermischt sind. Der Bote berichtet, er habe Theseus gesehen.

Nach einer kleinen Weile sah man ihn
Sich bis zum Boden neigen und zugleich
Zum Göttersitz erheben ein Gebet.“
(Sophokles, 1968, S. 406)

Das Ende der Beschreibung von Ödipus’ Tod zeigt die gleiche Mischung von patriarchalischen und matriarchalischen Systemen. Der Bote fährt fort:

Doch welches Ende jener Alte nahm,
Das weiß wohl keiner außer Theseus selbst;
Denn weder hat ihn Blitzstrahl eines Gotts
Hinweggerafft noch Wirbelsturm, der sich [IX-286]
Vom Meer erhob in jenem Augenblick.
Ein Götterbote war’s, die Erde tat
Sich auf und nahm ihn sanft in ihren Schoß.
Ganz ohne Qual und Krankheit ward der Mann
Entrückt und wunderbar wie nie ein Mensch.
Und wem dies töricht scheint, ich kann ihn nicht
Bekehren, wenn er sich für weiser hält.“
(Sophokles, 1968, S. 406)

Der Bote weiß nicht, was er davon halten soll. Er weiß nicht, ob Ödipus von den Göttern oben oder von den Gottheiten unten, aus der Welt der Väter oder aus der Welt der Mütter von der Erde entrückt wurde. Aber wir können sicher sein, dass in einer Fassung, die Jahrhunderte nach dem Sieg der Olympischen Götter über die Muttergöttinnen niedergeschrieben wurde, dieses Zweifeln nur Ausdruck der geheimen Überzeugung sein kann, dass Ödipus zu dem Ort, zu dem er gehörte, nämlich zu den Müttern, zurückgeholt wurde.

Wie anders endet Ödipus auf Kolonos als König Ödipus! In Letzterem schien sein Schicksal besiegelt als das des tragischen Verbrechers, den sein Verbrechen auf immer von seiner Familie und seinen Mitmenschen trennt, dessen Los es ist, ein Ausgestoßener zu sein, der von allen verabscheut, wenn vielleicht auch bemitleidet wird. In Ödipus auf Kolonos stirbt er umgeben von zwei liebenden Töchtern und von neuen Freunden, deren Wohltäter er geworden ist, und nicht mit einem Gefühl der Schuld, sondern überzeugt von seinem Recht, nicht als Ausgestoßener, sondern als jemand, der endlich heimgefunden hat - zur Erde und zu den Göttinnen, die dort regieren. Die tragische Schuld, die in König Ödipus alles durchdringt, ist getilgt, und geblieben ist nur ein Konflikt, der so bitter und ungelöst ist wie eh und jeder Konflikt zwischen Vater und Sohn.

Der Konflikt zwischen dem patriarchalischen und dem matriarchalischen Prinzip ist das Thema von Antigone, dem dritten Teil der Trilogie. Hier bekommt die Gestalt des Kreon, die in den beiden anderen Tragödien etwas unbestimmt war, Farbe und Kontur. Er hat sich zum Tyrannen von Theben gemacht, nachdem die beiden Söhne des Ödipus gefallen waren - der eine beim Angriff auf die Stadt, in der er die Macht ergreifen wollte, der andere bei der Verteidigung seines Thrones. Kreon hat befohlen, den rechtmäßigen König zu beerdigen, die Leiche des Angreifers aber unbeerdigt zu lassen - was die schlimmste Demütigung und Entehrung war, die man nach griechischer Sitte einem Menschen antun konnte. Das von Kreon repräsentierte Prinzip ist die Vorrangstellung der Staatsgesetze vor den Banden des Blutes, des Gehorsams gegenüber der Autorität vor der Befolgung des natürlichen Gebotes der Humanität. Antigone weigert sich, die Gesetze des Blutes und der Solidarität aller menschlichen Wesen um des autoritären, hierarchischen Prinzips willen zu verletzen.

Die beiden Prinzipien, die Kreon und Antigone repräsentieren, hat Bachofen als das patriarchalische beziehungsweise als das matriarchalische Prinzip gekennzeichnet. Beim matriarchalischen Prinzip gilt die Blutsverwandtschaft als das grundlegende und unzerstörbare Band; es ist das Prinzip der Gleichheit aller Menschen, das Prinzip [IX-287] der Achtung vor dem menschlichen Leben und das Prinzip der Liebe. Beim patriarchalischen Prinzip hat die Bindung zwischen Mann und Frau, zwischen Herrscher und Beherrschten den Vorrang vor den Bindungen des Blutes. Es ist das Prinzip der Ordnung und Autorität, des Gehorsams und der Hierarchie. Antigone vertritt das matriarchalische Prinzip und ist daher die zu keinem Kompromiss bereite Gegnerin Kreons, des Vertreters der patriarchalischen Autorität. Ismene dagegen hat ihre Niederlage hingenommen und sich in die siegreiche patriarchalische Ordnung gefügt. Sie symbolisiert die Frauen unter patriarchalischer Herrschaft. Sophokles zeigt sehr deutlich, welche Rolle Ismene spielt, wenn er sie zu Antigone, die entschlossen ist, sich Kreons Befehl zu widersetzen, sagen lässt:

Und nun wir zwei, die einzig noch geblieben: sieh,
Wie wir aufs schrecklichste zugrunde gehen,
Wenn wir gewaltsam, gegen das Gesetz,
Befehl und Herrschgewalt des Fürsten übertreten.
Nein, einsehn gilt es, einmal: Frauen sind wir
Und können so nicht gegen Männer streiten.
Und dann: beherrscht sind wir von Stärkeren,
So müssen wir dies hören und noch Härteres.
Darum will ich die Unterirdschen bitten,
Mir zu verzeihn, da mir Gewalt geschieht,
Und denen folgen, die im Amte stehen.
Denn mehr tun, als man kann, hat nicht Verstand.
(Sophokles, 1968, S. 70)

Ismene hat die männliche Autorität als endgültige Norm akzeptiert, sie hat sich mit der Niederlage der Frauen abgefunden, die „nicht geschaffen sind, mit Männern sich zu messen“. Ihre Treue zu den Göttinnen kommt nur darin zum Ausdruck, dass sie diese bittet, ihr zu vergeben, dass sie sich der Gewalt des Herrschers fügen muss.

Das humanistische Prinzip der matriarchalischen Welt mit ihrer Betonung der Größe und Würde des Menschen kommt auf schöne, überzeugende Weise im Preisgesang des Chors auf die Macht des Menschen zum Ausdruck:

Viel Ungeheures ist, doch nichts
So Ungeheures wie der Mensch.
Der fährt auch über das graue Meer
Im Sturm des winterlichen Süd
Und dringt unter stürzenden Wogen durch.
Und der Götter Heiligste, die Erde,
Die unerschöpfliche, unermüdliche,
Plagt er ab,
Mit wendenden Pflügen Jahr um Jahr
Sie umbrechend mit dem Rossegeschlecht.“
(Sophokles, 1968, S. 80) [IX-288]

Der Konflikt zwischen den beiden Prinzipien entfaltet sich in der weiteren Entwicklung des Dramas. Antigone beharrt darauf, dass das Gesetz, dem sie gehorcht, nicht das der Olympischen Götter ist. „Denn nicht seit heut und gestern sind sie: Diese leben von jeher, und weiß niemand, woher sie gekommen“ (Sophokles, 1968, S. 85). Wir können hinzufügen, dass es das Gesetz der Bestattung ist, das Gesetz, den Leichnam der Mutter Erde zurückzugeben, das in den Grundsätzen der matriarchalischen Religion wurzelt. Antigone repräsentiert die Solidarität der Menschen und das Prinzip der allumfassenden mütterlichen Liebe. „Nein! Hass nicht, Liebe ist der Frau Natur“ (Sophokles, 1968, S. 281).

Für Kreon stellt der Gehorsam gegenüber der Autorität den höchsten Wert dar. Kommen menschliche Solidarität und Liebe mit dem Gehorsam in Konflikt, so müssen sie nachgeben. Er muss über Antigone siegen, um die patriarchalische Autorität und mit ihr seine Manneskraft zu behaupten. Darum sagt er (Sophokles, 1968, S. 280): „Ich wär nicht mehr der Mann, der Mann wär sie, wenn solche Tat ihr ungeahndet bliebe.“

Kreon verleiht dem autoritären, patriarchalischen Prinzip unmissverständlich Ausdruck:

Wohl, mein Sohn!
So muss es stehn in deiner Brust, dass du in allem
Dich hinter deines Vaters Meinung stellst.
Deswegen beten Männer ja darum, gehorsame
Nachkommen zu erzeugen und im Haus zu haben,
Dass sie dem Feind mit Schlimmem es vergelten
Wie auch den Freund so ehren wie der Vater selbst.
Wer aber nichtsnutzige Kinder zeugt: was sagt
Man von dem andres, als dass er sich selber Plagen
Und viel Gelächter bei den Feinden hab erzeugt?
Darum verliere nie, mein Sohn, der Lust zuliebe
Um eines Weibes willen den Verstand.
Denn glaub mir, eine frostige Umarmung
Ist das: ein schlechtes Weib als Bettgenossin
In deinem Haus. Welch schlimmeres Geschwür
Kann dir entstehen als ein schlechter Freund!
Nein, spei sie aus wie einen bösen Feind,
Und lass dies Mädchen sich den Mann im Hades holen.
Denn da ich sie ergriff, wie sie sich offen
Hat aufgelehnt als einzige von der ganzen Stadt,
So werde ich mich selbst nicht vor der Stadt
Zum Lügner machen: nein, ich töte sie!
Mag sie deswegen schrei’n zu Zeus, dem Hüter
Verwandten Bluts! Denn nähr ich in dem eigenen Geschlecht
Unordnung auf, wie dann erst außerhalb des Stamms!
Nur wer im eigenen Haus ein rechter Mann ist,
Wird sich im Staat auch als gerecht erweisen. [IX-289]
Ein solcher Mann wird auch - sag ich getrost! -
Recht herrschen und sich recht beherrschen lassen wollen,
Und auch im Speergestöber hingestellt,
Standhalten als bewährter tapferer Nebenmann.
Doch wer die ihm gesetzte Grenze übertritt
Und die Gesetze vergewaltigt oder
Vorschriften seinen Oberen zu geben denkt:
Dieser wird niemals bei mir Lob erlangen.
Nein, wen das Volk bestellt hat, dem soll man gehorchen
Im Kleinen wie Gerechten wie im Gegenteil.
Kein größres Übel als Zuchtlosigkeit!
Diese vernichtet Städte, sie entleert die Häuser,
Diese reißt hin zur Flucht im Speergefecht.
Die aber ausgerichtet stehen, denen
Bewahrt die meisten Leiber die Manneszucht.
So muss man einstehn denn für das, was angeordnet,
Und niemals einem Weibe unterliegen. Besser -
Wenn es denn sein muss - einem Mann zu fallen,
Anstatt dass man uns Weibern unterlegen nennt!“
(Sophokles, 1968, S. 91 f.)

Autorität in der Familie und Autorität im Staat sind die beiden in Wechselbeziehung stehenden höchsten Werte, die Kreon repräsentiert. Die Söhne sind Besitz des Vaters, und ihre Funktion besteht darin, dem Vater „dienstbar“ zu sein. Der pater potestas in der Familie ist die Grundlage für die Macht des Herrschers im Staate. Bürger sind Eigentum des Staates und seines Oberhauptes, und deshalb gibt es „kein größres Übel als Zuchtlosigkeit“ (Sophokles, 1968, S. 92).

Haimon, Kreons Sohn, repräsentiert die Grundsätze, für die Antigone kämpft. Obwohl er zunächst seinen Vater zu beschwichtigen und zu überreden sucht, bekennt er offen seine Opposition, als er sieht, dass der Vater nicht bereit ist nachzugeben. Er beruft sich auf die Vernunft als „das Höchste aller Güter, die es gibt“ (Sophokles, 1968, S. 93) und auf den Willen des Volkes. Als Kreon Antigone beschuldigt, von der Krankheit der Zuchtlosigkeit und des Ungehorsams befallen zu sein, lautet Haimons rebellische Antwort, „das ganze Volk von Theben leugnet das“ (Sophokles, 1968, S. 94). Darauf:

Kreon: „Hat mir das Volk zu sagen, wie ich herrschen muss?
Haimon: Sieh da! Wie gar zu jugendlich du dieses sagst!
Kreon: Für wen sonst als für mich soll ich dies Land regieren?
Haimon: Das ist kein Staat, der Einem nur gehört.
Kreon: Gilt nicht der Staat als dessen Staat, der in ihm herrscht?
Haimon: Schön herrschtest du für dich allein im leeren Land!
Kreon: Der Mensch da, scheint es, hält es mit dem Weibe!“

Und Haimon verweist auf die matriarchalischen Göttinnen, wenn er schließlich erwidert: „Und dir wie mir und auch den Göttern drunten“ (Sophokles, 1968, S. 95).

Die beiden Prinzipien sind jetzt mit aller Deutlichkeit ausgesprochen, und die Tragödie führt weiterhin die Handlung nur der endgültigen Entscheidung zu. Kreon hat Antigone lebendig in einer Höhle begraben - wiederum ein symbolischer Ausdruck für ihre Verbundenheit mit den Göttinnen der Erde. Der Seher Teiresias, dessen Aufgabe es in König Ödipus war, Ödipus sein Verbrechen erkennen zu lassen, tritt wiederum auf, diesmal um Kreon das seine vor Augen zu halten. Von Panik erfasst, gibt dieser nach und versucht, Antigone doch noch zu retten. Er stürzt zur Höhle, wo er sie begraben hat, aber Antigone ist bereits tot. Haimon versucht, seinen Vater zu töten, und als es ihm misslingt, nimmt er sich selbst das Leben. Kreons Gemahlin Eurydike begeht Selbstmord, als sie vom Schicksal ihres Sohnes erfährt, und verflucht ihren Gatten als den Mörder ihrer Kinder. Kreon erkennt, dass seine Welt völlig zusammengebrochen ist und dass alle seine Prinzipien versagt haben. Er gibt seinen moralischen Bankrott zu, und das Drama endet mit seinem Bekenntnis:

O mir! mir! Auf keinen anderen der Sterblichen
Wird je dies kommen: mein ist diese Schuld!
Ich habe dich, ich dich getötet, o ich Armer!
Ja, ich, ich spreche wahr! - Ich! ihr Diener!
Schafft eiligst mich, schafft mich aus dem Wege!
Mich, der nicht mehr nun ist als nichts!

Führt mich hinweg, den eitlen Mann,
Der dich, o Sohn, ungewollt getötet
Und dich auch wieder, diese da! O mir! ich Armer!
Und ich weiß nicht, wie soll ich auf dich,
Wie auf dich blicken?
Alles verquer, was ich in Händen halte,
Von dort aber ist aufs Haupt mir
Ein unbewältigbar Geschick hereingesprungen!“
(Sophokles, 1968, S. 116 f.)

Wir sind nun in der Lage, die anfangs gestellten Fragen zu beantworten. Geht es im Ödipusmythos - so wie er in der Trilogie des Sophokles dargestellt ist - um das Verbrechen des Inzests? Ist der Vatermord der symbolische Ausdruck eines aus Eifersucht entstandenen Hasses? Wenn auch die Antwort am Ende von König Ödipus noch zweifelhaft ist, so ist sie das doch kaum mehr am Ende von Antigone. Nicht [IX-291] Ödipus, sondern Kreon ist am Ende besiegt und mit ihm das Prinzip des Autoritären, der Herrschaft des Menschen über den Menschen, der Herrschaft des Vaters über seinen Sohn und der Herrschaft des Diktators über das Volk. Wenn wir der Theorie von den matriarchalischen Formen von Gesellschaft und Religion zustimmen, dann besteht kaum noch ein Zweifel, dass Ödipus, Haimon und Antigone Repräsentanten des alten Prinzips des Matriarchats, des Prinzips von Gleichheit und Demokratie sind, während Kreon die patriarchalische Herrschaft und den Gehorsam repräsentiert.[18]

Kein geringerer Denker als Hegel hat den in Antigone geschilderten Konflikt schon viele Jahre vor Bachofen in der gleichen Weise interpretiert. Von Antigone sagt er: „Die Götter aber, die sie verehrt, sind die unteren Götter des Hades(...), die inneren der Empfindung der Liebe, des Bluts, nicht die Tagesgötter des freien, selbstbewussten Volks- und Staatslebens“ (G. W. F. Hegel, Ästhetik II, Band 13, S. 52; vgl. auch Philosophie der Religion, Band 16, S. 133). Hegel steht mit dieser Stellungnahme so sehr auf Seiten des Staates und seiner Gesetze, dass er Kreons Ansicht als die des „freien, selbstbewussten Volks- und Staatslebens“ bezeichnet, und dies trotz der unleugbaren Tatsache, dass Kreon nicht die Freiheit, sondern die Diktatur repräsentiert. Angesichts dieser einseitigen Sympathie Hegels ist es umso bedeutsamer, dass er so klar feststellt, dass Antigone die Prinzipien der Liebe, des Blutes und des Gefühls repräsentiert, die später Bachofen als die charakteristischen Prinzipien der matriarchalischen Welt bezeichnete. Aber während Hegels Sympathie für die patriarchalischen Prinzipien nicht weiter verwunderlich ist, erwartet man nicht, sie auch in Bachofens Schriften vorzufinden. Und dennoch ist Bachofens eigene Einstellung zur matriarchalischen Gesellschaft recht ambivalent. Offenbar hat er das Matriarchat geschätzt und die patriarchalischen Prinzipien gehasst, aber da er ein frommer Protestant war und an den Fortschritt der Vernunft glaubte, war er auch von der Überlegenheit des Patriarchats über das Matriarchat überzeugt. In einem großen Teil seiner Schriften verleiht er seiner Sympathie für das matriarchalische Prinzip Ausdruck. An anderen Stellen (und das gilt auch für seine kurze Interpretation des Ödipusmythos; vgl. J. J. Bachofen, 1926, S. 259 ff.) stellt er sich genau wie Hegel auf die Seite der Olympischen Götter. Für ihn steht Ödipus an der Grenze zwischen der matriarchalischen und der patriarchalischen Welt. Die Tatsache, dass er seinen Vater nicht kennt, weist auf eine matriarchalische Ordnung hin, bei der nur die Mutter, nicht aber der Vater sicher bekannt ist. Aber die Tatsache, dass er schließlich seinen richtigen Vater entdeckt, bezeichnet nach Bachofen den Beginn der patriarchalischen Ordnung, in welcher der wahre Vater bekannt ist. Er sagt: „An Oedipus erst knüpft sich der Fortschritt zu einer höhern Stufe des Daseins. Er ist eine jener großen Gestalten, deren Leiden und Qual zu schönerer menschlicher Gesittung führen, die, selbst noch auf dem alten Zustand der Dinge ruhend und aus ihm hervorgegangen, als letztes großes Opfer desselben, dadurch aber zugleich als Begründer einer neuen Zeit dastehen“ (J. J. Bachofen, 1926, S. 266). Bachofen hebt die Tatsache besonders hervor, dass die gefürchteten Muttergottheiten, die Erynnien, sich der apollinischen Welt untergeordnet haben und dass die Beziehung zwischen ihnen und Ödipus den Sieg des patriarchalischen Prinzips bedeutet. Bachofens Interpretation scheint mir dem Umstand nicht gerecht zu werden, dass Kreon, obwohl er als einziger Überlebender den Sieg der patriarchalischen Welt [IX-292] symbolisiert, doch der moralisch Besiegte ist. Man darf wohl annehmen, dass Sophokles damit sagen wollte, dass die patriarchalische Welt zwar triumphierte, dass sie aber unterliegen werde, wenn sie nicht die humanistischen Prinzipien der älteren matriarchalischen Ordnung übernehmen würde.

Unsere Interpretation bedarf jedoch noch einer Ergänzung durch eine andere Erwägung. Wenn auch im Konflikt zwischen Ödipus, Antigone und Haimon einerseits und Kreon andererseits die Erinnerung an den Konflikt zwischen dem patriarchalischen und dem matriarchalischen Prinzip und insbesondere an seine mythischen Elemente weiterlebt, so ist er doch auch aus der besonderen politischen und kulturellen Situation zur Zeit des Sophokles und aus seinen Reaktionen darauf zu verstehen.

Der Peloponnesische Krieg, die Bedrohung der politischen Unabhängigkeit Athens und die Pest, welche die Stadt zu Beginn des Kriegs heimsuchte, trugen dazu bei, die alten religiösen und philosophischen Traditionen zu erschüttern. Angriffe auf die Religion waren zwar nichts Neues, aber sie erreichten in den Lehren der Sophisten, welche Gegner des Sophokles waren, einen Höhepunkt. Er bekämpfte besonders jene Sophisten, die nicht nur den Despotismus einer intellektuellen Elite proklamierten, sondern auch eine hemmungslose Selbstsucht als moralisches Prinzip vertraten. Die von dieser Gruppe der Sophisten verkündete Ethik egoistischer Übermenschen und ihr amoralischer Opportunismus waren das absolute Gegenteil von Sophokles’ Philosophie. In Kreon hat Sophokles eine Gestalt geschaffen, die diese Sophistenschule repräsentierte, und Kreons Reden glichen sogar in Stil und Ausdrucksweise denen der Sophisten. (Vgl. Kallikles in Platons Gorgias und Thrasymachos in Platons Staat.)

In seinen Argumenten gegen die Sophisten verlieh Sophokles der alten religiösen Tradition des Volkes neuen Ausdruck, die den Nachdruck auf Liebe, Gleichheit und Gerechtigkeit legte. „Aus allen diesen Dingen ergibt sich, dass die Religiosität des Sophokles keinerlei abstrakt-philosophische Färbung trägt, sondern ähnlich wie die des Pindaros tief im Kultischen steckt, dass sie sich mit Vorliebe abseits der großen Heerstraße der Staatsreligion betätigt und sich jenen hilfreichen Mächten zweiter Ordnung anvertraut, die dem Volksglauben immer näher standen als die vornehmen Olympier und an die man sich besonders in der Not des Peloponnesischen Krieges bei Hunger und Seuche gehalten haben mag“ (W. Schmid, 1934, S. 320). In diesen Mächten zweiter Ordnung, die sich von den vornehmen Olympiern unterschieden, sind leicht die Göttinnen der matriarchalischen Welt wiederzuerkennen.

Wir sehen also, dass Sophokles’ Ansichten, wie sie in seiner Ödipus-Trilogie zum Ausdruck kommen, sowohl seine Opposition gegen den zeitgenössischen Sophismus als auch seine Sympathie für die alten, nicht-olympischen religiösen Ideen zugrunde liegt. (Es ist interessant festzustellen, dass die gleiche Mischung aus progressiven politischen Ideen und einer Sympathie für die mythisch-matriarchalischen Grundsätze im neunzehnten Jahrhundert im Werk von Bachofen, Engels und Morgan wieder auftaucht. - Vgl. meine Erörterungen in Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934a), GA I, S. 85-109.) Aus beiden Gründen vertritt Sophokles den Grundsatz, dass die Würde des Menschen und die Heiligkeit menschlicher Bindungen niemals unmenschlichen und autoritären Ansprüchen des Staates oder opportunistischen Erwägungen untergeordnet werden dürfen. (Vgl. auch W. Nestle, 1910. - Das Problem der Feindschaft zwischen Vater [IX-293] und Sohn war auch im persönlichen Leben des Dichters von Bedeutung. Sein Sohn Jophon verklagte seinen betagten Vater und verlangte, dass ihm das Gericht das Recht entzöge, seine geschäftlichen Angelegenheiten selbst wahrzunehmen - ein Prozess, den Sophokles gewann.)

b) Der Schöpfungsmythos

Der babylonische Schöpfungsmythos (Enuma Elish) berichtet von einer siegreichen Rebellion der männlichen Gottheiten gegen Tiamat, die Große Mutter, die das Weltall regierte.[19] Sie schließen ein Bündnis gegen sie und wählen Marduk zu ihrem Führer in diesem Kampf. Nach einem erbitterten Krieg wird Tiamat getötet, aus ihrem Körper werden Himmel und Erde gebildet, und Marduk herrscht als oberster Gott. Bevor er jedoch zum obersten Herrscher erwählt wird, muss Marduk eine Prüfung bestehen, die im Kontext der gesamten Geschichte unwichtig und rätselhaft erscheint, die aber - wie ich zu zeigen versuche - der Schlüssel zum Verständnis des Mythos ist. Die Prüfung wird folgendermaßen geschildert:

Dann legten sie ein Kleid in ihre Mitte;
Zu Marduk, ihrem Erstgeborenen, sagten sie:
„Fürwahr, o Herr, dein Schicksal ist das erhabenste unter den Göttern,
Befiehl, zu vernichten und zu erschaffen, und es soll geschehen!
Durch deines Mundes Wort lasse das Kleid vernichten;
Befiehl noch einmal und lass das Kleid wieder ganz werden!“
Mit seinem Munde gab er den Befehl, und das Kleid ward zerstört.
Und wieder befahl er, und das Kleid ward wiederhergestellt.
Als die Götter, seine Väter, die Macht seines Wortes sahen,
Da freuten sie sich, erwiesen ihm die Ehre und sagten:
„Marduk ist König!“
(Enuma Elish, Tafel IV)

Was bedeutet diese Prüfung? Klingt der Text nicht eher wie ein nichtssagender Zauber als wie eine entscheidende Prüfung, die darüber bestimmen soll, ob Marduk in der Lage sein wird, Tiamat zu besiegen?

Um die Bedeutung der Prüfung zu verstehen, müssen wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, was bei der Erörterung des Ödipusmythos über das Problem des Matriarchats gesagt wurde. Zweifellos geht es in dem babylonischen Mythos um den Konflikt zwischen dem patriarchalischen und dem matriarchalischen Prinzip der gesellschaftlichen Ordnung und der Religion. Die männlichen Söhne wollen der Großen Mutter die Herrschaft entreißen. Aber wie können sie sie besiegen, wenn sie ihr in einem wesentlichen Aspekt unterlegen sind? Frauen besitzen die natürliche Schöpferkraft, sie können Kinder gebären. Die Männer sind in dieser Beziehung unfruchtbar. (Dass [IX-294] der männliche Samen für die Entstehung des Kindes ebenso unentbehrlich ist wie das weibliche Ei, ist zwar unbestreitbar, aber diese Erkenntnis ist mehr eine wissenschaftliche Feststellung als eine offen vor Augen liegende Tatsache, wie es die Schwangerschaft oder die Geburt eines Kindes ist. Außerdem ist die Rolle des Vaters bei der Entstehung des Kindes mit dem Zeugungsakt beendet, während die Rolle der Mutter mit dem Austragen des Kindes, seiner Geburt und Ernährung erst beginnt.) Im völligen Gegensatz zu Freuds Annahme, der „Penisneid“ sei eine natürliche Erscheinung in der Konstitution der weiblichen Psyche, bestehen gute Gründe für die Annahme, dass vor der Errichtung der Vorherrschaft des Mannes bei ihm ein „Gebärneid“ existierte, den man sogar noch heute in vielen Fällen antreffen kann. Um seine Mutter zu besiegen, muss der Mann den Beweis erbringen, dass er ihr nicht unterlegen ist, dass auch er etwas hervorbringen kann. Da er mit seinem Leib nichts erzeugen kann, muss er es auf andere Weise tun: Er produziert etwas mit seinem Mund, seinem Wort, seinem Denken. Das also ist der Sinn der Prüfung: Marduk kann Tiamat nur besiegen, wenn er beweist, dass auch er etwas erschaffen kann, wenn auch auf andere Weise. Die Prüfung führt uns den tiefen Antagonismus zwischen Mann und Frau vor Augen, auf dem der Kampf zwischen Tiamat und Marduk und der Kampf zwischen den beiden Geschlechtern im allgemeinen beruht. Marduk begründet mit seinem Sieg die Vorherrschaft der Männer, die natürliche Produktivität der Frauen wird damit entwertet, und der Mann tritt seine Herrschaft an, die auf seiner Fähigkeit beruht, durch die Macht seines Denkens etwas hervorzubringen, jene Erzeugungsform, welche der Entwicklung der menschlichen Kultur zugrunde liegt.

Der biblische Mythos beginnt dort, wo der babylonische endet. Die Oberherrschaft eines männlichen Gottes ist errichtet, und von der früheren matriarchalischen Stufe ist kaum noch eine Spur geblieben. Marduks „Prüfung“ ist zum Hauptthema der biblischen Schöpfungsgeschichte geworden. Gott erschafft die Welt durch sein Wort; die Frau und ihre schöpferischen Kräfte sind dazu nicht mehr notwendig. Selbst der natürliche Verlauf der Dinge, dass die Frau Männer gebiert, ist umgekehrt. Eva wird aus Adams Rippe erschaffen (so wie Athene aus dem Haupt des Zeus entspringt). Aber ganz ist die Erinnerung an die matriarchalische Herrschaft noch nicht erloschen. In der Gestalt der Eva sehen wir die dem Mann überlegene Frau. Sie ergreift die Initiative und isst von der verbotenen Frucht. Sie berät sich nicht zuvor mit Adam, sondern gibt ihm einfach die Frucht zu essen, und als sie entdeckt werden, weiß er nur ziemlich ungeschickte und ungeeignete Entschuldigungen vorzubringen. Erst nach dem Sündenfall ist seine dominierende Stellung fest begründet. Gott sagt zu Eva: „Dennoch verlangt dich nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen“ (Gen 3,16). Diese Errichtung der Oberherrschaft des Mannes weist auf eine frühere Situation hin, in der er noch nicht herrschte. Nur hierin und in der völligen Negierung der produktiven Rolle der Frau können wir Spuren einer darunter verborgenen dominierenden Rolle der Mutter erkennen, welche noch ein Bestandteil des manifesten Textes des babylonischen Mythos ist.

Dieser Mythos ist ein gutes Beispiel für die Entstellungsmechanismen und die Zensur, die in Freuds Deutung der Träume und Mythen eine so große Rolle spielen. Im biblischen Mythos sind noch Erinnerungen an ältere gesellschaftliche und religiöse [IX-295] Grundsätze enthalten. Aber als die uns heute bekannte Fassung entstand, standen diese älteren Grundsätze in einem solchen Gegensatz zu den herrschenden Ansichten, dass man sie nicht mehr offen ausdrücken konnte. Und heute erkennen wir Spuren des früheren Systems nur noch in kleinen Einzelheiten (die babylonische Tiamat erscheint in der biblischen Geschichte vermutlich als „Tehom“, als „Urflut“, die über der „Finsternis lag“ - Gen 1,2), in übertriebenen Reaktionen und Ungereimtheiten und in Zusammenhängen zwischen dem späteren Mythos und älteren Varianten des gleichen Themas.

c) Rotkäppchen

Rotkäppchen ist ein gutes Beispiel für Freuds Ansichten und bietet gleichzeitig eine Variation des Themas des männlich-weiblichen Konflikts, dem wir in der Ödipus-Trilogie und im Schöpfungsmythos begegneten. Das Märchen lautet folgendermaßen:

Es war einmal eine kleine, süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das so wohl stand und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: „Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in alle Ecken herum.“

„Ich will schon alles gut machen“, sagte Rotkäppchen zur Mutter und gab ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. „Guten Tag, Rotkäppchen“, sprach er. - „Schönen Dank, Wolf.“ - „Wohinaus so früh, Rotkäppchen?“ - „Zur Großmutter.“ - „Was trägst du unter der Schürze?“ - „Kuchen und Wein; gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke Großmutter etwas zugut tun und sich damit stärken.“ - „Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?“ - „Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen“, sagte Rotkäppchen. Der Wolf dachte bei sich: „Das junge, zarte Ding, das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte, du musst es listig anfangen, damit du beide erschnappst.“ Da ging er ein Weilchen neben Rotkäppchen her, dann sprach er: „Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig haußen in dem Wald.“ [IX-296]

Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah, wie die Sonnenstrahlen durch die Bäume hin und her tanzten und alles voll schöner Blumen stand, dachte es: „Wenn ich der Großmutter einen frischen Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen; es ist so früh am Tag, dass ich doch zu rechter Zeit ankomme“, lief vom Wege ab in den Wald hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es, weiter hinaus stände eine schönere, und lief darnach und geriet immer tiefer in den Wald hinein.

Der Wolf aber ging geradewegs nach dem Haus der Großmutter und klopfte an die Türe. „Wer ist draußen?“ - „Rotkäppchen, das bringt Kuchen und Wein, mach auf.“ - „Drück nur auf die Klinke“, rief die Großmutter, „ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.“ Der Wolf drückte auf die Klinke, die Tür sprang auf, und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. (...) Dann tat er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge vor.

Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen, und als es so viel zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, dass die Tür aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: „Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir’s heute zumute, und bin sonst gerne bei der Großmutter!“ Es rief: „Guten Morgen“, bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück: da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah wunderlich aus. „Ei, Großmutter, was hast du für große Ohren!“ - „Dass ich dich besser hören kann.“ - „Ei, Großmutter, was hast du für große Augen!“ - „Dass ich dich besser sehen kann.“ - „Ei, Großmutter, was hast du für große Hände!“ - „Dass ich dich besser packen kann.“ - „Aber, Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!“ - „Dass ich dich besser fressen kann.“ Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bett und verschlang das arme Rotkäppchen.

Wie der Wolf sein Gelüsten gestillt hatte, legte er sich wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu schnarchen. Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: „Wie die alte Frau schnarcht, du musst doch sehen, ob ihr etwas fehlt.“ Da trat er in die Stube, und wie er vor das Bette kam, so sah er, dass der Wolf darin lag. „Finde ich dich hier, du alter Sünder“, sagte er, „ich habe dich lange gesucht.“ Nun wollte er seine Büchse anlegen, da fiel ihm ein, der Wolf könnte die Großmutter gefressen haben und sie wäre noch zu retten; schoss nicht, sondern nahm eine Schere und fing an, dem schlafenden Wolf den Bauch aufzuschneiden. Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er das rote Käppchen leuchten, und noch ein paar Schnitte, da sprang das Mädchen heraus und rief: „Ach, wie war ich erschrocken, wie war’s so dunkel in dem Wolf seinem Leib!“ Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus und konnte kaum atmen. Rotkäppchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, dass er gleich niedersank und sich totfiel.

Da waren alle drei vergnügt; der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit [IX-297] heim, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder, Rotkäppchen aber dachte: „du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dir’s die Mutter verboten hat“ (Urfassung der Brüder Grimm).

Das „Rotkäppchen“ ist ein Symbol der Menstruation. Das kleine Mädchen, von dessen Abenteuer wir hören, ist eine reife Frau geworden und sieht sich jetzt mit ihrer Sexualität konfrontiert.

Die Warnung, „nicht vom Weg abzugehen“ und „das Glas nicht zu zerbrechen“, ist eine deutliche Warnung vor den Gefahren der Sexualität und dem Verlust der Jungfräulichkeit.

Das sexuelle Begehren des Wolfs wird durch den Anblick des Mädchens geweckt, und er versucht es zu verführen, indem er zu ihm sagt: „Sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen?“ Rotkäppchen „schlug die Augen auf“. Es befolgte den Rat des Wolfs und „geriet immer tiefer in den Wald hinein“. Dabei bedient es sich einer bezeichnenden Rationalisierung: Um sich selbst davon zu überzeugen, dass es nichts Unrechtes tut, sagt es sich, die Großmutter würde sich über die Blumen freuen, die es ihr mitbringen könnte.

Aber dieses Abweichen vom geraden Weg der Tugend wird schwer bestraft. Der Wolf verkleidet sich als Großmutter und verschlingt das unschuldige Rotkäppchen. Als er seinen Appetit gestillt hat, schläft er ein.

Soweit scheint das Märchen nur von dem einen moralisierenden Thema zu handeln, der Gefahr der Sexualität. Aber es ist komplizierter. Welche Rolle spielt darin der Mann, und wie wird die Sexualität dargestellt?

Der Mann wird als rücksichtsloses, listiges Tier und der Geschlechtsakt als kannibalische Handlung geschildert, bei der der Mann die Frau verschlingt. Frauen, die Männer lieben und sich an der Sexualität erfreuen, teilen diese Ansicht nicht. Sie ist Ausdruck einer tiefen Feindseligkeit gegen die Männer und die Sexualität. Aber der Hass und das Vorurteil gegen die Männer treten am Schluss der Geschichte nur deutlicher hervor. Auch hier - wie beim babylonischen Mythos - müssen wir uns daran erinnern, dass die Überlegenheit der Frau darin besteht, dass sie Kinder gebären kann. Und wie wird der Wolf lächerlich gemacht? Indem geschildert wird, wie er versucht, die Rolle einer schwangeren Frau zu spielen, die lebendige Wesen in ihrem Leib hat. Rotkäppchen steckt Steine, das Symbol der Unfruchtbarkeit, in seinen Bauch, und der Wolf bricht zusammen und stirbt. Nach dem alten Gesetz der Vergeltung wird seine Tat dem Verbrechen entsprechend bestraft: Er wird von den Steinen, dem Symbol der Unfruchtbarkeit, getötet, womit seine Anmaßung, die Rolle einer schwangeren Frau zu spielen, verspottet wird.

Dieses Märchen, dessen Hauptfiguren Frauen aus drei Generationen sind (der Jäger am Ende ist eine konventionelle Vaterfigur ohne wirkliches Gewicht), handelt von dem Konflikt zwischen Mann und Frau; es ist die Geschichte vom Triumph Männer hassender Frauen und endet mit deren Sieg. Es ist das genaue Gegenteil des Ödipusmythos, in dem der Mann als Sieger aus diesem Kampf hervorgeht. [IX-298]

d) Das Sabbatritual

Die Symbole, mit denen wir uns bisher beschäftigt haben, sind bildhafte Vorstellungen oder Worte, welche eine Idee, ein Gefühl oder einen Gedanken repräsentieren. Aber es gibt noch eine andere Art von Symbolen, deren Bedeutung in der Geschichte der Menschheit kaum geringer ist als die jener, die in Träumen, Mythen oder Märchen vorkommen. Ich meine das symbolische Ritual, bei dem eine Handlung, und nicht ein Wort oder Bild ein inneres Erlebnis repräsentiert. Im täglichen Leben gebrauchen wir alle solche symbolischen Rituale. Wenn wir als Zeichen unseres Respekts den Hut ziehen, wenn wir als Zeichen unserer Ehrerbietung den Kopf neigen, wenn wir jemandem die Hand schütteln, um damit unseren freundschaftlichen Gefühlen Ausdruck zu verleihen - dann bedienen wir uns keines sprachlichen Symbols, sondern wir führen eine symbolische Handlung aus. Symbole wie die eben erwähnten sind einfach und leicht zu verstehen, genauso wie manche Träume jedem ohne weiteres klar sind. Es gibt auch viele religiöse Symbole, die ohne Schwierigkeit zu verstehen sind, wie zum Beispiel die alte hebräische Sitte, als Zeichen der Trauer seine Kleider zu zerreißen. Andererseits gibt es viele andere Rituale, wie zum Beispiel das Sabbatritual, die genauso kompliziert sind wie die Symbolsprache vieler Träume und Mythen und die ebenfalls der Deutung bedürfen.

Die Vorschriften für die Einhaltung des Sabbats nehmen im Alten Testament einen hervorragenden Platz ein. Tatsächlich handelt es sich dabei um das einzige Ritual, das in den Zehn Geboten erwähnt ist. „Denk an den Sabbat: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun; der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt“ (Ex 20,8-11). In der zweiten Version der Zehn Gebote (Dtn 5,12-15) wird die Einhaltung des Sabbats erneut befohlen, wenn auch hier nicht auf Gottes Ruhe am siebten Tag, sondern auf den Auszug aus Ägypten Bezug genommen wird: „Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hocherhobenem Arm dort herausgeführt. Darum hat es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten“ (Dtn 5,15).

Dem modernen Menschen erscheint die Einrichtung des Sabbats recht einleuchtend.[20] Dass man sich an einem Tag der Woche von seiner Arbeit ausruhen sollte, kommt uns als eine selbstverständliche sozialhygienische Maßnahme vor, die den Zweck hat, uns die körperliche und geistige Ruhe und Entspannung zu verschaffen, die wir brauchen, um von der täglichen Arbeit nicht verschlungen zu werden. Zweifellos stimmt diese Erklärung so weit, wie sie reicht, doch beantwortet sie einige Fragen nicht, die sich erheben, wenn wir uns das Sabbatgebot der Bibel und speziell das Sabbatritual, wie es sich in der nachbiblischen Überlieferung herausgebildet hat, etwas näher ansehen.

Weshalb ist dieses sozialhygienische Gesetz so wichtig, dass es unter die Zehn Gebote [IX-299] aufgenommen wurde, die doch sonst nur grundlegende religiöse und ethische Prinzipien festlegen? Weshalb wird es mit Gottes „Ruhen“ am siebten Tag in Zusammenhang gebracht, und was bedeutet es, dass Gott „ruhte“? Ist die Gottesvorstellung so anthropomorph, dass er sich nach sechs Tagen harter Arbeit ausruhen muss? Weshalb wird der Sabbat in der zweiten Version der Zehn Gebote mit Freiheit und nicht mit Gottes Ruhen in Verbindung gebracht? Welchen gemeinsamen Nenner haben die beiden Erklärungen? Ferner - und das ist vielleicht die wichtigste Frage - wie können wir uns das komplizierte Sabbatritual erklären, wenn wir uns an die sozialhygienische Interpretation des Ruhens halten? Im Alten Testament gilt ein Mann, der „am Sabbat Holz sammelt“ als Sabbatschänder und wird mit dem Tode bestraft (Num 15,32 f.). In der späteren Entwicklung ist nicht nur die Arbeit in unserem heutigen Sinne verboten, sondern auch Beschäftigungen wie die folgenden: Feuer anzuzünden, auch dann, wenn es der Behaglichkeit dient und keine körperliche Anstrengung erfordert; auch nur einen einzigen Grashalm aus der Erde zu ziehen; irgendetwas zu tragen, und wenn es so leicht wäre wie ein Taschentuch. Bei all dem handelt es sich nicht um Arbeit im Sinne einer körperlichen Anstrengung; ihre Vermeidung ist oft lästiger und unbequemer, als es ihre Durchführung wäre. Haben wir es hier mit ausgefallenen und zwanghaften Übertreibungen eines ursprünglich „vernünftigen“ Rituals zu tun, oder verstehen wir dieses Ritual vielleicht falsch und sollten wir unsere Auffassung revidieren?

Eine ausführliche Analyse der symbolischen Bedeutung des Sabbatrituals wird zeigen, dass wir es nicht mit einer zwanghaft übersteigerten Einhaltung eines Gebots, sondern mit einer Auffassung von Arbeit und Ruhe zu tun haben, die sich von unserer modernen Auffassung unterscheidet.

Zunächst fassen die Bibel und später der Talmud Arbeit nicht als körperliche Anstrengung auf, sondern die Definition lautet etwa: „Arbeit“ ist jedes Eingreifen des Menschen - sei es konstruktiv oder destruktiv - in die physische Welt. „Ruhe“ ist ein Zustand des Friedens zwischen Mensch und Natur. Der Mensch muss die Natur unberührt lassen, er darf sie in keiner Weise verändern, indem er etwas darin neu errichtet oder auch zerstört. Selbst die kleinste Veränderung, die der Mensch im Naturgeschehen vornimmt, stellt eine Verletzung der Ruhe dar. Der Sabbat ist der Tag vollkommener Harmonie zwischen Mensch und Natur. „Arbeit“ ist jede Art von Störung des Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur. Aufgrund dieser allgemeinen Definition können wir das Sabbatritual verstehen.

Jede schwere Arbeit - wie Pflügen oder Bauen - ist Arbeit in diesem wie auch in unserem modernen Sinne. Aber ein Streichholz anzünden oder einen Grashalm aus der Erde ziehen, das erfordert zwar keine Anstrengung, aber beides ist ein Symbol für das Eingreifen des Menschen in den Naturablauf, es stellt einen Bruch des Friedens zwischen Mensch und Natur dar. Dieses Prinzip erklärt uns, warum der Talmud verbietet, irgendetwas, und sei es auch noch so leicht, mit sich zu tragen. An sich ist das Tragen nicht verboten. So darf ich zum Beispiel innerhalb meines eigenen Hauses oder Grundstücks eine schwere Last tragen, ohne dass ich damit das Sabbatgebot verletzte. Aber ich darf nicht einmal ein Taschentuch von einem Bereich in einen anderen bringen - zum Beispiel aus einer Wohnung in den öffentlichen Bereich der Straße. [IX-300] Dieses Gebot stellt eine Ausweitung der Idee des Friedens vom sozialen Bereich auf den Bereich der Natur dar. Der Mensch darf nicht in das Gleichgewicht der Natur eingreifen oder es verändern, genau so wenig wie er das soziale Gleichgewicht ändern darf. Das bedeutet nicht nur, dass er keine Geschäfte betreiben darf, sondern dass er auch die einfachste Form der Übertragung von Besitz, nämlich seine Beförderung von einem Bereich in einen anderen, vermeiden muss.

Der Sabbat symbolisiert einen Zustand der Einheit zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch. Indem man nicht arbeitet - d.h. indem man an dem Prozess von Veränderungen in der Natur und in der Gesellschaft nicht teilnimmt - ist man frei von den Fesseln der Zeit, wenn auch nur an einem Tag der Woche.

Die volle Bedeutung dieser Idee lässt sich nur im Kontext der biblischen Auffassung von der Beziehung zwischen Mensch und Natur verstehen. Vor Adams „Fall“ - d.h. bevor der Mensch Vernunft besaß - lebte er in voller Harmonie mit der Natur; der erste Akt des Ungehorsams, der zugleich der Beginn der menschlichen Freiheit ist, „öffnet ihm die Augen“, sodass er jetzt weiß, was gut und böse ist, dass er sich seiner selbst und seiner Mitmenschen bewusst wird, die alle gleich und doch jeder etwas Einzigartiges sind, verbunden durch die Bande der Liebe und doch allein. Die Menschheitsgeschichte hat begonnen. Der Mensch wird wegen seines Ungehorsams von Gott verflucht. Worin besteht dieser Fluch? Feindschaft und Kampf wird verkündet zwischen Mensch und Tier („Feindschaft - stifte ich zwischen dir (der Schlange) und der Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse“ - Gen 3,15), zwischen Mensch und Ackerboden („So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Mit Schweiß im Gesicht wirst du dein Brot essen, bis zu zurückkehrst zum Ackerboden“ - Gen 3,17-19), zwischen Mann und Frau („Dennoch verlangt dich nach dem Mann, doch er wird über dich herrschen“ - Gen 3,16), zwischen der Frau und ihrer eigenen natürlichen Funktion („Unter Schmerzen gebierst du Kinder“ - Gen 3,16). An die Stelle der ursprünglichen vor-individuellen Harmonie ist Streit und Kampf getreten. (Vgl. E. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit (1941a), GA I, S. 237.)

Was also ist - in prophetischer Sicht - das Ziel des Menschen? Sein Ziel ist, wieder in Frieden und Harmonie mit seinen Mitmenschen, mit den Tieren und dem Boden zu leben. Die neue Harmonie unterscheidet sich von der des Paradieses. Sie ist nur zu erreichen, wenn der Mensch sich voll entwickelt, um wahrhaft menschlich zu werden, wenn er die Wahrheit erkennt und Gerechtigkeit übt, wenn er die Kraft seiner Vernunft so weit entwickelt, dass er von menschlichen Fesseln und von den Fesseln irrationaler Leidenschaften frei wird. In den Verkündigungen der Propheten finden wir unzählige Symbole für diese Idee. Die Erde ist wieder unbegrenzt fruchtbar, Schwerter werden in Pflugscharen verwandelt, Löwe und Lamm werden in Frieden miteinander leben, es wird keinen Krieg mehr geben, die Frauen werden ihre Kinder ohne Schmerzen gebären (Talmud), die ganze Menschheit wird in Wahrheit und Liebe vereint sein. Diese neue Harmonie, deren Erreichung das Ziel des geschichtlichen Prozesses ist, wird symbolisiert durch die Gestalt des Messias.

Jetzt können wir die Bedeutung des Sabbatrituals voll verstehen. Der Sabbat ist die [IX-301] Vorwegnahme der messianischen Zeit, wie auch die messianische Epoche als die Zeit des „ewigen Sabbat“ bezeichnet wird. Tatsächlich ist aber der Sabbat nicht nur die symbolische Vorwegnahme der messianischen Zeit, er wird auch als ihr realer Vorläufer angesehen. Wie es im Talmud (Sabbat 118a) heißt: „Wenn ganz Israel nur ein einziges Mal zwei Sabbate (nacheinander) voll und ganz einhalten würde, so wäre der Messias da.“

Ruhen und Nichtarbeiten hat demnach eine andere Bedeutung als unsere moderne „Entspannung“. Im Zustand der Ruhe nimmt der Mensch den Zustand menschlicher Freiheit vorweg, der schließlich einmal verwirklicht werden wird. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch ist eine Beziehung der Harmonie, des Friedens, der Nichteinmischung. Arbeit ist ein Symbol des Konfliktes und der Disharmonie; Ruhe ist ein Ausdruck von Würde, Frieden und Freiheit.

Wenn wir das verstanden haben, finden wir auch eine Antwort auf einige der zuvor gestellten Fragen. Das Sabbatritual nimmt deshalb in der biblischen Religion eine so zentrale Stellung ein, weil es mehr ist als nur ein „Tag der Ruhe“ im modernen Sinn; es ist ein Symbol der Erlösung und der Freiheit. Das ist auch die Bedeutung der „Ruhe“ Gottes. Gott braucht diese Ruhe nicht, weil er müde ist, sie drückt den Gedanken aus, dass, so groß auch die Schöpfung ist, der Friede doch noch größer als sie und ihre Krönung ist. Gottes Arbeit ist eine Gunst gegenüber dem Menschen; er muss „ruhen“, nicht weil er müde ist, sondern weil er frei und nur dann ganz Gott ist, wenn er aufgehört hat zu arbeiten. So ist auch der Mensch nur dann ganz Mensch, wenn er nicht arbeitet, wenn er mit der Natur und seinen Mitmenschen in Frieden lebt; deshalb wird auch das Sabbatgebot einmal mit Gottes Ruhe und ein andermal mit der Befreiung aus Ägypten begründet. Beides bedeutet dasselbe und erklärt sich gegenseitig: Ruhe ist Freiheit.

Ich möchte dieses Thema nicht verlassen, ohne noch kurz auf einige andere Aspekte des Sabbatrituals einzugehen, die für dessen volles Verständnis wichtig sind.

Der Sabbat scheint ein alt-babylonischer Feiertag gewesen zu sein, der an jedem siebten Tag (Shapatu) eines Mondmonats gefeiert wurde. Allerdings hatte er eine völlig andere Bedeutung als der biblische Sabbat. Der babylonische Shapatu war ein Tag der Trauer und Selbstzüchtigung. Es war ein düsterer Tag, der dem Planeten Saturn geweiht war (die englische Bezeichnung des Sonnabends „Saturday“ weist noch heute darauf hin), und man suchte seinen Zorn durch Selbstkasteiung und Selbstbestrafung zu besänftigen. Allmählich änderte dieser Feiertag seinen Charakter. In der Bibel aber hat der heilige Tag seinen Charakter als Tag der Selbstgeißelung und der Trauer verloren; er ist kein „schlimmer“ Tag mehr, sondern ein guter Tag; der Sabbat ist zum Gegenteil des düsteren Shapatu geworden. Er ist zu einem Tag der Freude und des Vergnügens geworden. Essen, Trinken, geschlechtliche Liebe neben dem Studium der Bibel und religiöser Schriften waren in den vergangenen zweitausend Jahren kennzeichnend für die jüdische Sabbatfeier. Aus einem Tag der Unterwerfung unter die bösen Mächte des Saturn wurde der Sabbat zu einem Tag der Freiheit und Freude.

Wir können den Wandel in der Stimmung und Bedeutung dieses Tages nur ganz verstehen, wenn wir uns die Bedeutung des Saturn vor Augen halten. Dieser symbolisiert [IX-302] nach alter astrologischer und metaphysischer Überlieferung die Zeit. Saturn ist der Gott der Zeit und daher der Gott des Todes. Insofern der Mensch wie Gott ist, begabt mit einer Seele, mit Vernunft, Liebe und Freiheit, ist er Zeit und Tod nicht unterworfen. Aber insofern der Mensch ein Tier mit einem Körper ist, der den Naturgesetzen unterworfen ist, ist er ein Sklave der Zeit und des Todes. Die Babylonier suchten den Herrn über die Zeit durch Selbstkasteiung zu besänftigen. Die Bibel unternimmt mit ihrer Auffassung vom Sabbat einen völlig neuen Versuch, das Problem zu lösen: Indem sie die Einmischung in die Natur einen Tag lang unterbricht, schaltet sie die Zeit aus; wenn es keine Veränderung, keine Arbeit, keine Einmischung des Menschen gibt, so gibt es auch keine Zeit. Anstelle eines Sabbats, bei dem sich der Mensch vor dem Herrn der Zeit beugt, symbolisiert der biblische Sabbat den Sieg des Menschen über die Zeit. Die Zeit ist aufgehoben; Saturn ist ausgerechnet an dem ihm geweihten Tag entthront.

e) Kafkas Roman „Der Prozess“

Ein hervorragendes Beispiel für ein in symbolischer Sprache geschriebenes Kunstwerk ist Kafkas Roman Der Prozess. Wie in vielen Träumen werden hier Ereignisse dargestellt, von denen ein jedes für sich genommen konkret und realistisch ist; dennoch ist das Ganze unmöglich und phantastisch. Um verstanden zu werden, muss der Roman so gelesen werden, als ob wir uns einen Traum erzählen ließen - einen langen, komplizierten Traum, in dem äußere Ereignisse sich in Raum und Zeit abspielen, dabei aber die Gedanken und Gefühle des Träumers, in diesem Falle des Romanhelden K., repräsentieren.

Der Roman beginnt mit einem etwas merkwürdigen Satz: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ (F. Kafka, 1965, S. 259). Was bedeutet „verhaftet werden“? Es bedeutet soviel wie in Arrest gesteckt und damit in seiner Bewegung aufgehalten, „arretiert“ werden. Ein Mann, der eines Verbrechens beschuldigt wird, wird von der Polizei in Arrest gesteckt, ein Organismus wird in seiner normalen Entwicklung aufgehalten, „arretiert“. Die manifeste Geschichte bedient sich des Begriffs im erstgenannten Sinn. Symbolisch bedeutet es jedoch das Letztere. K. hat das Gefühl, in seiner Entwicklung angehalten und blockiert zu sein.

In einem meisterhaften Absatz erklärt Kafka, wieso dies geschehen war. K. hatte auf folgende Weise sein Leben verbracht (F. Kafka, 1965, S. 272): „In diesem Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weise zu verbringen, dass er nach der Arbeit, wenn dies noch möglich war - er saß meistens bis neun Uhr im Büro - einen kleinen Spaziergang allein oder mit Beamten machte und dann in eine Bierstube ging, wo er an einem Stammtisch mit meist älteren Herren gewöhnlich bis elf Uhr beisammen saß. Es gab aber auch Ausnahmen von dieser Einteilung, wenn K. zum Beispiel vom Bankdirektor, der seine Arbeitskraft und Vertrauenswürdigkeit schätzte, zu einer Autofahrt oder zu einem Abendessen in seiner Villa eingeladen wurde. Außerdem ging K. einmal in der Woche zu einem Mädchen namens Elsa, die während der Nacht bis in den [IX-303] späten Morgen als Kellnerin in einer Weinstube bediente und während des Tages nur vom Bett aus Besuche empfing.“

Es war ein leeres, routinemäßiges Leben, steril, ohne Liebe und ohne Produktivität. Er war tatsächlich festgefahren, „arretiert“, und er hörte die Stimme seines Gewissens, die es ihm sagte und die ihn vor der Gefahr warnte, die seine Persönlichkeit bedrohte.

Der zweite Satz berichtet uns: „Die Köchin der Frau Grunbach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen“ (F. Kafka, 1965, S. 259). Die Einzelheit erscheint unwichtig. Tatsächlich scheint es nicht recht zusammenzupassen, dass nach dem aufregenden Bericht über seine Verhaftung eine so triviale Einzelheit, wie dass das Frühstück nicht gebracht wurde, erwähnt wird. Aber - wie in so vielen Träumen - enthält auch hier ein scheinbar bedeutungsloses Detail eine wichtige Information über K.’s Charakter. K. ist ein Mensch mit einer „rezeptiven Orientierung“. Alle seine Bestrebungen richten sich darauf, von anderen etwas zu erhalten und niemals etwas zu geben oder hervorzubringen. (Vgl. die Beschreibung dieser Orientierung in Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 44 f..)

Er ist von anderen abhängig, die ihn ernähren, versorgen und beschützen sollen. Er ist noch immer ein von seiner Mutter abhängiges Kind, das alles von ihrer Hilfe erwartet, sie ausnutzt und gebraucht. Wie es für Menschen dieser Einstellung kennzeichnend ist, ist auch er hauptsächlich darauf bedacht, freundlich und nett zu sein, sodass die anderen - und besonders die Frauen - ihm das geben, was er braucht; seine größte Angst ist, dass sich andere über ihn ärgern und ihm nichts mehr schenken könnten. Er ist überzeugt, dass alles Gute von außen kommt, und das Problem seines Lebens besteht darin, das Risiko zu vermeiden, dass diese Quelle versiegen könnte. Darum ist ihm das Gefühl der eigenen Kraft verlorengegangen und eine intensive Angst, die Personen, von denen er abhängig ist, könnten ihn im Stich lassen, erfüllt ihn.

K. weiß nicht, wer ihn verklagt hat oder wessen man ihn beschuldigt. Er fragt sich: „Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an?“ Als er dann ein wenig später mit dem „Aufseher“ spricht, der in der Hierarchie des Gerichtshofs eine höhere Stellung einnimmt, wird die Stimme etwas deutlicher. K. stellt ihm alle möglichen Fragen, die mit der Hauptfrage, wessen er eigentlich angeklagt ist, nichts zu tun haben. In seiner Antwort darauf macht der Aufseher eine Bemerkung, die einen der wichtigsten Aufschlüsse enthält, die K. zu diesem Zeitpunkt erhalten konnte - was übrigens für jeden zutrifft, der sich in Not befindet und Hilfe sucht. Der Aufseher sagt: „Wenn ich nun aber auch Ihre Fragen nicht beantworte, so kann ich Ihnen doch raten, denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr an sich.“ K. begreift nicht, was der Aufseher damit sagen will. Er begreift nicht, dass das Problem in ihm selbst begründet ist, dass nur er allein sich retten könne, und die Tatsache, dass er den Rat des Aufsehers nicht befolgen kann, ist ein Hinweis darauf, dass er sich am Ende geschlagen geben muss.

Diese erste Szene schließt mit einer weiteren Bemerkung des Aufsehers, die erheblich [IX-304] mehr Licht auf die Art der Anklage und den Grund der Verhaftung wirft:

“Sie werden wohl jetzt in die Bank gehen wollen?“ „In die Bank?“ fragte K., „ich dachte, ich wäre verhaftet.“ (...) „Wie kann ich denn in die Bank gehen, da ich verhaftet bin?“ - „Ach so“, sagte der Aufseher, der schon bei der Tür war, „Sie haben mich missverstanden. Sie sind verhaftet, gewiss, aber das soll Sie nicht hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein.“ - „Dann ist das Verhaftetsein nicht sehr schlimm“, sagte K. und ging nahe an den Aufseher heran. „Ich meinte es niemals anders“, sagte dieser. „Es scheint aber dann nicht einmal die Mitteilung der Verhaftung sehr notwendig gewesen zu sein“, sagte K. und ging noch näher. (F. Kafka, 1965, S. 272.)

In Wirklichkeit könnte das wohl kaum geschehen. Wenn jemand verhaftet ist, darf er weder seinen Geschäften weiter nachgehen, noch, wie wir später sehen werden, seine anderen gewohnten Betätigungen fortsetzen. Diese seltsame Anordnung bringt symbolisch zum Ausdruck, dass seine Tätigkeit in der Bank und alles, was er sonst tat, von seiner inneren Gefangenschaft nicht wirklich berührt wurde. Als Mensch war er bereits fast tot, doch konnte er trotzdem sein Leben als Bankangestellter fortführen, weil dieses Tun sein eigentliches Wesen unberührt ließ.

K. ist sich nur ganz vage dessen bewusst, dass er sein Leben vergeudet und dass es schnell mit ihm bergab geht. Von nun an handelt der ganze Roman von seiner Reaktion auf dieses Gefühl und seinen Bemühungen sich dagegen zu wehren und sich zu retten. Der Ausgang ist tragisch. Obgleich er die Stimme seines Gewissens hört, versteht er sie nicht. Anstatt den Versuch zu machen, den wahren Grund für seine Verhaftung zu begreifen, ist er bestrebt, jeder derartigen Erkenntnis aus dem Weg zu gehen. Anstatt sich auf die einzige Weise, die ihm helfen könnte, zu helfen - indem er nämlich die Wahrheit erkennt und versucht sich zu ändern - sucht er dort Hilfe, wo er sie nicht finden kann - draußen, bei anderen, bei gescheiten Rechtsanwälten, bei Frauen, deren „Beziehungen“ er vielleicht nutzen könnte, wobei er ständig seine Unschuld beteuert und der Stimme Schweigen gebietet, die ihm sagt, dass er schuldig ist.

Vielleicht hätte er eine Lösung finden können, wenn sein moralisches Empfinden nicht in Verwirrung geraten wäre. Er kennt nur eine Art von Moralgesetz: die strenge Autorität, deren Grundgebot lautet: „Du hast zu gehorchen“. Er kennt nur das „autoritäre Gewissen“, für das Gehorsam die höchste Tugend und Ungehorsam das größte Verbrechen ist. Er weiß kaum, dass es noch ein Gewissen anderer Art gibt - das humanistische Gewissen, die Stimme in unserem Innern, die uns zu uns selbst zurückruft. (Vgl. meine Ausführungen zum humanistischen und autoritären Gewissen in Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 91-109.)

Im Roman sind beide Arten von Gewissen symbolisch dargestellt: Das humanistische Gewissen vertreten der Aufseher und später der Geistliche. Das autoritäre Gewissen wird vom Gerichtshof, von den Richtern, den Beisitzern, den korrupten Anwälten und allen anderen repräsentiert, die mit dem Fall zu tun haben. K.’s tragischer Fehler besteht darin, dass er, obgleich er die Stimme seines humanistischen Gewissens hört, sie irrtümlich für die Stimme des autoritären Gewissens hält und dass er sich gegen die ihn anklagenden Autoritäten verteidigt, indem er sich ihnen unterwirft bzw. gegen sie rebelliert, anstatt im Namen des humanistischen Gewissens für sich zu kämpfen. [IX-305]

Das „Gericht“ wird als despotisch, korrupt und schmutzig beschrieben; es beruft sich bei seinem Verfahren nicht auf Vernunft und Gerechtigkeit. Das Aussehen der von den Richtern benutzten Gesetzbücher, die ihm die Frau eines Dieners zeigt, ist symbolischer Ausdruck dieser Korruption:

Es waren alte, abgegriffene Bücher, ein Einbanddeckel war in der Mitte fast zerbrochen, die Stücke hingen nur durch Fasern zusammen. „Wie schmutzig hier alles ist“, sagte K. kopfschüttelnd, und die Frau wischte mit ihrer Schürze, ehe K. nach den Büchern greifen konnte, wenigstens oberflächlich den Staub weg. K. schlug das oberste Buch auf, es erschien ein unanständiges Bild. Ein Mann und eine Frau saßen nackt auf einem Kanapee, die gemeine Absicht des Zeichners war deutlich zu erkennen, aber seine Ungeschicklichkeit war so groß gewesen, dass schließlich doch nur ein Mann und eine Frau zu sehen waren, die allzu körperlich aus dem Bild hervorragten, übermäßig aufrecht dasaßen und sich infolge falscher Perspektive nur mühsam einander zuwendeten. K. blätterte nicht weiter, sondern schlug nur noch das Titelblatt des zweiten Buches auf, es war ein Roman mit dem Titel: Die Plagen, welche Grete von ihrem Manne Hans zu erleiden hatte. „Das sind die Gesetzbücher, die hier studiert werden“, sagte K., „von solchen Menschen soll ich gerichtet werden.“(F. Kafka, 1965, S. 299 f.)

Die Korruption zeigt sich auch darin, dass die Frau des Gerichtsdieners von den Richtern und von einem der Rechtsstudenten sexuell missbraucht wird und dass weder sie noch ihr Mann dagegen protestieren dürfen. K. begehrt dem Gericht gegenüber gelegentlich auf, während er für den Gerichtsdiener eine tiefe Sympathie erkennen lässt, als dieser, nachdem er K. „mit einem zutraulichen Blick“ angesehen hat, „wie er es bisher trotz aller Freundlichkeit nicht getan hatte“, hinzufügt: „Man rebelliert eben immer“ (F. Kafka, 1965, S. 308). Aber K.’s Aufbegehren wechselt mit Unterwürfigkeit. Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass das moralische Gesetz nicht von dem autoritären Gericht, sondern von seinem eigenen Gewissen repräsentiert wird.

Zu sagen, dass der Gedanke ihm nie käme, wäre freilich nicht ganz richtig. Einmal gegen Ende seiner Reise kommt er der Wahrheit näher als je zuvor. Er hört die Stimme des humanistischen Gewissens, das vom Geistlichen im Dom repräsentiert wird. Er ist zum Dom gegangen, um dort einen Geschäftsfreund zu treffen, dem er die Stadt zeigen soll, aber dieser hat die Verabredung nicht eingehalten, und K. findet sich allein im Dom, etwas verlassen und verwirrt, bis ihm schließlich, „eine Stimme, die keine Ausflüchte zuließ“, zurief: „Josef K.!“

K. stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufig war er noch frei, er konnte noch weitergehen und durch eine der drei kleinen, dunklen Holztüren, die nicht weit vor ihm waren, sich davonmachen. Es würde eben bedeuten, dass er nicht verstanden hatte oder dass er zwar verstanden hatte, sich aber darum nicht kümmern wollte. Falls er sich aber umdrehte, war er festgehalten, denn dann hatte er das Geständnis gemacht, dass er gut verstanden hatte, dass er wirklich der Angerufene war und dass er auch folgen wollte. Hätte der Geistliche nochmals gerufen, wäre K. gewiss fortgegangen, aber da alles still blieb, solange K. auch wartete, drehte er doch ein wenig den Kopf, denn er wollte sehen, was der Geistliche jetzt mache. Er stand ruhig auf der Kanzel wie früher, es war aber deutlich zu sehen, dass er K.’s Kopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein kindliches Versteckenspiel gewesen, wenn [IX-306] sich jetzt K. nicht vollständig umgedreht hätte. Er tat es und wurde vom Geistlichen durch ein Winken des Fingers näher gerufen. Da jetzt alles offen geschehen konnte, lief er - er tat es auch aus Neugierde und um die Angelegenheit abzukürzen - mit langen, fliegenden Schritten der Kanzel entgegen. Bei den ersten Bänken machte er halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er streckte die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er musste auf diesem Platz den Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehen. „Du bist Josef K.“, sagte der Geistliche und erhob eine Hand auf der Brüstung in einer unbestimmten Bewegung. „Ja“, sagte K., er dachte daran, wie offen er früher immer seinen Namen genannt hatte, seit einiger Zeit war er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinen Namen Leute, mit denen er zum ersten Mal zusammenkam, wie schön war es, sich zuerst vorzustellen und dann erst gekannt zu werden. „Du bist angeklagt“, sagte der Geistliche besonders leise. „Ja“, sagte K., „man hat mich davon verständigt.“ - „Dann bist du der, den ich suche“, sagte der Geistliche. „Ich bin der Gefängniskaplan.“ - „Ach so“, sagte K. - „Ich habe dich hierher rufen lassen“, sagte der Geistliche, „um mit dir zu sprechen.“ - „Ich wusste es nicht“, sagte K. „Ich bin hierher gekommen, um einem Italiener den Dom zu zeigen.“ - „Lass das Nebensächliche“, sagte der Geistliche. „Was hältst du in der Hand? Ist es ein Gebetbuch?“ - „Nein“, antwortete K., „es ist ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten.“ - „Leg es aus der Hand“, sagte der Geistliche. K. warf es so heftig weg, dass es aufklappte und mit zerdrückten Blättern ein Stück über den Boden schleifte. „Weißt du, dass dein Prozess schlecht steht?“ fragte der Geistliche. „Es scheint mir auch so“, sagte K. „Ich habe mir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Allerdings habe ich die Eingabe noch nicht fertig.“ - „Wie stellst du dir das Ende vor?“ fragte der Geistliche. „Früher dachte ich, es müsse gut enden“, sagte K., „jetzt zweifle ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt du es?“ - „Nein“, sagte der Geistliche, „aber ich fürchte, es wird schlecht enden. Man hält dich für schuldig. Dein Prozess wird vielleicht über ein niedriges Gericht gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig deine Schuld für erwiesen.“ - „Ich bin aber nicht schuldig“, sagte K., „es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.“ - „Das ist richtig“, sagte der Geistliche, „aber so pflegen die Schuldigen zu reden.“ - „Hast auch du ein Vorurteil gegen mich?“ fragte K. „Ich habe kein Vorurteil gegen dich“, sagte der Geistliche. „Ich danke dir“, sagte K., „alle anderen aber, die an dem Verfahren beteiligt sind, haben ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es auch den Unbeteiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger.“ - „Du missverstehst die Tatsachen“, sagte der Geistliche, „das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.“ - „So ist es also“, sagte K. und senkte den Kopf. „Was willst du nächstens in deiner Sache tun?“ fragte der Geistliche. „Ich will noch Hilfe suchen, sagte K. und hob den Kopf, um zu sehen, wie der Geistliche es beurteile. „Es gibt noch gewisse Möglichkeiten, die ich nicht ausgenützt habe.“ - „Du suchst zuviel fremde Hilfe“, sagte der Geistliche missbilligend, „und besonders bei Frauen. Merkst du denn nicht, dass es nicht die wahre Hilfe ist?“ - „Manchmal und sogar [IX-307] oft könnte ich dir recht geben“, sagte K., „aber nicht immer. Die Frauen haben eine große Macht. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne, dazu bewegen könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müsste ich durchdringen. Besonders bei diesem Gericht, das fast nur aus Frauenjägern besteht. Zeig dem Untersuchungsrichter eine Frau aus der Ferne, und er überrennt, um nur rechtzeitig hinzukommen, den Gerichtstisch und den Angeklagten.“ Der Geistliche neigte den Kopf zur Brüstung, jetzt erst schien die Überdachung der Kanzel ihn niederzudrücken. Was für ein Unwetter mochte draußen sein? Das war kein trüber Tag mehr, das war schon tiefe Nacht. Keine Glasmalerei der großen Fenster war imstande, die dunkle Wand auch nur mit einem Schimmer zu unterbrechen. Und gerade jetzt begann der Kirchendiener, die Kerzen auf dem Hauptaltar, eine nach der anderen, auszulöschen. „Bist du mir böse?“ fragte K. den Geistlichen. „Du weißt vielleicht nicht, was für einem Gericht du dienst.“ Er bekam keine Antwort. „Es sind doch nur meine Erfahrungen, sagte K. Oben blieb es noch immer still. „Ich wollte dich nicht beleidigen“, sagte K. Da schrie der Geistliche zu K. hinunter: „Siehst du denn nicht zwei Schritte weit?“ Es war im Zorn geschrien, aber gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und, weil er selbst erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen schreit.“ (F. Kafka, 1965, S. 429-431.)

Der Geistliche weiß, wessen K. in Wirklichkeit angeklagt ist, und er weiß auch, dass sein Prozess schlecht ausgehen wird. Zu diesem Zeitpunkt hat K. noch eine Chance, in sein eigenes Inneres hineinzublicken und sich zu fragen, wessen er in Wirklichkeit angeklagt ist, aber seiner früheren Einstellung entsprechend interessiert er sich nur dafür, wo er noch weitere Hilfe erlangen könnte. Als der Geistliche missbilligend zu ihm sagt, er suche zuviel fremde Hilfe, reagiert K. hierauf nur mit der Angst, der Geistliche könne ihm böse sein. Jetzt wird der Geistliche wirklich zornig auf ihn, aber es ist der Zorn der Liebe, den ein Mensch fühlt, der einen anderen fallen sieht und weiß, dass dieser sich selbst helfen könnte, dass ihm aber kein anderer helfen kann. Viel mehr kann ihm der Geistliche nicht sagen. Als K. auf den Haupteingang zugeht, fragt ihn der Geistliche: „Willst du schon fortgehen?“ Obwohl K. gerade jetzt nicht daran gedacht hat, sagt er sofort: „Gewiss, ich muss fortgehen. Ich bin Prokurist einer Bank, man wartet auf mich, ich bin nur hergekommen, um einem ausländischen Geschäftsfreund den Dom zu zeigen.“ - „Nun“, sagt der Geistliche, und reicht K. die Hand, „dann geh.“ - „Ich kann mich aber im Dunkeln allein nicht zurechtfinden“, sagt K. (F. Kafka, 1965, S. 439).

K. befindet sich in der Tat im tragischen Dilemma eines Menschen, der sich nicht allein im Dunkeln zurechtfindet und der darauf beharrt, dass nur andere ihn führen können. Er sucht nach Hilfe, weist aber die einzige Hilfe, die der Geistliche ihm bieten könnte, zurück. Aus diesem inneren Dilemma heraus kann er den Geistlichen nicht verstehen:

“Willst du nicht noch etwas von mir?“ fragte K. - „Nein“, sagte der Geistliche. - „Du warst früher so freundlich zu mir“, sagte K., „und hast mir alles erklärt, jetzt aber entlässt du mich, als läge dir nichts an mir.“ „Du musst doch fortgehen“, sagte der Geistliche. „Nun ja“, sagte K., „sieh das doch ein.“ - „Sieh du zuerst ein, wer ich bin“, sagte der Geistliche. „Du bist der Gefängniskaplan“, sagte K. und ging näher zum [IX-308] Geistlichen hin, seine sofortige Rückkehr zur Bank war nicht notwendig, wie er sie dargestellt hatte, er konnte recht gut noch hierbleiben. „Ich gehöre also zum Gericht“, sagte der Geistliche. „Warum sollte ich also etwas von dir wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.“ (F. Kafka, 1965, S. 439 f.)

Der Geistliche lässt deutlich erkennen, dass seine Haltung alles andere ist als autoritär. Er will zwar K. aus Liebe zum Mitmenschen helfen, hat aber auf den Ausgang von K.’s Prozess keinen Einfluss. Nach Ansicht des Geistlichen handelt es sich ausschließlich um K.’s eigenes Problem. Wenn er es nicht einsehen will, muss er blind bleiben - weil niemand die Wahrheit erkennt, es sei denn, er selbst erkennt sie.

Das Verwirrende an dem Roman ist, dass nirgends gesagt wird, dass das vom Geistlichen vertretene moralische Gesetz und das vom Gericht vertretene Gesetz zweierlei sind. Ganz im Gegenteil ist der Geistliche in der manifesten Geschichte als Gefängniskaplan Teil des Gerichtssystems. Doch diese Verwirrung in der Geschichte symbolisiert die Verwirrung in K.’s eigenem Herzen. Für ihn sind beide Instanzen eins, und eben weil er nicht fähig ist, zwischen ihnen zu unterscheiden, bleibt er im Kampf mit dem autoritären Gewissen stecken und kann sich selbst nicht verstehen.

Ein Jahr ist vergangen, seit K. zum ersten Mal von seiner Verhaftung erfuhr. Es ist der Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages, und er hat seinen Prozess verloren. Zwei Herren kommen, um ihn zu seiner Hinrichtung abzuholen. Trotz seiner verzweifelten Bemühungen ist es ihm nicht gelungen, die richtige Frage zu stellen. Er hat nicht herausgefunden, wessen er angeklagt ist, wer ihn angeklagt hat und wie er sich hätte retten können.

Die Geschichte endet wie so viele Träume als ein gewaltsamer Albtraum. Aber während die Henker mit grotesken Formalitäten ihre Messer prüfen, kommt K. zum ersten Mal die Einsicht, worin sein Problem bestand: „Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig. Soll ich nun zeigen, dass nicht einmal der einjährige Prozess mich belehren konnte? Soll ich als begriffsstutziger Mensch abgehen? Soll man mir nachsagen dürfen, dass ich am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte, und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will? Ich will nicht, dass man das sagt“ (F. Kafka, 1965, S. 442).

Zum erstenmal macht K. sich klar, wie habgierig und leer sein Leben war. Zum erstenmal kann er die Möglichkeit von Freundschaft und menschlicher Solidarität erkennen:

Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es noch Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen [IX-309] hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger. (F. Kafka, 1965, S. 444.)

Sein ganzes Leben lang hat K. versucht, eine Antwort auf diese Fragen zu finden, oder - besser gesagt - sie sich von anderen beantworten zu lassen; in diesem Augenblick stellt er Fragen - die richtigen Fragen. Erst die Todesangst verleiht ihm Kraft, die Möglichkeit von Liebe und Freundschaft zu erkennen, und paradoxerweise glaubt er im Augenblick des Sterbens zum ersten Mal an das Leben.

[1] [Anmerkung des Herausgebers: Erstveröffentlichung unter dem Titel The Forgotten Language. An Introduction to the Understanding of Dreams, Fairy Tales and Myths bei Holt, Rinehart and Winston, New York 1951; eine erste deutsche Übersetzung, angefertigt von Ernst Bucher, wurde 1957 vom Diana Verlag, Zürich, unter dem Titel Märchen, Mythen, Träume. Eine Einführung zum Verständnis von Träumen, Märchen und Mythen herausgebracht. Für die Veröffentlichung in der zehnbändigen Erich Fromm-Gesamtausgabe 1980 wurde der Untertitel dem englischen Original angepasst; außerdem fertigten Liselotte und Ernst Mickel eine neue Übersetzung an, die auch in die Einzelpublikation bei der Deutsche Verlags-Anstalt (Stuttgart 1980) sowie in die zwölfbändige Erich Fromm-Gesamtausgabe (München 1999) Eingang fand. - Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IX, S. 169-309. Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1951 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © E-Book Erich Fromm Gesamtausgabe 2016 by Rainer Funk.]

[2] [Anmerkung des Herausgebers: Unter den Büchern, die aus der Lehr- und Seminartätigkeit Erich Fromms hervorgegangen sind, nimmt neben Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 1-157) und Psychoanalyse und Religion (1950a, GA VI, S. 227-292) das Buch Märchen, Mythen, Träume einen besonderen Platz bei Fromm ein. Sigmund Freud (1900a) hatte den Traum als die via regia zum Unbewussten erkannt. An dieser Erkenntnis Freuds hielt Fromm zeitlebens fest, auch in Zeiten, in denen die Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung in der psychoanalytischen Therapie der Arbeit mit Träumen mehr und mehr den Rang ablief. Das Hauptanliegen des Buches ist deshalb, mit der „symbolischen Sprache“ der Träume bekannt zu machen, um Träume als Zugang zum eigenen Unbewussten und zum Unbewussten anderer Menschen verstehen und nutzen zu können. Diese symbolische Sprache ist für Fromm eine Sprache, die alle Menschen in ihren Träumen sprechen. Sie stellt quer durch alle Kulturen eine universale Sprache dar, die allerdings in den einzelnen Kulturen mehr oder weniger der Vergessenheit anheimgefallen ist, so dass sie erst wieder neu gelernt werden muss.

Der englische Titel des Buches lautet folgerichtig: The Forgotten Language. An Introduction to the Understanding of Dreams, Fairy Tales and Myths. Da die universale symbolische Sprache nicht nur in Träumen zum Vorschein kommt, sondern auch in den großen Mythen und Epen sowie in Märchen, werden diese - eher am Rande - in diesem Buch auch noch angesprochen. Auch wenn das Buch im Deutschen Märchen, Mythen, Träume heißt, geht es in ihm in erster Linie um die symbolische Sprache der Träume als Zugang zum Unbewussten des Menschen. Die Psychoanalyse hat eine neue Technik entwickelt, die Bedeutung der Träume und ihrer Sprachsymbole zu erschließen, weshalb Fromm in diesem Buch auch einen Blick in die Jahrtausende alte Geschichte des Traumverstehens wirft, aus denen die Protagonisten des psychoanalytischen Traumverstehens, Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, schöpfen.

Träume vermitteln uns in einer mehr oder weniger verschlüsselten Weise Einblicke und Ahnungen von dem, wie wir uns selbst und andere Menschen, aber auch Situationen, Ereignisse und Erfahrungen emotional erleben, und zwar unabhängig davon, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Mehr noch: Auch unabhängig davon, ob und wie wir uns mit unseren Gedanken und Vorstellungen das innere Erleben schönreden, zurechtbiegen oder interpretieren, konfrontieren uns die „verrückten“ und „unsinnigen“ Ereignisse und Geschichten des Traumes mit einem emotionalen Erleben, das uns innerlich bestimmt und auf bestimmte Weisen reagieren lässt. Diese innere kognitive und emotionale Wahrnehmung steht oft in krassem Widerspruch zu dem, wie wir etwas bewusst erleben. Das Verstehen von Träumen ist für Fromm ein unverzichtbares Instrument, um „hinter die Kulissen“ der persönlichen Rationalisierungen und der gesellschaftlichen Ideologiebildungen zu schauen. Träume sind der „königliche Weg“, um die ganze, die ungeschminkte Wahrheit über sich und andere erkennen zu können. Dies führt Fromm auch dazu, in den „Mitteilungen“ von Träumen tiefere Einsichten über das „wahre Selbst“ und darüber zu finden, was den Menschen gelingen lässt und das deshalb Teil seines universalen Menschseins ist.

Im Buch Märchen, Mythen, Träume wird all das an vielen Beispielen verdeutlicht, was Fromm schon zwei Jahre zuvor in dem kleinen, programmatischen Beitrag Das Wesen der Träume (1949a, GA IX, S. 161-168) über das Verstehen von Träumen angedeutet hatte. Dabei bedient sich Fromm nie seiner eigenen Träume, sondern solcher, die aus der Geschichte, Literatur und Fachliteratur bekannt sind oder die er durch Patientinnen und Patienten oder aus Kontrollanalysen erfahren hat. Die Analyse von Träumen stellt eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Erkenntnisinstrument in Fromms therapeutischer Praxis dar. Sie ermöglicht nicht nur den Zugang zu verdrängten Wünschen, Konflikten, Fantasien, Gefühlen aus der Kindheit, sondern auch zu dem, was eine bestimmte Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppierung nicht wahrhaben will, ausblendet, verdrängt und verleugnet und sich als „gesellschaftlich Unbewusstes“ in Gesellschafts-Charakterzügen manifestiert (vgl. Jenseits der Illusionen, 1962a, GA IX, S. 96-125). Das Verstehen von Träumen spielt bei der empirischen Sozialforschung als qualitative Auswertungsmethode eine wichtige Rolle (vgl. Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes, 1970b, GA III, S. 275-277) eine Rolle und selbst noch im Alterswerk von Fromm, in Anatomie der menschlichen Destruktivität, gewinnt Fromm wichtige Erkenntnisse zur nekrophilen Charakterorientierung aus der Analyse von Träumen (1973a, GA VII, S. 301-305). Vor allem aber war Fromm seit seinem Bekanntwerden mit der Psychoanalyse in den Zwanziger Jahren darum bemüht, mit der ihm unbekannten und fremden Seite von sich selbst über das Verstehen seiner eigenen Träume bekannt zu werden. Auch wenn er in seinem umfangreichen Werk nie einen eigenen Traum mitteilt, so bekundete er doch, dass er sich täglich bis zu einer Stunde Zeit genommen habe, um Übungen des Gewahrwerdens und der Meditation zu machen und sich mit seinen eigenen Träumen zu beschäftigen. Dass Träume Einsicht in das eigene wahre Selbst geben können, diese zentrale These des Buches hat also auch eine sehr subjektive Erfahrungsbasis.

Wie bereits angedeutet, verdankt das Buch Märchen, Mythen, Träume seine Entstehung vor allem seiner Lehrtätigkeit in den Vierziger Jahren. In diesen Jahren war Fromm nicht nur Professor am Bennington College in Vermont, sondern auch Lehranalytiker und Dozent am William Alanson White Institute, einem psychoanalytischen Ausbildungsinstitut in New York. Darüber hinaus lehrte er an der berühmten New School for Social Research in New York, wo er bereits im Winter 1941/42 ein Seminar über Traumdeutung anbot und im Februar 1948 über 12 Wochen lang einen Kurs „Symbolism: Index to Psychic Phenomena - Myths, Dreams and Art“ anbot. Wie er zu Beginn des sechsten Kapitels bemerkt (1951a, GA IX, S. 247), hat Fromm als Zielgruppe beim Schreiben dieses Buches (psychologische) Laien und Studierende der ersten Semester im Blick.

Teile aus dem Buch Märchen, Mythen, Träume haben in das dritte Kapitel seines Spätwerks Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 313-336) Eingang gefunden. Wichtige ergänzende Gedanken finden sich in einer weiteren Publikation, die aus einem in deutscher Sprache gehaltenen Vortrag hervorgegangen ist: Der Traum ist die Sprache des universalen Menschen (1972a, GA IX, S. 311-315). Wie Fromm in der Supervision (Kontrollanalyse) mit Träumen von Patienten umgeht, illustriert sehr eindrücklich das Transkript eines Seminars aus dem Jahr 1974, das posthum unter dem Titel Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse (1991d, GA XII, S. 259-367) in dem Buch Von der Kunst des Zuhörens (1991a) veröffentlicht wurde. Wichtige Hinweise zur Bedeutung der Arbeit mit Träumen sind auch dem Sammelband Erich Fromm als Therapeut (R. Funk (Hg.), 2009) und den darin enthaltenen Beiträgen von R. U. Akaret (2009), A. H. Feiner (2009) und R. M. Lesser (2009) zu entnehmen.

Das Frommsche Verständnis des Unbewussten und des Zugangs zum Unbewussten über die Arbeit mit Träumen wurde - wie alle für die therapeutische Praxis relevanten Erkenntnisse Fromms - insgesamt nur wenig rezipiert. Hervorzuheben sind die Arbeiten von Marianne Eckhardt Horney (1983; 1995) und von Jorge Silva García (1990; 1991a).]

[3] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Auseinandersetzung Fromms mit Freuds Theorie vgl. vor allem die beiden Freud-Monographien Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und Wirkung (1959a; GA VIII, S. 153-221) und Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a; GA VIII, S. 259-362); im letztgenannten Werk setzt sich Fromm erneut mit der Traumsprache und Traumtheorie auseinander, wobei er auf die Ausführungen der vorliegenden Monographie zurückgreift.]

[4] [Anmerkung des Herausgebers: Dem amerikanischen Copyright gemäß folgen hier in der amerikanischen Ausgabe die Angaben über Bücher, aus denen umfassender zitiert wurde.]

[5] [Anmerkung des Herausgebers: Die folgenden Ausführungen sind teilweise in das 3. Kapitel von Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 327 ff.) übernommen worden.]

[6] [Anmerkung des Herausgebers: In Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 328), wo Fromm diese Textpassage übernimmt, ergänzt er an dieser Stelle: „Doch Feuer kann auch zerstörerisch und von verwüstender Kraft sein. Wenn wir von einem brennenden Haus träumen, dann symbolisiert das Feuer Destruktivität und nicht Schönheit.“]

[7] [Anmerkung des Herausgebers: Die folgenden Ausführungen wurden in Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 332) wieder aufgegriffen.]

[8] [Anmerkung des Herausgebers: Zum Frommschen Verständnis der Charaktergenese vgl. seinen Aufsatz Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie (1932b, GA I, S. 59-77); Jenseits der Illusionen (1962a, GA IX, S. 85-95) sowie Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft. Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie (1992e [1937]), GA XI, S. 129-175).]

[9] [Anmerkung des Herausgebers: In Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 321) hat Erich Fromm diesen Traum Freuds erneut herangezogen, um die Grenzen von Freuds eigener Traumdeutung aufzuzeigen.]

[10] [Anmerkung des Herausgebers: Auch einen Teil dieses Traumes hat Fromm in Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 315) erneut zitiert, um die Rolle der Assoziationen in Freuds Technik der Traumdeutung zu veranschaulichen.]

[11] [Anmerkung des Herausgebers: Zu der teilweise sehr scharfen Kritik Fromms an bestimmten psychologischen Theorien Jungs vgl. auch Fromms Kritik an Jungs Verständnis der Religion in Psychoanalyse und Religion (1950a), GA VI, S. 237-239), ferner die frühe Rezension zu Jungs Schrift Wirklichkeit der Seele (1935e), GA VIII, S. 123) und den Aufsatz C. G. Jung. - Prophet des Unbewussten (1963e), GA VIII, S. 125-130).]

[12] [Anmerkung des Herausgebers: Die folgenden Ausführungen zu Artemidor von Daldis entnahm Fromm der Anthologie von R. Wood (1947). In der deutschen Übersetzung wurde versucht, die Aussagen Artemidors an der Begrifflichkeit der deutschen Übersetzung seines Traumbuches zu orientieren.]

[13] [Anmerkung des Herausgebers: Das folgende Traumbeispiel hat Fromm bei der Erörterung der Symbolsprache des Traumes im 3. Kapitel von Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 329) wieder aufgegriffen.]

[14] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Zeit der Abfassung dieser Schrift hat Fromm noch nicht zwischen sadistischer bzw. masochistischer Destruktivität einerseits und der nekrophilen Destruktivität andererseits unterschieden. Die nekrophile Destruktivität wurde von Fromm in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 179-185) eingeführt und dann in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 295-334) im Einzelnen beschrieben. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie Zerstörung (Selbstzerstörung) um der Zerstörung (Selbstzerstörung) willen sucht.]

[15] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Frommschen Rezeption des Denkens von Johann Jakob Bachofen vgl. vor allem Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934a, GA I, S. 85-109), Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart (1970f, GA I, S. 111-114) sowie Bachofens Entdeckung des Mutterrechts (1994b, GA XI, S. 177-187).]

[16] [Anmerkung des Herausgebers: Die folgenden Ausführungen wurden teilweise in Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 285) wieder aufgegriffen.]

[17] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. Fromms ausführliche Buchbesprechung Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht (1933a), GA I, S. 79-84.]

[18] [Anmerkung des Herausgebers: Der folgende Abschnitt ist ein kleiner Exkurs, der im Original als Fußnote gesetzt ist.]

[19] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. zum Folgenden Fromms frühe Arbeit aus dem Jahr 1933 Die männliche Schöpfung (1994c, GA XI, S. 189-209), die als handschriftliches Manuskript in dem an der New York Public Library deponierten Nachlass Fromms von mir gefunden und 1994 erstmals veröffentlicht wurde.]

[20] [Anmerkung des Herausgebers: Die folgenden Überlegungen hat Fromm in Ihr werdet sein wie Gott (1966a, GA VI, S. 200-203) wieder aufgegriffen. Vgl. auch den frühen Beitrag Fromms Der Sabbat (1927a, GA VI, S. 1-9).]

Wege aus einer kranken Gesellschaft

(The Sane Society)

(1955a)[1]

Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Inhalt

Er spricht Recht im Streit vieler Völker,
er weist mächtige Nationen in die Schranken
bis in die Ferne.
Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern
und Winzermesser aus ihren Lanzen.
Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk,
und übt sich nicht mehr für den Krieg.
Jeder sitzt unter seinem Weinstock
und unter seinem Feigenbaum,
und niemand schreckt ihn auf.
So hat der Mund des Herrn der Heere gesprochen.
Micha, 4,3 f.

Es gibt keine schwierigere Kunst als zu leben.
Für andere Künste und Wissenschaften
kann man überall zahlreiche Lehrer finden.
Selbst junge Leute glauben, sie hätten sich diese Kunst schon soweit erworben,
dass sie andere darin unterrichten könnten:
Während seines ganzen Lebens muss man immer weiter lernen zu leben,
und, was euch noch mehr erstaunen wird,
während des ganzen Lebens muss man lernen zu sterben.
Seneca

Diese Welt und die jenseitige Welt gebären ständig Neues:
jede Ursache ist eine Mutter, ihre Wirkung das Kind.
Wenn die Wirkung geboren ist, wird auch sie zur Ursache
und gebiert wunderbare Wirkungen.
Diese Ursachen sind die aufeinanderfolgenden Generationen,
aber man braucht schon ein scharfes Auge,
um die Glieder in ihrer Kette zu erkennen.
Rumi

Die Dinge sitzen im Sattel und reiten die Menschheit.
Emerson

Die menschliche Rasse ist weise genug, um Wissenschaft und Kunst zu schaffen; weshalb sollte sie nicht auch fähig sein, eine Welt der Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und des Friedens zu schaffen? Die Menschheit hat Plato, Homer, Shakespeare und Hugo, Michelangelo und Beethoven, Pascal und Newton hervorgebracht, alle diese menschlichen Heroen, deren Genie nichts anderes ist als der Kontakt mit den fundamentalen Wahrheiten, mit dem innersten Wesen des Universums. Weshalb sollte dann die gleiche Menschheit nicht auch die Führer hervorbringen, die in der Lage sind, sie zu jenen Formen des Gemeinschaftslebens hinzuführen, die dem Leben und der Harmonie des Universums am nächsten kommen?
Léon Blum

Vorwort

Dieses Buch[2] ist eine Fortsetzung von Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 215-392), das ich vor nunmehr fünfzehn Jahren geschrieben habe. Dort versuchte ich zu zeigen, dass die totalitären Bewegungen an eine tief sitzende Sehnsucht im Menschen appelliert haben, vor der Freiheit zu fliehen, die er sich in der modernen Welt errungen hat. Dieser moderne Mensch, der frei ist von Bindungen an das Mittelalter, war noch nicht frei genug zum Aufbau eines sinnvollen Lebens, das sich auf Vernunft und Liebe gründet, und suchte daher eine neue Sicherheit in der Unterwerfung unter einen Führer, unter die Rasse oder den Staat.

Im vorliegenden Buch versuche ich zu zeigen, dass das Leben in der Demokratie des Zwanzigsten Jahrhunderts in vieler Hinsicht ebenfalls eine Flucht vor der Freiheit ist. Die Analyse dieser speziellen Flucht, in deren Mittelpunkt der Begriff der Entfremdung steht, macht einen großen Teil dieses Buches aus.

Auch noch in einem anderen Sinn ist dieses Buch eine Fortsetzung von Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 215-392) und zu einem gewissen Grade auch von meinem Buch Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 1-157). Ich behandle in beiden Büchern spezielle psychologische Mechanismen, soweit diese etwas mit dem Hauptthema zu tun haben. In Die Furcht vor der Freiheit habe ich mich hauptsächlich mit dem Problem des autoritären Charakters (also mit Sadismus, Masochismus usw.) befasst. In Psychoanalyse und Ethik habe ich den Gedanken von verschiedenen Charakter-Orientierungen entwickelt, und an die Stelle des Freudschen Schemas der Libido-Entwicklung habe ich ein Schema der Charakterentwicklung in zwischenmenschlichen Beziehungen gesetzt. In dem vorliegenden Buch versuche ich die Grundvorstellungen dessen, was ich „humanistische Psychoanalyse“ nenne, etwas systematischer zu entwickeln. Natürlich konnte ich nicht umhin, auf frühere Ideen zurückzugreifen, aber ich habe versucht, sie kürzer zu behandeln und jenen Aspekten mehr Raum zu geben, die ich aus meinen Beobachtungen und Gedanken in den letzten Jahren gewonnen habe.

Ich hoffe, dass es dem Leser meiner früheren Bücher nicht schwerfallen wird, die Kontinuität meiner Gedanken, aber auch einige Veränderungen zu erkennen, die mich zu folgender Hauptthese der humanistischen Psychoanalyse geführt haben: Die grundlegenden Leidenschaften eines Menschen wurzeln nicht in seinen triebhaften [IV-006] Bedürfnissen, sondern in den spezifischen Bedingungen der menschlichen Existenz, im Bedürfnis, eine neue Beziehung zum Menschen und zur Natur zu finden, nachdem er seine ursprüngliche Beziehung im vormenschlichen Stadium verloren hat. Obwohl sich meine Vorstellungen in dieser Hinsicht wesentlich von denen Freuds unterscheiden, bauen sie dennoch auf seinen grundlegenden Erkenntnissen auf, wie sie unter dem Einfluss der Ideen und Experimente der Generation nach Freud weitergeführt wurden. Aber eben wegen der implizit und explizit auf diesen Seiten enthaltenen Kritik an Freud möchte ich deutlich feststellen, dass ich große Gefahren in manchen gegenwärtigen Tendenzen innerhalb der Psychoanalyse sehe, die mit den Irrtümern auch die wertvollsten Bestandteile von Freuds Lehre über Bord werfen[3]: seine wissenschaftliche Methode, sein evolutionäres Konzept und seine Vorstellung vom Unbewussten als einer echten irrationalen Macht, und nicht als einer Summe von irrigen Ideen. Zudem besteht die Gefahr, dass der Psychoanalyse ein weiterer grundlegender Zug von Freuds Denken verlorengeht: sein Mut, dem „gesunden Menschenverstand“ und der „öffentlichen Meinung“ die Stirn zu bieten.

Schließlich geht dieses Buch von der kritischen Analyse, wie sie in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 215-392), vorgenommen wurde, weiter zu konkreten Vorschlägen, wie eine gesunde Gesellschaft aussehen könnte. Mein Hauptargument in diesem letzten Teil des Buches ist nicht so sehr die Überzeugung, dass eine jede der von mir empfohlenen Maßnahmen unbedingt „richtig“ ist, sondern dass es nur zu einem Fortschritt kommen kann, wenn Veränderungen gleichzeitig auf wirtschaftlichem, gesellschaftspolitischem und kulturellem Gebiet vorgenommen werden und dass jeder Fortschritt, der sich nur auf ein einziges Gebiet beschränkt, den Fortschritt in allen Bereichen verhindert.

Ich bin einer Reihe von Freunden zu tiefem Dank verpflichtet, die mir beim Durchlesen des Manuskripts, und mit Vorschlägen und konstruktiver Kritik geholfen haben. Dies gilt besonders für George Fuchs, der während der Arbeit an diesem Buch starb. Wir hatten ursprünglich geplant, es gemeinsam zu schreiben, aber dieser Plan war seiner langen Krankheit wegen nicht durchzuführen. Trotzdem hat er mir sehr geholfen. Wir hatten lange Diskussionen, und er hat mir viele Briefe und Notizen zugeschickt, besonders in Bezug auf die Probleme der sozialistischen Theorie. Dies hat mir geholfen, mir über meine eigenen Ideen klar zu werden und sie gelegentlich auch zu revidieren. Ich habe seinen Namen einige Male im Text erwähnt, doch bin ich ihm weit mehr verpflichtet, als aus diesen besonderen Hinweisen hervorgeht.

Mein Dank gehört auch Dr. G. R. Hargreaves, dem Leiter der Mental Health Section, der Welt-Gesundheits-Organisation, der mir zu den statistischen Angaben über Alkoholismus, Selbstmord und Mord verholfen hat.

E. F.

1. Sind wir gesund?

Keine Idee ist so verbreitet wie die, dass wir, die in der westlichen Welt des Zwanzigsten Jahrhunderts lebenden Menschen, überaus gesund seien. Trotz der Tatsache, dass viele von uns unter mehr oder weniger schweren Formen seelischer Erkrankung leiden, zweifeln wir kaum an dem allgemein guten Zustand unserer seelischen Gesundheit. Wir sind sicher, dass wir durch die Einführung besserer Methoden seelischer Hygiene den Zustand unserer seelischen Gesundheit noch weiter verbessern werden. Was aber die psychischen Störungen bei einzelnen betrifft, so sehen wir darin nur durchaus individuelle Vorkommnisse, wobei wir uns vielleicht lediglich etwas darüber wundern, dass in unserer angeblich so gesunden Kultur derartige Einzelfälle so häufig anzutreffen sind.

Können wir tatsächlich so sicher sein, dass wir uns nicht täuschen? Mancher Insasse einer Nervenheilanstalt ist überzeugt, dass alle anderen verrückt seien, nur er selbst nicht. Mancher schwerkranke Neurotiker glaubt, dass seine Zwangsrituale und seine hysterischen Ausbrüche die normale Reaktion auf irgendwie anomale Umstände seien. Und wie ist das mit uns selbst?

Sehen wir uns nach altbewährter psychiatrischer Methode die Tatsachen einmal näher an. Wir haben in den letzten hundert Jahren in der westlichen Welt einen größeren materiellen Reichtum geschaffen, als es irgendeiner anderen Gesellschaft in der Geschichte der menschlichen Rasse gelungen ist. Dennoch haben wir es fertiggebracht, Millionen von Menschen durch eine Einrichtung zu töten, die wir „Krieg“ nennen. Von kleineren Kriegen abgesehen, hatten wir 1870, 1914 und 1939 drei große Kriege. Während dieser Kriege glaubte jeder Kriegsteilnehmer fest, dass er zu seiner eigenen Verteidigung und um seine Ehre kämpfe, oder dass Gott auf seiner Seite stehe. Die Gruppen, mit denen man sich im Krieg befindet, sieht man - oft von einem Tag zum anderen - als grausame, unvernünftige, schlimme Feinde, die man vernichten müsse, um die Welt von allem Bösen zu erretten. Aber wenn dann ein paar Jahre nach dem gegenseitigen Gemetzel verstrichen sind, sind aus den Feinden von gestern Freunde geworden, und die Freunde von gestern sind unsere Feinde, und wir fangen wieder allen Ernstes an, sie in den entsprechenden Schwarz-Weiß-Farben zu malen. Heute, im Jahre 1955, sind wir auf ein Massengemetzel gefasst, das - wenn [IV-008] es dazu kommen sollte - jedes andere Gemetzel, das die menschliche Rasse bisher arrangiert hat, übertreffen wird. Eine der größten Entdeckungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft steht zu diesem Zweck bereit. Jedermann blickt mit einer Mischung von Vertrauen und Angst auf die „Staatsmänner“ der verschiedenen Völker - bereit, sie in den Himmel zu heben, wenn es ihnen gelingt, einen Krieg zu vermeiden, wobei man völlig übersieht, dass es ausschließlich diese Staatsmänner sind, die die Kriege verursachen, und gewöhnlich nicht einmal aus böser Absicht, sondern durch einen unvernünftigen und falschen Umgang mit den ihnen anvertrauten Angelegenheiten.

Bei diesen Ausbrüchen von Destruktivität und paranoidem Misstrauen benehmen wir uns nicht anders, als es der zivilisierte Teil der Menschheit in den letzten dreitausend Jahren seiner Geschichte getan hat. Nach Victor Cherbulliez sind von 1500 v. Chr. bis 1860 n. Chr. nicht weniger als achttausend Friedensverträge unterzeichnet worden, von denen jeder angeblich den ewigen Frieden sicherstellte und von denen jeder durchschnittlich zwei Jahre dauerte! (Vgl. H. B. Stevens, 1949, S. 221.)

Auch die Art, wie wir unsere wirtschaftlichen Angelegenheiten handhaben, ist nicht ermutigender. Wir leben in einem Wirtschaftssystem, in dem eine besonders gute Ernte oft eine wirtschaftliche Katastrophe ist, und wir schränken unsere landwirtschaftliche Produktivität ein, um „den Markt zu stabilisieren“, obwohl es Millionen von Menschen gibt, die eben die Dinge, deren Erzeugung wir einschränken, nicht haben und sie bitter nötig hätten. Im Augenblick funktioniert unser Wirtschaftssystem sehr gut, neben vielen anderen Gründen deshalb, weil wir pro Jahr Milliarden Dollar für die Herstellung von Waffen ausgeben. Unsere Wirtschaftswissenschaftler sehen der Zeit mit einiger Besorgnis entgegen, in der wir die Waffenproduktion einstellen werden, und der Gedanke, dass der Staat Häuser und andere nützliche und benötigte Dinge anstelle von Waffen herstellen könnte, führt leicht zu dem Vorwurf, dies gefährde die Freiheit und lähme die persönliche Initiative.

Etwa 90 Prozent unserer Bevölkerung können lesen und schreiben. Wir bieten jedermann täglich Rundfunk, Fernsehen, Filme und Zeitungen. Statt dass diese Medien uns aber täglich neben der Reklame das Beste aus der früheren und gegenwärtigen Literatur und Musik bieten, stopfen sie die Köpfe mit billigstem Schund, dem jeder Bezug zur Realität abgeht, voll, und mit sadistischen Phantasien, die so sind, dass sich jeder nur halbwegs gebildete Mensch schämen würde, wenn er ihnen auch nur vorübergehend nachhinge. Und während so das Denken von jedermann, ob jung oder alt, vergiftet wird, achten wir unverdrossen weiter darauf, dass nichts „Unmoralisches“ auf den Bildschirm kommt. Jeder Vorschlag, die Regierung solle die Herstellung von Filmen und Radioprogrammen finanzieren, welche die Menschen aufklären und weiterbringen, würde nur immer wieder auf Entrüstung und Vorwürfe im Namen von Freiheit und Idealismus stoßen.

Im Vergleich zu der Zeit vor hundert Jahren haben wir die Arbeitszeit auf etwa die Hälfte reduziert. Wir haben heute mehr Freizeit zur Verfügung, als es sich unsere Vorfahren hätten jemals träumen lassen. Aber was ist geschehen? Wir wissen nicht, was wir mit dieser neugewonnenen Freizeit anfangen sollen; wir versuchen, die gewonnene Zeit totzuschlagen, und sind froh, wenn wieder einmal ein Tag vorüber ist. [IV-009]

Ich brauche dieses Bild, das ohnehin jeder kennt, nicht weiter auszumalen. Wenn jemand das täte, würden sicher ernsthafte Zweifel an seiner geistigen Gesundheit laut. Behauptete er dagegen, nichts liege im Argen und man benehme sich völlig vernünftig, so würde die Richtigkeit dieser Diagnose nicht einmal angezweifelt.

Dennoch weigern sich viele Psychiater und Psychologen zuzugeben, dass die Gesellschaft als Ganzes vielleicht nicht mehr ganz gesund sein könne. Sie behaupten, das Problem der seelischen Gesundheit in einer Gesellschaft betreffe nur die Zahl der „nicht angepassten“ Individuen und nicht eine mögliche Nicht-Anpassung der Kultur selbst. Das vorliegende Buch befasst sich mit dem zweiten Problem, also nicht mit der individuellen Pathologie, sondern mit der Pathologie der Normalität, insbesondere mit der Pathologie der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft. Aber bevor wir an die komplizierte Diskussion des Begriffs der gesellschaftlichen Pathologie herangehen, wollen wir uns zunächst einige Daten ansehen, die schon an sich aufschlussreich und bezeichnend sind und die sich auf das Auftreten individueller Erkrankungen in der westlichen Kultur beziehen.

Wie häufig treten seelische Erkrankungen in den verschiedenen Ländern der westlichen Welt auf? Es ist eine höchst erstaunliche Tatsache, dass uns keine Daten zur Beantwortung dieser Frage zur Verfügung stehen. Während wir exakte vergleichende Statistiken über materielle Mittel, über Beschäftigung, Geburts- und Todesraten besitzen, gibt es keine adäquate Information über psychische Krankheiten. Wir besitzen bestenfalls einige exakte Daten für einige Länder, wie für die Vereinigten Staaten und Schweden, aber diese beziehen sich nur auf die Aufnahme von Patienten in Nervenheilanstalten. Man kann daraus keine Schlüsse ziehen auf die relative Häufigkeit von psychischen Krankheiten. Solche Zahlen sagen uns genauso wenig über eine verbesserte psychiatrische Versorgung und institutionelle Möglichkeiten wie über die Zunahme der Häufigkeit von psychischen Krankheiten. (Vgl. H. Goldhamer und A. Marshall, 1953.) Die Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller Krankenhausbetten in den Vereinigten Staaten von Patienten mit psychischen Störungen belegt sind, für die wir jährlich eine Summe von über einer Milliarde Dollar ausgeben, braucht kein Hinweis auf eine größere Häufigkeit von psychischen Krankheiten zu sein, sondern könnte ebenso eine verbesserte Fürsorge signalisieren. Einige andere Zahlen jedoch weisen deutlicher auf die Häufigkeit schwererer psychischer Krankheiten hin. Wenn im letzten Krieg 17,7 Prozent aller für wehrdienstuntauglich Erklärten dies auf Grund von psychischen Krankheiten waren, so zeugt das gewiss von einem hohen Häufigkeitsgrad psychischer Störungen, selbst wenn uns keine Vergleichszahlen aus der Vergangenheit oder aus anderen Ländern zur Verfügung stehen.

Die einzigen Vergleichsdaten, die uns einen groben Hinweis auf den Zustand der psychischen Gesundheit geben, sind die Daten über Selbstmord, Mord und Alkoholismus. Zweifellos ist das Selbstmordproblem außerordentlich komplex, und man kann daher nicht einen einzigen Faktor als die Ursache annehmen. Aber auch wenn man bei der Erörterung des Selbstmords auf diesen Punkt nicht näher eingeht, so glaube ich doch mit Sicherheit annehmen zu dürfen, dass eine hohe Selbstmordrate bei einer bestimmten Population auf einen Mangel an psychischer Stabilität und psychischer Gesundheit hinweist. Dass Selbstmord nicht die Folge materieller Armut ist, geht [IV-010] deutlich aus allen Zahlen hervor. Die ärmsten Länder haben die niedrigsten Selbstmordraten, und mit dem wachsenden materiellen Wohlstand in Europa ging eine zunehmende Zahl von Selbstmorden Hand in Hand. (Vgl. M. Halbwachs, 1930, S. 109 und 112.) Was den Alkoholismus anbelangt, so ist auch er zweifellos ein Symptom seelischer und emotionaler Labilität.

Die Motive für einen Mord sind wahrscheinlich weniger bezeichnende Hinweise für seelisches Kranksein als die Motive für einen Selbstmord. Wenn auch Länder mit einer hohen Mordrate eine niedrige Selbstmordrate aufweisen, so kommen wir doch zu einer interessanten Schlussfolgerung, wenn wir beide Raten kombinieren. Wenn wir sowohl Mord als auch Selbstmord als „destruktive Handlungen“ klassifizieren, so zeigen unsere Tabellen, dass ihre kombinierte Rate nicht konstant ist, sondern zwischen den extremen Werten von 35,76 und 4,24 schwankt. Diese Zahlen stehen im Widerspruch zu Freuds Annahme von der relativen Konstanz der Destruktivität, die seiner Theorie vom Todestrieb zugrunde liegt. Sie widerlegen die Implikation, dass die Destruktivität eine Größe sei, die sich nur dadurch unterscheide, ob sie gegen die Außenwelt oder gegen das eigene Ich gerichtet sei.

Die folgenden Tabellen zeigen die Häufigkeit von Selbstmord, Mord und Alkoholismus in einigen der wichtigsten europäischen und nordamerikanischen Länder.[4]

Tabelle I: Selbstmorde und Morde (auf 100.000 Erwachsene)
Die Zahlenwerte der ersten zwei Tabellen beziehen sich auf das Jahr 1946

Land Selbstmorde Morde
Dänemark 35,09 0,67
Schweiz 33,72 1,42
Finnland 23,35 6,45
Schweden 19,74 1,01
Vereinigte Staaten 15,52 8,50
Frankreich 14,83 1,53
Portugal 14,24 2,79
England und Wales 13,43 0,63
Australien 13,03 1,57
Kanada 11,40 1,67
Schottland 08,06 0,52
Norwegen 07,84 0,38
Spanien 07,71 2,88
Italien 07,67 7,38
Nordirland 04,82 0,13
Republik Irland 03,70 0,54

Tabelle II: Destruktive Handlungen (auf 100.000 Erwachsene)

Land Morde und Selbstmorde kombiniert
Dänemark 35,76
Schweiz 35,14
Finnland 29,80
Vereinigte Staaten 24,02
Schweden 20,75
Portugal 17,03
Frankreich 16,36
Italien 15,05
Australien 14,60
England und Wales 14,06
Kanada 13,07
Spanien 10,59
Schottland 8,58
Norwegen 8,22
Nordirland 4,95
Republik Irland 4,24

Tabelle III: Geschätzte Anzahl der Alkoholiker mit oder ohne Komplikationen (auf 100.000 Erwachsene)

Land Anzahl Jahr
Vereinigte Staaten 3952 (1948)
Frankreich 2850 (1945)
Schweden 2580 (1946)
Schweiz 2385 (1947)
Dänemark 1950 (1948)
Norwegen 1560 (1947)
Finnland 1430 (1947)
Australien 1340 (1947)
England und Wales 1100 (1948)
Italien 500 (1942)

Ein erster Blick auf diese Tabellen zeigt ein auffallendes Phänomen: Dänemark, die Schweiz, Finnland, Schweden und die Vereinigten Staaten sind die Länder mit der höchsten Selbstmordrate und der höchsten kombinierten Selbstmord- und Mordrate, während Spanien, Italien, Nordirland und die Republik Irland die niedrigste Selbstmord- und Mordrate haben. Die Werte für den Alkoholismus zeigen, dass die gleichen Länder - die Vereinigten Staaten, die Schweiz, Schweden und Dänemark - welche die höchste Selbstmordrate aufweisen, auch die höchste Alkoholismus-Rate haben, und zwar mit dem Hauptunterschied, dass die Vereinigten Staaten in dieser Gruppe führend sind und dass Frankreich den zweiten anstatt wie bei den Selbstmordraten den sechsten Platz einnimmt.

Diese Zahlen sind in der Tat alarmierend und herausfordernd. Selbst wenn wir bezweifeln sollten, dass die starke Häufigkeit der Selbstmorde schon allein ein Hinweis auf mangelhafte seelische Gesundheit einer Bevölkerung ist, so scheint doch aus der Tatsache, dass die Selbstmord- und die Alkoholismuszahlen weitgehend koinzidieren, klar hervorzuheben, dass wir es hier mit den Symptomen einer seelischen Labilität zu tun haben.

Wir finden demnach, dass die Bewohner der europäischen Länder, die als demokratisch, friedliebend und reich gelten, sowie der Vereinigten Staaten, die das reichste Land der Welt sind, schwerste Symptome einer seelischen Störung aufweisen. Das Ziel der gesamten sozio-ökonomischen Entwicklung der westlichen Welt ist ein materiell komfortables Leben, eine relativ gleichmäßige Verteilung des Reichtums, eine stabile Demokratie und Frieden - aber eben die Länder, welche diesem Ziel am nächsten gekommen sind, weisen die schwersten Anzeichen von psychischer Labilität auf. Zwar beweisen die Zahlen an sich noch nichts, aber sie sind zum mindesten alarmierend. Noch bevor wir in eine gründliche Erörterung des Gesamtproblems eintreten, stellt sich auf Grund dieser Daten die Frage, ob nicht in Bezug auf unsere Lebensweise und die Ziele, die wir uns gesetzt haben, etwas grundsätzlich falsch ist.

Könnte es sein, dass das Wohlstandsleben der Mittelklasse zwar unsere materiellen Bedürfnisse befriedigt, uns aber das Gefühl einer intensiven Langeweile gibt und dass Selbstmord und Alkoholismus pathologische Auswege sind, um dieser Langeweile zu entrinnen? Könnte es sein, dass diese Zahlen die Richtigkeit der Behauptung drastisch illustrieren, dass „der Mensch nicht vom Brot allein lebt“, und dass sie zeigen, dass die moderne Zivilisation es nicht fertigbringt, die tiefen Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen? Und wenn dies zutrifft, welches sind diese Bedürfnisse?

Ich möchte in den folgenden Kapiteln den Versuch machen, diese Frage zu beantworten und die Wirkung der gegenwärtigen westlichen Kultur auf das psychische Wohlbefinden und die Gesundheit der unter diesem System lebenden Menschen kritisch unter die Lupe nehmen. Bevor wir jedoch an die Erörterung dieser Frage gehen, erscheint es mir angebracht, uns mit dem allgemeinen Problem der Pathologie der Normalität zu beschäftigen, das den in diesem Buch dargelegten Gedankengängen insgesamt zugrunde liegt.

2. Kann eine Gesellschaft krank sein? - Die Pathologie der Normalität[5]

Von einer ganzen Gesellschaft zu sagen, ihr mangele es an psychischer Gesundheit, impliziert eine Annahme, die im Gegensatz steht zu dem soziologischen Relativismus, der heute von den meisten Sozialwissenschaftlern vertreten wird. Sie postulieren, dass jede Gesellschaft in dem Maße normal ist, als sie funktioniert, und dass man nur bei einer mangelnden Anpassung des Einzelnen an die Lebensweise seiner Gesellschaft von Krankheit reden kann.

Wenn man von einer „gesunden Gesellschaft“ spricht, so bedeutet das eine vom soziologischen Relativismus abweichende Voraussetzung. Es hat nur einen Sinn, wenn wir annehmen, dass es eine Gesellschaft geben kann, die nicht gesund ist, und diese Annahme impliziert ihrerseits, dass es universale Kriterien für psychische Gesundheit gibt, die für die menschliche Rasse als solche gelten und nach denen man den Gesundheitszustand einer jeden Gesellschaft beurteilen kann. Diese Einstellung eines normativen Humanismus gründet sich auf einige wenige grundlegende Prämissen.

Man kann die Spezies „Mensch“ nicht nur mit Hilfe von anatomischen und physiologischen Begriffen definieren. Ihre Glieder haben auch grundlegende psychische Eigenschaften gemeinsam: Gesetze, die in ihrem psychischen und emotionalen Leben herrschen, und Ziele für eine befriedigende Lösung des Problems der menschlichen Existenz. Unser Wissen über den Menschen ist allerdings noch so unvollständig, dass wir keine befriedigende psychologische Definition des Menschen, geben können. Aufgabe der „Wissenschaft vom Menschen“ ist es, zu einer korrekten Beschreibung dessen zu gelangen, was es verdient, als „menschliche Natur“ bezeichnet zu werden. Was man oft „menschliche Natur“ genannt hat, ist nur eine ihrer vielen Manifestationen - und oft eine krankhafte - und eine solche irrige Definition diente gewöhnlich dazu, einen bestimmten Gesellschaftstyp als notwendiges Resultat der psychischen Konstitution des Menschen zu verteidigen.

Im Gegensatz zu einem solchen reaktionären Gebrauch des Begriffs der menschlichen Natur haben die Liberalen seit dem Achtzehnten Jahrhundert auf die Formbarkeit der menschlichen Natur und auf den entscheidenden Einfluss von Umweltfaktoren hingewiesen. So richtig und so wichtig es sein mag, nachdrücklich hierauf hinzuweisen, hat es doch viele Sozialwissenschaftler zu der Annahme verleitet, dass die psychische [IV-014] Konstitution des Menschen ein unbeschriebenes Blatt Papier sei, auf das die Gesellschaft und die Kultur ihren Text schreiben, und keine ihr innewohnenden eigenen Qualitäten besitze. Diese Annahme ist ebenso unhaltbar und für den gesellschaftlichen Fortschritt ebenso destruktiv, wie es die entgegengesetzte Auffassung war. Das wahre Problem besteht darin, auf den der gesamten menschlichen Rasse gemeinsamen Kern aus den unzähligen Manifestationen der menschlichen Natur zu schließen, und zwar ebenso aus den normalen wie auch aus den pathologischen Manifestationen, wie wir sie bei den verschiedenen Individuen und in den verschiedenen Kulturen beobachten können. Die Aufgabe besteht außerdem darin, die der menschlichen Natur innewohnenden Gesetze und Ziele zu erkennen, die ihrer Entwicklung und Entfaltung dienen.

Die hier vertretene Auffassung von der „menschlichen Natur“ unterscheidet sich von der Art, wie der Begriff „menschliche Natur“ herkömmlicherweise gebraucht wird. Genauso wie der Mensch die Welt um sich her verwandelt, so verwandelt er auch sich selbst im Prozess der Geschichte. Er ist sozusagen seine eigene Schöpfung. Aber genauso wie er die Stoffe der Natur nur entsprechend ihrer Eigenart umwandeln und verändern kann, so kann er auch sich selbst nur seiner eigenen Natur entsprechend umwandeln und verändern. Was der Mensch im Prozess der Geschichte tatsächlich tut, ist, dass er dieses Potenzial entwickelt und dass er es den Möglichkeiten entsprechend umformt. Die hier vertretene Auffassung ist weder eine „biologische“ noch eine „soziologische“, wenn das bedeutet, dass man die beiden Aspekte voneinander trennt. Es wird vielmehr der Versuch gemacht, eine derartige Dichotomie durch die Annahme zu überwinden, dass die Hauptleidenschaften und -triebe im Menschen aus seiner Gesamtexistenz resultieren, dass sie definierbar und ermittelbar sind und dass einige von ihnen zu Gesundheit und Glück und andere zu Krankheit und Unglück führen. Keine der bestehenden Gesellschaftsordnungen erzeugt diese fundamentalen Strebungen, aber sie bestimmt, welche aus der begrenzten Zahl potenzieller Leidenschaften manifest oder dominant werden. Wie der Mensch in einer bestimmten Kultur in Erscheinung tritt, ist stets eine Manifestation der menschlichen Natur, jedoch eine Manifestation, die in ihrer besonderen Ausprägung von den gesellschaftlichen Gegebenheiten bestimmt wird, unter denen er lebt. Genau wie das kleine Kind mit allen menschlichen Möglichkeiten geboren wird, die sich unter günstigen sozialen und kulturellen Bedingungen entwickeln werden, so entwickelt sich auch die menschliche Rasse im Prozess der Geschichte zu dem, was sie potenziell ist.

Der Ansatz des normativen Humanismus gründet sich auf die Annahme, dass es - genau wie bei jedem anderen Problem auch - richtige und falsche, befriedigende und unbefriedigende Lösungen für das Problem der menschlichen Existenz gibt. Seelische Gesundheit kommt zustande, wenn sich der Mensch entsprechend den charakteristischen Eigenschaften und Gesetzen der menschlichen Natur zur vollen Reife entwickelt. Zur psychischen Erkrankung kommt es, wenn diese Entwicklung fehlschlägt. Unter dieser Voraussetzung ist das Kriterium für die seelische Gesundheit nicht, dass der einzelne an eine bestimmte Gesellschaftsordnung angepasst ist, sondern es handelt sich um ein universales, für alle Menschen gültiges Kriterium, dass sie nämlich für das Problem der menschlichen Existenz eine befriedigende Antwort finden. [IV-015]

Was ein so falsches Bild vom seelischen Zustand der Mitglieder einer Gesellschaft bewirkt, ist der allgemeine Konsens über die Gültigkeit ihrer Vorstellungen. Man nimmt naiverweise an, die Tatsache, dass die Mehrheit des Volkes bestimmte Ideen und Gefühle teilt, sei ein Beweis für die Gültigkeit dieser Ideen und Gefühle. Nichts liegt der Wahrheit ferner. Der allgemeine Konsens über die Gültigkeit hat als solcher mit Vernunft und seelischer Gesundheit überhaupt nichts zu tun. Genauso wie es eine folie à deux gibt, gibt es auch eine folie à millions. Die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Laster haben, macht diese Laster noch nicht zu Tugenden; die Tatsache, dass sie so viele Irrtümer gemeinsam haben, macht diese Irrtümer noch nicht zu Wahrheiten; und die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Formen psychischer Störungen aufweisen, heißt nicht, dass diese Menschen psychisch gesund seien.

Es besteht jedoch ein wichtiger Unterschied zwischen einer individuellen psychischen Erkrankung und einer solchen der Gesellschaft, der darauf hindeutet, dass zwischen dem Begriff des Defektes und dem der Neurose zu unterscheiden ist. Wenn es einem Menschen nicht gelingt, Freiheit und Spontaneität zu erlangen und sein Selbst unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, so kann man von ihm annehmen, dass er an einem schweren Defekt leidet, vorausgesetzt, wir gehen von der Annahme aus, dass Freiheit und Spontaneität objektive Ziele sind, die jedes menschliche Wesen erreichen sollte. Wird dieses Ziel von der Mehrheit der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft nicht erreicht, so haben wir es mit dem Phänomen eines gesellschaftlich ausgeprägten Defektes zu tun. Der Einzelne teilt diesen Defekt mit vielen anderen. Er empfindet ihn nicht als Defekt, und seine Sicherheit gerät nicht durch die Erfahrung, anders - sozusagen ein Ausgestoßener - zu sein, in Gefahr. Was ihm an innerem Reichtum und an echtem Glücksgefühl verlorengegangen sein mag, wird durch die Sicherheit kompensiert, die das Gefühl gibt, zur übrigen Menschheit zu passen - so wie er sie kennt. Tatsächlich besteht sogar die Möglichkeit, dass eben sein Defekt von der Kultur, in der er lebt, zur Tugend erhoben wird, was sein Gefühl, etwas zu leisten, noch verstärkt.

Dies veranschaulichen zum Beispiel die Schuld- und Angstgefühle, die Calvins Lehren in den Menschen erweckten. Man kann sagen, dass ein Mensch, der ganz unter dem Eindruck des Gefühls seiner eigenen Ohnmacht und Wertlosigkeit steht, der ständig Zweifel hegt, ob er zu den Auserwählten oder zu den ewig Verdammten gehört, der kaum zu einer echten Freude fähig ist, unter einem schweren Defekt leidet. Trotzdem war dieser Defekt kulturell vorgeprägt; er wurde als etwas besonders Wertvolles angesehen, und der Einzelne wurde hierdurch vor der Neurose bewahrt, die er in einer Kultur entwickelt hätte, in welcher der gleiche Defekt ihm ein Gefühl tiefer Unzulänglichkeit und Isolation gegeben hätte.

Spinoza hat das Problem des gesellschaftlich vorgeprägten Defekts sehr klar formuliert:

Obgleich nun die Menschen vielerlei Affekten unterworfen sind und man daher selten Menschen findet, die immer von einem und demselben Affekte bedrängt werden, so fehlt es gleichwohl an solchen nicht, denen ein und derselbe Affekt beharrlich anhaftet. Sehen wir doch, wie Menschen manchmal von einem Objekte dergestalt affiziert sind, dass sie es vor sich zu haben glauben, auch wenn es nicht [IV-016] gegenwärtig ist; und wenn dies einem nicht schlafenden Menschen begegnet, dann sagen wir, er sei wahnsinnig oder närrisch. Dagegen, wenn der Habgierige an nichts anderes denkt als an Gewinn und Geld, und der Ehrgeizige an Ruhm usw., so gelten diese nicht als wahnsinnig, weil sie lästig zu sein pflegen und für hassenswert erachtet werden. In Wahrheit aber sind Habgier, Ehrgeiz, Wollust usw. Arten des Wahnsinns, wenn man sie auch nicht zu den Krankheiten zählt. (Spinoza, Ethik, 4. Teil, Anmerkung zu Lehrsatz 44.)

Diese Sätze wurden vor ein paar hundert Jahren geschrieben, aber sie treffen noch immer zu, obgleich die Defekte heute in einem solchen Maß kulturell vorgeprägt sind, dass man sie noch nicht einmal mehr als lästig oder hassenswert empfindet. Heute begegnen wir einem Menschen, der wie ein Automat handelt und fühlt, der niemals etwas erlebt, was wirklich zu ihm gehört, der sich ganz als die Person erlebt, die er seiner Ansicht nach sein sollte, dessen künstliches Lächeln an die Stelle eines echten Lachens getreten ist, dessen sinnloses Geschwätz die der Mitteilung dienende Sprache ersetzt, dessen dumpfe Verzweiflung den Platz eines echten Schmerzes einnimmt. Man kann bei einem solchen Menschen zweierlei feststellen: Einmal lässt sich von ihm sagen, dass er an einem Mangel an Spontaneität und Individualität leidet, der unheilbar zu sein scheint. Gleichzeitig lässt sich bei ihm feststellen, dass er sich nicht wesentlich von Millionen anderen unterscheidet, die sich in der gleichen Lage befinden. Für die meisten von ihnen liefert die Kultur das Modell, welches es ihnen ermöglicht, mit einem Defekt zu leben, ohne krank zu werden. Es ist, als ob jede Kultur ein Gegenmittel gegen den Ausbruch manifester neurotischer Symptome produziere, die der von ihr erzeugte Defekt ansonsten nach sich ziehen würde.

Nehmen wir an, es gäbe in unserer westlichen Kultur einmal nur vier Wochen lang weder Kino noch Rundfunk noch Fernsehen, weder sportliche Veranstaltungen noch Zeitungen. Welche Folgen hätte das für die Menschen, die auf sich selbst angewiesen wären, nachdem man ihnen diese Hauptfluchtwege verschlossen hätte? Ich zweifle nicht daran, dass es bereits innerhalb dieser kurzen Zeit zu Tausenden von Nervenzusammenbrüchen käme und dass außerdem noch viele Tausende in einen Zustand akuter Angst gerieten, der sich nicht von dem Bild unterscheiden würde, das klinisch als „Neurose“ diagnostiziert wird.[6]

Wenn man diesen Menschen das Opiat gegen den gesellschaftlich vorgeprägten Defekt entziehen würde, so käme die Krankheit zum Ausbruch.

Bei einer Minderheit funktioniert das von der Kultur vorgeprägte Modell nicht. Es handelt sich oft um diejenigen, deren individueller Defekt schwerer ist als der des [IV-017] Durchschnittsmenschen, so dass die von der Kultur angebotenen Gegenmittel nicht ausreichen, den Ausbruch einer manifesten Krankheit zu verhindern. (Ein solcher Fall wäre zum Beispiel ein Mensch, der sein Lebensziel darin sieht, zu Macht und Ruhm zu gelangen. Während dieses Ziel an sich pathologisch ist, besteht trotzdem ein Unterschied zwischen jemandem, der seine Macht dazu benutzt, dieses Ziel in Wirklichkeit zu erreichen, und einem schwerer Kranken, der aus seinem kindlichen Allmachtsgefühl so wenig herausgekommen ist, dass er nichts unternimmt, um sein Ziel zu erreichen, sondern darauf wartet, dass ein Wunder geschieht, und der sich so immer ohnmächtiger fühlt und schließlich mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens und in Verbitterung endet.) Aber es gibt auch Menschen, deren Charakterstruktur und damit auch deren Konflikte von denen der Mehrheit abweichen, so dass die Gegenmittel, die bei den meisten ihrer Mitmenschen ihre Wirkung nicht verfehlen, bei ihnen nichts helfen. In dieser Gruppe finden wir manchmal Menschen, die eine größere Integrität und Sensitivität als die meisten besitzen und die eben aus diesem Grund das kulturelle Opiat nicht akzeptieren können, während sie gleichzeitig nicht stark und gesund genug sind, um kräftig „gegen den Strom schwimmen“ zu können.

Diese Unterscheidung zwischen der Neurose und dem gesellschaftlich vorgeprägten Defekt könnte den Eindruck erwecken, dass alles gut gehen würde, wenn die Gesellschaft nur die Gegenmittel gegen den Ausbruch manifester Symptome bereitstellte, und dass dann alles auch weiterhin reibungslos funktionieren würde, wie schwer die Defekte auch immer sein mögen. Die Geschichte zeigt uns jedoch, dass dies nicht der Fall ist.

Es stimmt zwar, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier fast unbegrenzt formbar ist. Genauso wie er fast alles essen kann, wie er praktisch in jedem Klima leben und sich ihm anpassen kann, gibt es auch kaum eine psychische Bedingung, die er nicht ertragen und unter der er nicht fortbestehen könnte. Er kann als freier Mensch und als Sklave leben. Er kann in Reichtum und Luxus und unter Bedingungen leben, bei denen er halb verhungert. Er kann als Krieger und als friedlicher Bürger leben, als Ausbeuter und Räuber und als Glied einer kooperativen, liebevollen Gemeinschaft. Es gibt kaum einen seelischen Zustand, in dem der Mensch nicht leben kann, und es gibt kaum etwas, was man mit ihm nicht vornehmen könnte und wozu man ihn nicht benutzen könnte. Alle diese Erwägungen scheinen die Annahme zu rechtfertigen, dass es so etwas wie eine allen Menschen gemeinsame Natur nicht gibt und dass so etwas wie eine Spezies „Mensch“ außer im physiologischen und anatomischen Sinn nicht existiert.

Allem Augenschein zum Trotz zeigt die Geschichte jedoch, dass wir etwas vergessen haben. Despoten und Herrschercliquen können ihre Mitmenschen erfolgreich unterdrücken und ausbeuten, aber sie können Reaktionen gegen diese unmenschliche Behandlung nicht verhindern. Ihre Untertanen bekommen Angst, sie werden argwöhnisch und fühlen sich vereinsamt, und wenn ihr System nicht aus äußeren Ursachen zusammenbricht, so wird es an irgendeinem Punkt deshalb dazu kommen, weil Angst, Argwohn und Einsamkeit schließlich bewirken, dass die Majorität nicht mehr erfolgreich und vernünftig funktioniert. Man kann ganze Völker oder Gesellschaftsgruppen lange Zeit unterjochen und ausbeuten, aber sie werden reagieren. Sie reagieren mit [IV-018] Apathie oder mit einer derartigen Beeinträchtigung ihrer Intelligenz, Initiative und ihrer Fertigkeiten, dass sie allmählich ihre Funktionen im Dienst ihrer Beherrscher nicht mehr erfüllen. Oder sie reagieren mit einer solchen Anhäufung von Hass und Destruktivität, dass sie sich schließlich mitsamt ihren Beherrschern und ihrem System selbst vernichten. Aber ihre Reaktion kann auch in einer solchen Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit bestehen, dass sie mit ihren schöpferischen Impulsen eine bessere Gesellschaft aufbauen. Zu welcher Reaktion es kommt, hängt von vielen Faktoren ab, von wirtschaftlichen und politischen, wie auch von dem geistigen Klima, in dem diese Menschen leben. Aber wie sie auch immer reagieren mögen, die Behauptung, der Mensch könne unter fast allen Bedingungen leben, ist nur die halbe Wahrheit. Sie ist dadurch zu ergänzen, dass, wenn er unter Bedingungen lebt, die seiner Natur und den Grunderfordernissen menschlichen Wachstums und seelischer Gesundheit zuwiderlaufen, er nicht anders kann, als darauf zu reagieren. Er wird dann entweder immer mehr herunterkommen und zugrunde gehen, oder er muss Verhältnisse heraufführen, die seinen Bedürfnissen besser entsprechen.

Dass die menschliche Natur und die Gesellschaft in Bezug auf ihre Bedürfnisse miteinander in Konflikt geraten können und hierdurch eine ganze Gesellschaft krank werden kann, hat Freud sehr klar und am ausführlichsten in seinem Buch Das Unbehagen in der Kultur (1930a) zum Ausdruck gebracht.

Freud geht von der Voraussetzung aus, dass es in allen Kulturen und Zeitaltern eine der menschlichen Rasse gemeinsame menschliche Natur mit ihr innewohnenden feststellbaren Bedürfnissen und Strebungen gibt. Er glaubt, dass Kultur und Zivilisation sich so entwickeln, dass sie zu den Bedürfnissen des Menschen in einem immer größeren Gegensatz stehen, und kommt so zu einem Begriff der „Gemeinschaftsneurose“:

Wenn die Kulturentwicklung so weitgehende Ähnlichkeit mit der des Einzelnen hat und mit denselben Mitteln arbeitet, soll man nicht zur Diagnose berechtigt sein, dass manche Kulturen - oder Kulturepochen - möglicherweise die ganze Menschheit - unter dem Einfluss der Kulturstrebungen „neurotisch“ geworden sind? An die analytische Zergliederung dieser Neurosen könnten therapeutische Vorschläge anschließen, die auf großes praktisches Interesse Anspruch hätten. Ich könnte nicht sagen, dass ein solcher Versuch zur Übertragung der Psychoanalyse auf die Kulturgemeinschaft unsinnig oder zur Unfruchtbarkeit verurteilt wäre. Aber man müsste sehr vorsichtig sein, nicht vergessen, dass es sich doch nur um Analogien handelt und dass es nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Begriffen gefährlich ist, sie aus der Sphäre zu reißen, in der sie entstanden und entwickelt worden sind. Auch stößt die Diagnose der Gemeinschaftsneurosen auf eine besondere Schwierigkeit. Bei der Einzelneurose dient uns als nächster Anhalt der Kontrast, in dem sich der Kranke von seiner als „normal“ angenommenen Umgebung abhebt. Ein solcher Hintergrund entfällt bei einer gleichartig affizierten Masse, er müsste anderswoher geholt werden. Und was die therapeutische Verwendung der Einsicht betrifft, was hülfe die zutreffendste Analyse der sozialen Neurose, da niemand die Autorität besitzt, der Masse die Therapie aufzudrängen? Trotz aller dieser Erschwerungen darf man erwarten, dass jemand eines Tages das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemeinschaften unternehmen wird.(S. Freud, 1930a, S. 504 f. - Hervorhebung E. F.) [IV-019]

Das vorliegende Buch unternimmt das Wagnis dieser Untersuchung. Es gründet sich auf die Idee, dass eine Gesellschaft dann gesund ist, wenn sie den Bedürfnissen des Menschen entspricht - nicht unbedingt dem, was er als seine Bedürfnisse empfindet, weil selbst die pathologischsten Ziele von dem Betreffenden subjektiv als sein höchster Wunsch empfunden werden können, sondern dem, was seine Bedürfnisse objektiv sind, wie man sie durch das Studium des Menschen feststellen kann. Unsere erste Aufgabe ist demnach festzustellen, wie die Natur des Menschen beschaffen ist und welches die aus dieser Natur entspringenden Bedürfnisse sind. Danach wollen wir untersuchen, welche Rolle die Gesellschaft in der Evolution des Menschen spielt. Wir wollen sowohl ihre die Entwicklung des Menschen fördernde Rolle als auch die immer wiederkehrenden Konflikte zwischen der menschlichen Natur und der Gesellschaft und die Folgen dieser Konflikte, besonders soweit sie die moderne Gesellschaft betreffen, überprüfen.

3. Die Situation des Menschen - der Schlüssel zur humanistischen Psychoanalyse

a) Die Situation des Menschen

In Bezug auf seinen Körper und seine physiologischen Funktionen gehört der Mensch dem Tierreich an. Das Leben der Tiere wird durch Instinkte, durch bestimmte Verhaltensmuster bestimmt, die ihrerseits durch ererbte neurologische Strukturen determiniert sind. Je höher ein Tier entwickelt ist, desto größer ist die Flexibilität seiner Verhaltensmuster und desto unvollständiger ist seine strukturelle Anpassungsfähigkeit zur Zeit seiner Geburt. Bei den höheren Primaten finden wir sogar eine beträchtliche Intelligenz vor, nämlich den Gebrauch des Denkens, um erwünschte Ziele zu erreichen, wodurch das Tier in die Lage versetzt wird, weit über die ihm von seinen Instinkten vorgeschriebenen Verhaltensmuster hinauszugehen. Aber so großartig auch die Entwicklung innerhalb des Tierreichs sein mag, gewisse Grundelemente der Existenz bleiben doch immer dieselben.

Das Tier „wird gelebt“ durch biologische Naturgesetze. Es ist Teil der Natur und transzendiert sie nie. Es besitzt kein Gewissen moralischer Art und kein Bewusstsein seiner selbst und seiner Existenz. Es hat keine Vernunft, wenn wir unter Vernunft die Fähigkeit verstehen, die von unseren Sinnen erfasste Oberfläche zu durchdringen und das Wesen hinter dieser Oberfläche zu begreifen. Das Tier besitzt daher auch keinen Begriff von Wahrheit, wenn es vielleicht auch eine Vorstellung davon haben kann, was nützlich ist.

Die tierische Existenz ist gekennzeichnet durch die Harmonie zwischen Tier und Natur. Das heißt natürlich nicht, dass die Naturbedingungen für das Tier nicht oft bedrohlich sind und es zwingen, erbittert um sein Überleben zu kämpfen. Es ist in dem Sinn gemeint, dass das Tier von der Natur so ausgerüstet ist, dass es mit eben den Bedingungen, mit denen es konfrontiert wird, fertig werden kann, genauso wie der Same einer Pflanze von der Natur so ausgerüstet ist, dass er mit den Bedingungen von Boden, Klima usw., an die er sich im Verlauf des Evolutionsprozesses angepasst hat, zurechtkommen kann.

An einem bestimmten Punkt der Evolution der Lebewesen kam es zu einem einzigartigen Kurswechsel, der dem vergleichbar ist, als zum ersten Mal Materie oder zum [IV-021] ersten Mal Leben oder ein tierisches Lebewesen auftauchte. Zu diesem neuen Ereignis kam es, als im Evolutionsprozess das Handeln im wesentlichen nicht mehr durch den Instinkt bestimmt wurde. Die Anpassung an die Natur verlor ihren zwanghaften Charakter, das Handeln war nicht länger durch ererbte Mechanismen fixiert. In dem Augenblick, in dem das Tier die Natur transzendierte, in dem es über die rein passive Rolle eines bloßen Geschöpfes hinausgelangte, in dem es - biologisch gesprochen - zum hilflosesten aller Tiere wurde, wurde der Mensch geboren. An diesem Punkt hatte sich das Tier durch seine aufrechte Haltung von der Natur emanzipiert, das Gehirn war erheblich größer geworden als es bei den höchstentwickelten Tierarten war. Diese Geburt des Menschen kann Hunderttausende von Jahren gedauert haben, aber worauf es ankommt, ist, dass eine neue Spezies entstand, welche die Natur transzendierte, dass das Leben sich seiner selbst bewusst wurde.

Bewusstsein seiner selbst, Vernunft und Vorstellungsvermögen zerstören die für die tierische Existenz kennzeichnende „Harmonie“. Durch ihr Entstehen wurde der Mensch zu einer Anomalie, zu einer Laune des Universums. Er ist Teil der Natur, er ist ihren physikalischen Gesetzen unterworfen, die er nicht verändern kann, und dennoch transzendiert er die übrige Natur. Er steht abseits von ihr und ist trotzdem ein Teil von ihr. Er ist heimatlos und trotzdem an die Heimat gefesselt, die er mit allen Kreaturen gemeinsam hat. Er wird an einen zufälligen Ort zu einem zufälligen Zeitpunkt in die Welt hineingeworfen und muss sie zu einem zufälligen Zeitpunkt wieder verlassen. Da er sich seiner selbst bewusst ist, erkennt er seine Machtlosigkeit und die Grenzen seiner Existenz. Er sieht sein eigenes Ende - den Tod - voraus. Niemals ist er frei von der Dichotomie seiner Existenz: Er kann seinen Geist nicht mehr loswerden, selbst wenn er das wollte; er kann seinen Körper nicht loswerden, solange er lebt, und sein Körper erweckt in ihm den Wunsch, am Leben zu bleiben.

Die Vernunft, der Segen des Menschen, ist zugleich sein Fluch. Sie zwingt ihn, sich immerzu mit der Aufgabe zu beschäftigen, für eine unlösbare Dichotomie eine Lösung zu finden. Das Leben des Menschen unterscheidet sich in dieser Hinsicht von dem aller anderen Organismen: Es befindet sich im Zustand einer ständigen und unvermeidlichen Unausgeglichenheit. Das Leben kann nicht durch eine einfache Wiederholung des Modells seiner Spezies „gelebt werden“. Der Mensch selbst muss leben. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich langweilen kann, das sich aus dem Paradies vertrieben fühlen kann. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine eigene Existenz als ein Problem empfindet, das er lösen muss und dem er nicht entrinnen kann. Er kann nicht in den vormenschlichen Zustand der Harmonie mit der Natur zurückkehren. Er muss seine Vernunft weiterentwickeln, bis er Herr der Natur und seiner selbst wird.

Aber die Geburt des Menschen ist ontogenetisch wie phylogenetisch im wesentlichen ein negatives Ereignis. Es fehlt ihm die instinktive Anpassung an die Natur, es fehlt ihm die physische Kraft, er ist bei seiner Geburt das hilfloseste aller Geschöpfe und braucht viel länger Schutz als jedes andere unter ihnen. Die Einheit mit der Natur ist ihm verlorengegangen, und er ist nicht mit den Mitteln versehen, die es ihm ermöglichen würden, ein neues Leben außerhalb der Natur zu führen. Seine Vernunft ist höchst rudimentär. Er kennt weder die Naturprozesse, noch besitzt er die Werkzeuge, [IV-022] die seine verlorenen Instinkte ersetzen könnten. Er lebt in kleine Gruppen aufgeteilt und kennt weder sich selbst noch die anderen. Seine Situation kommt in der Tat im biblischen Mythos vom Paradies ganz klar zum Ausdruck. Der Mensch, der im Garten Eden in vollkommener Harmonie mit der Natur, aber ohne ein Bewusstsein seiner selbst lebt, beginnt seine Geschichte mit dem ersten Akt der Freiheit, dem Ungehorsam gegen ein Gebot. Gleichzeitig wird er sich seiner selbst, seiner Abgesondertheit, seiner Hilflosigkeit bewusst; er wird aus dem Paradies vertrieben, und zwei Engel mit feurigem Schwert hindern ihn an der Rückkehr.

Die Evolution des Menschen gründet sich darauf, dass er seine ursprüngliche Heimat, die Natur, verloren hat und niemals zurückkehren, niemals wieder ein Tier werden kann. Er kann nur den einen Weg einschlagen: seine natürliche Heimat zu verlassen und eine neue Heimat zu suchen - eine Heimat, die er sich selber schafft, indem er die Welt zu einer menschlichen Welt macht und selbst wahrhaft menschlich wird.

Wenn der Mensch geboren wird - die menschliche Rasse ebenso wie der einzelne Mensch -, muss er einen Zustand verlassen, der so sicher und begrenzt ist, wie es der durch Instinkte bestimmte Zustand war. Er gerät in einen unbestimmten, ungewissen und offenen Zustand. Gewissheit gibt es nur über die Vergangenheit und über die Zukunft soweit, als dies den Tod betrifft, der in Wirklichkeit die Rückkehr in die Vergangenheit, in den anorganischen Zustand der Materie ist.

Das Problem der menschlichen Existenz ist demnach einzigartig in der Natur. Der Mensch ist sozusagen aus der Natur herausgefallen und befindet sich trotzdem noch in ihr. Er ist teils wie ein Gott, teils wie ein Tier; er ist teils unendlich, teils endlich. Die Notwendigkeit, immer neue Lösungen für die Widersprüche seiner Existenz zu finden, immer höhere Formen der Einheit mit der Natur, seinen Mitmenschen und sich selbst zu finden, ist die Quelle aller psychischen Kräfte, welche den Menschen motivieren, die Quelle aller seiner Leidenschaften, Affekte und Ängste.

Das Tier ist zufrieden, wenn seine körperlichen Bedürfnisse - sein Hunger, sein Durst und sein sexuelles Bedürfnis - befriedigt sind. Insofern der Mensch ebenfalls Tier ist, sind bei ihm diese Bedürfnisse ebenfalls gebieterisch und müssen befriedigt werden. Aber insofern der Mensch ein menschliches Wesen ist, reicht die Befriedigung dieser instinkthaften Bedürfnisse nicht aus, ihn glücklich zu machen. Sie reichen nicht einmal aus, ihn gesund zu machen. Der archimedische Punkt der spezifisch menschlichen Dynamik liegt in dieser Einzigartigkeit der menschlichen Situation. Das Verständnis der menschlichen Psyche muss sich auf die Analyse jener Bedürfnisse des Menschen gründen, die aus den Bedingungen seiner Existenz stammen.

Demnach ist das Problem, das die menschliche Rasse genau wie jedes Individuum zu lösen hat, das Problem geboren zu werden. Was das Individuum betrifft, so ist seine körperliche Geburt keineswegs ein so einschneidendes und einzigartiges Ereignis, wie das zunächst scheinen mag. Tatsächlich ist sie ein wichtiger Wechsel aus dem intrauterinen ins extrauterine Leben, aber in vieler Hinsicht unterscheidet sich das Kind nach seiner Geburt nicht von dem Kind vor der Geburt. Es kann die Dinge der Außenwelt noch nicht erkennen; es kann sich noch nicht selbst ernähren; noch ist es von der Mutter völlig abhängig und würde ohne ihre Hilfe zugrunde gehen. Tatsächlich geht der Geburtsprozess weiter. Das Kind fängt an, die Dinge der Außenwelt zu [IV-023] erkennen, affektiv zu reagieren, nach Gegenständen zu greifen, seine Bewegungen zu koordinieren und zu laufen. Aber die Geburt geht weiter. Das Kind lernt sprechen, es lernt die Dinge gebrauchen und ihre Funktion begreifen. Es lernt, mit anderen in Beziehung zu treten, Strafen zu vermeiden und Lob und Zuneigung zu gewinnen. Langsam lernt der Heranwachsende zu lieben, seine Vernunft zu entwickeln, die Welt objektiv zu betrachten. Er fängt an, seine Kräfte zu entwickeln, sich ein Identitätsgefühl zu erwerben und um eines ganzheitlichen Lebens willen den Verführungen seiner Sinne zu widerstehen. Die Geburt im herkömmlichen Sinn des Wortes ist demnach nur der Anfang einer Geburt im weiteren Sinn. Das gesamte Leben des Einzelnen ist nichts anderes als der Prozess, sich selbst zu gebären. Tatsächlich sollten wir, wenn wir sterben, ganz geboren sein, wenn es auch das tragische Schicksal der meisten ist, dass sie sterben, bevor sie geboren sind.

Nach allem, was wir über die Evolution der menschlichen Rasse wissen, ist die Geburt der Menschheit im gleichen Sinn zu verstehen wie die Geburt des Individuums. Als der Mensch eine bestimmte Schwelle einer minimalen instinktiven Anpassung überschritten hatte, hörte er auf, Tier zu sein; aber er war ebenso hilflos und für das Leben als Mensch ebenso schlecht ausgerüstet wie das einzelne Kind bei seiner Geburt. Die Geburt der Menschheit beginnt mit den ersten Gliedern der Spezies Homo sapiens, und die Geschichte der Menschheit ist nichts anderes als der Gesamtprozess dieser Geburt. Der Mensch hat Hunderttausende von Jahren gebraucht, um die ersten Schritte ins menschliche Leben hinein zu tun. Er machte eine narzisstische Phase magisch-omnipotenter Orientierung, eine Phase des Totemismus und der Naturverehrung durch, bis sein Gewissen, seine Objektivität, seine Nächstenliebe, sich zu entwickeln begannen. In den letzten viertausend Jahren seiner Geschichte hat er Zukunftsvisionen des vollkommen geborenen und vollkommen erwachten Menschen entwickelt, wie sie in nicht allzu sehr voneinander abweichenden Formen die großen Lehrer der Menschheit in Ägypten, China, Indien, Palästina, Griechenland und Mexiko entwickelt haben.

Die Tatsache, dass die Geburt des Menschen in erster Linie etwas Negatives ist, dass er nämlich aus seinem ursprünglichen Einssein mit der Natur ausgestoßen wird, dass er nicht dorthin zurückkehren kann, woher er gekommen ist, hat zur Folge, dass der Geburtsprozess keineswegs leicht ist. Jeder Schritt in seine neue menschliche Existenz hinein ist Angst erregend. Es bedeutet immer, dass man einen sicheren Zustand, der relativ bekannt war, für einen anderen aufgibt, der neu ist und den man noch nicht beherrscht. Wenn das Kind im Augenblick der Abtrennung der Nabelschnur denken könnte, würde es zweifellos von Todesangst erfasst. Ein freundliches Schicksal bewahrt uns vor diesem ersten panischen Schrecken. Aber bei jedem neuen Schritt, bei jedem neuen Stadium unserer Geburt geraten wir aufs Neue in Angst. Wir sind niemals frei von zwei widerstreitenden Tendenzen: einerseits aus dem Mutterschoß herauszukommen, aus der tierischen Form der Existenz in eine menschliche, aus der Knechtschaft in die Freiheit zu gelangen, und andererseits in den Mutterschoß, in die Natur, in die Sicherheit und Gewissheit zurückzukehren. In der Geschichte des Individuums und der menschlichen Rasse hat die progressive Tendenz sich als stärker erwiesen. Trotzdem zeigten das Phänomen der psychischen Krankheit und das der [IV-024] Regression der menschlichen Rasse auf Positionen, die scheinbar schon seit Generationen aufgegeben waren, den intensiven Kampf, der jeden neuen Akt der Geburt begleitet.[7]

b) Die menschlichen Bedürfnisse, die in den Bedingungen seiner Existenz wurzeln

Das menschliche Leben wird von der unausweichlichen Alternative zwischen Regression und Progression, zwischen der Rückkehr in eine tierische Existenz und dem Erreichen einer menschlichen Existenz bestimmt. Jeder Wunsch einer Rückkehr ist schmerzhaft und führt unvermeidlich zum Leiden und zu psychischen Krankheiten, zum physiologischen oder zum psychischen Tod (dem Wahnsinn). Auch jeder Schritt vorwärts ist Angst erregend und schmerzhaft, bis ein gewisser Punkt erreicht ist, wo Angst und Zweifel nur noch in geringem Maße auftreten. Abgesehen von den physiologisch gespeisten Begierden (Hunger, Durst und Sexualität) werden alle wesentlichen menschlichen Strebungen von dieser Polarität beherrscht. Der Mensch muss ein Problem lösen, er kann nie in der gegebenen Situation einer passiven Anpassung an die Natur beharren. Selbst die vollkommenste Befriedigung aller seiner instinktiven Bedürfnisse löst nicht sein menschliches Problem. Seine intensivsten Leidenschaften und Bedürfnisse sind nicht die in seinem Körper wurzelnden, sondern die, welche in der Besonderheit seiner Existenz ihre Wurzel haben.

Hier liegt auch der Schlüssel zur humanistischen Psychoanalyse. Als Freud nach der grundlegenden Kraft suchte, welche die menschlichen Leidenschaften und Wünsche motiviert, glaubte er sie in der Libido gefunden zu haben. Aber so mächtig der Sexualtrieb und alle seine Ableitungen auch sein mögen, sie sind keineswegs die mächtigsten Kräfte im Menschen, und ihre Nicht-Befriedigung ist nicht die Ursache für psychische Störungen. Die mächtigsten Kräfte, welche das Verhalten des Menschen motivieren, stammen aus der Bedingung seiner Existenz, aus seiner „menschlichen Situation“.

Der Mensch kann nicht statisch leben, weil ihn seine inneren Widersprüche dazu treiben, nach einem Gleichgewicht, nach einer neuen Harmonie zu suchen, die an die Stelle der verlorenen Harmonie des Tieres mit der Natur tritt. Wenn er seine tierischen Bedürfnisse befriedigt hat, wird er von seinen menschlichen Bedürfnissen weitergetrieben. Während sein Körper ihm sagt, was er essen und was er meiden sollte, sollte ihm sein Gewissen sagen, welche Bedürfnisse er kultivieren und befriedigen und welche er einschränken und absterben lassen sollte. Aber Hunger und Appetit sind Funktionen des Körpers, mit denen der Mensch geboren ist - das Gewissen dagegen ist zwar potenziell vorhanden, braucht aber die Lenkung durch Menschen und Prinzipien, die sich nur mit wachsender Kultur entwickeln. [IV-025]

Alle Leidenschaften und Strebungen des Menschen sind Versuche, eine Antwort auf seine Existenz zu finden, oder man könnte auch sagen, sie sind ein Versuch, der Geisteskrankheit zu entgehen. (Nebenbei gesagt, ist, was das psychische Leben betrifft, nicht das wirkliche Problem, warum die Menschen geisteskrank werden, sondern vielmehr, warum die meisten der Geisteskrankheit entgehen.) Sowohl der psychisch Gesunde als auch der Neurotiker wird von dem Bedürfnis getrieben, eine Antwort zu finden, und der einzige Unterschied liegt darin, dass die eine Antwort mehr den Gesamtbedürfnissen des Menschen entspricht und daher eher zu einer Entfaltung seiner Kräfte und zu seinem Glück führt als die andere. Alle Kulturen bieten ein vorgeformtes System, in dem gewisse Lösungen und daher auch gewisse Strebungen und Befriedigungsformen vorherrschen. Ob wir es mit primitiven Religionen, mit theistischen oder nicht-theistischen Religionen zu tun haben, sie alle sind Versuche, eine Antwort auf das existenzielle Problem des Menschen zu finden. Ganz hochentwickelte und ganz barbarische Kulturen haben die gleiche Funktion - der einzige Unterschied liegt darin, ob die von ihnen gefundene Antwort besser oder schlechter ist. Wer von dem kulturellen Muster abweicht, befindet sich genauso auf der Suche nach einer Antwort wie sein besser angepasster Bruder. Seine Antwort kann besser oder schlechter sein als die von seiner Kultur gegebene - es handelt sich in jedem Fall um eine weitere Antwort auf die gleiche, fundamentale, von der menschlichen Existenz gestellte Frage. In diesem Sinn sind alle Kulturen religiös, und jede Neurose ist eine private Form von Religion, vorausgesetzt, dass wir unter Religion den Versuch verstehen, eine Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz zu finden. Die ungeheure Energie in den Kräften, welche eine psychische Krankheit hervorrufen, wie auch die in Kunst und Religion steckende Energie, könnte man niemals als Folge frustrierter oder sublimierter physiologischer Bedürfnisse verstehen. Es handelt sich vielmehr um Versuche, das Problem zu lösen, ganz als Mensch geboren zu werden. Alle Menschen sind Idealisten und können gar nicht umhin, Idealisten zu sein, vorausgesetzt, dass wir unter Idealismus das Streben nach der Befriedigung von Bedürfnissen verstehen, die spezifisch menschlich sind und die über die physiologischen Bedürfnisse des Organismus hinausgehen. Der einzige Unterschied liegt darin, dass der eine Idealismus zu einer guten und adäquaten Lösung und der andere zu einer schlechten und destruktiven führt. Die Entscheidung darüber, was gut und was schlecht ist, müssen wir auf Grund unseres Wissens über die Natur des Menschen und die Gesetze, die deren Wachstum beherrschen, treffen.

Welches aber sind diese Bedürfnisse und Leidenschaften, die aus der Existenz des Menschen stammen?

1. Bezogenheit durch Liebe oder Narzissmus

Der Mensch ist aus der Einheit mit der Natur, die die tierische Existenz kennzeichnet, herausgerissen. Da er sowohl über Vernunft als auch über Vorstellungsvermögen verfügt, ist er sich seiner Einsamkeit und Absonderung, seiner Machtlosigkeit und Unwissenheit und der Zufälligkeit seiner Geburt und seines Todes bewusst. Er könnte [IV-026] diesen Zustand keinen Augenblick ertragen, wenn er nicht neue Bindungen an seine Mitmenschen anknüpfen könnte, die die alten, von den Instinkten regulierten ersetzen. Selbst wenn alle seine physiologischen Bedürfnisse befriedigt wären, so würde er doch seinen Zustand der Einsamkeit und Vereinzelung als ein Gefängnis empfinden, aus dem er ausbrechen müsste, um gesund zu bleiben. Tatsächlich ist ja der Geisteskranke ein Mensch, dem es völlig misslungen ist, irgendeine Art von Einssein zu erreichen, und der sich in Gefangenschaft befindet, auch wenn er nicht hinter vergitterten Fenstern lebt. Sich mit anderen Lebewesen zu vereinigen, zu ihnen in Beziehung zu treten, ist ein gebieterisches Bedürfnis, von dessen Befriedigung die seelische Gesundheit des Menschen abhängt. Dieses Bedürfnis steht hinter allen Erscheinungen, welche die gesamte Skala der intimen menschlichen Beziehungen ausmachen, hinter allen Leidenschaften, die man im weitesten Sinn des Wortes als Liebe bezeichnet.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Vereinigung zu suchen und zu erlangen. Der Mensch kann versuchen, mit der Welt dadurch eins zu werden, dass er sich einem Menschen, einer Gruppe, einer Institution, einem Gott unterwirft. Auf diese Weise überwindet er das Abgetrenntsein seiner individuellen Existenz, indem er Teil eines anderen Menschen oder von etwas wird, das größer ist als er, und er erlebt seine Identität in Verbindung mit der Macht, der er sich unterworfen hat. Eine andere Möglichkeit zur Überwindung dieser Absonderung liegt in der entgegengesetzten Richtung: Der Mensch kann versuchen, sich mit der Welt dadurch zu vereinigen, dass er Macht über sie gewinnt, indem er andere zu einem Bestandteil seiner selbst macht und auf diese Weise seine individuelle Existenz durch die Beherrschung anderer transzendiert. Das gemeinsame Element in der Unterwerfung und der Beherrschung anderer ist die symbiotische Natur der Bezogenheit. Beide Beteiligten haben ihre Integrität und ihre Freiheit verloren; sie leben voneinander, einer lebt auf Kosten des anderen, und sie befriedigen ihr Verlangen nach Nähe, leiden jedoch an einem Mangel an innerer Kraft und Selbstvertrauen, wozu Freiheit und Unabhängigkeit nötig wären; außerdem drohen ihnen ständig bewusste oder unbewusste Feindseligkeiten, die notwendigerweise aus einer symbiotischen Beziehung erwachsen (vgl. hierzu Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, GA I, S. 300-322). Die Realisierung einer auf Unterwerfung gegründeten (masochistischen) oder einer auf Beherrschung beruhenden (sadistischen) Leidenschaft führt nie zur Befriedigung. Sie sind von einer sich immer wieder selbst antreibenden Dynamik, und da keine noch so große Unterwerfung oder Beherrschung (oder kein noch so großer Besitz oder Ruhm) genügt, um dem Betreffenden das Gefühl von Identität und Einssein zu geben, sucht er immer nach mehr und mehr. Das Endresultat solcher Leidenschaften ist das Scheitern. Es kann auch gar nicht anders sein. Diese Leidenschaften zielen darauf, ein Gefühl der Einheit zu erlangen, aber sie zerstören dabei das Integritätsgefühl. Wer von einer solchen Leidenschaft getrieben wird, wird tatsächlich von anderen abhängig; anstatt sein eigenes individuelles Sein zu entwickeln, ist er von denen abhängig, denen er sich unterwirft oder die er beherrscht.

Es gibt nur eine Leidenschaft, die das Bedürfnis des Menschen befriedigt, mit der Welt eins zu werden und gleichzeitig ein Gefühl der Integrität und Individualität zu erlangen: die Liebe. Liebe ist die Vereinigung mit einem anderen Menschen oder Ding [IV-027] außerhalb seiner selbst unter der Bedingung, dass die Gesondertheit und Integrität des eigenen Selbst dabei bewahrt bleibt. Liebe ist die Erfahrung des Teilens, der Gemeinschaft, die die volle Entfaltung des eigenen inneren Tätigseins erlaubt. Das Erlebnis der Liebe macht Illusionen überflüssig. Ich habe es nicht mehr nötig, das Bild des anderen oder das eigene Image aufzublähen, da die Realität des gelebten Teilens und Liebens es mir ermöglicht, mein vereinzeltes Dasein zu transzendieren und gleichzeitig mich als das Subjekt jener Kräfte zu erleben, die den Akt des Liebens ausmachen. Worauf es ankommt, ist die besondere Qualität des Liebens und nicht das Objekt der Liebe. Liebe findet sich in der Erfahrung der Solidarität mit unserem Mitmenschen, Liebe findet sich auch in der erotischen Liebe von Mann und Frau, in der Liebe der Mutter zu ihrem Kind und auch in der Liebe zu uns selbst als einem menschlichen Wesen. Sie findet sich im mystischen Erlebnis des Einswerdens.[8] Im Akt des Liebens bin ich eins mit dem All, und dennoch bin ich ich selbst, ein einzigartiges, besonderes, begrenztes, sterbliches menschliches Wesen. Eben aus dieser Polarität von Getrenntsein und Vereinigung wird die Liebe geboren und immer wieder neu geboren. Liebe ist ein Aspekt dessen, was ich als die produktive Orientierung bezeichnet habe: die tätige und kreative Bezogenheit des Menschen zu seinem Mitmenschen, zu sich selbst und zur Natur. Im Bereich des Denkens kommt diese produktive Orientierung in der richtigen Erfassung der Welt durch die Vernunft zum Ausdruck. Im Bereich des Handelns drückt sich die produktive Orientierung in produktiver Arbeit, im Prototyp dessen aus, was unter Kunst und Handwerk zu verstehen ist. Im Bereich des Fühlens kommt die produktive Orientierung in der Liebe zum Ausdruck, die das Erlebnis des Einswerdens mit einem anderen Menschen, mit allen Menschen und mit der Natur bedeutet unter der Voraussetzung, dass man sich dabei sein Integritätsgefühl und seine Unabhängigkeit bewahrt. Im Erlebnis der Liebe kommt es zu der paradoxen Situation, dass zwei Menschen eins werden und gleichzeitig zwei bleiben. Liebe in diesem Sinn ist niemals auf eine Person beschränkt. Wenn ich nur einen einzigen Menschen und niemand sonst liebe, wenn mich meine Liebe zu einer bestimmten Person meinen Mitmenschen noch weiter entfremdet und mich noch weiter von ihnen entfernt, dann kann ich an diese Person auf mancherlei Weise gebunden sein, aber ich liebe nicht. Wenn ich sagen kann, „ich liebe dich“, sage ich, „ich liebe in dir die ganze Menschheit, alles Lebendige; ich liebe in dir auch mich selbst“. Die Selbstliebe in diesem Sinn ist das Gegenteil der Selbstsucht. Letztere ist in Wirklichkeit ein gieriges Interesse an sich selbst, das aus einem Mangel an echter Liebe zu sich selbst entspringt und diesen Mangel kompensiert. Die Liebe dagegen macht mich paradoxerweise unabhängiger, weil sie mich stärker und glücklicher macht - dennoch macht sie mich eins mit der geliebten Person, und das in einem solchen Maße, dass die Individualität für den Augenblick ausgelöscht scheint. Wenn ich liebe, mache ich die Erfahrung „ich bin du“, du - als die geliebte Person, du - als der Fremde, du - als alles Lebendige. Das Erlebnis der Liebe ist die einzige Antwort auf die Frage, was es bedeutet, ein menschliches Wesen zu sein, und nur sie verbürgt seelische Gesundheit.

Die produktive Liebe umfasst stets das Syndrom folgender Einstellungen: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und wissendes Verstehen. (Vgl. Psychoanalyse und Ethik, 1947a, S. 98-101.) Wenn ich liebe, liegt mir der andere am Herzen, das heißt, ich habe ein [IV-028] aktives Interesse an seinem Wachstum und Glück; ich bin dabei nicht nur Zuschauer. Ich fühle mich für ihn verantwortlich, das heißt, ich antworte auf seine Bedürfnisse, auf die, welche er zum Ausdruck bringen kann, und erst recht auf die, welche er nicht auszudrücken weiß. Ich respektiere ihn, das heißt (entsprechend der ursprünglichen Bedeutung von re-spicere), ich sehe ihn so, wie er ist, objektiv und nicht entstellt durch meine Wünsche und Befürchtungen. Ich kenne ihn, ich bin durch seine Oberfläche zum Kern seines Seins durchgedrungen und bin mit ihm aus meinem innersten Kern, aus meinem Zentrum heraus, und nicht nur mit der Oberfläche meines Wesens in Beziehung getreten. (Diese Identität von „lieben“ und „erkennen“ wird im hebräischen jadoa und im deutschen meinen und minnen deutlich.)

Wenn sich die produktive Liebe auf meinesgleichen richtet, so kann man sie als Nächstenliebe oder Menschenliebe bezeichnen. Bei der Mutterliebe (hebräisch: rachamin von rechem = Mutterschoß) handelt es sich um eine Beziehung zwischen zwei ungleichen Personen. Das Kind ist hilflos und von seiner Mutter abhängig. Um zu wachsen, muss es von ihr immer unabhängiger werden, bis es seine Mutter schließlich nicht mehr braucht. So ist die Mutter-Kind-Beziehung paradox und in gewissem Sinn tragisch. Sie fordert von der Mutter die intensivste Liebe, und trotzdem muss diese Liebe dem Kind dabei helfen, von ihr wegzuwachsen und vollkommen unabhängig zu werden. Es ist für jede Mutter leicht, ihr Kind zu lieben, bevor dieser Trennungsprozess begonnen hat - aber das Kind gleichzeitig zu lieben und es gehen zu lassen - und zu wünschen, dass es geht, ist die Aufgabe, bei der die meisten scheitern.

Bei der erotischen Liebe (griechisch: eros; hebräisch: ahabah, das von der Wurzel des Verbums „glühen“ abgeleitet ist) ist ein anderer Trieb im Spiel, der nach Vereinigung und Einswerden mit dem anderen drängt. Während die Menschenliebe sich auf alle Menschen und die Mutterliebe sich auf das Kind und all die bezieht, die Hilfe brauchen, richtet sich die erotische Liebe auf eine einzige Person, normalerweise vom anderen Geschlecht, mit der man sich vereinigen und eins werden möchte. Die erotische Liebe beginnt mit dem Getrenntsein und endet im Einssein. Die Mutterliebe beginnt mit dem Einssein und führt zum Getrenntsein. Wenn das Bedürfnis nach Vereinigung in der mütterlichen Liebe realisiert würde, so würde das die Zerstörung des Kindes als eines unabhängigen Wesens bedeuten, da das Kind von seiner Mutter loskommen muss und nicht an sie gebunden bleiben darf. Wenn der erotischen Liebe die Menschenliebe fehlt und sie allein vom Wunsch nach Vereinigung motiviert ist, dann ist sie sexuelle Begierde ohne Liebe, oder es handelt sich um die Perversion der Liebe, wie wir sie in den sadistischen und masochistischen Formen der „Liebe“ finden.

Man versteht das Bedürfnis des Menschen, bezogen zu sein, nur dann ganz, wenn man sich die Folgen vor Augen hält, die ein Scheitern jeder Art von Bezogenheit nach sich zieht, das heißt, wenn man die Bedeutung des Narzissmus begreift. Die einzige Realität, die der Säugling erleben kann, sind sein eigener Körper und seine Bedürfnisse, die körperlichen Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Wärme und Zuneigung. Er hat sein „Ich“ noch nicht als getrennt vom „Du“ erfahren. Noch befindet er sich im Zustand des Einsseins mit der Welt, aber eines Einsseins, bevor sein Sinn für die Individualität und die Realität erwacht ist. Die Welt außerhalb existiert für ihn nur in Gestalt der Nahrung und in Gestalt der Wärme, die er zur Befriedigung seiner [IV-029] Bedürfnisse braucht, und nicht als etwas oder jemand, den er realistisch und objektiv erkennt. Freud hat diese Orientierung als „primären Narzissmus“ bezeichnet. Bei einer normalen Entwicklung wird dieser Zustand des Narzissmus nach und nach durch die wachsende Wahrnehmung der äußeren Realität und ein entsprechend zunehmendes Ichgefühl im Unterschied zum „Du“ überwunden. Zu dieser Veränderung kommt es zuerst auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung, wenn Dinge und Menschen als unterschiedliche und eigene Größen wahrgenommen werden. Dies ist die Vorbedingung für die Sprache. Die Dinge beim Namen nennen zu können, setzt voraus, dass man sie als individuelle und eigenständige Größen erkennt. (Vgl. J. Piaget, 1937.) Viel länger dauert es, bis der narzisstische Zustand emotional überwunden ist. Für das Kind bis zum Alter von sieben oder acht Jahren existieren andere Menschen immer noch hauptsächlich als Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Sie sind soweit austauschbar, als sie die Funktion erfüllen, diese Bedürfnisse zu befriedigen, und erst mit acht oder neun Jahren erlebt das Kind einen anderen Menschen so, dass es anfangen kann, ihn zu lieben, das heißt, wie H. S. Sullivan es formuliert, zu fühlen, dass die Bedürfnisse eines anderen Menschen ebenso wichtig sind wie die eigenen (vgl. H. S. Sullivan, 1953, S. 49 ff.).[9]

Der primäre Narzissmus ist ein normales Phänomen, das der normalen körperlichen und seelischen Entwicklung des Kindes entspricht. Aber es gibt auch in späteren Lebensphasen einen Narzissmus (den „sekundären Narzissmus“ nach Freud), zu dem es dann kommt, wenn es dem heranwachsenden Kind nicht gelingt, seine Liebesfähigkeit zu entwickeln, oder wenn es diese wieder verliert. Der Narzissmus liegt allen schweren psychischen Erkrankungen zugrunde. Für den narzisstischen Menschen gibt es nur eine Realität: die seiner eigenen Denkprozesse, Gefühle und Bedürfnisse. Er erlebt die Außenwelt nicht objektiv, er nimmt sie nicht objektiv wahr, das heißt nicht als etwas mit einem eigenen Standpunkt, mit eigenen Bedingungen und Bedürfnissen. Die extremste Form des Narzissmus findet man in sämtlichen Formen von Geisteskrankheit. Der Geisteskranke hat den Kontakt mit der Welt verloren; er hat sich in sich selbst zurückgezogen. Er kann weder die materielle noch die menschliche Wirklichkeit so erfahren, wie sie ist, sondern nur so, wie seine eigenen inneren Prozesse [IV-030] sie formen und bestimmen. Entweder reagiert er überhaupt nicht auf die Außenwelt, oder wenn er es tut, reagiert er nicht entsprechend ihrer Realität, sondern entsprechend seinen eigenen Denk- und Gefühlsprozessen. Der Narzissmus ist der Gegenpol zu Objektivität, Vernunft und Liebe.

Die Tatsache, dass ein völliges Scheitern der Bezogenheit auf die Welt zur Geisteskrankheit (Psychose) führt, weist auf die andere Tatsache hin: dass irgendeine Form von Bezogenheit die Voraussetzung dafür ist, überhaupt seelisch gesund zu leben. Aber unter den vielen Formen der Bezogenheit erfüllt nur die produktive Form, die liebende Bezogenheit, die Bedingung, dass man seine Freiheit und Integrität behält, wenn man sich mit einem Mitmenschen vereinigt.

2. Transzendenz durch Kreativität oder Destruktivität

Ein weiterer Aspekt der menschlichen Situation, der eng mit dem Bedürfnis nach Bezogenheit zusammenhängt, ist die Situation des Menschen als Geschöpf und sein Bedürfnis, diesen Zustand des passiven kreatürlichen Seins zu überwinden. Der Mensch wird in die Welt hineingeworfen ohne sein Wissen, ohne seine Zustimmung oder seinen Wunsch, und er wird wieder aus ihr genommen, ebenfalls ohne seine Zustimmung oder seinen Wunsch. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich nicht von Tieren, Pflanzen oder von der anorganischen Materie. Da er aber mit Vernunft und Vorstellungsvermögen begabt ist, kann er sich nicht mit der passiven Rolle der Kreatur zufriedengeben, mit der Rolle des aus einem Becher herausgeworfenen Würfels. Es drängt ihn, die Rolle des Geschöpfs, die Zufälligkeit und Passivität der kreatürlichen Existenz dadurch zu überwinden, dass er selbst zu einem „Schöpfer“ wird.

Der Mensch kann Leben schaffen. Das ist die wunderbare Eigenschaft, die er zwar mit allen Lebewesen gemeinsam hat, jedoch mit dem Unterschied, dass er allein sich bewusst ist, zugleich Geschöpf und Schöpfer zu sein. Der Mensch kann Leben erzeugen, oder vielmehr, die Frau kann Leben erzeugen, indem sie ein Kind zur Welt bringt und das Kind versorgt, bis es groß genug geworden ist, um für seine Bedürfnisse selbst zu sorgen. Die Menschen - Mann wie Frau - können etwas erzeugen, indem sie Samen säen, indem sie materielle Gegenstände produzieren, indem sie Kunstwerke schaffen, indem sie Ideen erzeugen und indem sie einander lieben. Im Schöpfungsakt transzendiert der Mensch sich selbst als Geschöpf, erhebt er sich über die Passivität und Zufälligkeit seiner Existenz in den Bereich der Zielgerichtetheit und Freiheit. Im Bedürfnis des Menschen nach Transzendenz liegt eine der Wurzeln der Liebe wie auch der Kunst, der Religion und der materiellen Produktion.

Etwas zu schaffen setzt Tätigsein und Fürsorge voraus. Es setzt voraus, dass man das liebt, was man schafft. Wie sonst könnte der Mensch das Problem, sich zu transzendieren, lösen, wenn nicht durch die Fähigkeit, schöpferisch zu sein und zu lieben? Es gibt noch eine andere Antwort auf dieses Bedürfnis nach Transzendenz: Wenn ich kein Leben schaffen kann, dann kann ich es zerstören. Auch indem ich das Leben zerstöre, kann ich es transzendieren. Dass der Mensch Leben zerstören kann, ist in der Tat etwas genauso Wunderbares, wie dass er es erzeugen kann, denn das Leben ist das Wunder, [IV-031] das Unerklärliche. Im Akt des Zerstörens setzt sich der Mensch über das Leben hinweg; er transzendiert sich als Geschöpf. Auf diese Weise sieht sich der Mensch, insofern er sich getrieben fühlt, sich selbst zu transzendieren, vor die letzte Wahl gestellt, entweder etwas zu schaffen oder zu zerstören, zu lieben oder zu hassen. Die enorme Macht des Zerstörungswillens, die wir in der Geschichte der Menschheit am Werk sehen und deren Zeugen wir auch in unserer Zeit auf so schreckliche Weise wurden, wurzelt genauso in der Natur des Menschen, wie der Trieb, etwas zu schaffen, in ihr verwurzelt ist. Wenn man sagt, der Mensch sei fähig, sein ursprüngliches Potenzial zur Liebe und Vernunft zu entwickeln, so impliziert das nicht den naiven Glauben, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Die Destruktivität ist eine sekundäre Entwicklungsmöglichkeit, die in der menschlichen Existenz selbst wurzelt und die die gleiche Intensität und Macht besitzt, wie sie jede Leidenschaft haben kann.[10] Aber - und das ist der wesentliche Punkt, auf den ich hinaus will - sie ist nur die Alternative zu seiner Kreativität. Schaffen und Zerstören, Lieben und Hassen sind nicht zwei unabhängig voneinander existierende Größen. Es sind beides Antworten auf das gleiche Bedürfnis nach Transzendenz. Der Wille zu zerstören muss entstehen, wenn der Wille, etwas zu schaffen, nicht befriedigt werden kann. Die Befriedigung des Bedürfnisses, etwas zu schaffen, führt jedoch zum Glück; die Destruktivität führt zum Leiden, vor allem für den Zerstörer selbst.

3. Verwurzelung durch Brüderlichkeit oder Inzest

Die Geburt des Menschen als Menschen ist der Anfang seines Ausgangs aus seiner natürlichen Heimat, der Anfang der Lösung aus seinen natürlichen Bindungen. Aber diese Loslösung ist Angst erregend. Wenn der Mensch seine natürlichen Wurzeln verliert, wo befindet er sich dann, und wer ist er? Er würde allein stehen, ohne eine Heimat. Er wäre wurzellos und könnte die Isolierung und Hilflosigkeit seiner Lage nicht ertragen. Er würde wahnsinnig. Auf seine natürlichen Wurzeln kann er nur verzichten, wenn er neue menschliche Wurzeln findet, und nur nachdem er diese menschliche Verwurzelung gefunden hat, kann er sich wieder in der Welt zu Hause fühlen. Ist es demnach verwunderlich, dass wir beim Menschen eine tiefe Sehnsucht feststellen, die natürlichen Bedingungen nicht abzubrechen und sich dagegen zu wehren, von der Natur, der Mutter, dem Blut und dem Boden hinweggerissen zu werden?

Die elementarste aller natürlichen Bindungen ist die Bindung des Kindes an die Mutter. Das Kind beginnt sein Leben im Mutterschoß und lebt darin weit länger, als das bei den meisten Tieren der Fall ist. Selbst noch nach der Geburt bleibt das Kind körperlich hilflos und völlig von der Mutter abhängig. Auch diese Periode der Hilflosigkeit und Abhängigkeit zieht sich bei ihm im Vergleich zu allen anderen Tieren viel länger hin. In den ersten Jahren seines Lebens kommt es noch nicht zu einer vollen [IV-032] Trennung des Kindes von seiner Mutter. Die Befriedigung all seiner körperlichen Bedürfnisse, seines vitalen Bedürfnisses nach Wärme und Zuneigung hängt von ihr ab. Sie hat ihrem Kind nicht nur einmal das Leben geschenkt, sie schenkt es ihm auch weiterhin. Ihre Fürsorge ist in keiner Weise davon abhängig, was das Kind für sie tut, und auch nicht von irgendeiner Verpflichtung, die das Kind ihr gegenüber hätte. Sie ist bedingungslos. Sie kümmert sich um das Kind, weil dieses neue Geschöpf eben ihr Kind ist. Das Kind erlebt in diesem entscheidenden ersten Lebensjahr seine Mutter als die Quelle des Lebens, als eine allumhüllende, beschützende, nährende Macht. Die Mutter ist die Nahrung, sie ist die Liebe, sie ist die Wärme, sie ist die Erde. Von ihr geliebt zu werden, bedeutet lebendig, verwurzelt, zu Hause zu sein.

Genauso wie die Geburt bedeutet, dass das Kind den umhüllenden Schutz des Mutterleibs verlässt, bedeutet das Heranwachsen, dass es den schützenden Bereich der Mutter verlassen muss. Aber selbst beim reifen Erwachsenen hört die Sehnsucht nach jenem Zustand, wie er einst gegeben war, nie völlig auf, und dies trotz der Tatsache, dass zwischen dem Erwachsenen und dem Kind doch ein so großer Unterschied besteht. Der Erwachsene besitzt die Mittel, auf eigenen Füßen zu stehen, für sich selbst zu sorgen, für sich selbst und sogar auch für andere die Verantwortung zu übernehmen, während das Kind zu all dem noch nicht fähig ist. Aber angesichts der größeren Schwierigkeiten des Lebens, angesichts der fragmentarischen Natur unseres Wissens und aller Zufälligkeiten, denen der Erwachsene ausgesetzt ist, angesichts der unvermeidlichen Fehler, die wir machen, ist die Situation des Erwachsenen keineswegs so verschieden von der des Kindes, wie man im allgemeinen annimmt. Jeder Erwachsene braucht Hilfe, Wärme, Schutz. Seine Bedürfnisse unterscheiden sich in mannigfacher Weise von denen des Kindes und sind diesen doch auch wieder sehr ähnlich. Ist es dann verwunderlich, dass wir beim durchschnittlichen Erwachsenen eine tiefe Sehnsucht nach der Sicherheit und Verwurzelung finden, die ihm die Beziehung zu seiner Mutter einst gab? Ist es überraschend, dass er diese intensive Sehnsucht nicht aufgeben kann, wenn er nicht andere Möglichkeiten zu einer neuen Verwurzelung findet?

In der Psychopathologie finden wir viele Beispiele dafür, dass jemand sich weigert, den allumhüllenden mütterlichen Bereich zu verlassen. In der extremsten Form treffen wir auf das Verlangen, in den Mutterschoß zurückzukehren. Jemand, der von diesem Wunsch völlig besessen ist, kann das Krankheitsbild der Schizophrenie bieten. Er fühlt und handelt dann wie das Kind im Mutterleib und ist unfähig, auch nur die elementarsten Funktionen eines kleinen Kindes auszuführen. In vielen der schwereren Neurosen stoßen wir auf das gleiche Verlangen, jedoch in Form eines verdrängten Wunsches, der nur in Träumen, Symptomen und in neurotischem Verhalten zum Ausdruck kommt. Er entsteht aus dem Konflikt zwischen dem tiefen Wunsch, im Mutterschoß zu bleiben, und dem erwachsenen Persönlichkeitsteil, der ein normales Leben leben möchte. Dieses Verlangen taucht in Träumen in Form von Symbolen auf, wie zum Beispiel, dass man sich in einer dunklen Höhle, in einem in die Tiefe tauchenden Einmann-Unterseeboot oder dergleichen befindet. Aus dem Verhalten eines solchen Menschen spricht eine Lebensangst und eine tiefe Faszination durch den Tod (den Tod, der in der Phantasie gleichbedeutend ist mit der Rückkehr in den Mutterschoß, zur Mutter Erde). [IV-033]

Die weniger schwere Form der Mutterbindung findet man in jenen Fällen, in denen jemand es sich sozusagen gestattet hat, geboren zu werden, aber dann Angst hat, den nächsten Schritt in diesem Geburtsprozess zu tun und sich der Mutterbrust zu entwöhnen. Menschen, die in diesem Stadium der Geburt steckenbleiben, haben eine tiefe Sehnsucht danach, von einer Mutterfigur bemuttert, umsorgt und beschützt zu werden. Es sind die ewig Abhängigen, die angstvoll und unsicher sind, wenn ihnen der mütterliche Schutz entzogen wird, und die optimistisch und aktiv werden, wenn ihnen eine liebevolle Mutter oder ein Mutterersatz entweder in der Realität oder in der Phantasie zur Verfügung steht.

Diese pathologischen Phänomene im Leben des einzelnen haben ihre Parallele in der Evolution der menschlichen Rasse. Am deutlichsten kommt das in der universalen Verbreitung des Inzesttabus zum Ausdruck, das wir selbst in den primitivsten Gesellschaften finden. Das Inzesttabu ist die notwendige Voraussetzung für jede menschliche Entwicklung, und dies nicht wegen seines sexuellen, sondern wegen seines affektiven Aspekts. Um geboren zu werden, um Fortschritte machen zu können, muss der Mensch die Nabelschnur durchtrennen; er muss sein tiefes Verlangen, an die Mutter gebunden zu bleiben, überwinden. Das inzestuöse Verlangen bezieht seine Macht nicht aus der sexuellen Anziehungskraft der Mutter, sondern aus dem tiefen Verlangen, in dem allumhüllenden Mutterschoß oder an der allnährenden Mutterbrust zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Das Inzesttabu ist nichts anderes als die beiden Cherubim mit dem Flammenschwert, die den Eingang zum Paradies bewachen und den Menschen daran hindern, in seine vorindividuelle Existenz des Einsseins mit der Natur zurückzukehren.

Das Inzestproblem beschränkt sich jedoch nicht auf die Bindung an die Mutter. Die Bindung an sie ist nur die elementarste Form aller natürlichen Blutsbindungen, die dem Menschen das Gefühl des Verwurzeltseins und der Zugehörigkeit geben. Die Blutsbindungen werden auch auf andere Blutsverwandtschaften ausgedehnt, die jeweils dem System entsprechen, in dem solche Beziehungen angeknüpft werden. Die Familie und die Sippe und später der Staat, die Nation oder die Kirche übernehmen die gleiche Funktion, welche die individuelle Mutter ursprünglich für das Kind hatte. Der Einzelne lehnt sich dann an diese Institutionen an, er fühlt sich darin verwurzelt, er identifiziert sich mit ihnen und fühlt sich als Teil von ihnen und nicht als ein von ihnen getrenntes Individuum. Wer nicht zur gleichen Sippe gehört, wird als fremd und gefährlich angesehen als jemand, der nicht die gleichen menschlichen Eigenschaften besitzt, wie sie nur die eigene Sippe hat.

Freud sah in der Mutterbindung das entscheidende Problem in der Entwicklung sowohl der menschlichen Rasse als auch des Individuums. Seinem System entsprechend erklärte er, die Intensität der Bindung an die Mutter komme daher, dass der kleine Junge sich sexuell zu ihr hingezogen fühle. Hierin komme das der menschlichen Natur innewohnende inzestuöse Begehren zum Ausdruck. Er führte die Fortdauer der Mutterbindung im späteren Leben auf die Fortdauer des sexuellen Begehrens zurück. Indem er diese Annahme zu seinen Beobachtungen, dass der Sohn sich gegen den Vater auflehnt, in Beziehung setzte, brachte er seine Annahme und seine Beobachtungen auf höchst geistreiche Art als „Ödipuskomplex“ miteinander in Einklang. Die [IV-034] Feindschaft des Sohnes gegen den Vater erklärte er als Folge seiner sexuellen Rivalität zu ihm.[11]

Aber während Freud die ungeheure Bedeutung der Bindung an die Mutter richtig erkannte, schwächte er seine Entdeckung durch die eigentümliche Interpretation, die er ihr gab, ab. Er projizierte in den kleinen Jungen das sexuelle Empfinden des erwachsenen Mannes. Da der kleine Junge, wie Freud erkannte, sexuelle Wünsche hat, soll er sich seiner Meinung nach von der Frau, die ihm am nächsten steht, sexuell angezogen fühlen und sich nur durch die überlegene Macht seines Rivalen in diesem Dreiecksverhältnis gezwungen sehen, seine Wünsche aufzugeben, ohne sich jedoch jemals ganz von dieser Versagung zu erholen. Freuds Theorie ist eine merkwürdig rationalistische Interpretation beobachtbarer Tatsachen. Dadurch, dass er den Nachdruck auf den sexuellen Aspekt des inzestuösen Begehrens legt, erklärt Freud das Begehren des kleinen Jungen als etwas an sich Vernünftiges, wodurch ihm das wahre Problem entgeht: die Tiefe und Intensität der irrationalen, affektiven Bindung an die Mutter, der Wunsch, in ihren Bereich zurückzukehren, ein Teil von ihr zu bleiben, die Angst, sich ganz von ihr zu lösen. Nach Freuds Erklärung kann der inzestuöse Wunsch durch die Gegenwart des Vater-Rivalen nicht erfüllt werden. In Wirklichkeit steht dieser inzestuöse Wunsch im Gegensatz zu allen Erfordernissen des Lebens des Erwachsenen.

So ist die Theorie des Ödipuskomplexes zugleich die Anerkennung und die Verleugnung des entscheidenden Phänomens: der Sehnsucht des Mannes nach der Liebe der Mutter. Indem er dem inzestuösen Verlangen eine überragende Bedeutung zuerkennt, anerkennt Freud die Wichtigkeit der Bindung an die Mutter; dadurch dass er sie als sexuell bezeichnet, verleugnet er ihre wahre, nämlich emotionale Bedeutung.

Wenn die Bindung an die Mutter auch sexueller Art ist, was zweifellos vorkommt, so kommt das daher, dass die affektive Fixierung so stark ist, dass sie auch das sexuelle Begehren mit beeinflusst, nicht aber daher, dass das sexuelle Begehren dieser Fixierung zugrunde liegt. Ganz im Gegenteil ist das sexuelle Begehren bekanntlich hinsichtlich seiner Objekte nicht festgelegt, und im allgemeinen ist es genau die Kraft, die dem Adoleszenten hilft, sich von der Mutter zu trennen, und nicht die, welche ihn an sie bindet. Wo wir aber finden, dass die intensive Mutterbindung die normale Funktion des Sexualtriebs verändert hat, müssen wir zwei Möglichkeiten in Betracht ziehen. Die eine besteht darin, dass das sexuelle Begehren nach der Mutter eine Abwehrmaßnahme gegen den Wunsch ist, in den Mutterschoß zurückzukehren. Dieser Wunsch führt in die Psychose oder zum Tod, während das sexuelle Begehren wenigstens mit dem Leben vereinbar ist. Man rettet sich vor der Angst vor dem bedrohlichen Mutterschoß durch die dem Leben nähere Phantasie, mit dem entsprechenden Organ in die Vagina einzudringen.[12] Die andere in Erwägung zu ziehende Möglichkeit ist, dass die Phantasie vom Geschlechtsverkehr mit der Mutter nicht die Qualität der Sexualität des erwachsenen Mannes besitzt, dass sie keine freiwillige, lustbetonte Aktivität ist, sondern dass es sich - selbst in der Sexualsphäre - um ein passives [IV-035] Erobert- und In-Besitz-Genommen-Werden durch die Mutter handelt. Neben diesen beiden Möglichkeiten, die auf eine ziemlich schwere Erkrankung hinweisen, gibt es auch Beispiele von inzestuösen sexuellen Wünschen, die von einer verführerischen Mutter animiert werden und die zwar auch eine Mutterbindung erkennen lassen, aber auf eine weniger schwere Erkrankung hinweisen.

Dass Freud selbst seine große Entdeckung so entstellt hat, könnte auf ein ungelöstes Problem in seiner Beziehung zur eigenen Mutter zurückzuführen sein, ist aber ganz sicher weitgehend von seiner streng patriarchalischen Einstellung beeinflusst, die für Freuds Epoche so kennzeichnend war und die er so vollkommen teilte. Die Mutter wurde als höchstes Liebesobjekt entthront, und an ihre Stelle trat der Vater, von dem man annahm, dass er im Gefühlsleben des Kindes die größte Rolle spielte. Es klingt heute, in einer Zeit, in der die patriarchalische Auffassung so viel von ihrer Überzeugungskraft eingebüßt hat, fast unglaublich, wenn wir bei Freud lesen: „Ein ähnlich starkes Bedürfnis aus der Kindheit wie das nach dem Vaterschutz wüsste ich nicht anzugeben.“ (S. Freud, 1930a, S. 430. - Hervorhebung E. F.) Ähnlich schrieb er 1908 über den Tod seines Vaters, der Tod des Vaters sei „das wichtigste Ereignis und der einschneidendste Verlust im Leben eines Menschen“. (Zit. nach E. Jones, 1957, Band 1, S. 324.) Damit räumt Freud dem Vater den Platz ein, der in Wirklichkeit der Mutter gebührt, und degradiert die Mutter zu einem Gegenstand sexueller Lust. Die Göttin wird in eine Prostituierte verwandelt, und der Vater wird zur zentralen Figur des Universums erhoben. (Mit dieser Ausschaltung der Mutterfigur tut Freud in der Psychologie das, was Luther in der Religion getan hat. Freud ist gleichsam der protestantische Psychologe.)

Eine Generation vor Freud lebte ein anderer genialer Forscher, der die zentrale Bedeutung der Mutterbindung in der Entwicklung des Menschen erkannte: Johann Jakob Bachofen (1954). Da Bachofen nicht durch die rationalistische sexuelle Interpretation der Mutterbindung eingeengt war, konnte er die Tatsachen tiefer und objektiver sehen. In seiner Theorie von der matriarchalischen Gesellschaft nimmt er an, dass die Menschheit vor dem Patriarchat ein Stadium durchmachte, in dem die Bindung an die Mutter und an Blut und Boden sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft die wichtigste Form der Bezogenheit war. In dieser Form der gesellschaftlichen Organisation war - wie bereits angedeutet - die Mutter in der Familie, im gesellschaftlichen Leben und in der Religion die zentrale Figur. Wenn auch viele von Bachofens historischen Konstruktionen nicht haltbar sind, hat er doch zweifellos eine Form der gesellschaftlichen Organisation und eine psychologische Struktur entdeckt, die von den Psychologen und Anthropologen deshalb nicht erkannt worden war, weil von ihrem patriarchalischen Standpunkt aus die Idee von einer von Frauen und nicht von Männern regierten Gesellschaft einfach absurd erschien. Trotzdem spricht vieles dafür, dass Griechenland und Indien vor der Invasion aus dem Norden Kulturen von matriarchalischer Struktur besaßen. Die große Zahl und die Bedeutung von Muttergottheiten weist in die gleiche Richtung. (Die Venus von Willendorf, die Muttergottheit zu Mohendscho Daro, Isis, Ischtar, Rhea, Kybele, Hathor, die Schlangengöttin zu Nippur, die Wassergöttin Ai der Akkader, Demeter und die indische Göttin Kali, die Spenderin und Zerstörerin des Lebens - das sind nur einige [IV-036] Beispiele.) Selbst in vielen zeitgenössischen primitiven Gesellschaften können wir noch Überreste der matriarchalischen Struktur in matrilinearen Formen der Blutsverwandtschaft oder in matrilokalen Formen der Ehe finden. Noch bedeutsamer ist, dass selbst dort, wo die gesellschaftlichen Formen nicht mehr matriarchalisch sind, noch viele Beispiele einer matriarchalischen Bezogenheit zu Mutter, Blut und Boden anzutreffen sind.

Während Freud in der inzestuösen Fixierung nur ein negatives, krankhaftes Element sah, erkannte Bachofen deutlich sowohl den negativen wie auch den positiven Aspekt der Bindung an die Mutterfigur. Der positive Aspekt ist ein Gefühl der Lebensbejahung, der Freiheit und Gleichheit, das die gesamte matriarchalische Struktur kennzeichnet. Insofern die Menschen Kinder der Natur und Kinder von Müttern sind, sind sie alle gleich, haben sie die gleichen Rechte und Ansprüche, und der einzige Wert, auf den es ankommt, ist das Leben. Anders ausgedrückt, die Mutter liebt ihre Kinder nicht deshalb, weil das eine besser ist als das andere, nicht weil das eine ihre Erwartungen mehr erfüllt als das andere, sondern weil sie alle ihre Kinder sind und weil sie sich in dieser Eigenschaft alle gleich sind und das gleiche Anrecht auf ihre Liebe und Fürsorge haben. Bachofen hat auch den negativen Aspekt der matriarchalischen Struktur klar erkannt: Dadurch dass der Mensch an die Natur, an Blut und Boden gebunden ist, ist die Entwicklung seiner Individualität und seiner Vernunft blockiert. Er bleibt ein Kind und ist zu keinem Fortschritt fähig.[13]

Bachofen hat auch die Rolle des Vaters ausführlich und tiefschürfend interpretiert und auch hier sowohl auf die positive wie auf die negative Seite der Funktion des Vaters hingewiesen. Mit einer leichten Umschreibung und Erweiterung von Bachofens Ideen möchte ich sagen, dass der Mann, der von Natur aus nicht imstande ist, Kinder zu erzeugen (natürlich spreche ich hier vom Erlebnis der Schwangerschaft und Geburt und nicht von der Tatsache, dass der männliche Same für die Zeugung des Kindes notwendig ist), und da er nicht die Aufgabe hat, sie aufzuziehen und zu versorgen, steht er der Natur ferner als die Frau. Da er in der Natur weniger verwurzelt ist, sieht er sich gezwungen, seine Vernunft zu entwickeln und eine vom Mann geschaffene Welt der Ideen, der Prinzipien und all der vom Mann geschaffenen Dinge aufzubauen, welche die Natur als den Urgrund der Existenz und Sicherheit ersetzen. Die Beziehung des Kindes zum Vater ist nicht von der gleichen Intensität wie die zur Mutter, weil der Vater nie die all-umhüllende, all-beschützende, all-liebende Rolle spielt, welche die Mutter in den ersten Jahren des Lebens ihres Kindes spielt. Ganz im Gegenteil beruht in allen patriarchalischen Gesellschaften die Beziehung des Sohnes zum Vater einerseits auf Unterwerfung, aber andererseits auf Rebellion, was an sich ein ständiges Element der Auflösung enthält. Die Unterwerfung unter den Vater ist [IV-037] etwas anderes als die Bindung an die Mutter. Letztere stellt eine Fortsetzung der natürlichen Bindung, die Fixierung an die Natur dar. Erstere ist vom Mann geschaffen und künstlich und basiert auf Macht und Gesetz, weshalb sie weniger zwingend und mächtig ist als die Bindung an die Mutter. Während die Mutter die Natur und die bedingungslose Liebe repräsentiert, repräsentiert der Vater die Abstraktion, das Gewissen, die Pflicht, das Gesetz und die Hierarchie. Die Liebe des Vaters zu seinem Sohn ist nicht dasselbe wie die bedingungslose Liebe der Mutter zu ihren Kindern, weil sie nun einmal ihre Kinder sind, sondern es handelt sich um die Liebe zu dem Sohn, der ihm der liebste ist, weil er seinen Erwartungen am meisten entspricht und die besten Anlagen dazu hat, das Erbe des Besitzes und der weltlichen Aufgaben des Vaters anzutreten.

Hieraus ergibt sich ein wichtiger Unterschied zwischen der mütterlichen und der väterlichen Liebe. In der Beziehung des Kindes zu seiner Mutter gibt es nur wenig, was es von sich aus regulieren und beeinflussen könnte. Die mütterliche Liebe ist wie ein Akt der Gnade; ist sie vorhanden, so ist sie ein Segen - ist sie nicht vorhanden, kann man sie nicht erzeugen. Dies ist auch der Grund, weshalb die Menschen, welche von der Mutterbindung nicht losgekommen sind, oft auf neurotische, magische Weise sich mütterliche Liebe zu verschaffen suchen, indem sie sich selbst hilflos und krank machen oder emotional auf die Stufe eines Kindes regredieren. Die magische Idee lautet: Wenn ich mich in ein hilfloses Kind verwandle, muss meine Mutter wieder auftauchen und für mich sorgen. Die Beziehung zum Vater dagegen kann man beeinflussen. Er möchte, dass sein Sohn heranwächst, um die Verantwortung zu übernehmen, zu denken und etwas aufzubauen, und/oder er soll dem Vater gehorchen, ihm dienen und so sein wie er. Ob die Erwartungen des Vaters sich mehr auf die Entwicklung seines Sohnes oder auf dessen Gehorsam richten, stets hat dieser eine Chance, sich die Liebe des Vaters zu erwerben und sich die Zuneigung des Vaters dadurch zu gewinnen, dass er tut, was dieser von ihm will. Um es noch einmal zusammenzufassen: Die positiven Aspekte des patriarchalischen Komplexes sind Vernunft, Disziplin, Gewissen und Individualismus; die negativen Aspekte sind Hierarchie, Unterdrückung, Ungleichheit und Unterwerfung.[14]

Der enge Zusammenhang zwischen der Vater- und Mutterfigur und moralischen Grundsätzen ist besonders bemerkenswert. In seinem Begriff des Über-Ichs setzt Freud nur die Vaterfigur in Beziehung zur Entwicklung des Gewissens. Er nimmt an, dass der kleine Junge, erschreckt durch die ihm vom rivalisierenden Vater drohende Kastration, sich den männlichen Elternteil - oder vielmehr dessen Gebote und Verbote - in Form des Gewissens internalisiert.[15] Aber es gibt nicht nur ein väterliches, es gibt auch ein mütterliches Gewissen; es gibt eine Stimme, die uns befiehlt, unsere Pflicht zu tun, und es gibt eine Stimme, die uns lieben und verzeihen heißt - anderen wie auch uns selbst. Es trifft zwar zu, dass beide Arten des Gewissens ursprünglich [IV-038] von der Vater- und der Mutterfigur beeinflusst waren, doch wird das Gewissen im Reifungsprozess immer unabhängiger von dieser ursprünglichen Vater- und Mutterfigur. Wir werden gleichsam unser eigener Vater und unsere eigene Mutter, und wir werden auch unser eigenes Kind. Der Vater in uns sagt zu uns: „Das solltest du tun“ und „Das solltest du nicht tun.“ Er tadelt uns, wenn wir uns falsch verhalten haben, und wenn wir uns richtig verhalten haben, lobt er uns. Aber während der Vater in uns sich auf diese Weise äußert, spricht die Mutter in uns eine ganz andere Sprache. Es ist, als ob sie sagte: „Dein Vater hat ganz recht, wenn er dich tadelt, aber nimm ihn nicht allzu ernst; was du auch immer getan haben magst, du bist mein Kind. Ich liebe dich, und ich verzeihe dir. Nichts, was du getan hast, kann dich um deinen Anspruch auf Leben und Glück bringen.“ Die Stimmen von Vater und Mutter sprechen eine verschiedene Sprache; ihre Äußerungen scheinen sich sogar zu widersprechen. Aber der Widerspruch zwischen dem Prinzip der Pflicht und dem Prinzip der Liebe, zwischen dem väterlichen und dem mütterlichen Gewissen, ist ein mit der menschlichen Existenz gegebener Widerspruch, und wir müssen seine beiden Seiten akzeptieren. Das nur den Befehlen der Pflicht folgende Gewissen ist genauso entstellt wie das, welches nur den Geboten der Liebe folgt. Die innere Vaterstimme und die innere Mutterstimme äußern sich nicht nur bezüglich der Einstellung des Menschen zu sich selbst, sondern auch bezüglich seiner Einstellung zu den Mitmenschen. Der Mensch kann seinen Mitmenschen entsprechend seinem väterlichen Gewissen beurteilen, aber er sollte gleichzeitig auch auf die Stimme der Mutter in seinem Inneren hören, die allen Mitgeschöpfen, allem Lebendigen liebevoll begegnet und die alle Fehltritte verzeiht.[16]

Bevor ich nun mit der Erörterung der Grundbedürfnisse des Menschen fortfahre, möchte ich noch kurz auf die verschiedenen Phasen der Verwurzelung eingehen, wie man sie in der Geschichte der Menschheit beobachten kann, wenn auch der Hauptgedankengang dieses Kapitels dadurch eine Unterbrechung erfährt.

Genau wie das Kind in der Mutter verwurzelt ist, ist der Mensch in seiner historischen Kindheit (die zeitlich den weitaus größten Teil seiner Geschichte ausmacht) in der Natur verwurzelt. Wenn er auch aus der Natur herausgetreten ist, bleibt doch die Welt der Natur seine Heimat, in ihr ist er noch immer verwurzelt. Er sucht durch Regression und durch Identifizierung mit der Natur, mit der Welt der Pflanzen und Tiere Sicherheit zu erlangen. Dieser Versuch, sich auch weiterhin an die Natur zu klammern, ist in vielen Mythen und religiösen Ritualen deutlich zu erkennen. Wenn der Mensch Bäume und Tiere als seine Idole anbetet, so verehrt er Teilerscheinungen der Natur. Es sind die mächtigen schützenden Kräfte, deren Verehrung die Verehrung [IV-039] der Natur selbst bedeutet. Tritt der Einzelne mit ihnen in Beziehung, so fühlt er sich mit der Natur identisch und zugehörig zu ihr, ist er ein Teil der Natur. Das gleiche gilt für seine Beziehung zum Boden, auf dem er lebt. Das Einigende in einem Stamm ist oft nicht nur das gemeinsame Blut, sondern auch der gemeinsame Boden, und erst diese Kombination von Blut und Boden macht den Stamm zur wahren Heimat und zum Orientierungsrahmen für jedes einzelne Mitglied.

In dieser Phase der menschlichen Entwicklung fühlt sich der Mensch noch immer als Teil der Welt der Natur, der Welt der Tiere und Pflanzen. Erst wenn er den entscheidenden Schritt getan hat, ganz aus der Natur herauszutreten, versucht er eine definitive Demarkationslinie zwischen sich und der Tierwelt zu ziehen. Dies veranschaulicht zum Beispiel der Glaube der Winnebago-Indianer, dass die Geschöpfe zu Anfang noch keine dauernde Gestalt hatten. Sie waren alle so etwas wie ein neutrales Wesen, das sich entweder in einen Menschen oder in ein Tier verwandeln konnte. In einer bestimmten Periode entschieden sie sich, sich endgültig zu einem Tier oder einem Menschen zu entwickeln. Seit dieser Zeit sind die Tiere Tiere und die Menschen Menschen geblieben (vgl. P. Radin, 1953, S. 30). Die gleiche Idee drückt sich in dem Glauben der Azteken aus, dass die Welt vor der Ära, in der wir jetzt leben, nur von Tieren bevölkert war, bis dann mit Quetzalcoatl das Zeitalter der menschlichen Wesen anbrach. Das gleiche Gefühl kommt auch in dem Glauben zum Ausdruck, den man noch heute bei einigen mexikanischen Indianern findet, dass ein bestimmtes Tier einer bestimmten Person entspricht, oder auch im Glauben der Maori, dass ein bestimmter (bei der Geburt eines Menschen gepflanzter) Baum diesem einen Menschen entspricht. Es kommt auch in vielen Ritualen zum Ausdruck, in denen sich der Mensch mit einem Tier identifiziert, indem er sich als solches verkleidet oder indem er sich ein Tier-Totem wählt.

Diese passive Beziehung zur Natur entspricht der jeweiligen wirtschaftlichen Tätigkeit des Menschen. Er begann als Sammler und Jäger, und hätte er nicht primitive Werkzeuge besessen und Feuer machen können, so könnte man von ihm wohl sagen, dass er sich kaum vom Tier unterschieden hätte. Im Verlauf seiner Geschichte nahmen dann seine Fertigkeiten zu, und seine Beziehung zur Natur verwandelte sich aus einer passiven in eine aktive: Er zähmte sich Haustiere, lernte das Land bebauen und erwarb sich eine immer größere Geschicklichkeit in Kunst und Handwerk. Er tauschte seine Erzeugnisse gegen solche fremder Länder aus und wurde so zum Reisenden und Handelsmann.

Entsprechend verwandelten sich auch seine Götter. Solange sich der Mensch noch weitgehend mit der Natur identifizierte, waren auch seine Götter Teil der Natur. Als er dann eine größere handwerkliche Geschicklichkeit erlangte, bildete er sich Götzenbilder aus Stein oder aus Holz oder Gold. Nachdem er sich noch weiter entwickelte und sich ein stärkeres Gefühl der eigenen Kraft erworben hatte, verlieh er seinen Göttern menschliche Gestalt. Zuerst - und dies entsprach offenbar der Stufe des Ackerbauern - erschien ihm die Gottheit in Gestalt der all-schützenden und all-nährenden „Großen Mutter“. Schließlich begann er Vatergottheiten zu verehren, welche Vernunft, Prinzipien und Gesetze repräsentierten. Diese letzte und entscheidende Abwendung von der Verwurzelung in der Natur und von der Abhängigkeit von einer [IV-040] liebenden Mutter dürfte mit dem Aufkommen der großen rationalen und patriarchalischen Religionen begonnen haben - in Ägypten mit der religiösen Revolution des Echnaton im Vierzehnten Jahrhundert v. Chr., in Palästina etwa zur gleichen Zeit mit der Entwicklung der Mosaischen Religion, in Indien und Griechenland bald danach mit dem Einbruch der Eroberer aus dem Norden. Viele neue Rituale verliehen dieser neuen Idee Ausdruck. Im Tieropfer wurde das Tier im Menschen Gott zum Opfer gebracht. Im biblischen Tabu, das den Genuss des Blutes eines Tieres verbot (weil „das Blut sein Leben ist“), wird zwischen Mensch und Tier eine scharfe Trennungslinie gezogen. In der Vorstellung eines Gottes, der das einigende Prinzip allen Lebens repräsentiert, der unsichtbar und unendlich ist, hat man den Gegenpol zur endlichen, mannigfaltigen Welt der Natur, zur Welt der Dinge errichtet. Der als Ebenbild Gottes geschaffene Mensch hat an dessen Eigenschaften teil; er tritt aus der Natur heraus und strebt danach, ganz geboren zu werden und vollständig zu erwachen.[17] Dieser Prozess erreichte um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. in China mit Konfuzius und Lao-tse eine neue Phase; in Indien geschah es mit Buddha, in Griechenland mit den Philosophen der griechischen Aufklärung und in Palästina mit den biblischen Propheten. Dann wurde mit dem Christentum und der Stoa im Römischen Imperium, mit Quetzalcoatl in Mexiko[18] und noch ein halbes Jahrtausend später mit Mohammed in Afrika ein neuer Höhepunkt erreicht.

Unsere westliche Kultur baut sich auf zwei Fundamenten auf: auf der jüdischen und der griechischen Kultur. Was die jüdische Tradition betrifft, deren Fundamente im Alten Testament gelegt wurden, so spiegelt sie eine relativ reine Form einer patriarchalischen Kultur, die sich auf die Macht des Vaters in der Familie, auf die des Priesters und des Königs in der Gesellschaft und auf die des väterlichen Gottes im Himmel aufbaut. Trotz dieses extremen Patriarchalismus kann man immer noch die alten matriarchalischen Elemente erkennen, wie sie in den erd- und naturgebundenen (tellurischen) Religionen vorhanden waren, die während des zweiten Jahrtausends v. Chr. von den rationalen, patriarchalischen Religionen verdrängt wurden.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte finden wir den Menschen noch in einer urtümlichen Einheit mit dem Boden. Noch braucht er nicht zu arbeiten, noch besitzt er kein Bewusstsein seiner selbst. Die Frau ist die klügere, aktivere und mutigere von beiden, und erst nach dem „Sündenfall“ verkündet der patriarchalische Gott den Grundsatz, dass der Mann über die Frau herrschen solle. Das gesamte Alte Testament ist die Entfaltung des patriarchalischen Prinzips durch die Errichtung eines hierarchischen theokratischen Staates und durch eine strenge patriarchalische Familienorganisation. In der Familienstruktur, wie sie im Alten Testament beschrieben wird, finden wir stets die Gestalt des Lieblingssohnes: Abel im Gegensatz zu Kain, Jakob im Gegensatz zu Esau, Joseph im Gegensatz zu seinen Brüdern, und in einem weiteren [IV-041] Sinn ist auch das Volk Israel der Lieblingssohn Gottes. Anstelle der Ebenbürtigkeit aller Kinder in den Augen ihrer Mutter finden wir hier den Lieblingssohn, der dem Vater am ähnlichsten ist und den dieser als seinen Nachfolger und Erben seines Besitzes am meisten liebt. Im Kampf um die Stellung des Lieblingssohnes und damit um das Erbe werden die Brüder zu Feinden, die Ebenbürtigkeit macht der Hierarchie Platz.

Das Alte Testament gebietet nicht nur ein strenges Inzest-Tabu, es verbietet auch die Bindung an den Boden. Nach der Schilderung der Bibel beginnt die Menschheitsgeschichte mit der Austreibung des Menschen aus dem Paradies, von dem Boden, in dem er verwurzelt war und mit dem er sich eins gefühlt hatte. Die jüdische Geschichte beginnt mit der Beschreibung, wie Abraham das Gebot erhält, das Land, in dem er geboren wurde, zu verlassen: „Zieh weg aus deinem Land, aus deiner Heimat und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (Gen 12,1.) Von Palästina wandert der Stamm nach Ägypten; von dort kehrt er wieder nach Palästina zurück. Aber auch die neue Sesshaftwerdung ist noch nicht die endgültige. Die Lehren der Propheten richten sich gegen die neue inzestuöse Bindung an Boden und Natur, wie sie sich im kanaanitischen Götzendienst zeigt. Sie verkünden, dass ein Volk, das von den Grundsätzen der Vernunft und Gerechtigkeit zu der inzestuösen Bindung an den Boden regrediert sei, von diesem Boden vertrieben werde und heimatlos und ohne eigene Scholle in der Welt umherwandern müsse, bis es die Grundsätze der Vernunft voll entwickelt und die inzestuöse Bindung an Boden und Natur überwunden habe. Erst dann werde das Volk in seine Heimat zurückkehren können, erst dann werde der Heimatboden ein Segen sein, eine menschliche Heimat, die frei sein werde vom Fluch des Inzests. Die Vorstellung von der Messianischen Zeit bedeutet den vollständigen Sieg über alle inzestuösen Bindungen und die endgültige Errichtung eines geistigen Reichs des moralischen und intellektuellen Gewissens, nicht nur unter den Juden, sondern unter allen Völkern der Erde. Die Krönung und das Zentrum der patriarchalischen Entwicklung des Alten Testaments ist natürlich die Gottesvorstellung. Dieser Gott repräsentiert das einigende Prinzip hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. Der Mensch wird als Ebenbild Gottes geschaffen; daher sind alle Menschen gleich - gleich in Bezug auf ihre gemeinsamen geistigen Eigenschaften, ihre Vernunft und ihre Fähigkeit zur Nächstenliebe.

Das frühe Christentum stellt eine Weiterentwicklung dieses Geistes dar, nicht so sehr, weil es den Nachdruck auf die Idee der Liebe legt, die wir in vielen Teilen des Alten Testaments bereits vorfinden, sondern weil es den übernationalen Charakter der Religion hervorhebt. So wie die Propheten die Existenzberechtigung ihres eigenen Staates in Frage stellten, weil er den Gewissensforderungen nicht entsprach, so stellten die frühen Christen die moralische Existenzberechtigung des Römischen Reiches in Frage, weil es die Prinzipien der Liebe und Gerechtigkeit verletzte.

Die jüdisch-christliche Tradition betonte den moralischen Aspekt des patriarchalischen Geistes. Das griechische Denken dagegen fand seinen schöpferischen Ausdruck in dessen intellektuellem Aspekt. In Griechenland wie in Palästina finden wir eine patriarchalische Welt, die in gesellschaftlicher wie auch in religiöser Hinsicht siegreich aus einer früheren matriarchalischen Struktur hervorgegangen war. [IV-042] Genauso wie Eva nicht von einer Frau geboren, sondern aus Adams Rippe gemacht wurde, so war auch Athene nicht das Kind einer Frau, sondern dem Haupte des Zeus entsprungen. Wie Bachofen gezeigt hat, sind Überreste einer älteren matriarchalischen Welt noch in den Gestalten der Göttinnen zu finden, die der patriarchalischen Götterwelt des Olymp untergeordnet sind. Die Griechen legten das Fundament für die intellektuelle Entwicklung der westlichen Welt. Sie legten die „ersten Prinzipien“ des wissenschaftlichen Denkens fest, sie waren die ersten, die eine „Theorie“ als Grundlage der Naturwissenschaft aufbauten und die eine systematische Philosophie entwickelten, wie sie noch in keiner Kultur zuvor existiert hatte. Sie schufen eine Theorie des Staates und der Gesellschaft, die sich auf ihre Erfahrungen in der griechischen Polis gründete und die in Rom auf der gesellschaftlichen Grundlage eines riesigen geeinten Imperiums weiterentwickelt wurde.

Da das Römische Reich zu einer weiter voranschreitenden gesellschaftlichen und politischen Entfaltung nicht fähig war, kam die Entwicklung etwa im Vierten Jahrhundert n. Chr. zum Stillstand, jedoch erst nachdem eine neue mächtige Institution, die Katholische Kirche, aufgebaut worden war. War das frühe Christentum noch eine geistig revolutionäre Bewegung der Armen und Enterbten, die dem bestehenden Staat die moralische Existenzberechtigung absprachen, der Glaube einer Minderheit, die Verfolgung und Tod als Zeugen Gottes auf sich nahm, so wurde nun in unglaublich kurzer Zeit daraus die offizielle Religion des Römischen Staates. Während die gesellschaftliche Struktur des Römischen Reiches langsam zu einer Feudalordnung erstarrte, die in Europa noch tausend Jahre weiterleben sollte, begann sich auch die gesellschaftliche Struktur der katholischen Religion zu wandeln. Die prophetische Haltung, welche die Menschen ermutigt hatte, die weltliche Macht in Frage zu stellen und zu kritisieren, wenn sie die Grundsätze der Liebe und Gerechtigkeit verletzte, verlor an Bedeutung. Die neue Haltung forderte die kritiklose Unterstützung der Macht der Kirche als einer Institution. Psychologisch gewährte man aber den Volksmassen eine derartige Befriedigung, dass sie ihre Abhängigkeit und Armut ergeben hinnahmen und kaum Anstrengungen unternahmen, ihre soziale Lage zu bessern.[19]

Für unseren Gedankengang ist die wichtigste Veränderung die Verschiebung der [IV-043] Betonung, die bisher auf den rein patriarchalischen Elementen lag, auf eine Mischung aus matriarchalischen und patriarchalischen Zügen. Der jüdische Gott des Alten Testaments war ein streng patriarchalischer Gott; im Katholizismus wurde nun die Idee der all-liebenden und all-verzeihenden Mutter wieder eingeführt. Die Katholische Kirche selbst - als all-umfassende Mutter - und die jungfräuliche Muttergottes symbolisieren den mütterlichen Geist der Vergebung und Liebe, während Gottvater das hierarchische Prinzip der Autorität verkörpert, dem sich der Mensch, ohne sich zu beklagen oder sich aufzulehnen, zu unterwerfen hat. Zweifellos war diese Mischung aus väterlichen und mütterlichen Elementen einer der Hauptfaktoren, denen die Kirche ihre große Anziehungskraft und ihren starken Einfluss auf die Menschen verdankte. Die von den patriarchalischen Autoritäten unterdrückten Massen konnten sich an die liebende Mutter wenden, die sie tröstete und für sie eintrat.

Die historische Funktion der Kirche bestand keineswegs nur darin, eine feudale Gesellschaftsordnung aufbauen zu helfen. Ihre wichtigste Leistung, an der die Araber und Juden stark beteiligt waren, war die Übermittlung der wesentlichen Elemente jüdischen und griechischen Denkens an die primitive Kultur Europas. Es ist, als ob die Geschichte des Westens etwa tausend Jahre lang stillgestanden hätte, um zu warten, bis Nordeuropa zu Beginn des frühen Mittelalters den gleichen Entwicklungsstand erreicht hatte wie die Mittelmeerwelt. Als das geistige Erbe von Athen und Jerusalem den Völkern Nordeuropas zugänglich gemacht war und sie damit gesättigt waren, begann auch die erstarrte Gesellschaftsstruktur aufzubrechen, und es setzte aufs Neue eine explosive gesellschaftliche und geistige Entwicklung ein.

Die katholische Theologie des Dreizehnten und Vierzehnten Jahrhunderts, die Ideen der italienischen Renaissance, die Entdeckung des Individuums und der Natur, die Ideen des Humanismus, der Naturrechtsgedanke und die Reformation sind die Grundlagen der neuen Entwicklung. Die bedeutendste und nachhaltigste Wirkung auf die Entwicklung in Europa und der ganzen Welt hatte allerdings die Reformation. Protestantismus und Calvinismus kehrten zu dem rein patriarchalischen Geist des Alten Testaments zurück und entfernten das mütterliche Element aus ihren religiösen Vorstellungen. Der Mensch war nicht mehr von der mütterlichen Liebe der Kirche und der Jungfrau umfangen. Er fand sich allein einem ernsten, strengen Gott gegenübergestellt, dessen Gnade er nur durch einen Akt vollkommener Unterwerfung erringen konnte. Die Fürsten und der Staat wurden allmächtig, und ihre Macht war von Gott sanktioniert. Die Befreiung aus der feudalen Knechtschaft führte zu einem verstärkten Gefühl der Isolation und Machtlosigkeit, während sich gleichzeitig der positive Aspekt des väterlichen Prinzips im Wiederaufleben des rationalen Denkens und des Individualismus geltend machte. (Vgl. hierzu die gründliche und bestechende Analyse von M. N. Roy, 1952.)

Die Neubelebung des patriarchalischen Geistes seit dem Sechszehnten Jahrhundert besonders in den protestantischen Ländern weist sowohl den positiven wie auch den negativen Aspekt des Patriarchats auf. Der negative Aspekt manifestierte sich in einer neuerlichen Unterwerfung unter den Staat und die weltliche Macht, und in der ständig wachsenden Bedeutung der von den Menschen geschaffenen Gesetze und der weltlichen Hierarchien. Der positive Aspekt kam im Geist wachsender Rationalität und [IV-044] Objektivität und in der zunehmenden Ausprägung des individuellen und sozialen Gewissens zum Ausdruck. Die Blüte der Naturwissenschaft in unseren Tagen ist eine der eindrucksvollsten Manifestationen des rationalen Denkens, die die menschliche Rasse je zustande gebracht hat. Aber der matriarchalische Komplex ist sowohl in seinem positiven wie auch in seinem negativen Aspekt keineswegs von der westlichen Szene verschwunden. Sein positiver Aspekt, die Idee von der Gleichheit aller Menschen, von der Heiligkeit des Lebens und vom Recht aller auf ihren Anteil an den Früchten der Natur fand seinen Ausdruck in den Ideen des Naturrechts, des Humanismus, der Aufklärungsphilosophie und in den Zielsetzungen des demokratischen Sozialismus. Allen diesen Ideen gemeinsam ist die Vorstellung, dass alle Menschen Kinder der Mutter Erde sind und ein Recht darauf haben, von ihr ernährt zu werden und glücklich zu sein, ohne zuvor dieses Recht durch Leistungen von bestimmtem Rang nachweisen zu müssen. Die Bruderschaft aller Menschen impliziert, dass sie alle die Söhne derselben Mutter sind und dass sie ein unveräußerliches Recht auf Liebe und Glück haben. Aus dieser Vorstellung ist die inzestuöse Bindung an die Mutter ausgemerzt. Durch seine Beherrschung der Natur, wie sie in der industriellen Produktion zum Ausdruck kommt, befreit sich der Mensch von seiner Bindung an Blut und Boden, er humanisiert die Natur und naturalisiert sich selbst.

Aber neben der Entwicklung der positiven Aspekte des matriarchalischen Komplexes besteht in der europäischen Entwicklung auch der negative Aspekt - die Regression auf die Bindung an Blut und Boden - weiter und verstärkt sich sogar noch. Der von den Bindungen des mittelalterlichen Gemeinschaftslebens befreite Mensch fürchtete sich vor der neuen Freiheit, die ihn in ein isoliertes Atom verwandelte, und flüchtete sich in einen neuen Götzendienst an Blut und Boden, zu dessen augenfälligsten Ausdrucksformen Nationalismus und Rassismus gehören. Hand in Hand mit der fortschrittlichen Entwicklung, die eine Mischung des positiven Aspekts sowohl des patriarchalischen wie auch des matriarchalischen Geistes ist, ging die Entwicklung der negativen Aspekte beider Prinzipien: die Verehrung des Staates, die mit der Vergötzung von Rasse oder Nation verquickt wurde. Faschismus, Nazismus und Stalinismus sind die drastischsten Erscheinungen dieser Mischung aus Staats- und Klanverehrung, wobei beide Prinzipien in der Figur eines „Führers“ verkörpert sind.

Aber die neuen totalitären Systeme sind keineswegs die einzigen Manifestationen der inzestuösen Bindungen unserer Zeit. Der Zusammenbruch der übernationalen Welt der mittelalterlichen Katholischen Kirche hätte zu einer höheren Form des „Katholizismus“ führen können, zu einem humanen Universalismus, der die Sippen- und Klan-Verehrung überwunden hätte, wenn die Entwicklung so weitergegangen wäre, wie es die Absicht der geistigen Führer des humanistischen Denkens seit der Renaissance war. Aber wenn auch Wissenschaft und Technik die Vorbedingungen für eine solche Entwicklung schufen, fiel die westliche Welt in neue Formen der Klan-Verehrung zurück, eben in jene Orientierung, welche die Propheten des Alten Testaments und die frühen Christen auszurotten versucht hatten. Der Nationalismus, der ursprünglich eine progressive Bewegung gewesen war, trat mit seinen Bindungen an die Stelle des Feudalismus und des Absolutismus. Der Durchschnittsmensch von heute erhält sein Identitätsgefühl aus seiner Zugehörigkeit zu einer Nation und nicht aus [IV-045] dem Gefühl, ein „Menschensohn“ zu sein. Seine Objektivität, das heißt seine Vernunft, wird durch diese Fixierung verfälscht. Er beurteilt den „Fremden“ nach anderen Kriterien als die Mitglieder des eigenen Klans. Auch seine Gefühle dem Fremden gegenüber sind verfälscht. Wer uns nicht durch die Bande von Blut und Boden „vertraut“ ist (wie sie in der gemeinsamen Sprache, in gemeinsamen Sitten, gleicher Ernährungsweise, gemeinsamen Liedern und dergleichen zum Ausdruck kommen), wird voller Argwohn angeschaut, und bei der geringsten Provokation kann es zu paranoiden Wahnvorstellungen kommen. Diese inzestuöse Fixierung vergiftet nicht nur die Beziehung des einzelnen zum Fremden, sondern auch die zu den Mitgliedern des eigenen Klans und zu sich selbst. Wer sich nicht aus den Bindungen an Blut und Boden gelöst hat, ist als menschliches Wesen noch nicht ganz geboren; seine Fähigkeit zur Liebe und Vernunft ist verkrüppelt; er erlebt weder sich selbst noch den Mitmenschen in seiner vollen menschlichen Realität.

Der Nationalismus ist unsere Form des Inzests, unser Götzendienst und unser Irrsinn. Sein Kult ist der „Patriotismus“. Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass ich unter „Patriotismus“ jene Haltung verstehe, die die eigene Nation über die Menschheit stellt, über die Prinzipien von Wahrheit und Gerechtigkeit. Ich meine nicht das liebevolle Interesse am eigenen Volk, das dessen geistiger und materieller Wohlfahrt gilt und das nie nach der Macht über andere Völker strebt. Genauso wie die Liebe zu einem bestimmten Menschen, welche die Liebe zu anderen ausschließt, keine Liebe ist, so ist auch die Liebe zum eigenen Land, die die Liebe zur ganzen Menschheit nicht einschließt, keine Liebe, sondern Götzendienst. (Zum Problem des Nationalismus vgl. R. Rocker, 1937.)

Dass das nationalistische Gefühl den Charakter des Götzendienstes hat, kann man an der Reaktion erkennen, den eine Verletzung von Klan-Symbolen nach sich zieht und die sich wesentlich von der Reaktion auf die Verletzung religiöser oder moralischer Symbole unterscheidet. Stellen wir uns einen Menschen vor, der in einer der Städte unserer westlichen Welt die Flagge seines Landes mit auf die Straße nimmt und vor den Augen anderer darauf herumtrampelt. Er hat Glück, wenn er nicht gelyncht wird. Fast jeder wäre derart empört darüber, dass er kaum noch zu einem objektiven Gedanken fähig wäre. Der Mann, der die Flagge entweihte, hätte etwas Unaussprechliches begangen: Er hätte sich nicht eines Verbrechens unter anderen schuldig gemacht, sondern des Verbrechens, das nicht vergeben und verziehen werden kann. Nicht ganz so drastisch, aber der Art nach gleich wäre die Reaktion auf einen Menschen, der sagte: „Ich liebe mein Vaterland nicht“, oder im Kriegsfall: „Es ist mir gleich, ob mein Land gewinnt oder nicht.“ Eine solche Äußerung ist ein echtes Sakrileg, und wer so etwas sagt, ist im Gefühl seiner Mitmenschen ein Ungeheuer und ein Geächteter.

Um die besondere Qualität der auf diese Weise erregten Gefühle zu verstehen, wollen wir diese Reaktion einmal mit der vergleichen, zu der es käme, wenn einer aufstünde und sagte: „Ich bin dafür, dass man alle Neger oder alle Juden umbringt. Ich bin dafür, dass wir einen Krieg anfangen, um neue Gebiete zu erobern.“ Die meisten würden das zwar unmoralisch und unmenschlich finden. Der springende Punkt ist aber, dass es nicht zu dem besonderen Gefühl einer unkontrollierbaren, tief sitzenden Empörung und Wut käme. Eine solche Einstellung ist zwar „schlecht“, aber sie ist kein [IV-046] Sakrileg, sie stellt keinen Angriff auf „das Heilige“ dar. Selbst wenn jemand sich verächtlich über Gott äußerte, würde er damit kaum das gleiche Gefühl der Empörung hervorrufen, wie wenn er das Verbrechen, das Sakrileg beginge, welches eine Verletzung der Symbole der Nation ist. Es fällt nicht schwer, diese Reaktion auf eine Verletzung der nationalen Symbole verstandesmäßig damit zu erklären, dass ein Mensch, der sein eigenes Land nicht respektiert, damit einen Mangel an menschlicher Solidarität und an sozialem Gefühl bekundet. Aber gilt das nicht auch für den, der für einen Krieg eintritt, oder dafür, dass man unschuldige Menschen umbringt, oder für den, der andere zu seinem eigenen Vorteil ausbeutet? Zweifellos kommt in der Gleichgültigkeit gegen das eigene Land ein Mangel an sozialem Verantwortungsgefühl und an menschlicher Solidarität genauso zum Ausdruck wie in den übrigen in diesem Zusammenhang erwähnten Handlungen, aber die Reaktion auf die Schändung der Flagge unterscheidet sich grundsätzlich von der Reaktion auf die Bekundung eines mangelnden sozialen Verantwortungsgefühls in irgendeiner anderen Beziehung. Die Flagge ist als einziges Symbol „heilig“, sie ist ein Symbol der Klan-Verehrung; die anderen Symbole sind es nicht.

Nachdem es den großen europäischen Revolutionen des Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhunderts nicht gelungen war, die „Freiheit von“ in eine „Freiheit zu“ umzuwandeln, wurden der Nationalismus und die Verehrung des Staates zu den Symptomen einer Regression auf die inzestuöse Fixierung. Erst wenn es dem Menschen gelingt, seine Vernunft und seine Liebe weiter zu entwickeln, als es bisher gelungen ist, erst wenn er eine Welt aufbauen kann, die sich auf menschliche Solidarität und Gerechtigkeit gründet, erst wenn er sich im Erlebnis einer universalen Menschenliebe verwurzelt fühlt, wird er zu einer neuen Form menschlicher Verwurzelung hingefunden haben, wird er seine Welt in eine wahrhaft menschliche Heimat verwandelt haben.

4. Identitätserleben durch Individualität oder Herdenkonformität

Man kann den Menschen als das Lebewesen definieren, das „ich“ sagen kann, das sich seiner selbst als einer eigenständigen Größe bewusst werden kann. Da das Tier innerhalb der Natur steht und sie nicht transzendiert, ist es sich seiner selbst nicht bewusst und hat kein Bedürfnis nach Identitätserleben. Da der Mensch aus der Natur herausgerissen ist, da er mit Vernunft und Vorstellungsvermögen begabt ist, muss er sich eine Vorstellung von sich selber bilden, muss er sagen und fühlen können: „Ich bin ich.“ Weil er nicht gelebt wird, sondern lebt, weil er die ursprüngliche Einheit mit der Natur verloren hat, weil er daher Entscheidungen treffen, sich seiner selbst und seiner Mitmenschen als unterschiedlicher Personen bewusst sein muss, muss er in der Lage sein, sich als das Subjekt seines Handelns zu empfinden. Genau wie sein Bedürfnis nach Bezogenheit, nach Verwurzelung und Transzendenz ist auch dieses Bedürfnis nach Identitätserleben so lebenswichtig und gebieterisch, dass der Mensch nicht gesund bleiben könnte, wenn er nicht irgendeine Möglichkeit fände, es zu befriedigen. Das Identitätsgefühl des Menschen entwickelt sich in dem Prozess, in dem er sich aus den „primären Bindungen“ löst, die ihn an die Mutter und die Natur binden. Das Kind, das sich mit der Mutter noch eins fühlt, kann noch nicht „ich“ sagen [IV-047] und hat auch noch nicht das Bedürfnis danach. Erst wenn es die Außenwelt als etwas Getrenntes und von sich Unterschiedenes begriffen hat, gelangt es auch zu einem Bewusstsein seiner selbst als eines separaten Wesens, und „ich“ ist eines der letzten Worte, die es gebrauchen lernt, wenn es von sich selbst spricht.

In der Entwicklung der menschlichen Rasse hängt der Grad, in dem der Mensch sich seiner selbst als eines gesonderten Wesens bewusst ist, davon ab, bis zu welchem Ausmaß er sich vom Klan gelöst hat und wieweit der Individuationsprozess fortgeschritten ist. Das Mitglied eines primitiven Klans wird sein Identitätsgefühl in der Formel ausdrücken: „Ich bin wir“. Ein solcher Mensch kann sich selbst noch nicht als „Individuum“ begreifen, das außerhalb der Gruppe existiert. In der mittelalterlichen Welt wurde der Einzelne mit seiner gesellschaftlichen Rolle in der feudalen Hierarchie identifiziert. Der Bauer war kein Mensch, der zufällig ein Bauer war, der Feudalherr war nicht ein Mensch, der zufällig ein Feudalherr war. Er war ein Bauer oder ein Feudalherr, und dieses Gefühl seines unveränderlichen Standes war ein wesentlicher Bestandteil seines Identitätserlebens. Als dann das Feudalsystem zusammenbrach, kam es zu einer Erschütterung dieses Identitätsgefühls, und es erhob sich die akute Frage: „Wer bin ich?“ - oder genauer gesagt: „Woher weiß ich, dass ich ich bin?“ Es ist dies die Frage, die sich Descartes in philosophischer Form gestellt hat. Er hat die Frage nach seiner Identität damit beantwortet, dass er sagte: „Ich zweifle - deshalb denke ich, ich denke - deshalb bin ich.“ Die Antwort legt den Nachdruck allein auf die Erfahrung des „Ich“ als dem Subjekt einer jeden Denktätigkeit und sieht nicht, dass man sein „Ich“ auch im Prozess des Fühlens und der schöpferischen Tätigkeit erlebt. Die westliche Kultur entwickelte sich so, dass sie die Grundlage für eine volle Erfahrung der Individualität schuf. Durch die politische und wirtschaftliche Befreiung des Individuums, durch seine Erziehung zu selbständigem Denken und seine Befreiung von jedem autoritären Druck hoffte man jeden Einzelnen in die Lage zu versetzen, sich in dem Sinn als „Ich“ zu fühlen, dass er der Mittelpunkt und das tätige Subjekt seiner Kräfte war und sich auch so fühlte. Aber nur eine Minderheit gelangte zu dieser neuen Erfahrung des „Ich“. Für die meisten war der Individualismus nicht viel mehr als eine Fassade, hinter der man verbarg, dass es einem nicht gelungen war, zu einem individuellen Identitätserleben zu gelangen.

Es wurden mancherlei Ersatzlösungen für ein echtes individuelles Identitätserleben gesucht und auch gefunden. Nation, Religion, Klasse und Beruf dienen als Lieferanten dieses Identitätsgefühls. „Ich bin Amerikaner“, „ich bin Protestant“, „ich bin Geschäftsmann“, das sind die Formeln, die zu einem Identitätsgefühl verhelfen, nachdem die ursprüngliche Klan-Identität verlorenging, und bevor man sich ein echtes individuelles Identitätsgefühl erworben hat. In unserer heutigen Gesellschaft werden diese verschiedenen Identifikationen gewöhnlich gemeinsam verwendet. Es handelt sich dabei in einem weiten Sinn um Statusidentifikationen, und sie sind wirksamer, wenn sie - wie in den europäischen Ländern - mit Überresten aus der Feudalzeit verquickt werden. In den Vereinigten Staaten, wo es nur noch so wenig feudale Überbleibsel gibt und wo eine starke Mobilität herrscht, sind diese Statusidentifikationen natürlich nicht so wirksam, und das Identitätserleben verschiebt sich mehr und mehr in Richtung auf ein Konformitätserleben. [IV-048]

Insofern ich nicht von der Norm abweiche, insofern ich genauso bin wie die anderen und ich von ihnen als „einer wie wir“ anerkannt werde, kann ich mich als „Ich“ fühlen. Ich bin „Einer, Keiner, Hunderttausend“, entsprechend dem Titel, den Pirandello einem seiner Stücke gegeben hat. Anstelle der vor-individualistischen Klan-Identität entwickelt sich eine neue Herden-Identität, in welcher das Identitätserleben auf dem Gefühl beruht, unbezweifelbar zur Herde zu gehören. Dass diese Uniformität und Konformität oft nicht als solche erkannt und durch die Illusion der Individualität verdeckt wird, ändert nichts an den Tatsachen.

Das Problem des Identitätserlebens ist nicht, wie meist angenommen wird, ein rein philosophisches Problem oder ein Problem, das nur unseren Geist und unser Denken betrifft. Das Bedürfnis nach einem gefühlsmäßigen Erleben von Identität entstammt den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst und ist der Ursprung unseres intensivsten Strebens. Da ich ohne ein „Ich-Gefühl“ nicht geistig und seelisch gesund bleiben kann, treibt es mich, alles zu versuchen, um mir dieses Gefühl zu verschaffen. Hinter dem leidenschaftlichen Streben nach Status und Konformität steckt eben dieses Bedürfnis, und es ist manchmal sogar noch stärker als das Bedürfnis nach körperlichem Überleben. Was könnte das deutlicher beweisen, als dass die Menschen bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, ihre Liebe zu opfern, ihre Freiheit aufzugeben, auf eigenes Denken zu verzichten, nur um zur Herde zu gehören, mit ihr konform zu gehen und sich auf diese Weise ein Identitätsgefühl zu erwerben, auch wenn es nur ein illusorisches ist.

5. Suche nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe durch Vernunft oder durch Irrationalität

Die Tatsache, dass der Mensch Vernunft und Vorstellungsvermögen besitzt, führt nicht nur dazu, dass er ein Gefühl seiner eigenen Identität braucht, er muss sich auch geistig und gefühlsmäßig in der Welt orientieren. Man kann dieses Bedürfnis mit dem körperlichen Orientierungsprozess vergleichen, den das Kind in seinen ersten Lebensjahren durchmacht und der abgeschlossen ist, wenn das Kind selbständig laufen, wenn es die Dinge anfassen und mit ihnen umgehen kann und über sie Bescheid weiß. Aber wenn das Kind laufen und sprechen kann, hat es damit erst den ersten Schritt in Richtung auf eine Orientierung getan. Der Mensch findet sich von vielen rätselhaften Erscheinungen umgeben, und da er mit Vernunft begabt ist, muss er sie irgendwie einordnen, muss er sie in einen Zusammenhang bringen, den er begreifen kann und der es ihm ermöglicht, sich in seinen Gedanken damit zu befassen. Je weiter sich seine Vernunft entwickelt, umso angemessener wird sein Orientierungssystem, das heißt umso näher kommt es der Realität. Aber selbst wenn der Orientierungssinn eines Menschen völlig illusorisch ist, so befriedigt er doch sein Bedürfnis, sich ein Bild zu machen, das für ihn einen Sinn hat. Ob er an die Macht eines Totemtiers, an einen Regengott oder an die Überlegenheit und schicksalhafte Bestimmung seiner Rasse glaubt, sein Bedürfnis nach einem Orientierungsrahmen ist damit befriedigt. Natürlich hängt sein Weltbild vom Entwicklungsstand seiner Vernunft und seines Wissens [IV-049] ab. Wenn biologisch auch das Volumen des menschlichen Gehirns seit Tausenden von Generationen gleich geblieben ist, so bedurfte es doch eines langen Evolutionsprozesses, um zur Objektivität zu gelangen, das heißt zur Fähigkeit, die Welt, die Natur, andere Menschen und sich selbst so zu sehen, wie sie sind, und nicht entstellt durch Wünsche und Ängste. Je mehr der Mensch diese Objektivität entwickelt, je mehr er mit der Wirklichkeit in Kontakt kommt, umso reifer wird er, umso besser kann er eine humane Welt schaffen, in der er zu Hause ist. Die Vernunft ist die Fähigkeit des Menschen, die Welt gedanklich zu begreifen, im Gegensatz zur Intelligenz, worunter die Fähigkeit zu verstehen ist, die Welt mit Hilfe des Verstandes zu manipulieren. Die Vernunft ist das Instrument, mit dessen Hilfe der Mensch zur Wahrheit gelangt, die Intelligenz ist das Instrument, das ihm hilft, die Welt erfolgreicher zu manipulieren; erstere ist ihrem Wesen nach menschlich; letztere gehört zum animalischen Teil des Menschen.

Die Vernunft ist eine Fähigkeit, die man üben muss, um sie zu entwickeln, und sie ist unteilbar. Ich möchte damit sagen, dass die Fähigkeit zur Objektivität sich sowohl auf die Kenntnis der Natur, wie auch auf die Kenntnis des Menschen, der Gesellschaft und der eigenen Person bezieht. Wenn wir uns Illusionen in einem bestimmten Lebensbereich machen, so ist hierdurch unsere Fähigkeit zu vernünftigem Denken beschränkt und beeinträchtigt, und wir sind auch auf allen übrigen Gebieten im Gebrauch unserer Vernunft behindert. In dieser Hinsicht ist es mit der Vernunft wie mit der Liebe. Genauso wie die Liebe eine Orientierung ist, die sich auf alle Objekte bezieht und nicht auf ein bestimmtes Objekt beschränkt werden kann, so ist auch die Vernunft eine menschliche Fähigkeit, welche die gesamte Welt umfassen muss, der sich der Mensch gegenübergestellt sieht.

Das Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung besteht auf zwei Ebenen. Das erste und grundlegendere Bedürfnis ist, überhaupt irgendeinen Orientierungsrahmen zu besitzen, gleichgültig, ob er richtig oder falsch ist. Wenn der Mensch keinen solchen subjektiv befriedigenden Orientierungsrahmen besitzt, kann er nicht in seelischer Gesundheit leben. Auf der zweiten Ebene besteht das Bedürfnis, mit Hilfe seiner Vernunft mit der Realität in Kontakt zu kommen, die Welt objektiv zu begreifen.

Aber die Notwendigkeit, seine Vernunft zu entwickeln, ist nicht so unmittelbar gefordert wie die, sich überhaupt einen Rahmen der Orientierung zu verschaffen. Denn hierbei geht es um die seelische Gesundheit überhaupt, während die Entwicklung der Vernunft über Glück und Gelassenheit des Menschen entscheidet. Das erkennen wir deutlich, wenn wir die Funktion der Rationalisierung untersuchen. Wie unvernünftig oder unmoralisch eine Handlungsweise auch immer sein mag, der Mensch hat ein unüberwindliches Bedürfnis, sie zu rationalisieren, das heißt sich selbst und anderen zu beweisen, dass sie von der Vernunft, vom gesunden Menschenverstand oder wenigstens von der herkömmlichen Moral bestimmt war. Es fällt ihm nicht schwer, unvernünftig zu handeln, aber es ist ihm fast unmöglich, seiner Handlungsweise den Anschein einer vernünftigen Motivation zu versagen.

Wäre der Mensch nur ein körperloser Intellekt, so hätte er sein Ziel erreicht, wenn er über ein umfassendes Denksystem verfügte. Aber da er eine Einheit von Körper und Geist ist, muss er auf die Dichotomie seiner Existenz nicht nur denkend, sondern [IV-050] mit seinem gesamten Lebensprozess, mit seinem Fühlen und Handeln reagieren. Daher enthält jedes befriedigende Orientierungssystem nicht nur intellektuelle Elemente, sondern auch solche des Fühlens und der sinnlichen Wahrnehmung, die in der Beziehung zu einem Objekt der Hingabe zum Ausdruck kommen.

Die Antworten auf das Bedürfnis des Menschen nach einem Rahmen der Orientierung und einem Objekt der Hingabe unterscheiden sich weitgehend nach Inhalt und Form. Es gibt primitive Systeme wie den Animismus und den Totemismus, in denen Gegenstände der Natur oder die Ahnen die Antwort auf der Suche nach Sinn sind. Es gibt nicht-theistische Systeme wie den Buddhismus, die man gewöhnlich als Religion bezeichnet, obwohl sie in ihrer ursprünglichen Form keine Gottesvorstellung enthielten. Es gibt rein philosophische Systeme wie die Stoa, und es gibt monotheistische religiöse Systeme, die dem Menschen auf seiner Suche nach Sinn mit der Vorstellung eines Gottes antworten.

Aber wie verschieden diese Antworten in Bezug auf ihren Inhalt auch sein mögen, sie alle entsprechen dem Bedürfnis des Menschen, nicht nur irgendein Denksystem zu besitzen, sondern auch ein Objekt für seine Hingabe zu finden, das seinem Leben und seiner Stellung in der Welt Sinn verleiht. Nur die Analyse der verschiedenen Formen der Religion kann zeigen, welche Antworten die besseren und welche die schlechteren Lösungen für die Suche nach Sinngebung und Hingabe sind - „besser“ oder“ schlechter“ immer im Hinblick auf die Natur und die Entwicklung des Menschen gesehen. (Ausführlich behandelt habe ich das Problem in Psychoanalyse und Religion (1950a, GA VI, S. 241-243; auf das Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe komme ich im achten Kapitel dieses Buches noch einmal zurück.)

4. Seelische Gesundheit und Gesellschaft

Unsere Vorstellung von seelischer Gesundheit hängt von unserer Vorstellung von der Natur des Menschen ab. Im vorigen Kapitel habe ich zu zeigen versucht, dass die Bedürfnisse und Leidenschaften des Menschen aus den besonderen Bedingungen seiner Existenz stammen. Diejenigen Bedürfnisse, die er mit dem Tier gemeinsam hat - Hunger, Durst und das Bedürfnis nach Schlaf und sexueller Befriedigung - sind deshalb wichtig, weil sie im chemischen Haushalt seines Körpers wurzeln und übermächtig werden können, wenn sie unbefriedigt bleiben. (Dies gilt natürlich mehr für das Bedürfnis nach Nahrung und Schlaf als für den Geschlechtstrieb, der auch dann, wenn er nicht befriedigt wird, nie so gebieterisch wird wie die anderen Bedürfnisse, wenigstens nicht aus physiologischen Gründen.) Aber selbst die volle Befriedigung dieser Bedürfnisse gewährleistet noch nicht die geistige und seelische Gesundheit. Diese hängt von der Befriedigung jener Bedürfnisse und Leidenschaften ab, die spezifisch menschlich sind und den Bedingungen der menschlichen Situation entstammen: des Bedürfnisses nach Bezogenheit, nach Transzendenz, nach Verwurzelung, nach Identitätserleben und nach einem Rahmen der Orientierung und einem Objekt der Hingabe.

Die großen Leidenschaften des Menschen, sein Machthunger, seine Eitelkeit, sein Wahrheitsdrang, sein leidenschaftliches Sehnen nach Liebe und Brüderlichkeit, seine Destruktivität wie auch seine Kreativität, jedes mächtige Verlangen, das das Tun des Menschen motiviert, hat diesen spezifisch menschlichen Ursprung und wurzelt nicht - wie Freud annimmt - in den verschiedenen Stadien der Libido.

Psychologisch gesehen ist die Lösung, die der Mensch für seine physiologischen Bedürfnisse gefunden hat, höchst einfach; es gibt hier nur gesellschaftliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Dagegen ist es äußerst kompliziert, eine Lösung für seine menschlichen Bedürfnisse zu finden. Es hängt von vielen Faktoren und nicht zuletzt von der Art ab, wie seine Gesellschaft organisiert ist, und davon, welchen Einfluss diese Organisation auf die menschlichen Beziehungen hat, die in ihr bestehen.

Die psychischen Grundbedürfnisse, die den Besonderheiten der menschlichen Existenz entstammen, müssen in der einen oder anderen Form befriedigt werden, wenn der Mensch nicht psychisch krank werden soll, genauso wie seine physiologischen [IV-052] Bedürfnisse befriedigt werden müssen, wenn er am Leben bleiben soll. Aber die psychischen Bedürfnisse können auf vielfältige Art befriedigt werden, und die verschiedenen Arten der Befriedigung unterscheiden sich voneinander, je nach dem Grad der seelischen Gesundheit. Wenn eines der Grundbedürfnisse unerfüllt bleibt, ist die Folge eine Geisteskrankheit [Psychose]. Wenn es nur auf eine für die menschliche Natur unbefriedigende Weise erfüllt wird, so hat das eine Neurose zur Folge (entweder in manifester Form oder in Form eines gesellschaftlich vorgeprägten Defekts). Der Mensch muss auf andere Menschen bezogen sein. Ist er dies jedoch auf eine symbiotische oder entfremdete Weise, so verliert er seine Unabhängigkeit und Integrität. Er ist dann schwach, er leidet und wird feindselig und apathisch. Nur wenn er liebend mit anderen in Beziehung treten kann, fühlt er sich eins mit ihnen und bewahrt sich gleichzeitig seine Integrität. Mit der Natur tritt er nur durch produktive Arbeit in Beziehung, nur so wird er eins mit ihr und geht trotzdem nicht in ihr unter. Solange der Mensch inzestuös an die Natur, an die Mutter oder an die Sippe bzw. den Klan gebunden bleibt, ist die Entwicklung seiner Individualität und seiner Vernunft blockiert. Er bleibt dann die hilflose Beute der Natur und kann sich trotzdem niemals eins mit ihr fühlen. Nur wenn er seine Vernunft und seine Liebe entwickelt, nur wenn er die natürliche und die gesellschaftliche Welt auf menschliche Weise erfahren kann, kann er sich auch in sich selbst zu Hause und sicher und als Herr seines Lebens fühlen. Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, dass von den beiden möglichen Formen der Transzendenz die Destruktivität zum Leiden und die Kreativität zum Glück führt. Es ist auch leicht einzusehen, dass nur ein in der Erfahrung der eigenen Kräfte gründendes Identitätserleben den Menschen stark macht, während alle Formen des Identitätsgefühls, die auf der Gruppe basieren, den Menschen abhängig und daher schwach bleiben lassen. Schließlich kann er ja nur in dem Maß, wie er die Realität wirklich erfasst, die Welt zu seiner eigenen machen. Solange er in Illusionen lebt, wird er niemals die Bedingungen ändern, die diese Illusionen notwendig machen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich der Begriff „seelische Gesundheit“ aus den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst ergibt und dass er für alle Menschen gilt, unabhängig von allen Zeiten und Kulturen. Seelische Gesundheit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit zu lieben und etwas zu schaffen, durch die Loslösung von den inzestuösen Bindungen an Klan und Boden, durch ein Identitätserleben, das sich auf die Erfahrung seiner selbst als dem Subjekt und dem Urheber der eigenen Kräfte gründet, durch das Begreifen der Realität innerhalb und außerhalb von uns selbst, das heißt durch die Entwicklung von Objektivität und Vernunft.

Diese Auffassung von seelischer Gesundheit stimmt im wesentlichen mit den von den großen geistigen Lehrern der Menschheit geforderten Normen überein. In dieser Übereinstimmung sehen einige unserer modernen Psychologen den Beweis dafür, dass unsere psychologischen Prämissen nicht „wissenschaftlich“, sondern philosophische oder religiöse „Ideale“ sind. Es fällt ihnen offensichtlich schwer, den Schluss zu ziehen, dass sich die großen Lehrer aller Kulturen auf die rationale Einsicht in die Natur des Menschen und in die Bedingungen für seine volle Entwicklung gründen. Und doch spricht für diese Schlussfolgerung, dass an den verschiedensten Orten unseres Erdballs und in den verschiedensten geschichtlichen Epochen die „Erwachten“ die [IV-053] gleichen Normen verkündet haben und dabei kaum oder überhaupt nicht voneinander beeinflusst waren. Echnaton, Moses, Konfuzius, Lao-tse, Buddha, Jesaja, Sokrates und Jesus haben mit nur geringen und unwesentlichen Unterschieden dieselben Normen für das menschliche Leben verkündet.

Es gibt eine spezielle Schwierigkeit, mit der viele Psychiater und Psychologen erst fertig werden müssen, bevor sie die Ideen der humanistischen Psychoanalyse akzeptieren können. Ihr Denken geht immer noch von den philosophischen Prämissen des Materialismus des Neunzehnten Jahrhunderts aus, der annahm, dass alle wesentlichen psychischen Phänomene in entsprechenden physiologischen somatischen Prozessen verwurzelt seien (oder durch sie verursacht würden). So glaubte Freud, dessen philosophische Grundorientierung von dieser Art von Materialismus geformt worden war, dieses physiologische Substrat der menschlichen Leidenschaft in der Libido gefunden zu haben. In der hier dargelegten Theorie gibt es für das Bedürfnis nach Bezogenheit, nach Transzendenz usw. kein entsprechendes physiologisches Substrat. Das Substrat ist kein physisches, sondern es ist die menschliche Gesamtpersönlichkeit in ihrer Interaktion mit der Welt, mit Natur und Mensch; es ist die menschliche Lebenspraxis, wie sie sich aus den Bedingungen der menschlichen Existenz ergibt. Unsere philosophische Prämisse ist nicht die des Materialismus des Neunzehnten Jahrhunderts, sondern eine solche, die das Tun des Menschen und seine Interaktion mit seinen Mitmenschen und mit der Natur für die grundlegende empirische Gegebenheit bei der Erforschung des Menschen hält.

Bei der Betrachtung der menschlichen Evolution führt unser Begriff der seelischen Gesundheit zu einer theoretischen Schwierigkeit. Es besteht Grund zur Annahme, dass die Geschichte der Menschheit vor Hunderttausenden von Jahren mit einer wirklich „primitiven“ Kultur begonnen hat, in der die Vernunft des Menschen noch nicht über die rudimentärsten Anfänge hinausgekommen war und sein Orientierungsrahmen noch wenig mit der Realität und Wahrheit zu tun hatte. Sollen wir dann von diesem primitiven Menschen sagen, er sei seelisch nicht gesund gewesen, nur weil ihm noch die Eigenschaften fehlten, die ihm allein eine weitere Evolution geben konnte? Es gibt eine Antwort auf die Frage, die eine einfache Lösung aufzeigt. Sie besteht in dem Hinweis auf die offensichtliche Analogie zwischen der Evolution der menschlichen Rasse und der Evolution des Individuums. Wenn ein Erwachsener das Verhalten und die Art der Orientierung eines Kleinkindes von einem Monat aufwiese, so würden wir ihn bestimmt für schwer krank, vermutlich für schizophren halten. Für das einen Monat alte Baby dagegen ist das gleiche Verhalten normal und gesund, weil es seiner psychischen Entwicklungsstufe entspricht. Die seelische Erkrankung des Erwachsenen kann man demnach, wie Freud gezeigt hat, als Fixierung oder als eine Regression auf eine Orientierung bezeichnen, die zu einem früheren Entwicklungsstadium gehört und die nicht dem Entwicklungsstand entspricht, den der Betreffende inzwischen erreicht haben sollte. Ebenso könnte man sagen, dass die menschliche Rasse genau wie das Kleinkind mit einer primitiven Orientierung beginnt, und man würde dann alle Formen der menschlichen Orientierung als gesund bezeichnen, die dem entsprechenden Stadium der menschlichen Entwicklung angemessen sind. Man würde darin jene „Fixierungen“ oder „Regressionen“ als krankhaft bezeichnen, [IV-054] welche frühere Entwicklungsstadien repräsentieren, die die menschliche Rasse bereits hinter sich hat. So einleuchtend eine solche Lösung sein mag, übersieht sie doch eine Tatsache: Das einen Monat alte Kind besitzt noch nicht die organische Basis für ein reifes Verhalten. Es könnte unter keinen Umständen so denken, fühlen oder handeln wie ein reifer Erwachsener. Dagegen besitzt der Mensch seit Hunderttausenden von Jahren die vollständige organische Ausrüstung für die Reife. Sein Gehirn, sein körperliches Koordinationsvermögen und seine Körperkraft haben sich während der ganzen Zeit nicht verändert. Seine Evolution hing lediglich von seiner Fähigkeit ab, sein Wissen den folgenden Generationen weiterzugeben und auf diese Weise Wissen anzuhäufen. Die menschliche Evolution ist das Ergebnis einer kulturellen Entwicklung und nicht einer organischen Veränderung. Ein Kind aus der primitivsten Kultur würde sich, wenn man es in eine hochentwickelte Kultur versetzte, genauso wie alle anderen Kinder in dieser Kultur entwickeln, weil seine Entwicklung allein durch den kulturellen Faktor bestimmt wird. Mit anderen Worten: Während das einen Monat alte Kind niemals die geistige Reife eines Erwachsenen erreichen könnte - wie die kulturellen Bedingungen auch immer beschaffen sein mögen - hätte jeder Mensch vom Primitiven an die Fertigkeiten eines Menschen auf der Höhe der Evolution erreichen können, vorausgesetzt, dass ihm die kulturellen Vorbedingungen für diese Reife gegeben gewesen wären. Hieraus folgt, dass es etwas anderes ist, wenn man von einem primitiven, inzestuösen, unvernünftigen Menschen sagt, er befinde sich in einer normalen Entwicklungsphase, als wenn man das gleiche von einem kleinen Kind sagt.

Andererseits ist die kulturelle Entwicklung eine notwendige Vorbedingung für die menschliche Entwicklung. So scheint es also keine voll befriedigende Antwort auf unser Problem zu geben. Vom einen Standpunkt aus können wir von einer krankhaften seelischen Verfassung sprechen; vom anderen Standpunkt aus können wir von einer Frühphase der Entwicklung sprechen. Aber die Schwierigkeit ist nur so groß, wenn wir uns mit dem Problem in seiner allgemeinsten Form befassen. Sobald wir die konkreteren Probleme unserer Zeit ins Auge fassen, wird es weit weniger kompliziert. Wir haben ein Stadium der Individuation erreicht, in dem nur die vollentwickelte, reife Persönlichkeit ihre Freiheit auf fruchtbare Weise nutzen kann. Wenn der Einzelne seine Vernunft und seine Liebesfähigkeit nicht entwickelt hat, ist er nicht imstande, die Last der Freiheit und Individualität zu tragen und versucht, sich in künstliche Bindungen zu flüchten, die ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Verwurzeltseins geben. Heute ist jede Regression in eine künstliche Verwurzelung im Staat oder in der Rasse ein Zeichen seelischer Erkrankung, da eine derartige Regression nicht dem Evolutionsstand entspricht, den wir bereits erreicht haben, und daher zu unverkennbar pathologischen Erscheinungen führt.

Gleichgültig, ob wir von „seelischer Gesundheit“ oder von einer „reifen Entwicklung“ der Menschheit sprechen, der Begriff der seelischen Gesundheit oder der Reife ist ein objektiver Begriff, zu dem wir durch die Untersuchung der „Situation des Menschen“ und der sich daraus ergebenden menschlichen Notwendigkeiten und Bedürfnisse gelangt sind. Wie bereits im zweiten Kapitel dargelegt, folgt hieraus, dass man die seelische Gesundheit nicht als „Anpassung“ des Einzelnen an die Gesellschaft definieren kann, sondern dass man sie ganz im Gegenteil als die Anpassung der [IV-055] Gesellschaft an die Bedürfnisse des Menschen definieren muss und dass es dabei darum geht, ob die Gesellschaft ihre Rolle erfüllt, die Entwicklung der seelischen Gesundheit zu fördern, oder ob sie dieser Entwicklung hinderlich ist. Ob ein Mensch seelisch gesund ist oder nicht, ist in erster Linie keine individuelle Angelegenheit, sondern hängt von der Struktur seiner Gesellschaft ab. Eine gesunde Gesellschaft fördert die Fähigkeit des Einzelnen, seine Mitmenschen zu lieben, schöpferisch zu arbeiten, seine Vernunft und Objektivität zu entwickeln und ein Selbstgefühl zu besitzen, das sich auf die Erfahrung der eigenen produktiven Kräfte gründet. Ungesund ist eine Gesellschaft, wenn sie zu gegenseitiger Feindseligkeit und zu Misstrauen führt, wenn sie den Menschen in ein Werkzeug verwandelt, das von anderen benutzt und ausgebeutet wird, wenn sie ihn seines Selbstgefühls beraubt und es ihm nur insoweit lässt, als er sich anderen unterwirft und zum Automaten wird. Die Gesellschaft kann beide Funktionen erfüllen: Sie kann die gesunde Entwicklung des Menschen fördern, und sie kann sie behindern. Tatsächlich tun die meisten Gesellschaften beides, und die Frage ist nur, in welchem Maß und in welcher Richtung sie ihren positiven und ihren negativen Einfluss ausüben.

Die Auffassung, dass die seelische Gesundheit sich objektiv bestimmen lässt und dass die Gesellschaft sowohl einen fördernden als auch einen schädlichen Einfluss auf den Menschen ausübt, widerspricht nicht nur der relativistischen Ansicht, die wir oben erwähnten, sondern auch zwei anderen Auffassungen, auf die ich jetzt zu sprechen kommen möchte. Die eine, und zwar die heute populärste, möchte uns einreden, dass die gegenwärtige westliche Gesellschaft und insbesondere der American way of life den tiefsten Bedürfnissen der menschlichen Natur entsprechen, und dass die Anpassung an diese Lebensweise seelische Gesundheit und Reife verbürgt. Anstatt sich zu einem Werkzeug der Gesellschaftskritik zu machen, werden die Sozialpsychologen hierdurch zu Apologeten des status quo. Ihre Vorstellung von „Reife“ und „seelischer Gesundheit“ entspricht der wünschenswerten Einstellung eines Arbeiters oder Angestellten in der Industrie oder in der Geschäftswelt. Die Definition, die Dr. Strecker von emotionaler Reife gibt, ist ein Beispiel für diese Auffassung von Anpassung. Er sagt: „Ich definiere die Reife als die Fähigkeit, es bei seinem Job auszuhalten, als die Fähigkeit, bei jedem beliebigen Job immer bessere Leistungen zu zeigen als verlangt werden, als Zuverlässigkeit, als Ausdauer bei der Ausführung eines Plans ohne Rücksicht auf auftretende Schwierigkeiten, als die Fähigkeit, mit anderen Menschen in einer Organisation und unter einer Autorität zusammenzuarbeiten, als die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, als Lebenswille, als Wendigkeit, Unabhängigkeit und Toleranz“ (E. A. Strecker, 1951, S. 211). Was E. A. Strecker hier als Reife beschreibt, sind zweifellos die Tugenden eines guten Arbeiters, Angestellten oder Soldaten in den großen gesellschaftlichen Organisationen unserer Zeit. Es sind genau die Eigenschaften, die gewöhnlich in Annoncen erwähnt werden, in denen ein jüngerer leitender Angestellter gesucht wird. Für diesen Autor wie für viele andere, die wie er denken, ist Reife gleichbedeutend mit Anpassung an unsere Gesellschaft, wobei niemals die Frage gestellt wird, ob man sich an eine gesunde oder an eine krankhafte Lebensweise anpassen soll.

Im Gegensatz zu dieser Auffassung steht eine andere, die von Hobbes bis Freud reicht [IV-056] und die annimmt, dass zwischen der menschlichen Natur und der Gesellschaft ein grundsätzlicher und unauflöslicher Widerspruch besteht, ein Widerspruch, der aus der angeblich asozialen Natur des Menschen folgt. Nach Freud wird der Mensch von zwei biologisch verwurzelten Impulsen beherrscht: dem heftigen Verlangen nach sexueller Lust und dem nach Zerstörung. Das Ziel der sexuellen Wünsche des Mannes ist eine vollständige sexuelle Freiheit, das heißt der unbeschränkte sexuelle Zugang zu allen von ihm für begehrenswert gehaltenen Frauen. In seiner Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur (1930a, S. 461) heißt es: „Wir sagten, die Erfahrung, dass die geschlechtliche (genitale) Liebe dem Menschen die stärksten Befriedigungserlebnisse gewähre, ihm eigentlich das Vorbild für alles Glück gebe, müsste es nahegelegt haben, die Glücksbefriedigung im Leben auch weiterhin auf dem Gebiet der geschlechtlichen Beziehungen zu suchen, die genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen.“

Das andere Ziel des natürlichen sexuellen Begehrens ist das inzestuöse Verlangen nach der Mutter, das seiner ganzen Natur nach mit dem Vater in Konflikt gerät und Feindseligkeit gegen ihn weckt. Freud weist auf die Bedeutung dieses Aspekts der Sexualität mit der Feststellung hin, das Inzestverbot sei „vielleicht die einschneidendste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat“. (S. Freud, 1930a, S. 463.)

In völliger Übereinstimmung mit Rousseau behauptet Freud, der primitive Mensch habe sich noch keine oder nur außerordentlich wenige Beschränkungen bei der Befriedigung dieser Bedürfnisse auferlegen müssen. Er konnte seinen Aggressionen noch freien Lauf lassen, und es gab für die Befriedigung seiner sexuellen Impulse nur wenige Einschränkungen: „Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen kannte. (...) Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.“ (S. Freud, 1930a, S. 474.)

Während Freud sich mit seiner Vorstellung vom „glücklichen Wilden“ an Rousseau anschließt, folgt er Hobbes mit seiner Annahme von der grundsätzlichen Feindschaft zwischen den Menschen: „Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (S. Freud, 1930a, S. 470.) Nach Freud kommt die Aggressivität des Menschen aus zwei Quellen. Einmal stammt sie aus dem angeborenen Streben nach Zerstörung (dem Todestrieb) und zum anderen aus der Frustrierung seiner triebhaften Wünsche, die ihm von der Zivilisation auferlegt wird. Obwohl der Mensch einen Teil seiner Aggressionen mit Hilfe des Über-Ichs gegen sich selbst wenden kann und obwohl eine Minderheit ihre sexuellen Wünsche in Nächstenliebe sublimieren kann, bleibt die Aggressivität jedoch unausrottbar. Die Menschen werden stets miteinander rivalisieren und sich gegenseitig angreifen, und wenn es dabei nicht um materielle Dinge geht, dann geht es um „das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Missgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muss. Hebt man auch dieses auf durch die völlige Befreiung des Sexuallebens, beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so lässt sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann, aber eines darf man erwarten, dass der unzerstörbare Zug der menschlichen Natur ihr auch dorthin folgen wird.“ [IV-057] (S. Freud, 1930a, S. 473.) Da die Liebe für Freud ihrem Wesen nach sexuelles Begehren ist, sieht er sich gezwungen, einen Widerspruch zwischen der Liebe und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt anzunehmen. Nach ihm ist die Liebe ihrer ganzen Natur nach egoistisch und antisozial, und das Solidaritätsgefühl und die Menschenliebe sind keine primären Gefühle, die in der Natur des Menschen wurzeln, sondern zielgehemmte sexuelle Begierden.

Entsprechend dem Bild vom Menschen mit seinem ihm angeborenen Verlangen nach uneingeschränkter Destruktivität musste Freud den Konflikt zwischen Kultur und seelischer Gesundheit und menschlichem Glück für unvermeidlich halten. Der primitive Mensch ist gesund und glücklich, weil er in Bezug auf seine Grundtriebe nicht frustriert ist, aber ihm fehlen die Segnungen der Kultur. Der zivilisierte Mensch lebt in größerer Sicherheit, er kann sich an Kunst und Wissenschaft erfreuen, aber er muss wegen des ständigen Triebverzichts, der ihm durch die Zivilisation aufgezwungen wird, neurotisch werden.

Für Freud stehen Gesellschaftsleben und Zivilisation ihrem Wesen nach im Gegensatz zu den Bedürfnissen der menschlichen Natur, so wie er sie sieht. Der Mensch sieht sich vor die tragische Alternative gestellt, zwischen einem Glück, das sich auf die uneingeschränkte Befriedigung seiner Triebe gründet, und der Sicherheit und den kulturellen Leistungen zu wählen, die auf dem Triebverzicht basieren und daher zur Neurose und allen anderen Formen seelischer Erkrankung führen. Für Freud ist die Kultur das Produkt des Triebverzichts und daher die Ursache seelischer Erkrankungen.

Freuds Auffassung, dass die menschliche Natur ihrem Wesen nach auf Rivalität eingestellt (und asozial) sei, finden wir bei den meisten Autoren, die meinen, die Charakterzüge des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft seien seine natürlichen Charaktermerkmale. Freuds Theorie vom Ödipuskomplex basiert auf der Annahme von dem „natürlichen“ Antagonismus und der „natürlichen“ Rivalität zwischen Vater und Sohn in Bezug auf die Liebe der Mutter. Diese Rivalität soll wegen der naturgegebenen inzestuösen Strebungen bei Söhnen unvermeidlich sein. Freud folgt ähnlichen Gedankengängen, wenn er annimmt, dass jeder Mann von seinen Trieben her das Verlangen hat, in sexueller Beziehung stets die erste Rolle zu spielen, was zu einer heftigen Feindschaft der Männer untereinander führt. Hieraus geht eindeutig hervor, dass Freuds gesamte Sexualtheorie auf der anthropologischen Voraussetzung beruht, dass Rivalität und gegenseitige Feindseligkeit der menschlichen Natur innewohnend seien.

Im Bereich der Biologie hat Darwin mit seiner Theorie vom wettstreitenden „Kampf ums Dasein“ diesem Prinzip Ausdruck verliehen. Nationalökonomen wie Ricardo und die Manchester-Schule haben es in den Bereich der Wirtschaft übernommen. Unter dem Einfluss der gleichen anthropologischen Voraussetzungen hat Freud dann später behauptet, dieses Prinzip gelte auch für den Bereich der sexuellen Wünsche. Seine Grundauffassung ist die eines homo sexualis, so wie die Auffassung der Nationalökonomen die eines homo oeconomicus war. Sowohl der „ökonomische“ als auch der „sexuelle“ Mensch sind für den Kapitalismus gut zu gebrauchen, weil sie angeblich von Natur aus isoliert, asozial, habgierig und auf Konkurrenzkampf eingestellt [IV-058] sind. Deshalb erscheint der Kapitalismus als das System, das der menschlichen Natur vollkommen entspricht, und wird so jeder Kritik entzogen.

Beide Positionen, die Auffassung von der „Anpassung“ und die Hobbes-Freudsche Auffassung vom unausweichlichen Konflikt zwischen der menschlichen Natur und der Gesellschaft verteidigen die gegenwärtige Gesellschaft und sind einseitige Entstellungen. Außerdem ignorieren sie beide die Tatsache, dass die Gesellschaft nicht nur im Konflikt mit den asozialen Aspekten des Menschen steht, die teilweise von ihr selbst erst hervorgerufen werden, sondern oft auch mit den wertvollsten menschlichen Eigenschaften, die sie eher unterdrückt als fördert.

Eine objektive Untersuchung der Beziehung zwischen der Gesellschaft und der menschlichen Natur muss sowohl den fördernden als auch den hemmenden Einfluss der Gesellschaft auf den Menschen in Betracht ziehen, indem sie die Natur des Menschen und seine daraus entspringenden Bedürfnisse berücksichtigt. Da die meisten Autoren den positiven Einfluss der modernen Gesellschaft auf den Menschen in den Vordergrund stellen, werde ich diesem Aspekt im vorliegenden Buch weniger Aufmerksamkeit widmen und mich mehr mit den vernachlässigten pathogenen Funktionen der modernen Gesellschaft befassen.

5. Der Mensch in der kapitalistischen Gesellschaft

a) Der Gesellschafts-Charakter

Es ist nicht sinnvoll, den Begriff der seelischen Gesundheit wie eine abstrakte Eigenschaft und unabhängig von bestimmten Menschen zu erörtern. Wenn wir uns jetzt mit dem seelischen Gesundheitszustand des heutigen westlichen Menschen beschäftigen und untersuchen, welche Faktoren in seiner Lebensweise zur Erkrankung führen und welche anderen der Gesundheit zuträglich sind, so müssen wir festzustellen versuchen, welchen Einfluss die spezifischen Bedingungen unserer Produktionsweise und unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung auf die Natur des Menschen haben. Wir müssen zu einem Persönlichkeitsbild des Durchschnittsmenschen gelangen, der unter diesen Bedingungen lebt und arbeitet. Nur wenn es uns gelingt, uns ein solches Bild vom Gesellschafts-Charakter zu machen, so vorläufig und unvollständig es auch sein mag, besitzen wir eine Basis, von der aus wir die seelische und geistige Gesundheit des modernen Menschen beurteilen können.

Was ist unter dem Gesellschafts-Charakter zu verstehen?[20] Ich meine mit diesem Begriff den Kern der Charakterstruktur, den die meisten Mitglieder ein und derselben Kultur miteinander gemeinsam haben, im Unterschied zum individuellen Charakter, in welchem sich Menschen ein und derselben Kultur voneinander unterscheiden. Es handelt sich dabei um keinen statistischen Begriff in dem Sinne, dass der Gesellschafts-Charakter einfach die Summe aller Charakterzüge wäre, die man bei der Mehrheit der Menschen ein und derselben Kultur findet. Es geht vielmehr um die Funktion des Gesellschafts-Charakters, die wir nunmehr erörtern wollen.[21]

Jede Gesellschaft ist auf eine bestimmte Weise strukturiert und funktioniert entsprechend einer Anzahl von objektiv gegebenen Bedingungen. Zu diesen Bedingungen gehören Produktions- und Verteilungsmethoden, die ihrerseits von Rohmaterialien, industriellen Verfahren, vom Klima, von der Größe der Bevölkerung und von politischen und geographischen Faktoren sowie von kulturellen Traditionen und [IV-060] Einflüssen abhängen, die auf diese Gesellschaft einwirken. Es gibt keine „Gesellschaft“ im allgemeinen Sinn, sondern lediglich spezifische gesellschaftliche Strukturen, die auf unterschiedliche, nachweisbare Weise funktionieren. Wenn auch diese gesellschaftlichen Strukturen sich im Laufe der historischen Entwicklung ändern, so sind sie doch während der jeweiligen geschichtlichen Periode relativ stabil, und die Gesellschaft kann nur existieren, wenn sie sich im Rahmen ihrer speziellen Struktur bewegt. Die Mitglieder der Gesellschaft bzw. die verschiedenen Klassen oder Standesgruppen in ihr müssen sich so verhalten, dass sie in der Weise funktionieren, wie es das Gesellschaftssystem erfordert. Der Gesellschafts-Charakter hat die Funktion, die Energien der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft so zu formen, dass ihr Verhalten nicht von der bewussten Entscheidung abhängt, ob sie sich nach dem gesellschaftlichen Modell richten wollen oder nicht, sondern dass sie so handeln wollen, wie sie handeln müssen und dass es ihnen gleichzeitig eine gewisse Befriedigung gewährt, wenn sie sich den Erfordernissen ihrer Kultur entsprechend verhalten. Mit anderen Worten, es ist die Funktion des Gesellschafts-Charakters, die menschliche Energie in einer bestimmten Gesellschaft so zu formen und zu kanalisieren, dass diese Gesellschaft auch weiterhin funktioniert.

So hätte die moderne Industriegesellschaft zum Beispiel ihre Ziele nicht erreichen können, wenn sie nicht die Energie freier Menschen in einem nie dagewesenen Maß in die Arbeit eingespannt hätte. Der Mensch musste so umgewandelt werden, dass er geradezu erpicht darauf war, den größten Teil seiner Energie auf die Arbeit zu verwenden. Auf diese Weise gewöhnte er sich Disziplin und insbesondere Ordentlichkeit und Pünktlichkeit in einem bei den meisten anderen Kulturen unbekannten Grad an. Es hätte nicht genügt, dass jeder Einzelne immer von neuem bewusst den Entschluss gefasst hätte, jeden Tag pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen und seine Arbeit zu tun und so weiter und so weiter, da es bei solchen bewussten Entscheidungen stets mehr Ausnahmen gegeben hätte, als die Gesellschaft sich hätte leisten können, wenn sie reibungslos funktionieren wollte. Auch Drohungen und Zwang hätten als Motiv nicht ausgereicht, da die hoch differenzierten Aufgaben in der modernen Industriegesellschaft auf die Dauer nur von freien Menschen und nicht von Zwangsarbeitern gelöst werden können. Die Notwendigkeit, dass gearbeitet wird - und zwar pünktlich und ordentlich - musste in einen inneren Trieb zur Erreichung dieser Ziele umgewandelt werden. Das bedeutet, dass die Gesellschaft einen Gesellschafts-Charakter schaffen musste, dem diese Strebungen inhärent waren.

Man kann die Genese des Gesellschafts-Charakters nicht verstehen, wenn man nur einen seiner Aspekte in Betracht zieht; man muss vielmehr die Wechselwirkung der soziologischen und der ideologischen Faktoren zu verstehen suchen. Da die ökonomischen Faktoren sich weniger leicht ändern lassen, besitzen sie in diesem Wechselspiel ein gewisses Übergewicht. Das bedeutet aber nicht, dass das Verlangen nach materiellem Gewinn das einzige oder auch nur das stärkste Motiv im Menschen ist. Es bedeutet, dass es dem Einzelnen und der Gesellschaft in erster Linie darum geht zu überleben und dass erst, wenn das Überleben gesichert ist, sie sich um die Befriedigung anderer gebieterischer menschlicher Bedürfnisse kümmern können. Die Aufgabe zu überleben bringt es mit sich, dass der Mensch produzieren muss, das heißt, [IV-061] dass er sich das Mindestmaß an Nahrung und Obdach, das er für sein Überleben braucht, sowie die Werkzeuge verschaffen muss, die er selbst für die rudimentärsten Produktionsprozesse braucht. Die Produktionsmethode bestimmt dann ihrerseits die sozialen Beziehungen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Sie bestimmt Lebensweise und Lebenspraxis. Aber die religiösen, politischen und philosophischen Ideen sind nicht nur sekundäre projektive Systeme. Sie sind zwar im Gesellschafts-Charakter verankert, bestimmen aber ihrerseits den Gesellschafts-Charakter mit und systematisieren und stabilisieren ihn.

Wenn wir sagen, dass die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft den Charakter des Menschen prägt, dann möchte ich darauf hinweisen, dass wir nur von dem einen Pol dieses Wechselspiels zwischen gesellschaftlicher Organisation und Mensch sprechen. Der andere Pol, mit dem wir uns beschäftigen müssen, ist die Natur des Menschen, die ebenfalls den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er lebt, ein bestimmtes Gepräge gibt. Man kann den gesellschaftlichen Prozess nur verstehen, wenn man die reale Situation des Menschen, seine psychischen und auch seine physiologischen Eigenschaften kennt und dann das Wechselspiel zwischen seiner Natur und den spezifischen äußeren Bedingungen untersucht, unter denen er jeweils lebt und die er meistern muss, wenn er überleben will.

Obwohl es zutrifft, dass der Mensch sich an fast alle Bedingungen anpassen kann, ist er doch kein unbeschriebenes Blatt, auf das die Kultur ihren Text schreibt. Bedürfnisse wie das Streben nach Glück, nach Harmonie, Liebe und Freiheit sind mit seiner Natur gegeben. Sie wirken auch im historischen Prozess als dynamische Faktoren, die, wenn sie nicht zu ihrem Recht kommen, dazu tendieren, psychische Reaktionen hervorzurufen, die schließlich genau die Bedingungen erzeugen, welche den ursprünglichen Strebungen entsprechen. Solange die objektiven Bedingungen von Gesellschaft und Kultur stabil bleiben, hat auch der Gesellschafts-Charakter in erster Linie eine stabilisierende Funktion. Ändern sich die äußeren Bedingungen in einer Weise, dass sie nicht mehr zum herkömmlichen Gesellschafts-Charakter passen, dann kommt es gleichsam zu einer Verschiebung. Der Gesellschafts-Charakter wird dann zu einem Element der Desintegration und nicht mehr der Stabilisierung - er wirkt gleichsam als Dynamit und nicht als gesellschaftlicher Kitt.

Wenn diese Auffassung von der Genese und Funktion des Gesellschafts-Charakters richtig ist, stehen wir vor einem verwirrenden Problem. Steht nicht die Annahme, dass die Charakterstruktur durch die Rolle geprägt wird, die der einzelne in seiner Kultur zu spielen hat, im Widerspruch zu der Annahme, dass der Charakter eines Menschen sich in seiner Kindheit bildet? Können beide Auffassungen Anspruch auf Richtigkeit erheben angesichts der Tatsache, dass das Kind in seinen frühen Lebensjahren relativ wenig Kontakt mit der Gesellschaft als solcher hat? Diese Frage ist nicht so schwer zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wir müssen zwischen den Faktoren, die für die speziellen Inhalte des Gesellschafts-Charakters verantwortlich sind, und den Methoden, durch die der Gesellschafts-Charakter gebildet wird, unterscheiden. Man darf annehmen, dass die Gesellschaftsstruktur und die Funktion des Individuums in der Gesellschaftsstruktur den Inhalt des Gesellschafts-Charakters bestimmen. Andererseits kann man die Familie als die psychische Agentur der [IV-062] Gesellschaft, als die Institution ansehen, deren Funktion es ist, die Erfordernisse der Gesellschaft dem heranwachsenden Kind zu übermitteln. Die Familie erfüllt diese Funktion auf zweierlei Weise. Einmal - und das ist der wichtigste Faktor - durch den Einfluss des Charakters der Eltern auf die Charakterbildung des heranwachsenden Kindes. Da im Charakter der meisten Eltern der Gesellschafts-Charakter zum Ausdruck kommt, vermitteln sie auf diese Weise ihrem Kind die wesentlichen Züge der gesellschaftlich wünschenswerten Charakterstruktur. Auf das Kind werden sowohl die Liebe und das Glück der Eltern als auch deren Ängste und Feindseligkeiten übertragen. Außer dem Charakter der Eltern haben auch die in einer Kultur üblichen Methoden der Kindererziehung die Funktion, den Charakter des Kindes in einer für die Gesellschaft wünschenswerten Richtung zu formen. Es gibt verschiedene Methoden und Techniken der Kindererziehung, die das gleiche Ziel erreichen können, aber es gibt andererseits auch Methoden, die äußerlich identisch scheinen, sich jedoch auf Grund der Charakterstruktur derjenigen, die diese Methoden anwenden, unterscheiden. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Methoden der Kindererziehung richten, können wir niemals den Gesellschafts-Charakter erklären. Die Methoden der Kindererziehung sind nur bedeutend als Übermittlungsmechanismen, und man versteht sie nur richtig, wenn man sich zunächst überlegt, welche Arten der Persönlichkeit in einer bestimmten Kultur wünschenswert und notwendig sind.[22]

Hieraus ergibt sich, dass wir zum Verständnis des Problems der sozio-ökonomischen Bedingungen in der modernen Industriegesellschaft, welche die Persönlichkeit des modernen westlichen Menschen prägen und für die Störungen seiner seelischen Gesundheit verantwortlich sind, jene Elemente verstehen lernen müssen, die für die kapitalistische Produktionsmethode und für eine auf Erwerb ausgerichtete Gesellschaft im Industriezeitalter kennzeichnend sind. So skizzenhaft und vorläufig eine solche Beschreibung durch einen Nicht-Ökonomen auch notwendigerweise sein muss, so hoffe ich trotzdem, dass sie für die folgende Analyse des Gesellschafts-Charakters des Menschen in der heutigen westlichen Gesellschaft eine ausreichende Grundlage bilden wird.

b) Die Struktur des Kapitalismus und der Charakter des Menschen
1. Der Kapitalismus des Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhunderts

Das Wirtschaftssystem, das im Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhundert im Westen die Vorherrschaft gewann, ist der Kapitalismus. Trotz großer Veränderungen, die in diesem System vor sich gingen, gibt es doch gewisse Merkmale, die sich durch seine ganze Geschichte hindurch erhalten haben. Angesichts dieser gemeinsamen Merkmale ist es wohl legitim, den Begriff Kapitalismus auf das Wirtschaftssystem dieser ganzen Periode anzuwenden. [IV-063]

Kurz gesagt handelt es sich um folgende Merkmale: 1. um die Existenz von politisch und rechtlich freien Menschen, 2. um die Tatsache, dass freie Menschen (Arbeiter und Angestellte) ihre Arbeitskraft dem Besitzer von Kapital auf dem Arbeitsmarkt durch einen Vertrag verkaufen, 3. um das Bestehen des Gebrauchsgütermarktes als einem Mechanismus, durch den die Preise bestimmt werden und der Austausch des Sozialprodukts reguliert wird, 4. um das Prinzip, dass jeder Einzelne den eigenen Profit im Auge hat und dass trotzdem durch den Wettbewerb aller angeblich der größtmögliche Vorteil für alle erzielt wird.

Während diese Merkmale den Kapitalismus in den letzten Jahrhunderten durchweg kennzeichnen, sind die in dieser Zeit mit ihm vorgegangenen Veränderungen ebenso bedeutend wie die genannten Merkmale. Wenn wir uns in unserer Analyse auch hauptsächlich mit dem Einfluss der gegenwärtigen sozio-ökonomischen Struktur auf den Menschen befassen, wollen wir doch wenigstens kurz auf die Merkmale des Kapitalismus des Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhunderts und auf die des Neunzehnten Jahrhunderts eingehen, die sich von der Entwicklung der Gesellschaft und des Menschen im Zwanzigsten Jahrhundert unterscheiden.

Für die frühe Periode des Kapitalismus im Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhundert sind zwei Aspekte besonders kennzeichnend. Erstens steckten Technik und Industrie - verglichen mit der Entwicklung im Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhundert - noch in den Anfängen, und zweitens hatten damals die Gewohnheiten und Ideen der mittelalterlichen Kultur noch einen beträchtlichen Einfluss auf die wirtschaftlichen Praktiken dieser Epoche. So wurde es als unchristlich und unsittlich angesehen, wenn ein Kaufmann versuchte, einem anderen durch niedrige Preise oder andere Machenschaften die Kunden abspenstig zu machen (vgl. W. Sombart, 1923, S. 203). „In der fünften Auflage des Complete English Trademan (1745) findet sich eine Anmerkung der Herausgeber folgenden Inhalts: ‘Seit unser Autor schrieb (Defoe starb 1731), ist die Unsitte des Unterbietens so schamlos entwickelt, dass gewisse Leute öffentlich bekanntmachen: dass sie ihre Waren billiger als die übrige Kaufmannschaft abgeben’.“ (Zit. nach W. Sombart, 1923, S. 205.) In der gleichen Auflage des Complete English Trademan wird ein „reicher Mann“ vorgestellt, „der mehr Geld als seine Nachbarn hat und infolgedessen keinen Kredit in Anspruch zu nehmen braucht“ (W. Sombart, 1923, S. 206). Dieser kaufe seine Waren direkt beim Erzeuger, transportiere sie selbst und „weil er vielleicht bar bezahlt, gibt ihm der Tuchfabrikant die Tuche einen Penny pro Elle billiger. (...) Und was ist der Gewinn, der bei diesem ganzen Beraubungssysteme herausspringt? Ausschließlich dieser: einen habsüchtigen Mann reich zu machen“ und einem anderen die Möglichkeit zu geben, dass dieser „den Stoff für seine Anzüge um so und so viel die Elle billiger einkauft: ein ganz belangloser Vorteil für ihn, den er gar nicht übermäßig hoch bewertet, und der sicher in keinem Verhältnis zu den Wunden steht, die der Handel empfangen hat“ (W. Sombart, 1923, S. 206 f.). In Deutschland und Frankreich finden wir während des ganzen Achtzehnten Jahrhunderts darum Verbote einer Preisunterbietung.

Es ist bekannt, wie skeptisch die Menschen jener Zeit gegenüber neuen Maschinen waren, da sie ihnen ihre Arbeitsplätze zu nehmen drohten. „Colbert erblickt in dem Erfinder arbeitssparender Maschinen einen ‘Feind der Arbeit’“ und Montesquieu sagte (im Esprit de Loi, XXIII, 15), dass jene Maschinen, die die Zahl der Arbeiter [IV-064] verminderten, verwerflich seien (zit. nach W. Sombart, 1923, S. 210 f.). Alle diese Aussagen basieren auf Grundsätzen, die das Leben der Menschen viele Jahrhunderte lang beherrscht hatten. Der wichtigste dieser Grundsätze lautete, dass die Gesellschaft und die Wirtschaft für den Menschen da sind und nicht der Mensch für sie. Kein wirtschaftlicher Fortschritt wurde als gesund angesehen, wenn er irgendeiner Gruppe innerhalb der Gesellschaft zum Schaden gereichte. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass diese Auffassung eng mit dem traditionalistischen Denken zusammenhing, insofern auf diese Weise das gesellschaftliche Gleichgewicht erhalten werden sollte und man jede Störung dieses Gleichgewichts als schädlich ansah.

2. Der Kapitalismus des Neunzehnten Jahrhunderts

Im Neunzehnten Jahrhundert ändert sich die traditionalistische Einstellung des Achtzehnten Jahrhunderts zunächst langsam, dann aber rasch. Der lebendige Mensch mit seinen Wünschen und Kümmernissen verliert mehr und mehr seine zentrale Stellung im System, und Geschäft und Produktion nehmen nun diesen Platz ein. Im ökonomischen Bereich hört der Mensch auf, das Maß aller Dinge zu sein. Das am meisten charakteristische Merkmal des Kapitalismus des Neunzehnten Jahrhunderts ist die skrupellose Ausbeutung des Arbeiters. Man hält es für ein Naturgesetz oder auch für ein gesellschaftliches Gesetz, dass Hunderttausende von Arbeitern am Rande des Hungertodes lebten. Man glaubt, der Kapitaleigner befinde sich moralisch im Recht, wenn er auf seiner Jagd nach Profit die von ihm eingestellten Arbeiter soviel wie möglich ausbeute. Zwischen dem Kapitaleigner und seinen Arbeitern gibt es kaum ein Gefühl menschlicher Solidarität. Auf wirtschaftlichem Gebiet herrscht das Gesetz des Dschungels. Alle Beschränkungen früherer Jahrhunderte lässt man hinter sich. Man sucht sich seinen Kunden und versucht die Konkurrenz zu unterbieten, und der Konkurrenzkampf gegen Gleichgestellte ist ebenso skrupellos und hemmungslos wie die Ausbeutung des Arbeiters. Mit der Einführung der Dampfmaschine nimmt die Arbeitsteilung zu, Hand in Hand mit der Vergrößerung der Unternehmen. Das kapitalistische Prinzip, dass ein jeder den eigenen Profit sucht und auf diese Weise zum Glück aller beiträgt, wird zum Leitprinzip menschlichen Verhaltens.

Der Markt als der Hauptregulator wird von allen herkömmlichen Beschränkungen befreit und kommt im Neunzehnten Jahrhundert zu voller Macht. Während jedermann im eigenen Interesse zu handeln glaubt, wird er in Wirklichkeit von den anonymen Gesetzen des Marktes und der Wirtschaftsmaschinerie in seinem Handeln bestimmt. Der einzelne Kapitalist vergrößert sein Unternehmen noch mehr, und zwar in erster Linie nicht deshalb, weil er das gerne möchte, sondern weil er es muss, denn - wie Carnegie in seiner Autobiographie feststellt - würde die Verzögerung einer weiteren Expansion einen Rückschritt bedeuten. Tatsächlich muss man sein Geschäft, wenn es wächst, immer weiter ausdehnen, ob man will oder nicht. In dieser Funktion des ökonomischen Gesetzes, das hinter dem Rücken der Menschen arbeitet und das sie dazu zwingt, bestimmte Dinge zu tun, ohne selbst darüber entscheiden zu können, sehen wir den Anfang einer Konstellation, die dann im Zwanzigsten Jahrhundert ihre Früchte trägt. [IV-065]

In unserer Zeit besitzt nicht nur das Gesetz des Marktes sein eigenes Leben und regiert die Menschen, sondern das gleiche gilt auch für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik. Aus einer Reihe von Gründen sind die Probleme der Naturwissenschaft samt ihrer Organisation heute derart, dass sich ein Wissenschaftler seine Probleme nicht mehr selbst aussuchen kann, sondern die Probleme zwingen sich ihm auf. Er löst ein Problem, aber er gewinnt hierdurch nicht größere Sicherheit und Gewissheit, sondern zehn andere Probleme treten an die Stelle des einen, das er gelöst hat. Sie zwingen ihn, sie zu lösen; er muss in einem immer schnelleren Tempo weitermachen. Das gleiche gilt für die industrielle Fertigung. Das Tempo des wissenschaftlichen Fortschritts überträgt sich auf das Tempo der technischen Entwicklung. Die theoretische Physik zwingt uns die Atomenergie auf; die erfolgreiche Herstellung der Atombombe zwingt uns, die Wasserstoffbombe herzustellen. Wir wählen uns unsere Aufgaben nicht aus, wir wählen auch unsere Produkte nicht selbst aus. Wir werden vorangetrieben, wir werden gezwungen - wovon? Von einem System, das über sich selbst hinaus weder Zweck noch Ziel hat und das den Menschen zu einem bloßen Anhängsel macht.

In unserer Analyse des heutigen Kapitalismus werden wir noch mehr über diesen Aspekt der menschlichen Ohnmacht zu sagen haben. Hier jedoch sollten wir noch ein wenig bei der Bedeutung des modernen Marktes als dem zentralen Verteilungsmechanismus des Sozialproduktes verweilen, denn der Markt ist die Basis für die Bildung menschlicher Beziehungen in der kapitalistischen Gesellschaft.

Wenn der Wohlstand der Gesellschaft den tatsächlichen Bedürfnissen aller ihrer Mitglieder entspräche, gäbe es bei seiner Verteilung keine Probleme. Jedes Mitglied der Gesellschaft könnte sich dann vom Sozialprodukt das nehmen, was ihm gefällt oder was es braucht, und man brauchte nichts zu steuern als die Verteilung im rein technischen Sinn. Aber von den primitiven Gesellschaften abgesehen, hat es diese Situation in der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag nie gegeben. Die Bedürfnisse waren stets größer als die Gesamtsumme des Sozialprodukts, weshalb man festlegen musste, wie verteilt werden sollte, wie viele und wer seine Bedürfnisse optimal befriedigt bekommen sollte und welche Klassen mit weniger zufrieden sein mussten. In den höchstentwickelten Gesellschaften der Vergangenheit wurde diese Entscheidung meist gewaltsam getroffen. Bestimmte Klassen besaßen die Macht, sich den Löwenanteil am Sozialprodukt zu sichern und den anderen Klassen die schwerere und schmutzigere Arbeit und einen geringeren Anteil am Sozialprodukt zuzuweisen. Vielfach wurde dieser Zwang von der gesellschaftlichen und religiösen Tradition ausgeübt, die ein so starker psychischer Zwang im Menschen war, dass sie oft die Androhung physischen Zwangs überflüssig machte.

Der moderne Markt ist ein sich selbst regulierender Verteilungsmechanismus, der es überflüssig macht, das Sozialprodukt nach einem vorgegebenen oder traditionellen Plan zu verteilen, wodurch die Notwendigkeit der Gewaltanwendung innerhalb der Gesellschaft abgeschafft wird: Natürlich wird nur scheinbar und nicht realiter keine Gewalt mehr angewandt. Der Arbeiter, der den ihm auf dem Arbeitsmarkt angebotenen Tariflohn akzeptieren muss, sieht sich gezwungen, die Marktbedingungen anzunehmen, weil er sonst nicht überleben könnte. So ist die „Freiheit“ des Individuums [IV-066] weitgehend illusorisch. Der Einzelne ist sich klar, dass es keine äußere Macht gibt, die ihn zwingen könnte, auf bestimmte Arbeitsverträge einzugehen; er ist sich aber weniger klar über die Gesetze des Marktes, die gleichsam hinter seinem Rücken wirksam sind. Deshalb glaubt er, frei zu sein, obwohl er es tatsächlich nicht ist. Aber obwohl das so ist, ist doch die kapitalistische Methode der Verteilung durch den Marktmechanismus besser als jede andere Methode, die bis jetzt in einer Klassengesellschaft praktiziert wurde, da sie die Grundlage für eine relative politische Freiheit des Einzelnen bildet, welche die kapitalistische Demokratie kennzeichnet.

Dass der Markt funktioniert, beruht auf dem Wettbewerb vieler Einzelner, die ihre Waren auf dem Gebrauchswarenmarkt verkaufen wollen, so wie sie auch ihre Arbeitskraft und ihre Dienstleistungen auf dem Arbeits- und Personalmarkt verkaufen. Diese wirtschaftliche Notwendigkeit des Wettbewerbs führte besonders in der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts charakterologisch gesehen zu einer immer stärkeren Wettbewerbshaltung. Die Menschen wurden von dem Wunsch getrieben, ihren Konkurrenten zu übertreffen, was eine völlige Umkehrung der für die Feudalzeit kennzeichnenden Einstellung bedeutete, wo jeder seinen traditionellen Platz in der Gesellschaftsordnung gehabt hatte und sich damit zufriedengeben musste. Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Stabilität des mittelalterlichen Systems entwickelte sich eine bis dahin unerhörte gesellschaftliche Mobilität, in der alle um die besten Plätze kämpften, obwohl nur einige wenige Auserwählte sie errangen. In diesem allgemeinen Gerangel um Erfolg brachen die gesellschaftlichen und moralischen Regeln der menschlichen Solidarität zusammen. Das einzig Wichtige im Leben war, in diesem Wettlauf der Erste zu sein.

Ein weiterer Faktor, der die kapitalistische Produktionsweise bestimmt, ist der Profit, denn der Profit ist in diesem System das Ziel einer jeden wirtschaftlichen Aktivität. Nun ist aber um dieses „Profitmotiv“ des Kapitalismus herum beabsichtigt und unbeabsichtigt eine große Verwirrung angestiftet worden. Man sagt uns - und das mit Recht -, dass jede wirtschaftliche Tätigkeit nur dann sinnvoll sei, wenn sie zu einem Profit führt, das heißt, wenn wir bei der Produktion mehr verdienen, als wir hineingesteckt haben. Selbst in der vorkapitalistischen Zeit durfte der Handwerksmeister, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, für sein Rohmaterial und den Gesellenlohn nur weniger ausgeben, als er hinterher für sein Erzeugnis verlangte. In jeder Gesellschaft mit einer einfachen oder komplexen Industrie muss der Verkaufswert der Ware höher sein als die reinen Fertigungskosten, damit das Kapital bereitgestellt werden kann, das für neue Maschinen oder Werkzeuge, die zur Weiterentwicklung und Steigerung der Produktion benötigt werden, erforderlich ist. Aber es geht uns hier nicht um das Problem der Rentabilität der Produktion. Es geht uns darum, dass das Motiv für die Gütererzeugung nicht deren Nutzen für die Gesellschaft, nicht die Befriedigung des Arbeiters im Arbeitsprozess, sondern allein der Profit ist, den die Kapitalanlage abwirft. Ob sein Produkt für den Verbraucher von Nutzen ist, braucht den einzelnen Kapitalisten überhaupt nicht zu interessieren. Das heißt nicht, dass der Kapitalist psychologisch gesehen von einer unersättlichen Geldgier getrieben wird. Das kann der Fall sein oder auch nicht, doch ist es kein wesentliches Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise. Tatsächlich war in der früheren Phase des Kapitalismus die [IV-067] Habgier des Kapitalisten ein häufigeres Motiv als heute, wo die Eigentümer und die Manager eines Unternehmens weitgehend nicht mehr miteinander identisch sind und wo es weniger darum geht, höhere Profite zu erzielen als darum, das Unternehmen immer weiter auszudehnen und für ein reibungsloses Funktionieren zu sorgen.

Wie viel einer verdient, kann unter dem gegenwärtigen System völlig unabhängig von seiner persönlichen Anstrengung oder Leistung sein. Der Kapitaleigner kann verdienen, ohne zu arbeiten. Die der menschlichen Natur gemäße Funktion des Austauschs von Anstrengung gegen Lohn kann zur abstrakten Manipulation von Geld für noch mehr Geld werden. Das zeigt am deutlichsten der Fall, wo der Eigentümer eines Industrieunternehmens dort überhaupt nicht zugegen ist. Dabei macht es keinen Unterschied, ob das Unternehmen ihm ganz oder nur teilweise gehört. In jedem Fall hat er von seinem Kapital und von der Arbeit anderer den Profit, ohne sich selbst irgendwie anstrengen zu müssen. Für diesen Zustand hat man viele fromme Rechtfertigungen gefunden. So hat man gesagt, der Profit sei eine Entschädigung für das Risiko, das der Betreffende bei seiner Investition eingeht, oder dafür, dass er nur durch persönliche Verzichtleistungen das Kapital habe ansammeln können, das er dann investiert habe. Es bedarf jedoch kaum eines Beweises, dass diese peripheren Faktoren an der Grundtatsache nichts ändern, dass der Kapitalismus die Möglichkeit gibt, ohne persönliche Anstrengung und ohne eine produktive Funktion Gewinne zu erzielen. Aber selbst bei denen, die wirklich arbeiten und Dienstleistungen verrichten, steht das Einkommen in keinem Verhältnis zu der von ihnen aufgewendeten Mühe. So verdient zum Beispiel eine Lehrerin nur den Bruchteil des Einkommens eines Arztes, obwohl ihre gesellschaftliche Funktion ebenso wichtig ist und sie sich persönlich kaum weniger anstrengen muss. Der Grubenarbeiter verdient nur einen Bruchteil des Gehalts des Betriebsleiters der Kohlenmine, obwohl er härter arbeiten muss und mit seiner Arbeit größere Gefahren und Unbequemlichkeiten verbunden sind.

Kennzeichnend für die Einkommensverteilung im Kapitalismus ist das Missverhältnis zwischen der Schwere der Arbeit, die einer leistet, und der gesellschaftlichen Anerkennung, die ihm in Form einer finanziellen Entschädigung zugestanden wird. Dieses Missverhältnis würde in einer ärmeren Gesellschaft als der unseren zu größeren Extremen in Bezug auf Luxus und Armut führen, als unsere Moralbegriffe es zulassen. Mir geht es hier jedoch nicht um die materiellen Auswirkungen dieses Missverhältnisses, sondern um seine moralischen und psychologischen Folgen. Die eine Auswirkung ist die Unterbewertung der Arbeit, der menschlichen Anstrengung und Geschicklichkeit; die andere ist, dass, solange ich mit meiner Arbeit nur einen bestimmten Gewinn erringen kann, auch meine Wünsche sich in Grenzen halten. Steht dagegen mein Einkommen in keinem Verhältnis mehr zu meiner Arbeitsleistung, dann kennen auch meine Wünsche keine Grenzen mehr, weil ihre Erfüllung dann nur von den Gelegenheiten abhängt, die mir bestimmte Marktsituationen bieten, und nicht von meinen eigenen Fähigkeiten.[23] [IV-068]

Der Kapitalismus des Neunzehnten Jahrhunderts war ein wirklich privater Kapitalismus. Die Einzelnen erkannten und ergriffen neue Gelegenheiten, die sich ihnen boten, sie handelten ökonomisch, sie erfanden neue Methoden, sie erwarben Besitz, den sie sowohl für die Produktion als auch für den eigenen Verbrauch nutzten und an dem sie ihre Freude hatten. Diese Freude am Besitz ist neben der Lust am Wettbewerb und neben dem Profitstreben eines der grundlegenden Merkmale des Charakters der Mittel- und Oberklasse des Neunzehnten Jahrhunderts. Es ist umso wichtiger, diese Freude am Besitz und an Ersparnissen nicht zu übersehen, weil sich der heutige Mensch darin deutlich von seinen Großvätern unterscheidet. Die Sucht nach Ersparnissen und nach Besitz ist tatsächlich zum wichtigsten Merkmal der rückständigsten Klasse, nämlich des unteren Mittelstandes geworden, und sie ist in Europa viel leichter zu finden als in Amerika. Wir haben hier ein Beispiel dafür, dass ein Zug des Gesellschafts-Charakters, der einmal für die fortgeschrittenste Klasse kennzeichnend war, im Prozess der ökonomischen Entwicklung gleichsam altmodisch wurde und nur von den Gruppen noch beibehalten wurde, die den geringsten Anteil am sozialen Aufstieg haben.

Charakterologisch ist die Freude an Besitz und Eigentum von Freud als ein wichtiger Aspekt des „analen Charakters“ beschrieben worden. Ich selbst gehe von einer anderen theoretischen Voraussetzung aus und habe das gleiche klinische Bild als „hortende Orientierung“ bezeichnet. Wie alle anderen Charakter-Orientierungen hat auch das Horten seine positiven und seine negativen Aspekte. Ob die positiven oder die negativen Aspekte dominieren, hängt von der relativen Stärke der produktiven Orientierung des Betreffenden bzw. des Gesellschafts-Charakters ab. Die positiven Aspekte dieser Orientierung, wie ich sie in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 46 f.) beschrieben habe, sind folgende: Der Betreffende ist praktisch, sparsam, sorgsam, reserviert, vorsichtig, verlässlich, gelassen, ordentlich, überlegt und loyal. Die entsprechenden negativen Eigenschaften sind folgende: Er ist phantasielos, geizig, argwöhnisch, kalt, ängstlich, eigensinnig, träge, pedantisch, zwanghaft und besitzgierig. Es ist leicht einzusehen, dass im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert, als die auf das Horten ausgerichtete Orientierung mit den Erfordernissen des wirtschaftlichen Fortschritts verzahnt war, die positiven Merkmale vorherrschten, während im Zwanzigsten Jahrhundert, wo diese Züge die veralteten Merkmale einer veralteten Klasse sind, fast nur noch die negativen Aspekte übriggeblieben sind.

Der Zusammenbruch des traditionellen Prinzips menschlicher Solidarität führte zu neuen Formen der Ausbeutung. In der feudalen Gesellschaft nahm man an, dass der Feudalherr das von Gott gegebene Recht habe, von seinen Untertanen Dienst- und Sachleistungen zu verlangen. Gleichzeitig aber hatte er auch die herkömmliche Verpflichtung, dass er für seine Untertanen verantwortlich war, dass er sie beschützen und sie wenigstens mit dem Existenzminimum versehen musste, welches dem traditionellen Lebensstandard entsprach. Die feudale Ausbeutung spielte sich in einem System [IV-069] gegenseitiger menschlicher Verpflichtungen ab, wodurch sie gewissen Beschränkungen unterlag. Die Ausbeutung, wie sie sich im Neunzehnten Jahrhundert entwickelte, war etwas wesentlich anderes. Der Arbeiter, oder vielmehr seine Arbeitskraft, war eine Ware, die der Kapitalbesitzer kaufte, die sich nicht wesentlich von irgendeiner anderen Ware auf dem Markt unterschied und die vom Käufer nach Kräften ausgenutzt wurde. Da sie auf dem Arbeitsmarkt zum angemessenen Preis gekauft wurde, war von einer wechselseitigen Beziehung oder von irgendeiner Verpflichtung von Seiten des Kapitalbesitzers über die Lohnzahlung hinaus nicht die Rede. Wenn Hunderttausende von Arbeitern arbeitslos und am Rande des Hungertodes waren, dann war das eben ihr Pech, die Folge ihrer mangelnden Begabung oder einfach ein soziales oder naturgegebenes Gesetz, an dem nichts zu ändern war. Die Ausbeutung war nichts Persönliches mehr, sondern sie war nun gleichsam etwas Anonymes geworden. Es war das Gesetz des Marktes, das einen Menschen dazu verdammte, für einen Hungerlohn zu arbeiten, und es war nicht die Absicht oder die Habgier eines Einzelnen daran schuld. Niemand war dafür verantwortlich und daher konnte auch niemand diese Situation ändern. Es handelte sich um die ehernen Gesetze der Gesellschaft - oder jedenfalls schien es so.

Im Zwanzigsten Jahrhundert ist eine kapitalistische Ausbeutung der Art, wie sie im Neunzehnten Jahrhundert üblich war, weitgehend verschwunden. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kapitalismus des Zwanzigsten Jahrhunderts genauso wie der des Neunzehnten sich auf ein Prinzip gründet, das man in allen Klassengesellschaften findet: die Benutzung des Menschen durch den Menschen.

Da der moderne Kapitalist den Arbeiter „anstellt“, hat sich die soziale und politische Form dieser Ausbeutung geändert. Dagegen hat sich nicht geändert, dass der Kapitaleigner andere Menschen zum Zweck des eigenen Profits benutzt. Dieses Benutzen hat grundsätzlich nichts damit zu tun, ob die Menschen auf grausame oder auf nicht grausame Weise behandelt werden, sondern es geht um die fundamentale Tatsache, dass ein Mensch einem anderen zu Zwecken dient, die nicht seine eigenen, sondern die seines Arbeitgebers sind. Bei der Vorstellung, dass der Mensch vom Menschen benutzt wird, geht es noch nicht einmal darum, ob der eine Mensch einen anderen Menschen oder sich selbst benutzt. Die Tatsache ändert sich nicht dadurch, dass ein Mensch, ein lebendiges Wesen, kein Selbstzweck mehr ist, sondern dass er zum Mittel für die ökonomischen Interessen eines anderen oder auch für seine eigenen Interessen oder für die eines unpersönlichen Giganten, der Wirtschaftsmaschinerie, wird.

Gegen diese Feststellung liegen zwei Einwände auf der Hand. Der eine lautet, dass es dem Menschen ja freistehe, einen Arbeitsvertrag zu akzeptieren oder abzulehnen, und dass er daher ein freiwilliger Partner in dieser sozialen Beziehung mit seinem Arbeitgeber und kein „Ding“ sei. Aber dieser Einwand übersieht die Tatsache, dass dem Arbeiter erstens nichts anderes übrigbleibt, als auf die gegebenen Bedingungen einzugehen, und zweitens, dass er - selbst wenn er nicht gezwungen wäre, diese Bedingungen zu akzeptieren - trotzdem „angestellt“ wäre, das heißt, dass er für Zwecke benutzt würde, die nicht seine eigenen, sondern die des Kapitals sind, dessen Profit er dient.

Der andere Einwand lautet, dass das gesamte gesellschaftliche Leben, selbst in seiner [IV-070] primitivsten Form, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Kooperation und sogar an Disziplin erfordert, und dass in der komplexeren Form der industriellen Produktion der Einzelne ganz gewiss bestimmte notwendige und spezialisierte Funktionen zu erfüllen hat. Das trifft natürlich zu, aber man übersieht dabei den grundsätzlichen Unterschied: In einer Gesellschaft, in der niemand Macht über den anderen hat, erfüllt jeder seine Funktion auf der Grundlage der Kooperation und Gegenseitigkeit. Keiner kann einem anderen Befehle erteilen, insofern eine solche Beziehung sich lediglich auf Kooperation, auf Liebe, Freundschaft und natürliche Bindungen gründet. Tatsächlich gibt es das ja auch in vielen Situationen unserer heutigen Gesellschaft: Die normale Zusammenarbeit von Mann und Frau in ihrem Familienleben wird weitgehend nicht mehr von der Macht des Ehemannes über seine Frau bestimmt, der er Befehle erteilen kann, wie das in älteren Formen der patriarchalischen Gesellschaft der Fall war, sondern es herrscht das Prinzip der Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit. Das gleiche gilt für die Beziehung zwischen Freunden, insofern diese sich gegenseitig gewisse Dienste leisten und zusammenarbeiten. In diesen Beziehungen würde keiner auch nur im Traum daran denken, dem anderen etwas vorzuschreiben; der einzige Grund, weshalb man von ihm Hilfe erwartet, ist in dem gegenseitigen Gefühl von Liebe, Freundschaft oder einfach in der menschlichen Solidarität begründet. Dass ich einem anderen helfe, geschieht, weil ich mich als menschliches Wesen aktiv um seine Liebe, Freundschaft und Sympathie bemühe. Das ist in der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht der Fall. Der Arbeitgeber hat sich die Dienstleistungen des Arbeiters gekauft, und er mag ihn noch so menschlich behandeln, er wird ihm immer Befehle erteilen, und zwar nicht auf der Grundlage von Gegenseitigkeit, sondern weil er sich seine Arbeitszeit so und so viele Stunden täglich gekauft hat.

Die Benutzung des Menschen durch den Menschen ist Ausdruck des Wertsystems, das dem kapitalistischen System zugrunde liegt. Das Kapital, die tote Vergangenheit, stellt die Arbeitskraft - die lebendige Vitalität und Kraft der Gegenwart - für seine Zwecke an. In der kapitalistischen Hierarchie der Werte steht das Kapital höher als die Arbeitskraft; angehäufte Dinge stehen höher als die Manifestationen des Lebens. Das Kapital bedient sich der Arbeitskraft, und nicht die Arbeitskraft des Kapitals. Wer Kapital besitzt, befiehlt dem, der „nur“ sein eigenes Leben, seine menschliche Geschicklichkeit, seine Vitalität und seine kreative Produktivität besitzt. Die „Dinge“ werden höher bewertet als der Mensch. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeitskraft bedeutet viel mehr als der Konflikt zwischen zwei Klassen, viel mehr als deren Kampf um einen größeren Anteil am Sozialprodukt. Es handelt sich um den Konflikt zwischen zwei Wertprinzipien: zwischen der Welt der Dinge und ihrer Anhäufung und der Welt des Lebens und seiner Produktivität. (Vgl. R. M. Tawney, 1920, S. 99.)

Eng verwandt mit dem Problem der Ausbeutung und der Benutzung, wenngleich noch komplizierter, ist das Problem der Autorität beim Menschen des Neunzehnten Jahrhunderts. Jedes Gesellschaftssystem, in dem eine Bevölkerungsgruppe von einer anderen beherrscht wird, muss sich - besonders wenn letztere eine Minderheit ist - auf ein starkes Gefühl der Autorität gründen, ein Gefühl, das in einer stark patriarchalischen Gesellschaft noch intensiver ist, wo vom männlichen Geschlecht [IV-071] angenommen wird, dass es dem weiblichen überlegen ist und es beherrschen soll. Da das Autoritätsproblem für unser Verständnis der menschlichen Beziehungen in jeder Art von Gesellschaft so ausschlaggebend ist und da sich die autoritäre Einstellung vom Neunzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert grundlegend geändert hat, möchte ich die Diskussion dieses Problems damit beginnen, dass ich auf eine Unterscheidung hinweise, die ich in meinem Buch Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 313-315) getroffen habe und die mir immer noch gültig genug scheint, um als Grundlage für die folgenden Ausführungen zu dienen: Autorität ist nicht eine Eigenschaft, die jemand „hat“ in dem Sinn, wie er Eigentum oder körperliche Eigenschaften hat. Die Autorität bezieht sich auf eine zwischenmenschliche Beziehung, bei welcher der eine den anderen als jemand ansieht, der ihm überlegen ist. Aber es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer Art der Überlegenheits-Unterlegenheits-Beziehung, die man als rationale Autorität, und einer, die man als hemmende oder irrationale Autorität bezeichnen kann.

Ein Beispiel soll zeigen, was ich damit sagen will. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler und die zwischen dem Sklavenhalter und dem Sklaven basieren beide auf der Überlegenheit des einen über den anderen. Die Interessen von Lehrer und Schüler gehen in gleiche Richtung. Der Lehrer ist zufrieden, wenn es ihm gelingt, den Schüler zu fördern; gelingt es ihm nicht, dann ist er ebenso wie der Schüler gescheitert. Der Sklavenhalter dagegen möchte den Sklaven soviel wie möglich ausbeuten; je mehr er aus ihm herausholt, umso befriedigter ist er. Gleichzeitig versucht der Sklave sich, so gut er kann, wenigstens ein Minimum an Glück zu erkämpfen. Diese Interessen sind eindeutig entgegengesetzter Art, denn das, was dem einen von Vorteil ist, gereicht dem anderen zum Schaden. Die Überlegenheit besitzt in beiden Fällen eine unterschiedliche Funktion: Im ersteren Fall ist sie die Voraussetzung dafür, dass demjenigen, der der Autorität unterworfen ist, geholfen wird; im zweiten Fall ist sie die Voraussetzung für seine Ausbeutung.

Die Dynamik ist bei diesen beiden Arten der Autorität ebenfalls unterschiedlicher Art. Je mehr der Schüler lernt, umso mehr schließt sich die Kluft zwischen ihm und seinem Lehrer. Er wird dem Lehrer immer ähnlicher. Mit anderen Worten: Die rationale Autoritätsbeziehung hat die Tendenz sich aufzulösen. Dient die Überlegenheit dagegen als Grundlage für die Ausbeutung, so wird der Abstand auf die Dauer immer größer.

Die psychologische Situation ist ebenfalls in diesen beiden Autoritätssituationen verschieden. In ersterer herrschen die Elemente von Liebe, Bewunderung und Dankbarkeit vor. Die Autoritätsperson ist gleichzeitig ein Vorbild, mit dem man sich teilweise oder ganz identifizieren möchte. In der zweiten Situation werden sich Groll und Feindseligkeit gegen den Ausbeuter entwickeln, da die Unterordnung unter ihn im Widerspruch zu den eigenen Interessen steht. Aber oft würde der Hass - wie im Fall des Sklaven - nur zu Konflikten führen, unter denen der Sklave zu leiden hätte, ohne dass er eine Chance hätte, sich durchzusetzen. Er wird daher meist dazu neigen, das Gefühl des Hasses zu verdrängen und wird es manchmal sogar durch ein Gefühl blinder Bewunderung ersetzen. Diese Bewunderung hat zwei Funktionen: 1. das schmerzhafte und gefährliche Gefühl des Hasses zu beseitigen und 2. das Gefühl der [IV-072] Demütigung abzuschwächen. Wenn der Betreffende, der mich beherrscht, so wunderbar und vollkommen ist, dann brauche ich mich nicht zu schämen, wenn ich ihm gehorche. Ich kann nicht seinesgleichen werden, weil er ja soviel stärker, klüger und besser ist als ich. Die Folge ist, dass bei der hemmenden Art der Autorität entweder das Element des Hasses oder das der Überschätzung und übermäßigen Bewunderung der irrationalen Autorität dazu tendieren wird, noch zuzunehmen. Dagegen wird bei der rationalen Art von Autorität die Tendenz bestehen, dass die Stärke der emotionalen Bindungen im gleichen Verhältnis abnimmt, wie der der Autorität Unterworfene stärker und damit der Autorität ähnlicher wird.

Der Unterschied zwischen rationaler und hemmender Autorität ist nur relativ. Selbst in der Beziehung zwischen Sklave und Herr sind für den Sklaven vorteilhafte Elemente enthalten. Er erhält ein Minimum an Nahrung und Unterkunft, was ihm die Möglichkeit gibt, für seinen Herrn zu arbeiten. Andererseits fehlt der Widerstreit der Interessen in der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler nur dann ganz, wenn es sich um eine ideale Beziehung handelt. Es gibt zwischen diesen beiden Extremfällen viele Abstufungen, wie zum Beispiel in der Beziehung eines Fabrikarbeiters zu seinem Chef, in der eines Bauernsohns zu seinem Vater oder einer Hausfrau zu ihrem Ehemann. Aber wenn auch in der Wirklichkeit die beiden Autoritätstypen miteinander verquickt sind, so sind sie doch ihrem Wesen nach verschieden, und man muss daher bei der Analyse einer konkreten Autoritätssituation stets das spezifische Gewicht der jeweiligen Autorität bestimmen.

Der Gesellschafts-Charakter des Neunzehnten Jahrhunderts ist ein gutes Beispiel für eine Mischung aus rationaler und irrationaler Autorität. Der Gesellschafts-Charakter war im wesentlichen noch hierarchischer Art, wenn es sich auch nicht mehr um den hierarchischen Charakter einer Feudalgesellschaft handelte, die sich auf ein gottgegebenes Gesetz und auf die Tradition gründete, sondern vielmehr auf den Kapitalbesitz. Wer Kapital besaß, konnte die Arbeitskraft der Besitzlosen kaufen und darüber verfügen, und letztere hatten zu gehorchen, wenn sie nicht verhungern wollten. Das neue und das alte hierarchische Prinzip hatten sich bis zu einem gewissen Grad miteinander vermischt. Der Staat pflegte - besonders in seiner monarchischen Form - die alten Tugenden des Gehorsams und der Unterwürfigkeit in der Absicht, sie auf neue Inhalte und Werte anzuwenden. Der Gehorsam war im Mittelstand des Neunzehnten Jahrhunderts immer noch eine der fundamentalen Tugenden, und Ungehorsam war eines der Grundlaster.

Gleichzeitig hatte sich jedoch die rationale Autorität Seite an Seite mit der irrationalen weiterentwickelt. Seit der Renaissance und der Reformation hatte der Mensch angefangen, sich auf die eigene Vernunft als Leitfaden seines Handelns und Werturteils zu verlassen. Er war stolz darauf, eigene Überzeugungen zu besitzen, und respektierte die Autorität von Wissenschaftlern, Philosophen und Geschichtsschreibern, die ihm behilflich waren, sich ein eigenes Urteil zu bilden und sich seiner Überzeugungen sicher zu sein. Die Entscheidung zwischen wahr und unwahr, zwischen richtig und falsch war von höchster Bedeutung, und das moralische und intellektuelle Gewissen nahm in der Charakterstruktur des Menschen des Neunzehnten Jahrhunderts einen hervorragenden Platz ein. Mag sein, dass er seine [IV-073] Gewissensgrundsätze nicht auf Menschen von anderer Hautfarbe und vielleicht nicht einmal auf Angehörige einer anderen Gesellschaftsklasse anwandte, aber er ließ sich doch bis zu einem gewissen Grad von seinem Gefühl für Recht und Unrecht leiten; zum mindesten verdrängte er das Bewusstsein, unrecht zu tun, wenn er es schon nicht vermeiden konnte.

Nahe verwandt mit dieser intellektuellen und moralischen Gewissenhaftigkeit ist ein anderer Charakterzug des Neunzehnten Jahrhunderts: das Gefühl des Stolzes und des meisterlichen Könnens. Wenn wir uns heute Bilder aus dem Leben des Neunzehnten Jahrhunderts anschauen und die Herren mit ihrem Bart, ihrem Zylinder und Spazierstock sehen, dann kommt uns dieser männliche Stolz lächerlich vor, und wir sehen darin eine negative Seite des Neunzehnten Jahrhunderts - diese männliche Eitelkeit und dieser naive Glaube an sich selbst als die höchste Vollendung von Natur und Geschichte. Aber besonders wenn wir bedenken, wie uns dieser Charakterzug heute völlig abgeht, erkennen wir auch die positiven Seiten dieses Stolzes. Der Mensch hatte damals das Gefühl, sich sozusagen selbst in den Sattel gehoben zu haben, sich von der Beherrschung durch die Naturkräfte befreit zu haben und zum ersten Mal in der Geschichte selbst ihr Herr geworden zu sein. Er hatte sich von den Fesseln mittelalterlichen Aberglaubens befreit, und es war ihm in den hundert Jahren zwischen 1814 und 1914 sogar gelungen, eine der friedlichsten Perioden der Geschichte zu schaffen, die es je gegeben hat. Er fühlte sich als Individuum, das nur den Gesetzen der Vernunft zu gehorchen und seinen eigenen Entschlüssen zu folgen hatte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Gesellschafts-Charakter des Neunzehnten Jahrhunderts im wesentlichen von Konkurrenzkampf, vom Horten, von der Ausbeutung und einer autoritären, aggressiven und individualistischen Einstellung geprägt war. Unserer späteren Diskussion vorgreifend, können wir schon hier nachdrücklich auf den großen Unterschied zwischen dem Kapitalismus des Neunzehnten und dem des Zwanzigsten Jahrhunderts hinweisen. Anstelle der Orientierung auf Ausbeutung und Horten finden wir jetzt den rezeptiven und den Marketing-Charakter. Anstelle des Konkurrenzkampfes finden wir eine wachsende Tendenz zur „Teamarbeit“. Man strebt nicht mehr nach einem ständig wachsenden Profit, sondern man möchte ein ständiges sicheres Einkommen haben. Anstatt andere auszubeuten, sucht man den Reichtum unter mehr Menschen zu verbreiten und sie daran teilnehmen zu lassen. Andererseits zeigt sich die Tendenz, andere - und sich selbst - zu manipulieren. An die Stelle einer rationalen oder irrationalen, aber offenen Autorität ist die anonyme Autorität der öffentlichen Meinung und des Marktes getreten.[24] Das individuelle Gewissen wird durch das Bedürfnis, sich anzupassen und die Billigung der anderen zu finden, ersetzt; an die Stelle des Gefühls des Stolzes und der Herrschaft über die Welt ist ein ständig zunehmendes, wenngleich meist unbewusstes Gefühl der Ohnmacht getreten.[25] [IV-074]

Blicken wir auf die pathologischen Probleme des Menschen des Neunzehnten Jahrhunderts zurück, so hängen diese natürlich eng mit den Besonderheiten des Charakters seiner Gesellschaft zusammen. Die Ausbeutung und das Horten führten zu menschlicher Not und zu einem Mangel an Respekt vor der Würde des Menschen. Dies veranlasste Europa dazu, Afrika und Asien und die eigene Arbeiterklasse bedenkenlos und ohne Rücksicht auf menschliche Werte auszubeuten. Die andere pathogene Erscheinung, die Rolle, welche die irrationale Autorität und das Bedürfnis, sich ihr unterzuordnen, spielten, führte zur Verdrängung von Gedanken und Gefühlen, die von der Gesellschaft für tabu erklärt waren. Das augenfälligste Symptom war die Verdrängung von Sexualität und allem Natürlichen am Körper, an Bewegung, in der Kleidung, im Architekturstil usw. Nach Freud führte diese Verdrängung zu verschiedenen Formen neurotischer Erkrankungen.

Die Reformbewegungen im Neunzehnten und zu Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts, welche die gesellschaftlichen Krankheitserscheinungen zu heilen suchten, gehen von diesen Hauptsymptomen aus. Sämtliche Formen des Sozialismus - vom Anarchismus bis zum Marxismus - betonten die Notwendigkeit, die Ausbeutung abzuschaffen und den Arbeiter in einen unabhängigen, freien und geachteten Menschen zu verwandeln. Sie glaubten, wenn die wirtschaftliche Not beseitigt sei und der Arbeiter nicht mehr vom Kapitalisten beherrscht werde, würden alle positiven Errungenschaften des Neunzehnten Jahrhunderts voll zur Reife gelangen, und seine schlechten Eigenschaften würden verschwinden. Ähnlich glaubte Freud, wenn die sexuelle Verdrängung beträchtlich vermindert werde, würden die Neurosen und alle möglichen Formen von seelischen Krankheiten hierdurch erheblich zurückgehen (wenn auch sein ursprünglicher Optimismus in seinem späteren Leben mehr und mehr gedämpft wurde). Die Liberalen waren der Meinung, die völlige Befreiung von irrationalen Autoritäten würde ein neues Goldenes Zeitalter heraufführen. Die Vorschläge, welche die Liberalen, die Sozialisten und die Psychoanalytiker für die Heilung menschlicher Übel zu bieten hatten, unterschieden sich zwar voneinander, passten aber nichtsdestoweniger in die Pathologie und Symptomatologie hinein, die für das neunzehnte Jahrhundert kennzeichnend waren. Was war auch natürlicher als zu erwarten, dass durch die Abschaffung der Ausbeutung und der wirtschaftlichen Not oder durch die Beseitigung sexueller Verdrängungen und irrationaler Autoritäten der Mensch in ein Zeitalter eintreten würde, das freier, glücklicher und fortschrittlicher wäre, als es das neunzehnte Jahrhundert war?

Nun ist ein halbes Jahrhundert vergangen, und die Hauptforderungen der Reformer des Neunzehnten Jahrhunderts sind erfüllt. Was das wirtschaftlich am meisten fortgeschrittene Land, die Vereinigten Staaten, betrifft, so ist dort die Ausbeutung der Massen in einem Maß zurückgegangen, wie es noch zu Marx’ Zeiten phantastisch erschienen wäre. Anstatt dass die Arbeiterklasse bei der wirtschaftlichen Entwicklung der Gesamtgesellschaft immer mehr ins Hintertreffen geriet, hat sie in wachsendem Maß am nationalen Wohlstand teil, und die Annahme ist völlig berechtigt, dass es in [IV-075] ein oder zwei Generationen in den Vereinigten Staaten keine ausgesprochene Armut mehr geben wird, vorausgesetzt dass keine größeren Katastrophen eintreten. In enger Beziehung zu der zunehmenden Beseitigung der wirtschaftlichen Not steht die Tatsache, dass die menschliche und politische Situation des Arbeiters sich drastisch verändert hat. Hauptsächlich dank seiner Gewerkschaften ist er zu einem sozialen „Partner“ des Managements geworden. Man kann ihn jetzt nicht mehr herumkommandieren, entlassen oder schlecht behandeln, wie das noch vor dreißig Jahren der Fall war. Er blickt jetzt sicherlich nicht mehr zum „Chef“ auf, als ob dieser ein höheres Wesen sei. Er verehrt ihn weder, noch hasst er ihn, wenn er ihn auch vielleicht darum beneidet, dass er es in Bezug auf die gesellschaftlich erstrebenswerten Ziele schon weiter gebracht hat. Was die Unterwürfigkeit gegenüber einer irrationalen Autorität betrifft, so hat sich seit dem Neunzehnten Jahrhundert das Bild auch in Bezug auf die Eltern-Kind-Beziehungen drastisch verändert. Die Kinder haben keine Angst mehr vor ihren Eltern. Es sind ihre Kameraden, und wenn sich jemand etwas unbehaglich fühlt, dann ist es nicht das Kind, sondern es sind die Eltern, die befürchten, altmodisch zu sein. In der Industrie wie auch in der Armee herrscht ein Geist der „Teamarbeit“ und einer Gleichberechtigung, wie sie noch vor fünfzig Jahren unvorstellbar gewesen wären. Überdies ist auch die sexuelle Verdrängung in bemerkenswerter Weise zurückgegangen; nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine sexuelle Revolution, bei der die alten Hemmungen und Prinzipien über Bord geworfen wurden. Der Gedanke, sich einen sexuellen Wunsch zu versagen, galt nun als altmodisch oder ungesund. Obwohl gegen diese Einstellung noch eine gewisse Reaktion vorhanden ist, ist doch insgesamt gesehen das für das neunzehnte Jahrhundert typische System von Tabus und Verdrängungen fast ganz verschwunden.

Vom Standpunkt des Neunzehnten Jahrhunderts aus gesehen haben wir fast alles erreicht, was für eine gesündere Gesellschaft notwendig schien, und tatsächlich sind auch viele unter denen, die immer noch in den Begriffen von damals denken, davon überzeugt, dass wir immer weitere Fortschritte machen. Folglich glauben auch sie, dass das einzige, was den weiteren Fortschritt bedroht, in autoritären Gesellschaften wie der Sowjetunion zu finden ist, die mit ihrer skrupellosen Ausbeutung der Arbeiter zum Zweck schnellerer Kapitalanhäufung und mit ihrer skrupellosen politischen Autoritätsausübung, die für eine Fortführung dieser Ausbeutung notwendig ist, in vieler Hinsicht der früheren Phase des Kapitalismus ähnlich ist. Wer jedoch unsere gegenwärtige Gesellschaft nicht mit den Augen des Neunzehnten Jahrhunderts betrachtet, der erkennt deutlich, dass die Erfüllung der Hoffnungen dieses Neunzehnten Jahrhunderts keineswegs zu den erwarteten Resultaten geführt hat. Tatsächlich hat es den Anschein, dass trotz allen materiellen Wohlstands, trotz aller politischen und sexuellen Freiheiten die Welt um die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts seelisch kränker ist, als sie es im Neunzehnten Jahrhundert war. „Wir sind nicht mehr in Gefahr, zu Sklaven zu werden, sondern zu Robotern“, hat Adlai Stevenson sehr scharfsinnig in seiner Ansprache in der Columbia University 1954 festgestellt. Es gibt keine offene Autorität mehr, die uns einschüchtert, aber wir werden von der Angst vor der anonymen Autorität der Konformität beherrscht. Wir ordnen uns niemandem mehr persönlich unter; wir haben keine Auseinandersetzungen mehr mit Autoritätspersonen, [IV-076] aber wir haben auch keine eigenen Überzeugungen und fast keine Individualität und fast kein Selbstgefühl mehr. Es liegt auf der Hand, dass die Diagnose unserer Krankheitserscheinungen nicht nach Art des Neunzehnten Jahrhunderts erfolgen kann. Wir müssen die spezifischen pathologischen Probleme unserer eigenen Zeit erkennen, um uns ein Bild davon machen zu können, was notwendig wäre, um die westliche Welt vor einer wachsenden seelischen Erkrankung zu bewahren. Ich will im Folgenden diese Diagnose zu stellen versuchen, indem ich mich mit dem Gesellschafts-Charakter des westlichen Menschen im Zwanzigsten Jahrhundert beschäftige.

c) Gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen im Zwanzigsten Jahrhundert

Im Kapitalismus haben sich zwischen dem Neunzehnten und der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts bezüglich der Industrietechnik, der Wirtschaft und der Gesellschaftsstruktur drastische Veränderungen vollzogen. Nicht weniger drastisch sind die Veränderungen im Charakter der Menschen. Während wir bereits gewisse Wandlungen des Kapitalismus bezüglich der Formen der Ausbeutung, der Art der Autoritätsausübung und der Rolle, die das Besitzstreben spielte, vom Neunzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert feststellen konnten, wollen wir uns im Folgenden mit jenen ökonomischen und charakterologischen Zügen des gegenwärtigen Kapitalismus beschäftigen, die in unserer Zeit von fundamentaler Bedeutung sind, auch wenn ihr Ursprung im Neunzehnten Jahrhundert oder einer noch früheren Zeit liegen mag.

Wenn wir mit einer negativen Feststellung beginnen, so ist zu sagen, dass die feudalen Merkmale in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft immer mehr verschwinden, wodurch die kapitalistische Gesellschaft in Reinkultur immer stärker in die Augen fällt. Allerdings ist das Fehlen von Überresten aus der Feudalzeit in den Vereinigten Staaten noch viel deutlicher zu erkennen als in Westeuropa. Der Kapitalismus ist in den Vereinigten Staaten nicht nur mächtiger und weiter fortgeschritten als in Europa, er ist auch das Modell, auf das sich der europäische Kapitalismus hinentwickelt. Er dient als Modell nicht etwa deshalb, weil Europa versucht, ihn nachzuahmen, sondern weil er die fortgeschrittenste Form des Kapitalismus darstellt, die von allen feudalen Überresten und Fesseln frei ist. Das feudale Europa hat jedoch neben seinen unverkennbaren negativen Eigenschaften auch viele humane Züge, die äußerst anziehend sind, wenn man sie mit der durch den reinen Kapitalismus erzeugten Einstellung vergleicht. Die Kritik Europas an den Vereinigten Staaten bezieht sich im wesentlichen auf die älteren humanen Werte des Feudalismus, soweit diese in Europa noch lebendig sind. Es ist eine Kritik an der Gegenwart im Namen einer Vergangenheit, die auch in Europa selbst schnell im Verschwinden begriffen ist. Deshalb ist der Unterschied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten in dieser Hinsicht lediglich der Unterschied zwischen einer älteren und einer neueren Phase des Kapitalismus, zwischen einem noch mit feudalen Überresten untermischten Kapitalismus und seiner reinen Form.

Die augenfälligste Veränderung vom Neunzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert ist die technische Veränderung, die zunehmende Verwendung zunächst der [IV-077] Dampfmaschine, dann des Verbrennungsmotors, der Elektrizität und neuerdings auch der Atomenergie. Die Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Handarbeit mehr und mehr durch die Arbeit von Maschinen und darüber hinaus die menschliche Intelligenz durch die Intelligenz der Maschinen ersetzt wird. Während noch 1850 fünfzehn Prozent der für die Arbeit notwendigen Energie von Menschen aufgebracht wurde und Tiere 79 Prozent und Maschinen sechs Prozent beisteuerten, wird das Verhältnis 1960 drei zu eins zu 96 Prozent lauten. (Vgl. Th. Carskadom und R. Modley, 1949, S. 3.) Seit der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts finden wir eine wachsende Tendenz, automatisch gesteuerte Maschinen zu verwenden, die ihr eigenes „Gehirn“ besitzen und die im gesamten Produktionsprozess eine grundlegende Veränderung hervorrufen.

Die technische Veränderung in der Produktionsweise ist durch eine ständig zunehmende Konzentration des Kapitals bedingt, auf die sie ihrerseits auch wieder angewiesen ist. Die ständig abnehmende Zahl und Bedeutung kleinerer Firmen steht in direktem Verhältnis zur Zunahme der Wirtschaftskolosse. Ein paar Zahlen mögen das in seinen allgemeinen Umrissen wohlbekannte Bild noch etwas verdeutlichen. Von 573 unabhängigen amerikanischen Firmen, welche die meisten Aktien besaßen, die 1930 auf der New Yorker Börse gehandelt wurden, kontrollierten 130 über 80 Prozent des gesamten Anlagekapitals sämtlicher hier repräsentierter Firmen. Die 200 größten Gesellschaften, bei denen es sich nicht um Banken handelte, kontrollierten „fast die Hälfte des nicht von Banken verwalteten Kapitals, während die andere Hälfte 300 000 kleineren Firmen gehörte“. (A. A. Berle und G. C. Means, 1940, S. 27 f.) Außerdem sollte man sich darüber klar sein, dass der Einfluss einer dieser Riesenkonzerne weit über die ihrer direkten Kontrolle unterstehenden Vermögenswerte hinausgeht. „Kleinere Betriebe, die an die größeren Gesellschaften verkaufen oder etwas von ihnen beziehen, dürften von diesen in weit stärkerem Maß beeinflusst werden als von anderen kleineren Unternehmen, mit denen sie in Geschäftsbeziehung stehen. In vielen Fällen hängt das weitere Gedeihen der kleineren Firmen von der Gunst der größeren ab, und es ist fast unvermeidlich, dass die Interessen letzterer zu den Interessen ersterer werden. Der Einfluss der großen Unternehmen auf die Preise wird oft allein durch deren Größe stark erhöht, selbst wenn es sich keineswegs um ein Preismonopol handelt. Ihr politischer Einfluss kann ungeheuer sein. Wenn daher grob gesagt die Hälfte des in Aktien angelegten Kapitals von zweihundert Großunternehmen und die andere Hälfte von den kleineren Firmen kontrolliert wird, so darf man wohl annehmen, dass sehr viel mehr als die Hälfte der Industrie von diesen Großunternehmen beherrscht wird. Diese Konzentration hat umso größere Bedeutung, als sie zur Folge hat, dass annähernd 2 000 Personen aus einer Bevölkerung von insgesamt 125 Millionen in den Vereinigten Staaten in der Lage sind, die Hälfte der Industrie zu kontrollieren und zu lenken.“ (A. A. Berle und G. C. Means, 1940, S. 32 f.) Diese Machtkonzentration ist seit 1933 ständig gewachsen und ist noch nicht zum Stillstand gekommen.

Die Zahl der selbständigen Unternehmer hat beträchtlich abgenommen. Während zu Beginn des neunzehntes Jahrhunderts etwa vier Fünftel der Beschäftigten selbständige Unternehmer waren, gehörte um 1870 nur noch ein Drittel dieser Gruppe an, und 1940 gehörte nur noch ein Fünftel aller Beschäftigten zu dieser alten [IV-078] Mittelklasse. Ihre relative Stärke betrug also nur noch 25 Prozent im Vergleich zu den Verhältnissen hundert Jahre zuvor. 27 000 Großunternehmen, die nur ein Prozent sämtlicher Firmen in den Vereinigten Staaten ausmachen, beschäftigen über 50 Prozent sämtlicher heute im Geschäftsleben tätigen Menschen, während andererseits 1,5 Millionen (nicht-landwirtschaftliche) Einzelbetriebe nur sechs Prozent aller im Geschäftsleben Tätigen beschäftigen. (Die Zahlenangaben sind entnommen C. W. Mills, 1951, S. 63 ff.)

Wie aus diesen Zahlen bereits hervorgeht, geht eine ungeheure Zunahme der in diesen Großunternehmen Beschäftigten Hand in Hand mit deren Konzentration. Während die alte Mittelklasse, die sich aus Farmern, selbständigen Geschäftsleuten und Angehörigen freier Berufe zusammensetzte, früher 85 Prozent des gesamten Mittelstandes ausmachte, sind es jetzt nur noch 44 Prozent. Die neuen Angehörigen der Mittelklasse haben sich im gleichen Zeitraum von fünfzehn auf 56 Prozent vermehrt. Diese neue Mittelschicht setzte sich zusammen aus Managern, deren Zahl von zwei auf sechs Prozent gestiegen ist, aus Angehörigen höherer Berufe mit festem Gehalt - früher vier, jetzt vierzehn Prozent -, aus Verkaufspersonal - früher sieben, jetzt vierzehn Prozent, und aus Büroangestellten, deren Zahl von zwei auf 22 Prozent angewachsen ist. Alles in allem ist diese neue Mittelklasse zwischen 1870 und 1940 von sechs auf 25 Prozent der Gesamtzahl aller Beschäftigten angewachsen, während die Zahl der Lohnarbeiter gleichzeitig von 61 Prozent auf 55 Prozent gesunken ist. Mills formuliert das scharfsinnig so: „(...) weniger Menschen handhaben Dinge, und mehr Menschen manipulieren Menschen und Symbole“ (C. W. Mills, 1951, S. 63).

Hand in Hand mit der wachsenden Bedeutung der Großunternehmen geht noch eine andere Entwicklung von größter Wichtigkeit: die fortschreitende Trennung des Managements von den Eigentümern. Dies veranschaulichen aufschlussreiche Zahlen in dem klassischen Werk von A. A. Berle und G. C. Means (1940). Von den 144 Unternehmen unter den 200 größten Gesellschaften (im Jahre 1930), von denen entsprechende Informationen zu bekommen waren, hatten nur zwanzig weniger als 5 000 Aktionäre, während 71 von ihnen zwischen 20 000 und 500 000 Aktionäre hatten. Nur in kleinen Betrieben scheint das Management noch zu den wichtigen Aktionären zu gehören, während in den Großunternehmen, d. h. in den bedeutendsten Firmen, die Eigentümer und das Management völlig voneinander getrennt sind. In einigen der größten Eisenbahngesellschaften und Versorgungsbetriebe besaß 1929 kein einziger Aktionär mehr als 2,74 Prozent des Kapitals, und diese Situation herrschte nach Berle und Means im gesamten Industriebereich.

Wenn man die Industrien nach dem durchschnittlichen Aktienbesitz des Managements klassifiziert, (...) so findet man, dass der Anteil der Vorstandsmitglieder und Direktoren fast genau im umgekehrten Verhältnis zur durchschnittlichen Größe des betreffenden Unternehmens steht. Mit nur zwei größeren Ausnahmen war der Anteil des Managements am Aktienkapital umso kleiner, je größer das Unternehmen war. Bei der Eisenbahn besaß das Management 1,4 Prozent des Aktienkapitals der Gesellschaft, das durchschnittlich 52 Millionen Dollar pro Gesellschaft betrug (...) und in verschiedenen Bergwerks- und Minenunternehmen waren es 1,8 Prozent. Nur bei kleinen Unternehmen scheint das Management einen beträchtlichen Aktienanteil [IV-079] zu besitzen. Es waren unter 20 Prozent außer in Betrieben, deren Kapitalbesitz im Durchschnitt unter einer Million Dollar lag, während nur drei Industriegruppen, die sich sämtlich aus Firmen zusammensetzten, welche im Durchschnitt über weniger als 200 000 Dollar verfügten, Direktoren und Aufsichtsratsmitglieder hatten, die über die Hälfte der Aktien besaßen. (A. A. Berle und G. C. Means, 1940, S. 52.)

Angesichts der beiden Tendenzen, der relativen Zunahme der Großunternehmen und des relativ geringen Aktienbesitzes des Managements in diesen Großunternehmen, zeigt sich deutlich der allgemeine Trend, dass die Kapitaleigner mit dem Management immer weniger identisch sind. Wie das Management das Unternehmen trotz der Tatsache unter Kontrolle hat, dass es keinen beträchtlichen Teil des Aktienkapitals selbst besitzt, ist ein soziologisches und psychologisches Problem, auf das wir noch zurückkommen werden.

Eine weitere grundsätzliche Veränderung, die den Kapitalismus des Neunzehnten Jahrhunderts von unserem heutigen Kapitalismus unterscheidet, ist die wachsende Bedeutung des Binnenmarkts. Unser gesamter Wirtschaftsapparat beruht auf dem Prinzip der Massenproduktion und des Massenkonsums. Während im Neunzehnten Jahrhundert die allgemeine Tendenz darauf hinauslief, zu sparen und keine Verpflichtungen einzugehen, die man nicht sofort bezahlen konnte, haben wir heute genau das entgegengesetzte System. Man versucht jedermann dazu zu veranlassen, soviel wie nur irgend möglich zu kaufen, und das noch bevor er das Geld dafür zusammengespart hat. Das Bedürfnis nach noch mehr Konsum wird von der Werbung und all den anderen Methoden, die einen psychologischen Druck auf uns ausüben, noch stark stimuliert. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg der Arbeiterklasse. Besonders in den Vereinigten Staaten, aber auch in ganz Europa, hat die Arbeiterschaft Anteil an der vergrößerten Produktion des gesamten Wirtschaftssystems. Der Arbeitslohn und die zusätzlichen Sozialleistungen, die dem Arbeiter zugute kommen, ermöglichen ihm ein Konsumniveau, das noch vor hundert Jahren einfach unglaublich erschienen wäre. Seine gesellschaftliche und wirtschaftliche Macht ist in gleicher Weise gestiegen, und das nicht nur in Bezug auf sein Einkommen und seine Sozialbezüge, sondern auch hinsichtlich seiner menschlichen und gesellschaftlichen Rolle im Betrieb.

Werfen wir noch einen Blick auf die wichtigsten Elemente im Kapitalismus des Zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelt sich um das Verschwinden der feudalen Züge, um die revolutionierende Zunahme der Industrieproduktion, um die wachsende Konzentration des Kapitals, um die ständige Vergrößerung der Betriebe und des Verwaltungsapparats, um die immer größere Zahl von Menschen, die Zahlen und Menschen manipulieren, um die Trennung von Eigentümern und Management in den Unternehmen, um den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg der Arbeiterklasse, um die neuen Arbeitsmethoden in Fabrik und Büro. Ich möchte jetzt alle diese Veränderungen unter einem etwas anderen Gesichtspunkt untersuchen. Das Verschwinden der feudalen Faktoren bedeutet das Verschwinden der irrationalen Autorität. Von niemand wird mehr angenommen, dass er durch seine Geburt, durch den Willen Gottes oder das Naturgesetz etwas Besseres ist als sein Nachbar. Jedermann gilt als [IV-080] ebenbürtig und frei. Niemand darf ausgebeutet oder auf Grund eines angeblich natürlichen Rechtes herumkommandiert werden. Wenn jemand von einem anderen Befehle erhält, dann deshalb, weil dieser seine Arbeitskraft oder seine Dienstleistungen auf dem Arbeitsmarkt gekauft hat. Er befiehlt nur, weil sie beide frei und einander ebenbürtig sind und daher miteinander einen Vertrag abschließen konnten. Freilich überlebte sich zusammen mit der irrationalen auch die rationale Autorität. Wenn der Markt und der Vertrag die Beziehungen regulieren, dann braucht man nicht mehr zu wissen, was recht und unrecht und was gut und böse ist. Man braucht sich nur darum zu kümmern, dass alles fair zugeht - dass es sich um ein faires Tauschgeschäft handelt und dass alles glatt „läuft“ und funktioniert.

Ein anderes entscheidendes Erlebnis des Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts ist das Produktionswunder. Er verfügt jetzt über Kräfte, die tausendmal stärker sind als die, welche ihm die Natur zuvor in die Hand gab. Dampfkraft, Öl und Elektrizität sind zu seinen Dienern und Lasttieren geworden. Er überquert die Meere und die Kontinente - zuerst in Wochen, dann in Tagen und heute in Stunden. Er scheint das Gesetz der Schwerkraft überwunden zu haben und fliegt durch die Luft. Er verwandelt Wüsten in fruchtbares Land, er macht Regen, anstatt darum zu beten. Das Wunder der Produktion führt zum Wunder des Konsums. Es gibt die traditionellen Schranken nicht mehr, die jemand davon abhalten könnten, irgendetwas wonach ihm gelüstet zu kaufen. Er muss nur das Geld dazu haben. Aber mehr und mehr Menschen verfügen über dieses Geld - vielleicht nicht gerade für echte, aber doch für synthetische Perlen; sie können sich Fordwagen kaufen, die wie Cadillacs aussehen, oder billige Kleider, die wie teure aussehen, oder Zigaretten, und zwar die gleichen Marken, die auch der Millionär raucht. Alles nur irgend Erreichbare kann man sich kaufen, kann man konsumieren. Hat es jemals eine Gesellschaft gegeben, wo ein solches Wunder sich ereignet hätte?

Die Menschen arbeiten zusammen. Tausende strömen in die Fabriken und Büros - sie kommen in ihren Wagen, mit der U-Bahn, im Bus und mit der Eisenbahn -, sie arbeiten zusammen nach einem von den Experten vorgeschriebenen Rhythmus, nach Methoden, welche die Experten ausgearbeitet haben - nicht zu schnell und nicht zu langsam, aber immer in Zusammenarbeit; jeder als Teil des Ganzen. Am Abend strömt alles wieder zurück. Sie lesen alle die gleichen Zeitungen, sie hören sich dieselben Radioprogramme an, sie sehen dieselben Filme. Es sind die gleichen für die oben auf der Leiter und für die auf der untersten Stufe, für die Intelligenten und für die Dummen, für die Gebildeten und die Ungebildeten. Man produziert und konsumiert, man hat seinen Spaß miteinander, man marschiert im gleichen Schritt, ohne Fragen zu stellen. Das ist der allgemeine Lebensrhythmus.

Welche Art von Menschen braucht dann unsere Gesellschaft? Welche Art von Gesellschafts-Charakter passt zum Kapitalismus des Zwanzigsten Jahrhunderts?

Wir brauchen Menschen, die reibungslos in großen Gruppen zusammenarbeiten, die mehr und mehr konsumieren möchten, und deren Geschmack standardisiert und leicht zu beeinflussen und vorauszusagen ist.

Wir brauchen Menschen, die sich frei und unabhängig und keiner Autorität, keinerlei Prinzipien und keinem Gewissen unterworfen fühlen und die dennoch bereit sind, sich [IV-081] befehlen zu lassen, das zu tun, was von ihnen erwartet wird, sich reibungslos in den Gesellschaftsapparat einzuordnen. Wie kann der Mensch ohne Gewalt und ohne Führer und ohne Ziel gelenkt werden - zu keinem anderen Zweck als immer in Bewegung zu bleiben, zu funktionieren und voranzukommen?

d) Die charakterologischen Veränderungen in der Gesellschaft des Zwanzigsten Jahrhunderts
1. Quantifizierung und Abstraktion

Wenn man den Gesellschafts-Charakter des heutigen Menschen analysieren will, so kann man sich dabei genau wie bei der Beschreibung der Charakterstruktur eines einzelnen Menschen der verschiedensten Methoden bedienen. Diese Methoden können sich entweder in Bezug auf die Tiefe unterscheiden, bis zu der die Analyse vordringt, oder sie können sich mit verschiedenen Aspekten befassen, die allesamt „in die Tiefe gehen“, aber vom Forscher je nach seinen speziellen Interessen ausgewählt werden.

In der folgenden Analyse habe ich mir die Entfremdung als Ausgangspunkt gewählt, von dem aus ich meine Untersuchung des gegenwärtigen Gesellschafts-Charakters entwickeln möchte. Der eine Grund hierfür ist, dass mir dieser Begriff an die tiefste Schicht der modernen Persönlichkeit zu rühren scheint. Außerdem scheint er mir am besten dazu geeignet, das Wechselspiel zwischen der heutigen sozio-ökonomischen Struktur und der Charakterstruktur des Durchschnittsmenschen aufzuzeigen. (Der mit dem in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 47-56) entwickelten Begriff der Marketing-Orientierung vertraute Leser wird erkennen, dass der Begriff der Entfremdung der allgemeinere ist, dem der Begriff der Marketing-Orientierung zugeordnet ist.)

Bevor wir jedoch die Entfremdung erörtern, müssen wir uns zunächst mit den grundlegenden ökonomischen Merkmalen des Kapitalismus befassen: mit dem Prozess der Quantifizierung und dem der Abstraktion.

Der mittelalterliche Handwerker stellte seine Waren für einen relativ kleinen und ihm bekannten Kundenkreis her. Seine Preise bestimmte die Notwendigkeit, einen Gewinn zu erzielen, der es ihm erlaubte, in dem herkömmlichen Stil zu leben, der seinem gesellschaftlichen Stand entsprach. Er kannte seine Herstellungskosten aus Erfahrung, und selbst wenn er ein paar Gesellen und Lehrlinge beschäftigte, so brauchte er für seine Geschäftsführung doch keine komplizierte Buchhaltung oder Bilanzrechnung. Das gleiche galt für den Bauern, der für seine Erzeugnisse noch weniger quantifizierende, abstrahierende Methoden brauchte. Im Gegensatz dazu beruht der moderne Geschäftsbetrieb auf der Bilanz. Man kann sich hier nicht mehr auf die eigenen konkreten und unmittelbaren Feststellungen verlassen, wie das der Handwerker zu tun pflegte, wenn er sich seinen Gewinn ausrechnete. Heute kann man das Rohmaterial, die Maschinen, die Arbeitslöhne wie auch das Produkt selbst in gleicher Weise in Bezug auf ihren Geldwert ausdrücken, so dass sie vergleichbar geworden sind und in die Gewinn- und Verlustrechnung hineinpassen. Alles, was im Betrieb geschieht, muss genau quantifizierbar sein, und nur die Bilanz, der exakte Vergleich der in [IV-082] Zahlen ausgedrückten wirtschaftlichen Prozesse, sagt dem Manager, ob und bis zu welchem Grad seine Geschäftsführung gewinnbringend und daher sinnvoll war.

Diese Umwandlung vom Konkreten ins Abstrakte geht heute weit über die Bilanz und die Quantifizierung der wirtschaftlichen Gegebenheiten im Produktionsbereich hinaus. Der moderne Geschäftsmann rechnet nicht nur mit Millionen von Dollar, sondern auch mit Millionen von Kunden, mit Tausenden von Aktionären und Tausenden von Arbeitern und Angestellten. Alle diese Menschen werden zu ebenso vielen Teilchen in einer gigantischen Maschine, die man unter Kontrolle haben und deren Leistung man kalkulieren muss. Dabei kann jeder Einzelne als eine abstrakte Größe, als eine Zahl ausgedrückt werden, und auf dieser Basis werden die wirtschaftlichen Gegebenheiten kalkuliert, werden Trends vorausgesagt und Entscheidungen getroffen.

Heute, wo nur noch 20 Prozent aller Berufstätigen selbständig sind, arbeiten alle übrigen für jemand anderen, und ihr Leben hängt von jemandem ab, der ihnen einen Lohn oder ein Gehalt bezahlt. Aber wir sollten nicht von „jemand“, sondern lieber von „etwas“ reden, weil nämlich der Arbeiter von einer Institution eingestellt und auch wieder entlassen wird, deren Manager unpersönliche Teile des Unternehmens und keine Menschen sind, die mit den Menschen, die sie beschäftigen, in persönlichem Kontakt stehen. Und auch etwas anderes dürfen wir nicht vergessen: In der vorkapitalistischen Gesellschaft bezog sich der Austausch weitgehend auf Waren und Dienstleistungen. Heute wird jede Arbeit mit Geld abgegolten. Die eng miteinander verquickten ökonomischen Beziehungen werden mit Geld, der abstrakten Ausdrucksform der Arbeit, geregelt - das heißt, dass wir für unterschiedliche Qualitäten unterschiedliche Quantitäten des gleichen erhalten; und wir geben Geld für das, was wir dafür empfangen -, wobei wir wiederum nur verschiedene Quantitäten von ein und demselben für unterschiedliche Qualitäten austauschen. Mit Ausnahme der Landbevölkerung könnte praktisch niemand auch nur ein paar Tage existieren, ohne Geld zu empfangen und wieder auszugeben, was für die abstrakte Qualität der konkreten Arbeit spricht.

Ein weiterer Aspekt der kapitalistischen Produktion, der zu einer immer stärkeren Abstraktion führt, ist die zunehmende Arbeitsteilung. An sich gibt es eine Arbeitsteilung in den meisten uns bekannten Wirtschaftssystemen. Wir finden sie selbst in den primitivsten Gemeinschaften in Form der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Charakteristisch für die kapitalistische Produktion ist aber der Grad, bis zu welchem sich diese Arbeitsteilung entwickelt hat. Während es in der mittelalterlichen Wirtschaft beispielsweise eine Arbeitsteilung zwischen der Landwirtschaft mit ihren Erzeugnissen und der Arbeit des Handwerkers gab, war innerhalb der einzelnen Produktionsbereiche kaum eine Arbeitsteilung zu finden. Der Tischler, der einen Stuhl oder einen Tisch herstellte, machte den ganzen Stuhl oder den ganzen Tisch, und selbst wenn gewisse vorbereitende Arbeiten von seinen Lehrlingen ausgeführt wurden, so kontrollierte er doch die Herstellung seines Erzeugnisses und übersah es als Ganzes. In modernen Industrieunternehmen kommt der Arbeiter nirgends mit dem Enderzeugnis in Berührung. Er ist mit einer Spezialarbeit beschäftigt; er kann zwar im Laufe der Zeit auch einmal auf eine andere Spezialarbeit hinüberwechseln, doch [IV-083] bringt ihn auch das in keine nähere Beziehung zum Endprodukt. Er wird auf einen bestimmten Arbeitsvorgang spezialisiert, und die Tendenz geht dahin, dass man die Funktion des modernen Industriearbeiters so definieren könnte, dass er nach Art einer Maschine Tätigkeiten ausführt, für die noch keine entsprechenden Maschinen erfunden sind oder bei denen die Maschinenarbeit teurer wäre als die menschliche Arbeit. Der einzige, der mit dem Endprodukt in Berührung steht, ist der Manager. Aber für ihn ist das Erzeugnis etwas Abstraktes, das seinem Wesen nach einen Tauschwert darstellt, während der Arbeiter, für den dieses Erzeugnis etwas Konkretes ist, niemals mit dem Endprodukt in Berührung kommt.

Zweifellos wäre die moderne Massenproduktion ohne diese Quantifizierung und Abstraktion undenkbar. Aber in einer Gesellschaft, wo die Beschäftigung in der Wirtschaft zur Hauptbestätigung der Menschen geworden ist, reicht dieser Quantifizierungs- und Abstraktionsprozess weit über den Bereich der wirtschaftlichen Produktion hinaus und ist für die allgemeine Einstellung der Menschen zu den Dingen, zu anderen Menschen und zu sich selbst kennzeichnend geworden.

Um den Abstraktionsprozess beim modernen Menschen verstehen zu können, müssen wir uns zunächst mit der zwiespältigen Funktion der Abstraktion im allgemeinen befassen. Es ist klar, dass Abstraktionen an und für sich keine moderne Erscheinung sind. Tatsächlich ist die wachsende Fähigkeit, Abstraktionen zu bilden, kennzeichnend für die kulturelle Entwicklung der menschlichen Rasse. Wenn ich von einem „Tisch“ spreche, so bediene ich mich bereits einer Abstraktion. Ich beziehe mich nicht auf einen speziellen Tisch in seiner ganzen Konkretheit, sondern auf die Gattung „Tisch“, die alle möglichen konkreten Tische in sich begreift. Wenn ich von „dem Menschen“ spreche, so spreche ich nicht von dieser oder jener Person in ihrer Konkretheit und Einzigartigkeit, sondern von der Gattung „Mensch“, die alle individuellen Personen umfasst. Mit anderen Worten, ich abstrahiere. Die Entwicklung des philosophischen oder wissenschaftlichen Denkens gründet sich auf die zunehmende Fähigkeit zu abstrahieren. Darauf zu verzichten, würde einen Rückfall in die primitivste Art zu denken bedeuten.

Es gibt jedoch zwei verschiedene Arten, mit einem Gegenstand in Beziehung zu treten: Ich kann zu ihm in seiner vollen Konkretheit in Beziehung treten; dann tritt dieser Gegenstand mit allen seinen spezifischen Eigenschaften in Erscheinung, und es gibt keinen anderen Gegenstand, der ihm ganz gleich wäre. Und ich kann zu dem Gegenstand auf eine abstrakte Weise in Beziehung treten, das heißt, ich kann all jene Eigenschaften an ihm in den Vordergrund stellen, die er mit sämtlichen Gegenständen der gleichen Gattung gemeinsam hat, und so einige seiner Eigenschaften hervorheben und andere ignorieren. Wenn man mit einem Objekt eine volle, produktive Beziehung eingehen will, dann gehört hierzu die Polarität, dass man ihn in seiner Einzigartigkeit und gleichzeitig in seiner Allgemeinheit wahrnimmt, sowohl in seiner Konkretheit wie auch in seiner Abstraktheit.

In der heutigen westlichen Kultur ist diese Polarität einer fast ausschließlichen Beziehung zu den abstrakten Eigenschaften von Dingen und Menschen gewichen, und man versäumt, zu ihnen in ihrer Konkretheit und Einzigartigkeit in Beziehung zu treten. Anstatt sich nur da, wo es notwendig und angebracht ist, abstrakter Begriffe zu [IV-084] bedienen, wird alles, einschließlich unserer selbst, zu etwas Abstraktem gemacht. Die konkrete Realität von Menschen und Dingen, zu der wir mit der Realität unserer eigenen Persönlichkeit in Beziehung treten können, wird durch Abstraktionen, durch gespenstische Schatten ersetzt, die unterschiedliche Quantitäten, aber nicht unterschiedliche Qualitäten verkörpern.

Es ist üblich geworden, von einer „Drei-Millionen-Dollar-Brücke“, von einer „Zwanzig-Cent-Zigarre“ oder von einer „Fünf-Dollar-Uhr“ zu reden, und zwar nicht nur vom Standpunkt des Herstellers oder des Kunden beim Kaufvorgang, sondern so, als ob dies das Wesentliche sei, was darüber zu sagen ist. Wenn man von einer „Drei-Millionen-Dollar-Brücke“ spricht, denkt man nicht in erster Linie an ihre Nützlichkeit oder Schönheit, d. h. an ihre konkreten Eigenschaften, sondern man spricht von ihr als von einer Ware, deren wesentlichste Eigenschaft ihr Tauschwert ist, der sich quantitativ, nämlich in Geld, ausdrücken lässt. Das heißt natürlich nicht, dass man sich überhaupt nicht mehr um die Nützlichkeit oder die Schönheit der Brücke kümmert, aber es bedeutet, dass ihr konkreter Gebrauchswert nur sekundär ist im Vergleich zu ihrem abstrakten Tauschwert - so erleben wir sie. Gertrude Steins berühmte Zeile „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ ist ein Protest gegen diese abstrakte Form des Erlebens. Für die meisten Menschen ist eine Rose eben gerade nicht eine Rose, sondern eine Blume einer bestimmten Preisklasse, wie man sie bei gewissen gesellschaftlichen Anlässen kauft. Selbst die schönste Feldblume, die nichts kostet, wird nicht in ihrer Schönheit im Vergleich zu einer Rose erlebt. Denn sie besitzt keinen Tauschwert.

Mit anderen Worten, die Dinge werden als Ware erlebt, als Verkörperungen des Tauschwerts, und dies nicht nur in dem Augenblick, wo wir sie kaufen oder verkaufen, sondern es entspricht unserer Gesamteinstellung zu ihnen auch dann noch, wenn die ökonomische Transaktion längst beendet ist. Selbst nachdem wir einen Gegenstand gekauft haben, verliert er doch nie ganz seine Eigenschaft als Ware in diesem Sinn; man kann ihn wieder verkaufen, er behält seine Eigenschaft als Tauschwert. Der Bericht des Geschäftsführers einer bedeutenden wissenschaftlichen Gesellschaft über seinen Tagesablauf ist ein gutes Beispiel für diese Einstellung. Die Gesellschaft hatte eben ein eigenes Gebäude gekauft und war eingezogen. Der Geschäftsführer berichtet, er sei bereits wenige Tage, nachdem sie eingezogen waren, von einem Grundstücksmakler angerufen worden, der sagte, es gebe da gewisse Leute, die daran interessiert seien, das Gebäude zu kaufen, und die es sich ansehen wollten. Obgleich er wusste, dass es höchst unwahrscheinlich war, dass seine Gesellschaft das Gebäude schon wieder verkaufen wollte, nachdem man erst vor wenigen Tagen eingezogen war, konnte er der Versuchung nicht widerstehen zu erfahren, ob der Wert des Gebäudes gestiegen war, seit sie es gekauft hatten, und so verwandte er eine oder zwei kostbare Stunden darauf, den Grundstücksmakler herumzuführen. Er schreibt: „Es ist in der Tat höchst interessant, dass man uns mehr bietet, als wir angelegt haben. Ein nettes Zusammentreffen war es, dass mir das Angebot gemacht wurde, als unser Schatzmeister zufällig in meinem Büro war. Alle sind sich darüber einig, dass es die Stimmung des Vorstands heben wird, wenn sie erfahren, dass wir für das Gebäude einen weit höheren Preis erzielen können, als es uns gekostet hat. Ich bin gespannt, was [IV-085] daraus wird.“ Obwohl er auf das neue Gebäude sehr stolz war und sich sehr darüber freute, war es für ihn doch immer noch eine Ware, etwas, was man wieder verkaufen konnte, und er hatte nicht das Gefühl, es nun ganz zu besitzen und auch benutzen zu wollen. Die gleiche Einstellung haben die Leute zu ihren Autos. Der eigene Wagen wird nie ganz zu einem Gegenstand, an dem man hängt, sondern er behält seine Eigenschaft als eine Ware, die man gewinnbringend gegen eine andere eintauschen kann. So verkauft man seinen Wagen nach ein oder zwei Jahren wieder, lange bevor er seinen Gebrauchswert ganz oder auch nur in nennenswertem Ausmaß verloren hat.

Diese Abstraktion findet sich sogar bei Erscheinungen, die gar keine Waren sind, wie zum Beispiel bei Überschwemmungskatastrophen. Die Schlagzeilen der Zeitungen bezeichnen dann die Überschwemmung als eine „Millionen-Dollar-Katastrophe“, womit sie das abstrakte, quantitative Element und nicht den konkreten Aspekt menschlichen Leidens in den Vordergrund stellen.

Aber die abstrahierende und quantifizierende Einstellung geht weit über den Bereich von Dingen hinaus. Auch Menschen werden als Verkörperung eines quantitativen Tauschwerts erlebt. Wenn man von einem Menschen sagt, er sei „eine Million Dollar wert“, dann spricht man nicht mehr von einer konkreten menschlichen Person, sondern von einer Abstraktion, deren Wesen sich in einer Zahl ausdrücken lässt. Die gleiche Haltung drückt es aus, wenn ein Nachruf in der Zeitung die Überschrift hat: „Schuhfabrikant gestorben“. Tatsächlich ist ein Mensch gestorben, ein Mensch mit bestimmten menschlichen Eigenschaften, mit Hoffnungen und Enttäuschungen, mit Frau und Kind. Zwar hat er auch Schuhe hergestellt, oder besser gesagt, er hat eine Fabrik besessen und geleitet, in der Arbeiter Maschinen bedienten, welche Schuhe herstellten; wenn es aber heißt: „Schuhfabrikant gestorben“, dann wird der Reichtum und die Konkretheit eines Menschenlebens in der abstrakten Formel einer ökonomischen Funktion ausgedrückt.

Die gleiche abstrahierende Einstellung spricht aus Formulierungen wie „Mr. Ford produziert so und so viele Automobile“, oder dieser oder jener General „hat eine Festung erobert“, oder wenn jemand sich ein Eigenheim zugelegt hat und sagt: „Ich habe mir ein Haus gebaut.“ Konkret gesagt, hat Mr. Ford die Autos nicht hergestellt; er leitete die Produktion von Automobilen, die von Tausenden von Arbeitern hergestellt wurden. Der General hat die Festung niemals erobert; er hat in seinem Hauptquartier gesessen und Befehle gegeben, und seine Soldaten haben die Eroberung besorgt. Der Mann hat auch sein Haus nicht gebaut; er hat einem Architekten, der die Pläne entworfen hat, und den Arbeitern, die sie ausgeführt haben, das Geld dafür bezahlt. Ich sage das alles nicht, um die Bedeutung des Managements und einer leitenden Tätigkeit zu bagatellisieren. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass man - wenn man die Dinge so erlebt - den Blick dafür verliert, was konkret vor sich geht, und dass man auf diese Weise zu einer abstrakten Auffassung gelangt, bei der eine Funktion, nämlich das Planen, das Anordnen und die Finanzierung einer Tätigkeit mit dem gesamten konkreten Prozess der Produktion oder des Kämpfens oder des Hausbauens identifiziert wird.

Auf den gleichen Abstraktionsprozess stoßen wir auch in allen anderen Bereichen. [IV-086] In der New York Times stand neulich die Überschrift: „B. Sc. + PH.D. = $ 40.000.“ Die Information mit dieser etwas verwirrenden Überschrift lautet: Aus statistischen Daten geht hervor, dass ein Ingenieurstudent, der den Doktorgrad dazu erwirbt, in seinem späteren Leben 40 000 Dollar mehr verdienen wird als jemand, der nur den Grad eines Bachelor of Science besitzt. Wenn das stimmt, ist es eine interessante sozio-ökonomische Feststellung, die es wert ist, dass man darüber berichtet. Ich erwähne sie in diesem Zusammenhang, weil sie als eine Gleichung zwischen einem wissenschaftlichen Grad und einem bestimmten Dollarbetrag ausgedrückt wird, was wiederum auf die abstrahierende und quantifizierende Denkweise hinweist, bei der das Wissen als Verkörperung eines bestimmten Tauschwerts auf dem Personalmarkt erlebt wird. Es läuft auf dasselbe hinaus, wenn in einem politischen Bericht in einem Nachrichtenmagazin festgestellt wird, dass die Regierung Eisenhower das Gefühl habe, ein so großes „Vertrauenskapital“ zu besitzen, dass sie auch gewisse unpopuläre Maßnahmen riskieren könne, weil sie es „sich leisten“ könne, etwas von diesem Vertrauenskapital zu verlieren. Auch hier wird eine menschliche Eigenschaft, nämlich die Vertrauenswürdigkeit, in einer abstrakten Form ausgedrückt, so als ob es sich um eine Kapitalanlage handele, mit der man an der Börse spekuliert. Auf wie drastische Weise kommerzielle Kategorien selbst in das religiöse Denken eingegangen sind, zeigt sich in der folgenden Stelle aus einem Artikel von Bischof Sheen über die Geburt Christi. „Unsere Vernunft sagt uns“, heißt es da, „dass, wenn irgendeiner der Anwärter (auf die Rolle des Gottessohnes) von Gott kam, das mindeste, was Gott tun konnte, um seinen Vertreter in seinem Anspruch zu unterstützen, doch wäre, dass er Seine Ankunft im Voraus ankündigte. Automobilfabrikanten kündigen es uns vorher an, wenn wir ein neues Modell zu erwarten haben.“ (Collier’s Magazine, 1953.) Noch drastischer drückt sich der Evangelist Billy Graham aus, wenn er sagt: „Ich verkaufe das größte Produkt der Welt; warum sollte ich nicht dafür werben, wie man für Seife wirbt?“ (Time Magazine, 25. Oktober 1954.)

Der Abstraktionsprozess wurzelt jedoch noch viel tiefer und äußert sich noch auf ganz andere Weise als wir bisher beschrieben haben, wobei die Anfänge bis zum Beginn der Neuzeit zurückreichen. Dieser Prozess führt zur Auflösung eines jeden konkreten Bezugsrahmens im Lebensvollzug.

In einer primitiven Gesellschaft ist die „Welt“ mit dem Stamm identisch. Der Stamm steht sozusagen im Mittelpunkt des Universums; alles außerhalb von ihm ist schattenhaft und besitzt keine unabhängige Existenz. In der mittelalterlichen Welt war das Universum weit größer. Es umfasste unseren Erdball, den Himmel und die Sterne über ihm. Aber die Erde stand im Mittelpunkt, und der Mensch war der Zweck der Schöpfung. Alles hatte seinen festen Platz, genau wie jedermann seine feste Position in der feudalen Gesellschaft hatte. Mit dem Fünfzehnten und Sechzehnten Jahrhundert eröffneten sich neue Horizonte. Die Erde verlor ihren Platz im Mittelpunkt des Universums und wurde zu einem der Satelliten der Sonne; neue Kontinente wurden entdeckt, neue Seewege wurden gefunden; das statische Gesellschaftssystem lockerte sich immer mehr auf, alles und jedermann geriet in Bewegung. Aber bis zum Ende des Neunzehnten Jahrhunderts hatten Natur und Gesellschaft ihre Konkretheit und ihre umrissene Gestalt noch nicht verloren. Der Mensch hatte die Natur und die [IV-087] gesellschaftliche Welt noch fest in der Hand, sie besaßen noch ihre festen Konturen.

Aber mit dem Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens, mit den technischen Entdeckungen und der Auflösung aller traditionellen Bindungen gingen diese umrissene Gestalt und diese Konkretheit allmählich verloren. Ob wir an unser neues Weltbild oder an die theoretische Physik, an die atonale Musik oder die abstrakte Kunst denken - unser konkreter, fest umrissener Bezugsrahmen ist im Verschwinden begriffen. Wir stehen nicht mehr im Mittelpunkt des Universums, wir sind nicht mehr Zweck der Schöpfung, wir sind nicht mehr die Herren einer beherrschbaren und erkennbaren Welt - wir sind ein Staubkörnchen, ein Nichts irgendwo im Raum ohne eine konkrete Beziehung irgendwelcher Art zu irgendetwas. Wir sprechen davon, dass Millionen Menschen getötet werden, dass ein Drittel oder mehr unserer Bevölkerung ausgelöscht wird, wenn es zu einem dritten Weltkrieg kommen sollte; wir sprechen von einer nationalen Verschuldung von Milliarden Dollar, von Tausenden von Lichtjahren in Bezug auf die interplanetarischen Entfernungen, von der Raumfahrt und von künstlichen Satelliten. Zehntausende arbeiten in einem einzigen Unternehmen. Hunderttausende leben in Hunderten von Städten.

Die Dimensionen, mit denen wir es zu tun haben, sind Zahlen und Abstraktionen; sie gehen weit über die Grenzen hinaus, die wir noch konkret erleben können. Wir haben kein Bezugssystem mehr, das wir beherrschen, das wir beobachten können und das unseren menschlichen Dimensionen angepasst wäre. Während unsere Augen und Ohren nur Eindrücke aufnehmen, die den von uns beherrschbaren Proportionen entsprechen, hat unser Weltbild ebendiese Qualität verloren; es entspricht nicht mehr unseren menschlichen Dimensionen.

Dies ist besonders bedeutsam im Zusammenhang mit unseren heutigen Vernichtungswaffen. Im modernen Krieg kann ein einzelner Mensch die Vernichtung von Hunderttausenden von Männern, Frauen und Kindern bewirken. Er braucht dazu nur auf einen Knopf zu drücken. Vielleicht hat er gar kein Gefühl dafür, was er damit anrichtet, da er ja die Menschen nicht sieht und nicht kennt, die er umbringt. Es ist fast so, als ob sein Druck auf den Knopf und ihr Tod in keinem realen Zusammenhang stünden. Vermutlich wäre derselbe Mensch nicht fähig, einen Hilflosen zu schlagen oder gar zu töten. In letzterem Fall würde die konkrete Situation eine Gewissensreaktion in ihm hervorrufen, wie sie allen normalen Menschen eigentümlich ist. Beim Druck auf den Knopf bleibt diese Reaktion aus, weil dieser Akt und sein Objekt dem Täter entfremdet sind. Es handelt sich nicht mehr um seine Tat, sondern diese hat sozusagen ihr eigenes Leben und ihre eigene Verantwortung.

Wissenschaft, Geschäftsleben und Politik haben alle Grundlagen und Proportionen eingebüßt, die für den Menschen einen Sinn haben. Wir leben in Zahlen und Abstraktionen. Da nichts mehr konkret ist, ist nichts mehr real. Alles ist möglich - praktisch möglich und moralisch möglich. Die science fiction unterscheidet sich nicht mehr von den wissenschaftlichen Tatsachen, Alpträume und andere Träume unterscheiden sich nicht mehr von den Ereignissen des nächsten Jahres. Der Mensch hat seinen festen Platz verloren, von dem aus er sein Leben und das Leben seiner Gesellschaft überblicken und beherrschen konnte. Er wird von Kräften, die er ursprünglich selbst ins Leben gerufen hat, schneller und schneller vorangetrieben. In diesem wilden [IV-088] Wirbel denkt er und plant er eifrig in seinen Abstraktionen, die sich immer weiter vom konkreten Leben entfernen.

2. Entfremdung

Nach unserer Diskussion des Abstraktionsprozesses gelangen wir jetzt zu dem zentralen Problem der Auswirkungen des Kapitalismus auf die Persönlichkeit: zum Phänomen der Entfremdung.

Unter Entfremdung ist eine Art der Erfahrung zu verstehen, bei welcher der Betreffende sich selbst als einen Fremden erlebt. Er ist sozusagen sich selbst entfremdet. Er erfährt sich nicht mehr als Mittelpunkt seiner Welt, als Urheber seiner eigenen Taten - sondern seine Taten und deren Folgen sind zu seinen Herren geworden, denen er gehorcht, ja die er sogar möglicherweise anbetet. Der entfremdete Mensch hat den Kontakt mit sich selbst genauso verloren, wie er auch den Kontakt mit allen anderen Menschen verloren hat. Er erlebt sich und die anderen so, wie man Dinge erlebt - mit den Sinnen und dem gesunden Menschenverstand, aber ohne mit ihnen und der Außenwelt in eine produktive Beziehung zu treten.

Im Englischen war das Wort alienation ursprünglich die Bezeichnung für den Zustand eines Geisteskranken; im Französischen bezeichnete aliéné und im Spanischen alienado den psychotischen, vollkommen und absolut entfremdeten Menschen. (Alienist ist in England heute noch die Bezeichnung eines Arztes für Geisteskranke.)

Im letzten Jahrhundert haben Hegel und Marx das Wort „Entfremdung“ nicht auf den Zustand eines Geisteskranken, sondern auf eine weniger drastische Form der Selbstentfremdung angewandt. Auch wenn der Betreffende in Bezug auf praktische Dinge noch vernünftig handeln kann, so stellt sie doch einen der schwersten gesellschaftlichen Defekte dar. Im Marxschen System wird jener Zustand als Entfremdung bezeichnet, in dem „die eigene Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt dass er sie beherrscht“ (K. Marx, 1971, S. 361).

Das Wort „Entfremdung“ in diesem allgemeinen Sinne ist neueren Datums, der Begriff selbst jedoch viel älter. Er bedeutet das gleiche wie das, was die Propheten des Alten Testaments unter Götzendienst (idolatry) verstanden. Es wird uns zu einem besseren Verständnis von „Entfremdung“ verhelfen, wenn wir uns zunächst klarmachen, was unter „Götzendienst“ zu verstehen ist.

Die Propheten des Monotheismus haben die heidnischen Religionen nicht in erster Linie deshalb als Götzendienst angeprangert, weil sie mehrere Götter statt des einen Gottes verehrten. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Monotheismus und dem Polytheismus liegt nicht in der Anzahl der Götter, sondern in der Tatsache der Selbstentfremdung. Der Mensch verwendet seine Energie, seine künstlerischen Fähigkeiten darauf, ein Götzenbild herzustellen, das er dann anbetet und das doch nichts weiter ist als ein Gebilde seiner eigenen Hände. Seine Lebenskräfte sind in ein „Ding“ eingeströmt, und dieses zum Götzen gewordene Ding wird nicht als Ergebnis des eigenen produktiven Bemühens, sondern als etwas außerhalb seiner selbst erlebt, [IV-089] das über dem Menschen steht, ja ihm feindlich gesinnt ist, das er verehrt und dem er sich unterwirft. Wie der Prophet Hosea (14,4) sagt:

Nicht von Assur wollen wir Rettung erwarten, wir wollen nicht mehr auf Pferden reiten, und zu dem, was unsere Hände gemacht haben, sagen wir nie mehr: Unser Gott! Denn nur bei Dir findet der Verwaiste Erbarmen.

Der Götzen dienende Mensch beugt sich vor dem Werk seiner Hände. Der Götze repräsentiert seine eigenen Lebenskräfte in einer entfremdeten Form. Im Gegensatz dazu besteht das Prinzip des Monotheismus darin, dass der Mensch unendlich ist, dass keine einzelne Eigenschaft in ihm zu einem Ganzen hypostasiert wird. Nach monotheistischer Auffassung ist Gott unergründlich und undefinierbar; Gott ist kein „Ding“. Wenn der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wurde, so wurde er als Träger unendlicher Eigenschaften geschaffen. Beim Götzendienst beugt er sich vor der Projektion einer Teileigenschaft seiner selbst und unterwirft sich dieser. Er erlebt sich nicht als Zentrum, von dem lebendige Akte der Liebe und Vernunft ausstrahlen. Er wird zu einem Ding, sein Nachbar wird zu einem Ding, genauso wie seine Götter Dinge sind.

Die Götzen der Heiden sind nur Silber und Gold, ein Machwerk von Menschenhand. Sie haben einen Mund und reden nicht, Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hören nicht; auch ist kein Hauch in ihrem Mund. Die sie gemacht haben, sollen ihrem Machwerk gleichen, alle, die den Götzen vertrauen. (Psalm 135,15-18.)

Die monotheistischen Religionen sind weitgehend in diesen Götzendienst zurückgefallen. Der Mensch projiziert seine Kräfte der Liebe und der Vernunft auf Gott. Er empfindet diese Kräfte nicht mehr als seine eigenen, und dann betet er zu Gott, er möge ihm etwas von dem zurückgeben, was er, der Mensch, in Gott hineinprojiziert hat. Im frühen Protestantismus und Calvinismus bestand die vom Menschen verlangte religiöse Haltung darin, dass er sich leer und armselig fühlen sollte und dass er allein auf Gottes Gnade vertrauen sollte, das heißt, dass er darauf hoffen sollte, dass Gott ihm einen Teil der eigenen Eigenschaften zurückgeben würde, die er in Gott hineingelegt hatte.

Jeder Akt einer unterwürfigen Anbetung ist ein Akt der Entfremdung und des Götzendienstes in diesem Sinn. Was häufig als „Liebe“ bezeichnet wird, ist oft nichts anderes als dieses götzendienerische Phänomen der Entfremdung; nur wird dabei nicht Gott oder ein Idol angebetet, sondern ein anderer Mensch. Der „Liebende“ projiziert bei einer derartigen unterwürfigen Beziehung alle seine Liebe, seine ganze Kraft und alle seine Gedanken auf die geliebte Person. Er erlebt diese als ein höheres Wesen und findet seine Befriedigung, wenn er sich ihr ganz unterwirft und sie schrankenlos verehrt. Das bedeutet nicht nur, dass er diese geliebte Person gar nicht als menschliches Wesen in seiner vollen Realität erlebt, sondern dass er auch sich selbst nicht in seiner ganzen Wirklichkeit, als Träger produktiver menschlicher Kräfte erfährt. Genau wie beim religiösen Götzendienst hat er seinen inneren Reichtum in den anderen hineinprojiziert, und er erlebt diesen Reichtum nicht mehr als etwas Eigenes, sondern als etwas, das ihm fremd ist, als etwas, das er in den anderen hineingelegt hat und womit er nur in Kontakt kommen kann, wenn er sich dem anderen unterwirft oder wenn er ganz in ihm aufgeht. Das gleiche Phänomen finden wir bei der hingabevollen Unterwerfung unter einen politischen Führer oder unter den Staat. Tatsächlich [IV-090] sind ja Führer und Staat das, was sie durch den Konsensus der Regierten sind. Aber sie werden zu Götzen, wenn der Einzelne alle seine Kräfte in sie hineinprojiziert und sie anbetet in der Hoffnung, durch diese Unterwerfung und hingabevolle Verehrung etwas von seinen eigenen Kräften zurückzuerhalten.

In Rousseaus Staatstheorie wird genau wie im modernen totalitären Staat vom Einzelnen erwartet, dass er auf die eigenen Rechte verzichtet und sie dem Staat als dem einzigen Schiedsrichter überträgt. Beim Faschismus und im Stalinismus verrichtet der sich völlig entfremdete Einzelne seine Andacht vor dem Altar seines Idols, und es macht kaum einen Unterschied, welchen Namen dieses Idol trägt: ob Staat, Klasse, Kollektiv, oder welchen sonst.

Wir können von Götzendienst und Entfremdung nicht nur in Beziehung zu anderen Menschen sprechen, sondern auch in Bezug auf uns selbst, wenn wir irrationalen Leidenschaften unterworfen sind. Wer hauptsächlich von seiner Gier nach Macht motiviert ist, erlebt sich nicht mehr in der ganzen Fülle und Grenzenlosigkeit eines menschlichen Wesens, sondern er wird zum Sklaven einer Teilstrebung in sich selbst, die er auf äußere Ziele projiziert, von denen er „besessen“ ist. Wer immerzu auf der Jagd nach Geld ist, ist von dieser Leidenschaft besessen; das Geld ist der Götze, den er als Projektion eines isolierten Strebens in seinem Ich, nämlich seiner Geldgier, anbetet. In diesem Sinne ist der Neurotiker ein entfremdeter Mensch. Seine Handlungen sind nicht wirklich die eigenen. Er hat zwar die Illusion, das zu tun, was er will, wird aber in Wirklichkeit von Kräften getrieben, die sich von ihm selbst losgetrennt haben und hinter seinem Rücken wirken. Er ist sich selbst ein Fremder, genauso wie auch sein Nächster ihm fremd ist. Er erlebt den anderen und sich selbst nicht so, wie sie und er wirklich sind, sondern entstellt durch die unbewussten Kräfte, die in ihm arbeiten. Der Geisteskranke ist der völlig entfremdete Mensch; er hat sich als Mittelpunkt seines Erlebens völlig verloren.

Gemeinsam ist allen diesen Erscheinungen die Verehrung eines Idols, die götzendienerische Anbetung Gottes, die abgöttische Liebe zu einem anderen Menschen, die Verehrung des politischen Führers oder des Staates und die götzendienerische Verehrung der Äußerungen irrationaler Leidenschaften - all das entspricht dem Prozess der Entfremdung. Tatsächlich erfährt sich ein solcher Mensch nicht als aktiver Träger seiner eigenen Kräfte und seines eigenen Reichtums, sondern als ein verarmtes „Ding“, das von Kräften außerhalb seiner selbst abhängig ist, in die er seine lebendige Substanz hineinprojiziert hat.

Wie aus der Bezugnahme auf den Götzendienst hervorgeht, ist die Entfremdung keineswegs eine moderne Erscheinung. Es ginge weit über den Rahmen dieses Buches hinaus, wollten wir hier eine Geschichte der Entfremdung zu entwerfen versuchen.[26] So mag der Hinweis genügen, dass die Entfremdung in den verschiedenen Kulturen Unterschiede aufzuweisen scheint, und zwar sowohl in Bezug auf die speziellen Bereiche, in denen sie auftritt, als auch in Bezug auf die Schwere und Vollständigkeit des Prozesses.

Die Entfremdung in unserer modernen Gesellschaft ist fast total. Sie kennzeichnet die Beziehung des Menschen zu seiner Arbeit, zu den Dingen, die er konsumiert, zum Staat, zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst. Der Mensch hat sich eine Welt von [IV-091] vom Menschen geschaffenen Dingen errichtet, wie sie nie zuvor existierte. Er hat eine komplizierte Gesellschaftsmaschinerie zur Bedienung des von ihm gebauten technischen Apparats geschaffen. Aber sein Werk steht hoch über ihm. Er fühlt sich nicht als Schöpfer und Mittelpunkt, sondern als Diener eines Golems, den seine Hände erschaffen haben. Je mächtiger und gigantischer die Kräfte werden, die er entfesselt, umso ohnmächtiger fühlt er sich als menschliches Wesen. Er konfrontiert sich mit seinen eigenen Kräften, welche in Dingen verkörpert sind, die er geschaffen hat und die ihm selbst entfremdet sind. Er ist zum Eigentum seiner eigenen Schöpfung geworden und besitzt sich selbst nicht mehr. Er hat sich ein goldenes Kalb geschaffen und sagt: „Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben!“ (Ex 32,4.)

Und was geschieht mit dem Arbeiter? Ein nachdenklicher und gründlicher Beobachter der Industrieszene meint dazu:

In der Industrie wird der Mensch zu einem ökonomischen Atom, das zur Melodie des atomistischen Managements tanzt. Hier und nirgends anders hast du deinen Platz, so hast du zu sitzen, deine Arme haben sich x Zoll in einem Umkreis vom Radius y zu bewegen, und zwar in einem Tempo von z Minuten. Die Arbeit wird immer einförmiger und gedankenloser in dem Maße, wie Planer, Mikroprozessoren und wissenschaftliche Manager dem Arbeiter mehr und mehr das Recht nehmen, frei zu denken und sich frei zu bewegen. Ein eigenes Leben wird ihm versagt. Das Bedürfnis, seine Arbeit zu beherrschen, schöpferisches Schaffen, Neugier und unabhängiges Denken werden erstickt, und das Ergebnis, die unausweichliche Folge von Seiten des Arbeiters, ist Flucht oder Kampf, Apathie oder Destruktivität - psychische Regression. (J. J. Gillespie, 1948.)

Auch die Rolle des Managers ist eine entfremdete. Zwar leitet er das Ganze und arbeitet nicht nur an einem Teil, aber auch er ist seinem Produkt als etwas Konkretem und Nützlichem entfremdet. Sein Ziel ist, das von anderen investierte Kapital nutzbringend einzusetzen, obgleich das moderne Management im Vergleich mit dem älteren Typ des Unternehmers, dem das Werk selbst gehörte, weit weniger an der Höhe der an die Aktionäre auszuzahlenden Dividende interessiert ist als an einem effizienten Arbeiten und einer immer weiteren Ausdehnung des Betriebes. Es ist kennzeichnend, dass innerhalb des Managements diejenigen, die sich um die Arbeitsverhältnisse und den Verkauf zu kümmern haben - das heißt: die mit der Manipulation von Menschen betraut sind - zunehmend an Bedeutung gewinnen gegenüber denjenigen, die für die technische Seite der Produktion verantwortlich sind.

Genau wie der Arbeiter, genau wie jeder andere hat es auch der Manager mit unpersönlichen Giganten zu tun: mit riesigen Konkurrenzunternehmen, mit dem riesigen Binnen- und Weltmarkt, mit der Riesenverbraucherschaft, die es zu überreden und zu manipulieren gilt, mit Riesengewerkschaften und mit einer gigantischen öffentlichen Verwaltung. Alle diese Giganten haben sozusagen ihr eigenes Leben. Sie bestimmen sowohl die Tätigkeit des Managers als auch die der Arbeiter und Angestellten.

Das Problem des Managers führt uns hin zu einer der bedeutsamsten Erscheinungen in einer entfremdeten Kultur, zur Bürokratisierung. Sowohl die Großunternehmen [IV-092] als auch der staatliche Verwaltungsapparat werden von einer Bürokratie in Gang gehalten. Bürokraten sind Spezialisten in Bezug auf die Verwaltung von Dingen und von Menschen. Infolge der Größe des zu verwaltenden Apparats und der daraus resultierenden Abstraktion steht der Bürokrat zu den Menschen in einer Beziehung totaler Entfremdung. Die zu verwaltenden Menschen sind Objekte, denen die Bürokraten weder mit Liebe noch mit Hass, sondern völlig unpersönlich gegenüberstehen. Der Manager-Bürokrat darf - soweit es seine berufliche Tätigkeit betrifft - keine Gefühle haben; er muss die Menschen so manipulieren, als ob es sich um Zahlen oder Dinge handelte. Da die Größe des Unternehmens und die extreme Arbeitsteilung verhindern, dass irgendein einzelner das Ganze übersieht, da es keine organische, spontane Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Individuen oder Gruppen in der Industrie gibt, braucht man diese Manager-Bürokraten. Ohne sie würde das Unternehmen in kurzer Zeit zusammenbrechen, da niemand das Geheimnis kennt, wie es funktioniert. Die Bürokraten sind ebenso unentbehrlich wie die Tonnen von Papier, die unter ihrer Leitung verbraucht werden. Und weil jeder aus einem Gefühl der eigenen Ohnmacht heraus spürt, welche lebenswichtige Rolle die Bürokraten spielen, erweist man ihnen eine beinahe göttliche Verehrung. Man hat das Gefühl, wenn sie nicht wären, würde alles zusammenbrechen und wir müssten alle verhungern. So wie in der mittelalterlichen Welt die Großen als Vertreter einer gottgewollten Ordnung angesehen wurden, genießt im modernen Kapitalismus der Bürokrat eine kaum geringere Verehrung - da er für den Fortbestand des Ganzen unentbehrlich ist.

Karl Marx hat für den Bürokraten eine tiefsinnige Definition gefunden, denn für ihn tritt der Bürokrat zur Welt als dem Objekt seiner Tätigkeit in Beziehung. Es ist interessant zu beobachten, dass der Geist der Bürokratie nicht nur in die Verwaltung von Wirtschaft und Regierung eingedrungen ist, sondern ebenso in die Gewerkschaften und die großen sozialistischen demokratischen Parteien in England, Deutschland und Frankreich. Auch in Russland haben die bürokratischen Manager mit ihrer entfremdeten Einstellung das Land erobert. Russland könnte - unter gewissen Bedingungen - vielleicht ohne Terror auskommen, aber es könnte ohne sein System einer totalen Bürokratisierung, das heißt ohne Entfremdung, nicht existieren. (Vgl. den interessanten Artikel von W. Huhn, Der Bolschewismus als Manager-Ideologie, 1954.)

Welche Einstellung hat nun aber der Besitzer des Unternehmens, der Kapitalist? Der kleine Geschäftsmann scheint in der gleichen Lage zu sein wie sein Vorgänger vor hundert Jahren. Er besitzt und leitet seinen kleinen Betrieb, er steht in enger Fühlung mit der gesamten kommerziellen und industriellen Tätigkeit und hat persönlichen Kontakt zu seinen Mitarbeitern. Da er aber in allen anderen wirtschaftlichen und sozialen Hinsichten in einer entfremdeten Welt lebt und außerdem stärker unter dem ständigen Druck der größeren Konkurrenzunternehmen steht, ist er keineswegs so frei, wie es noch sein Großvater im gleichen Betrieb war.

Aber was in der heutigen Wirtschaft eine immer größere Rolle spielt, ist das big business, der große Konzern. Peter F. Drucker bringt das sehr prägnant zum Ausdruck, wenn er sagt:

Kurz gesagt, es ist der große Konzern - die spezielle Form, in der das big business in einer freien Marktwirtschaft organisiert ist, der zur repräsentativen [IV-093] und entscheidenden sozio-ökonomischen Institution geworden ist, der das große Vorbild ist und sogar das Verhalten des Besitzers des kleinen Tabakladens an der Ecke, der nie eine Aktie besessen hat, ebenso bestimmt wie das seines Laufburschen, der noch nie eine Fabrik betreten hat. So kommt es, dass der Charakter unserer Gesellschaft von der Struktur und der Organisation des big business, von der Technologie der Fabrikbetriebe mit ihrer Massenproduktion bestimmt und geformt wird, und daher werden unsere sozialen Überzeugungen und Versprechungen in einem so weiten Ausmaß von den großen Unternehmen und innerhalb derselben realisiert. (P. F. Drucker, 1946, S. 8 f.)

Wie aber steht nun der „Besitzer“ des Großunternehmens zu „seinem Besitz“? Seine Einstellung dazu ist die einer nahezu totalen Entfremdung. Sein Besitzrecht besteht in einem Stück Papier, das einen bestimmten, der Kursschwankung unterworfenen Geldwert darstellt. Er ist für das Unternehmen weder verantwortlich, noch unterhält er irgendwelche konkreten Beziehungen zu ihm. Diese entfremdete Haltung kommt sehr deutlich in der Beschreibung der Einstellung des Aktionärs zum Unternehmen zum Ausdruck, die wir bei A. A. Berle und G. C. Means in ihrem Buch The Modern Corporation and Private Property (1940, S. 66-68) finden:

(1) Die Position des Eigentümers hat sich aus einer aktiven in eine passive Rolle verwandelt. An die Stelle eines tatsächlichen materiellen Besitzes, über den er selbst verfügen konnte und für den er verantwortlich war, hat der Eigentümer jetzt ein Stück Papier in der Hand, welches gewisse Rechtsansprüche und Erwartungen in Bezug auf das Unternehmen dokumentiert. Dagegen hat der Eigentümer das Unternehmen selbst und den damit verbundenen materiellen Besitz - die Produktionsmittel, an denen er ein Interesse hat - kaum unter seiner Kontrolle. Er ist auch weder für das Unternehmen noch für dessen materiellen Besitz verantwortlich. Man sagt oft, der Besitzer eines Pferdes sei für das Pferd verantwortlich. Solange dieses am Leben ist, muss er es füttern, und wenn es stirbt, muss er es begraben. Eine Aktie beinhaltet keinerlei Verantwortung dieser Art. Der Besitzer ist praktisch außerstande, von sich aus einen Einfluss auf das dahinterstehende Eigentum auszuüben.

(2) Es gibt auch keine geistigen Werte mehr, die wie früher mit dem Besitz verbunden wären. Der materielle Besitz, den der Eigentümer früher selbst aufbauen konnte, vermochte ihm eine unmittelbare Befriedigung zu gewähren, ganz abgesehen von den Einkünften, die dieser in konkreter Form abwarf. Er stellte sozusagen eine Erweiterung der eigenen Persönlichkeit dar. Mit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft ging dies dem Besitzer auf ähnliche Weise verloren, wie es dem Arbeiter durch die industrielle Revolution verlorenging.

(3) Es ist dahin gekommen, dass der Wert des Reichtums eines Menschen von Kräften abhängt, die völlig außerhalb von ihm wirken und auf die er keinerlei Einfluss hat. Stattdessen hängt der Wert seines Besitzes einerseits von der Tätigkeit der Männer ab, die das Unternehmen leiten und über die der Besitzer in der Regel keine Macht hat, und zum anderen von der Tätigkeit anderer auf einem empfindlichen und oft ziemlich launenhaften Markt. Der Wert seines Besitzes hängt demnach von Zufälligkeiten und Manipulationen ab, wie sie für den Markt kennzeichnend sind. Darüber hinaus hängt dieser Wert auch noch von den beträchtlichen [IV-094] Schwankungen in der Meinung der Gesellschaft, wie sich ihre nächste Zukunft gestalten wird, ab, was sich im allgemeinen Niveau der Werte auf dem organisierten Markt spiegelt.

(4) Der Wert des individuellen Reichtums schwankt nicht nur ständig - das gilt ja für beinahe jeden Besitz - er wird auch ständig anders eingeschätzt. Der Einzelne kann diese Einschätzung seines Besitzes, die sich von einem Augenblick zum anderen ändern kann, beobachten, was nicht nur die Art, wie er über sein Einkommen verfügt, sondern auch seine Freude daran merklich beeinflusst.

(5) Der individuelle Reichtum ist durch die organisierten Märkte äußerst mobil geworden. Der einzelne Besitzer kann ihn im Nu in eine andere Form des Besitzes umwandeln, und vorausgesetzt, dass die Marktmaschinerie in Ordnung ist, kann er dies ohne ernste Einbußen tun, wie sie etwa durch Zwangsverkäufe bedingt sind.

(6) Der Reichtum ist immer weniger in einer Form vorhanden, in der ihn der Besitzer direkt verwenden kann. Wenn Reichtum zum Beispiel in Landbesitz besteht, so kann der Eigentümer sich ihn nutzbar machen, auch wenn er nur einen geringen Marktwert besitzt. Die materielle Qualität eines derartigen Reichtums macht es möglich, dass er für den Eigentümer einen subjektiven Wert besitzt, der von seinem etwaigen Marktwert völlig unabhängig ist. Die heutige Form des Reichtums dagegen macht diesen für einen direkten Gebrauch völlig untauglich. Der Besitzer kann ihn nur unmittelbar für sich nutzbar machen, wenn er ihn auf dem Markt verkauft. Er ist hierdurch wie nie zuvor an den Markt gebunden.

(7) Schließlich hat der „Eigentümer“ in einer Aktiengesellschaft nur ein Symbol seines Besitzes in der Hand, während die Macht, die Verantwortung und die reale Substanz, die einst ein integraler Bestandteil des Besitzes waren, jetzt auf eine separate Gruppe übergegangen sind, in deren Händen die Kontrolle liegt.

Ein anderer wichtiger Aspekt der entfremdeten Position des Aktionärs ist die Art, wie er sein Unternehmen unter Kontrolle hat. Dem Gesetz nach üben die Aktionäre über das Unternehmen die Kontrolle aus, das heißt, sie wählen den Vorstand etwa auf die gleiche Weise, wie das Volk in einem demokratischen Staat seine Vertreter wählt. Praktisch jedoch besitzen sie kaum eine Möglichkeit der Kontrolle, denn die Anteile des Einzelnen sind so außerordentlich geringfügig, dass er kaum daran interessiert ist, zu den Aktionärsversammlungen zu gehen und sich aktiv einzuschalten. A. A. Berle und G. C. Means (1940, S. 70) unterscheiden zwischen fünf Hauptarten der Kontrolle:

(1) die Kontrolle durch fast alleinigen Aktienbesitz, (2) die Kontrolle durch Mehrheitsbesitz, (3) die Kontrolle durch juristische Kunstgriffe ohne Mehrheitsbesitz, (4) die Kontrolle durch eine Minderheit und (5) die Kontrolle durch das Management.

Die ersten beiden dieser fünf Kontrollarten - bei denen sich das Aktienkapital ganz oder mehrheitlich in einer Hand befindet - waren (um 1930) nur bei sechs Prozent der zweihundert (am Kapital gemessen) größten Unternehmen zu finden, während bei den übrigen 94 Prozent die Kontrolle entweder vom Management ausgeübt wurde oder unter Anwendung von juristischen Kunstgriffen durch Heranziehen eines kleinen Teils des Aktienbesitzes oder durch eine Minderheit der Aktionäre das Geschehen bestimmt wurde (vgl. A. A. Berle und G. C. Means, 1940, S. 94 und S. 114-117). Wie ein solches Wunder ohne Gewalt und Betrug und ohne direkte Verletzung der Gesetze zustande [IV-095] gebracht wird, ist im klassischen Werk von Berle und Means hochinteressant beschrieben.

Der Prozess des Konsums ist ebenso entfremdet wie der Prozess der Produktion. Vor allem erwerben wir die Dinge mit Geld, und wir sind daran so gewöhnt, dass wir es für selbstverständlich halten. In Wirklichkeit ist dies jedoch eine höchst merkwürdige Art, sich Dinge zu verschaffen. Das Geld repräsentiert Arbeit und Mühe in einer abstrakten Form; es muss sich dabei nicht unbedingt um meine eigene Arbeit und Mühe handeln, denn ich kann ja mein Geld durch Erbschaft, durch einen Glücksfall oder auch durch Betrug und auf vielerlei andere Weise erworben haben. Aber selbst wenn ich es durch eigene Anstrengung erworben habe (wobei wir einen Augenblick vergessen wollen, dass meine Anstrengung mir das Geld vielleicht nicht eingebracht hätte, wenn ich nicht andere Menschen für mich hätte arbeiten lassen), so habe ich es doch auf eine besondere Weise erworben, wie sie meinen Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprach, während sich das Geld, wenn ich es ausgebe, in eine abstrakte Form von Arbeit verwandelt und gegen alles mögliche andere eingetauscht werden kann. Wenn ich im Besitz von Geld bin, so brauche ich mich nicht anzustrengen oder zu bemühen, um mir etwas zu kaufen. Wenn ich Geld habe, kann ich mir zum Beispiel ein wundervolles Gemälde kaufen, auch wenn ich von Kunst nicht das Geringste verstehe. Ich kann mir den besten Plattenspieler kaufen, auch wenn ich kein Musikverständnis besitze. Ich kann mir eine Bibliothek kaufen, auch wenn ich lediglich damit angeben möchte; ich kann mir Bildung kaufen, auch wenn ich damit nichts anfangen kann, außer dass sie ein gesellschaftliches Plus für mich darstellt. Ich kann sogar die Gemälde oder die Bücher, die ich mir gekauft habe, zerstören, ohne dadurch - vom Geldverlust abgesehen - irgendeinen Schaden zu erleiden. Der bloße Besitz des Geldes gibt mir das Recht, mir alles, was ich will, zu kaufen und damit zu machen, was ich will. Die menschliche Art des Erwerbs wäre, dass damit für mich eine Anstrengung verbunden wäre, die in einem qualitativ richtigen Verhältnis zu meinem Erwerb stünde. Der Erwerb von Brot und Kleidung hätte dann keine andere Voraussetzung als die, dass ich lebe; der Erwerb von Büchern und Bildern würde zur Voraussetzung haben, dass ich mich bemühe, sie zu verstehen und dass ich die Fähigkeit besitze, auch Gebrauch davon zu machen. Es ist hier nicht der Ort darüber zu diskutieren, wie man dieses Prinzip in die Praxis umsetzen könnte. Worauf es mir ankommt, ist zu zeigen, dass die Art, wie wir die Dinge erwerben, in keiner Beziehung zu der Art steht, wie wir davon Gebrauch machen.

Marx hat die entfremdete Funktion des Geldes im Prozess seines Erwerbs und Verbrauchs vorzüglich beschrieben:

Das Geld (...) verwandelt ebenso sehr die wirklichen menschlichen und natürlichen Wesenskräfte in bloß abstrakte Vorstellungen und darum Unvollkommenheiten, qualvolle Hirngespinste, wie es andererseits die wirklichen Unvollkommenheiten und Hirngespinste, die wirklich ohnmächtigen, nur in der Einbildung des Individuums existierenden Wesenskräfte desselben zu wirklichen Wesenskräften und Vermögen verwandelt. (...) Es verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Hass, den Hass in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in [IV-096] Blödsinn. (...) Wer die Tapferkeit kaufen kann, der ist tapfer, wenn er auch feig ist. (...) Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluss auf andre Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregend und fördernd auf andre wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen - und zu der Natur - muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, das heißt wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch eine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück. (K. Marx, 1971, S. 300 f.)

Aber wie gebrauchen wir - von der Art ihres Erwerbs abgesehen - die Dinge, nachdem wir sie erworben haben? Bei vielen Dingen geben wir uns nicht einmal den Anschein, als ob wir sie auch benutzten. Wir erwerben sie, um sie zu haben. Der nutzlose Besitz allein gewährt uns Befriedigung. Das kostbare Tafelservice oder die Kristallvase, die wir nie benutzen aus Angst, sie könnte zerbrechen, das herrschaftliche Haus mit seinen unbenutzten Räumen, die überflüssigen Wagen und Dienstboten, genau wie die hässlichen Nippesfiguren in den Familien aus dem unteren Mittelstand - das sind alles Beispiele für die Freude an einem Besitz, für den man keine Verwendung hat. Allerdings war diese Freude am Besitz als solchem im vorigen Jahrhundert noch auffälliger; heute haben wir mehr Spaß an Dingen, die wir auch benutzen, als an solchen, die wir lediglich verwahren. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass selbst bei der Freude an Dingen, die wir auch benutzen, die Befriedigung des Prestigebedürfnisses im Vordergrund steht. Der eigene Wagen, der Kühlschrank, der Fernseher sind nicht nur zum praktischen Gebrauch bestimmt, sie erhöhen auch das Ansehen des Besitzers. Sie heben seinen Status.

Wie benutzen wir die Dinge, die wir erwerben? Fangen wir mit Essen und Trinken an. Wir essen ein Brot ohne Geschmack und ohne Nährwert, weil es dem entspricht, was wir uns unter reich und vornehm vorstellen - weil es so weiß und „frisch“ ist. In Wirklichkeit verzehren wir ein Phantasieprodukt, und den Kontakt mit dem, was wir tatsächlich essen, haben wir verloren. Unser Gaumen, unser Körper, sie haben mit diesem Akt des Konsums, der sie doch in erster Linie betrifft, nichts mehr zu tun. Wir trinken Etiketten. Mit einer Flasche Coca-Cola trinken wir das Bild eines netten Jungen und Mädchens, die wir auf dem Werbeplakat trinken sehen, wir trinken den Werbeslogan „Mach mal Pause!“, wir trinken eine in ganz Amerika verbreitete Gewohnheit; am allerwenigsten aber trinken wir mit unserem Gaumen. All das wird noch schlimmer, wenn es sich um den Konsum von Dingen handelt, deren Realität in der Hauptsache darin besteht, was die Werbung über sie behauptet, wie zum Beispiel die „gesunde“ Seife oder Zahnpasta.

Ich könnte weitere Beispiele ad infinitum anführen. Aber ich brauche nicht weiter darauf einzugehen - jeder kennt alle Beispiele, die ich anführen könnte, aus eigener Anschauung. Ich möchte nur auf das Prinzip hinweisen, dass nämlich der Akt des Konsums ein konkreter humaner Akt sein sollte, an dem unsere Sinne, unsere [IV-097] körperlichen Bedürfnisse, unser ästhetischer Geschmack beteiligt sind - das heißt, wobei wir konkrete, empfindende, fühlende und selbständig urteilende Menschen sind. Der Akt des Konsums sollte ein sinnvolles, humanes, produktives Erlebnis sein. Davon ist in unserer Kultur nur wenig übrig geblieben. Wenn wir etwas konsumieren, so bedeutet das im wesentlichen die Befriedigung von künstlich stimulierten Phantasievorstellungen, die unserem konkreten wirklichen Selbst entfremdet sind.

Zu erwähnen ist noch ein anderer Aspekt der Entfremdung von den Dingen, die wir konsumieren. Wir sind umgeben von lauter Dingen, über deren Wesen und Ursprung wir nichts wissen. Telefon, Radio, Plattenspieler und all die vielen anderen komplizierten Apparate sind für uns kaum weniger geheimnisvoll, als sie es für einen Menschen aus einer primitiven Kultur wären; wir können sie bedienen, das heißt wir wissen, an welchem Schalter wir drehen müssen; aber wir wissen nicht, nach welchem Prinzip sie funktionieren, außer auf die nebelhafte Weise, in der wir uns an etwas erinnern, was wir einmal in der Schule gelernt haben. Aber auch die Dinge, die nicht auf komplizierten wissenschaftlichen Prinzipien beruhen, sind uns beinahe ebenso fremd. Wir wissen nicht, wie unser Brot gebacken, wie Stoff gewebt, wie unser Tisch gezimmert, wie unser Glas hergestellt wird. Wir konsumieren - genau wie wir produzieren - ohne irgendeine konkrete Beziehung zu den Dingen, mit denen wir umgehen. Wir leben in einer Welt der Dinge, und unsere Verbindung mit ihnen besteht darin, dass wir sie zu manipulieren oder zu konsumieren verstehen.

Unsere Art des Konsums führt zwangsläufig dazu, dass wir niemals befriedigt sind, da es ja nicht unsere reale, konkrete Person ist, die etwas Reales und Konkretes konsumiert. So entsteht in uns ein ständig wachsendes Bedürfnis nach immer mehr Dingen, nach immer mehr Konsum. Zwar herrscht ein natürliches Bedürfnis nach mehr Konsum, solange der Lebensstandard unter einem menschenwürdigen Existenzniveau liegt. Und es trifft auch zu, dass ein legitimes Bedürfnis nach einem erhöhten Konsum vorhanden ist, wenn der Mensch sich kulturell weiterentwickelt und verfeinerte Bedürfnisse nach besserer Nahrung, nach Gegenständen ästhetischen Genusses, nach Büchern usw. hat. Aber unsere Konsumsucht hat jeden Zusammenhang mit den realen Bedürfnissen des Menschen verloren. Ursprünglich glaubte man, man könne durch den Konsum von mehr und besseren Dingen dem Menschen zu einem glücklicheren, zufriedeneren Leben verhelfen. Der Konsum war ein Mittel zu einem Zweck, nämlich dem Glück. Er ist heute zum Selbstzweck geworden. Die ständige Zunahme unserer Bedürfnisse zwingt uns zu immer größeren Anstrengungen, sie macht uns abhängig von diesen Bedürfnissen und von den Menschen und Einrichtungen, mit deren Hilfe wir sie befriedigen können.

Jeder Mensch spekuliert darauf, dem anderen ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten. (...) Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist, und jedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung. (K. Marx, 1971, S. 254.)

Der Mensch von heute ist geradezu fasziniert von der Möglichkeit, noch mehr, noch [IV-098] bessere und vor allem neuartige Dinge zu kaufen. Er ist konsumsüchtig. Der Akt des Kaufens und Konsumierens ist zu einem zwanghaften, irrationalen Ziel geworden, weil er zum Selbstzweck ohne Beziehung zum Gebrauch der gekauften und konsumierten Dinge oder zu der Freude an ihnen geworden ist. Den „letzten Schrei“, das neueste Modell von irgendetwas zu kaufen, was auf dem Markt zu haben ist, ist Traum eines jeden, mit dem verglichen die echte Freude an seiner Benutzung völlig sekundär ist. Wenn der moderne Mensch auszusprechen wagte, was er sich unter dem Himmel vorstellt, so würde er vermutlich eine Vision des größten Warenhauses der Welt beschreiben, in dem alle letzten Neuheiten ausgestellt wären und wo er Geld genug hätte, um sie alle zu kaufen. Er würde mit offenem Mund in diesem Himmel der Apparate und Gebrauchswaren herumlaufen, wenn es nur immer mehr und immer modernere Dinge darin zu kaufen gäbe und wenn der Nachbar vielleicht ein klein bisschen weniger Geld dafür zur Verfügung hätte als er.

Höchst bedeutsam ist es, dass eines der ältesten Merkmale des Mittelstandes, das Hängen an Besitz und Eigentum, einen tiefgreifenden Wandel durchgemacht hat. Bei der früheren Einstellung existierte so etwas wie eine liebevolle Anhänglichkeit des Menschen an seinen Besitz. Er war stolz auf ihn. Er pflegte ihn gut, und es tat ihm weh, wenn er sich schließlich davon trennen musste, weil er keine Verwendung mehr dafür hatte. Heute ist von diesem Gefühl für Besitz nicht mehr viel übrig geblieben. Man freut sich an der Neuheit der Dinge, die man sich gekauft hat, und ist bereit, sie wieder abzustoßen, sobald etwas noch Neueres auftaucht.

In Bezug auf den Charakter ist die gleiche Veränderung vor sich gegangen. Ich erinnere nur an die oben erwähnte hortende Charakter-Orientierung, die für das neunzehnte Jahrhundert so kennzeichnend ist. Um die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts hat die hortende Orientierung einer rezeptiven Orientierung Platz gemacht, deren Ziel es ist, immerzu etwas zu empfangen, es sich einzuverleiben, immer wieder etwas Neues zu besitzen, sozusagen ständig mit offenem Mund zu leben. Diese rezeptive Orientierung geht Hand in Hand mit der Marketing-Orientierung, während im Neunzehnten Jahrhundert das Horten mit der ausbeuterischen Orientierung verquickt war.

Diese entfremdete Einstellung zum Konsum kennzeichnet nicht nur den Erwerb und Konsum unserer Gebrauchswaren, sondern sie bestimmt auch weit darüber hinaus die Art, wie wir unsere Freizeit verwenden. Was ist hier zu erwarten? Wenn jemand seine Arbeit verrichtet, ohne eine echte Beziehung zu ihr zu haben, wenn er Waren auf eine abstrakte und entfremdete Weise kauft und verbraucht, wie kann er dann seine Freizeit aktiv und sinnvoll verbringen? Er bleibt stets der passive und entfremdete Verbraucher. Er „konsumiert“ Sportveranstaltungen, Filme, Zeitungen und Illustrierte, Bücher, Vorträge, Landschaften und gesellige Veranstaltungen allesamt auf die gleiche entfremdete und abstrakte Art, wie er die von ihm gekauften Dinge konsumiert. Er nimmt keinen aktiven Anteil daran, er möchte alles, was da zu haben ist, „einkassieren“ und sich soviel wie möglich an Vergnügen, Kultur und was sonst noch allem verschaffen. Tatsächlich steht es ihm gar nicht frei, „seine“ Freizeit zu genießen. Sein Freizeitkonsum wird ihm von der Industrie genauso vorgeschrieben wie die Ware, die er sich kauft. Sein Geschmack ist manipuliert, er will das [IV-099] sehen und hören, worauf er konditioniert ist, es sehen und hören zu wollen. Die Vergnügungsindustrie ist eine Industrie wie jede andere. Der Kunde wird genauso dazu verführt, sich das Vergnügen zu kaufen, wie er dazu verführt wird, sich Kleider und Schuhe zu kaufen. Der Wert des Vergnügens richtet sich nach seinem Erfolg auf dem Markt und nicht nach irgendetwas, was mit menschlichen Maßstäben zu messen wäre.

Bei jeder produktiven und spontanen Tätigkeit - wenn ich lese, eine Landschaft betrachte, mich mit Freunden unterhalte und dergleichen - geht etwas in mir vor. Ich bin nach dem Erlebnis nicht mehr derselbe wie zuvor. Bei der entfremdeten Form des Vergnügens geht nichts in mir vor. Ich habe dann dies oder jenes konsumiert; in meinem Innern hat sich nichts verändert, und mir bleibt höchstens die Erinnerung daran, was ich getan habe. Eines der augenfälligsten Beispiele für diese Art von Vergnügungs-Konsum ist die Herstellung von Schnappschüssen, die zu einer unserer bezeichnendsten Freizeitbeschäftigungen geworden ist. Der Kodak-Werbespruch „Drücken sie auf den Knopf, alles Übrige besorgen wir“, der seit 1889 so viel dazu beigetragen hat, die Fotografie auf der ganzen Welt populär zu machen, ist symbolisch dafür. Er ist einer der ersten Appelle an das Machtgefühl, das der Druck auf den Knopf verleiht; man braucht selbst nichts zu tun, man braucht über nichts Bescheid zu wissen, es wird alles für einen getan; man braucht lediglich auf den Knopf zu drücken. Tatsächlich sind solche Momentaufnahmen höchst bezeichnend für die entfremdete visuelle Wahrnehmung, für den bloßen Konsum. Der „Tourist“ mit seiner Kamera ist ein Musterbeispiel für eine entfremdete Beziehung zur Welt. Da er ständig mit dem Aufnehmen von Bildern beschäftigt ist, sieht er selbst praktisch überhaupt nichts außer durch das Medium seines Fotoapparates. Die Kamera sieht für ihn, und das Ergebnis seiner „Vergnügungsreise“ ist eine Sammlung von Schnappschüssen anstelle eines Erlebnisses, das er hätte haben können, aber nicht hatte.

Der heutige Mensch ist nicht nur seiner eigenen Arbeit und den Dingen und Vergnügungen, die er konsumiert, entfremdet, sondern auch den gesellschaftlichen Kräften, die unsere Gesellschaft und das Leben jedes einzelnen von uns bestimmen, der ihr angehört.

Wie hilflos wir tatsächlich gegenüber den Kräften sind, die uns beherrschen, zeigt sich noch drastischer bei jenen sozialen Katastrophen, die bis jetzt immer wieder unfehlbar eingetreten sind, wenn sie auch jedes Mal als bedauerliche Pannen bezeichnet wurden. Ich meine die Wirtschaftskrisen und die Kriege. Diese gesellschaftlichen Phänomene treten auf, als ob es sich um Naturkatastrophen handelte, obwohl es sich doch in Wirklichkeit um von den Menschen - wenn auch unbeabsichtigt und unbewusst - herbeigeführte Vorgänge handelt.

Diese Anonymität der gesellschaftlichen Kräfte ist ein wesentliches Merkmal der Struktur der kapitalistischen Produktionsform. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gesellschaftsformen, wo die sozialen Gesetzmäßigkeiten klar ersichtlich sind und auf politischer Macht oder Tradition beruhen, besitzt der Kapitalismus keine solchen expliziten Gesetze. Er gründet sich auf das Prinzip, dass für die Allgemeinheit das Beste herauskommen wird, wenn nur jeder auf dem Markt seinen eigenen Vorteil sucht, [IV-100] und dass Ordnung und nicht Anarchie das Resultat sein wird. Natürlich gibt es ökonomische Gesetze, die den Markt beherrschen, aber diese wirken hinter dem Rücken all derer, die sich um nichts als ihre eigenen Interessen kümmern. Man versucht etwa so hinter die Gesetze des Marktes zu kommen, wie ein Calvinist in Genf dahinterzukommen suchte, ob Gott für ihn das Heil oder die ewige Verdammnis vorherbestimmt habe. Aber wie der Wille Gottes, so entziehen sich auch die Gesetze des Marktes unserem Willen und Einfluss.

Die Entwicklung des Kapitalismus hat weitgehend bewiesen, dass dieses Prinzip funktioniert; und es ist tatsächlich das reine Wunder, dass die antagonistische Zusammenarbeit in sich abgeschlossener wirtschaftlicher Einheiten zu einer blühenden, sich ständig weiter ausbreitenden Gesellschaft führte. Tatsächlich ist die kapitalistische Produktionsweise der politischen Freiheit förderlich, während eine zentral geplante Gesellschaftsordnung Gefahr läuft, zu einer politischen Reglementierung und schließlich zur Diktatur zu führen. Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu diskutieren, ob es noch andere Alternativen als die Wahl zwischen dem „freien Unternehmertum“ und der politischen Reglementierung gibt, doch muss in diesem Zusammenhang gesagt werden, dass eben die Tatsache, dass wir von Gesetzen beherrscht werden, die wir nicht unter Kontrolle haben und nicht einmal kontrollieren wollen, eine der offenkundigsten Manifestationen der Entfremdung ist. Wir sind die Urheber unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorkehrungen, und gleichzeitig lehnen wir absichtlich und enthusiastisch die Verantwortung dafür ab und warten je nachdem hoffnungsvoll oder angsterfüllt ab, was „die Zukunft“ bringen wird. Unser eigenes Tun ist in den Gesetzen verkörpert, die uns regieren, aber diese Gesetze stehen hoch über uns, und wir sind ihre Sklaven. Der riesige Staat und das riesige Wirtschaftssystem unterstehen nicht mehr der Kontrolle des Menschen. Sie sind außer Kontrolle geraten, und ihre Führer gleichen einem Reiter auf einem durchgehenden Pferd, der stolz darauf ist, dass er sich im Sattel halten kann, obgleich er die Herrschaft über das Tier längst verloren hat.

In welcher Beziehung steht der heutige Mensch zu seinen Mitmenschen? Es ist eine Beziehung zwischen zwei Abstraktionen, zwischen zwei lebenden Menschen, die sich gegenseitig benutzen. Der Arbeitgeber benutzt seine Arbeitnehmer, der Kaufmann benutzt seine Kunden. Jedermann stellt für den anderen eine Ware dar, die man mit einer gewissen Liebenswürdigkeit behandeln muss, weil sie einem später irgendwann einmal von Nutzen sein könnte, selbst wenn das im Augenblick nicht der Fall ist. Man findet heutzutage nicht viel Liebe oder Hass in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Es herrscht da vielmehr eine oberflächliche Verbindlichkeit und eine mehr als oberflächliche Fairness, aber unter dieser Oberfläche stoßen wir auf Distanz und Gleichgültigkeit. Es herrscht auch ein weitverbreitetes gründliches Misstrauen. Wenn man zu jemandem sagt: „Reden Sie mit John Smith - er ist in Ordnung“, so kommt darin zum Ausdruck, dass man sein generelles Misstrauen beschwichtigen will. Selbst die Liebe und die Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau haben diesen Charakter angenommen. Die große sexuelle Emanzipation, zu der es nach dem Ersten Weltkrieg kam, stellte einen verzweifelten Versuch dar, ein tieferes Gefühl der Liebe durch wechselseitige sexuelle Lust zu ersetzen. Als sich das als Enttäuschung [IV-101] herausstellte, hat man die erotische Polarität zwischen den Geschlechtern auf ein Minimum reduziert und durch eine freundschaftliche Partnerschaft ersetzt, durch eine kleine Interessengemeinschaft, bei der man seine Kräfte zusammentut, um den täglichen Lebenskampf besser zu bestehen und um das Gefühl der Isolierung und Vereinsamung, das wir alle haben, etwas zu mildern.

Die Entfremdung von Mensch zu Mensch hat den Verlust jener allgemeinen gesellschaftlichen Bindungen zur Folge, die sowohl die mittelalterliche wie auch die meisten anderen vorkapitalistischen Gesellschaften kennzeichnen. (Vgl. den Begriff „Gemeinschaft“ im Gegensatz zur „Gesellschaft“ im Sinne von Ferdinand Tönnies, 1926.) Die moderne Gesellschaft besteht aus „Atomen“ (wenn wir dieses Wort im Sinne des griechischen Wortes für „Individuum“ gebrauchen), aus kleinen, einander fremden Partikeln, die durch selbstsüchtige Interessen und durch die Notwendigkeit, voneinander Nutzen zu ziehen, zusammengehalten werden. Dennoch ist aber der Mensch ein soziales Wesen mit einem tiefen Bedürfnis, mit anderen zu teilen, einander zu helfen, sich als Glied einer Gruppe zu fühlen. Was ist aus diesen sozialen Strebungen des Menschen geworden? Sie manifestieren sich in der besonderen Sphäre des öffentlichen Bereiches, der vom privaten Bereich streng getrennt ist. Unser privater Umgang mit den Mitmenschen ist vom Prinzip des Egoismus beherrscht. „Jeder für sich, Gott für uns alle“, lautet das Motto, das in flagrantem Widerspruch zur christlichen Lehre steht. Der Einzelne wird von seinen egoistischen Interessen motiviert und nicht von seiner Solidarität mit den Mitmenschen und der Liebe zu ihnen. Diese Gefühle können sich zwar sekundär in privaten Taten der Philanthropie oder der Freundlichkeit äußern, aber sie sind kein Bestandteil der Grundstruktur unserer sozialen Beziehungen. Streng getrennt von unserem Privatleben als Individuum ist der Bereich unseres sozialen Lebens als „Bürger“. In diesem Bereich ist der Staat die Verkörperung unserer sozialen Existenz; in unserer Eigenschaft als Bürger erwartet man von uns, dass wir ein Gefühl für unsere sozialen Verpflichtungen und ein soziales Verantwortungsgefühl an den Tag legen, und tatsächlich tun wir das ja auch. Wir bezahlen unsere Steuern, wir gehen zur Wahl, wir befolgen die Gesetze, und im Kriegsfall opfern wir freiwillig unser Leben. Könnte man sich ein deutlicheres Beispiel für die Trennung von privatem und öffentlichem Leben vorstellen als die Tatsache, dass der gleiche Mensch, der nicht daran denken würde, hundert Dollar auszugeben, um die Not eines Fremden zu lindern, ohne Zögern sein Leben einsetzt, um denselben Fremden zu retten, wenn sie beide zufällig als Soldaten in der gleichen Uniform stecken? Die Uniform ist die Verkörperung unserer sozialen und die Zivilkleidung die unserer egoistischen Natur.

Eine interessante Illustration dieser These findet sich im neuesten Werk von S. A. Stouffer (1955). Bei der Befragung eines Querschnitts durch die amerikanische Bevölkerung nannte die überwiegende Mehrheit auf die Frage „Was macht Ihnen am meisten Sorgen?“ persönliche, wirtschaftliche, gesundheitliche und ähnliche Probleme; nur acht Prozent waren über Weltprobleme einschließlich Krieg beunruhigt und ein Prozent wegen der Gefahr des Kommunismus oder wegen einer Bedrohung der bürgerlichen Freiheiten. Andererseits hielt beinahe die Hälfte der Befragten den Kommunismus für eine ernste Gefahr und war der Meinung, dass es innerhalb der [IV-102] nächsten zwei Jahre wahrscheinlich zum Krieg kommen werde. Diese die ganze Gesellschaft betreffenden Sorgen werden jedoch nicht als eine Realität empfunden, die den einzelnen persönlich berührt, weshalb man sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen braucht, wenn sie auch eine erhebliche Intoleranz zur Folge haben. Interessant zu beobachten ist auch, dass zwar fast die ganze Bevölkerung an Gott glaubt, dass sich aber kaum einer über seine Seele, über seine Erlösung oder seine spirituelle Entwicklung Gedanken macht. Gott ist uns ebenso entfremdet wie die Welt als Ganzes. Unsere Angst und Sorge beschränkt sich auf den separaten privaten Sektor unseres Lebens und berührt kaum den gesellschaftlichen Bereich, der uns mit unseren Mitmenschen verbindet.

Der Trennungsstrich zwischen der Gemeinschaft mit den Mitmenschen und dem politischen Staat hat dazu geführt, dass man alle sozialen Gefühle auf den Staat projiziert, der so zu einem Idol wird, zu einer Macht, die hoch über den Menschen steht. Der Mensch unterwirft sich dem Staat als der Verkörperung seiner eigenen sozialen Gefühle, die er als ihm entfremdete Mächte anbetet; als Individuum leidet er unter der Isolierung und Vereinsamung, welche die notwendige Folge dieser Trennung ist. Die Vergötzung des Staates kann erst verschwinden, wenn der Mensch die sozialen Kräfte wieder in sich hinein nimmt und eine Gemeinschaft aufbaut, in der seine sozialen Gefühle nicht etwas Zusätzliches zum Privatleben sind, sondern wenn seine private und gesellschaftliche Existenz ein und dasselbe sind.

In welcher Beziehung steht der Mensch zu sich selbst? Ich habe die Beziehung in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 47-56) als Marketing-Orientierung bezeichnet.[27] Bei dieser Orientierung erlebt sich der Mensch als ein Ding, das auf dem Markt erfolgreich eingesetzt wird. Er erlebt sich nicht als tätiger Urheber (active agent), als Träger menschlicher Kräfte. Er ist diesen Kräften entfremdet. Sein Ziel ist, sich gewinnbringend auf dem Markt zu verkaufen. Sein Selbstgefühl beruht nicht auf seiner Tätigkeit als liebender und denkender Einzelmensch, sondern auf seiner sozio-ökonomischen Rolle. Wenn Dinge sprechen könnten, so würde eine Schreibmaschine auf die Frage „Wer bist du?“ antworten: „Ich bin eine Schreibmaschine.“ Ein Auto würde antworten: „Ich bin ein Ford“ oder „ein Buick“ oder „ein Cadillac“. Fragte man einen Menschen: „Wer bist du?“, dann antwortet er: „Ich bin Fabrikant“, „Ich bin Büroangestellter“, „Ich bin Arzt“ oder: „Ich bin ein verheirateter Mann“, „Ich bin Vater von zwei Kindern“, und seine Antwort hat ziemlich die gleiche Bedeutung, wie es die eines entsprechenden Dinges haben würde. Es ist dies die Art, wie man sich erlebt, nicht als einen Menschen mit seiner Liebe, seiner Angst, seinen Überzeugungen und Zweifeln, sondern als eine der realen Natur entfremdete Abstraktion, die im Gesellschaftssystem eine bestimmte Funktion erfüllt. Des Menschen Wertgefühl hängt von seinem Erfolg ab, ob er sich gewinnbringend verkaufen kann, ob er mehr aus sich zu machen [IV-103] weiß als er zu Anfang seiner Laufbahn war, kurz ob er „ein Erfolg ist“. Sein Körper, sein Geist und seine Seele sind sein Kapital, und seine Lebensaufgabe besteht darin, dieses vorteilhaft zu investieren, einen Profit aus sich zu ziehen. Menschliche Eigenschaften wie Freundlichkeit, Höflichkeit und Güte werden zu Gebrauchswaren, zu Aktivposten des „Persönlichkeitspakets“, die zu einem höheren Preis auf dem Personenmarkt verhelfen. Gelingt es jemandem nicht, sich gewinnbringend zu investieren, so hat er das Gefühl, dass er ein Versager ist; ist er erfolgreich, so ist es sein Erfolg. Natürlich hängt seine eigene Wertschätzung stets von Faktoren außerhalb seiner selbst ab, vom launenhaften Urteil des Marktes, der über seinen Wert genauso entscheidet wie über den Wert von Gebrauchswaren. Wie alle Waren, die auf dem Markt nicht vorteilhaft zu verkaufen sind, ist dann auch er - in Bezug auf seinen Tauschwert - wertlos, selbst dann, wenn sein Gebrauchswert beträchtlich sein mag.

Die zum Verkauf stehende Persönlichkeit muss einen erheblichen Teil ihres Gefühls der eigenen Würde einbüßen, das selbst in den primitivsten Kulturen für den Menschen so charakteristisch ist. Ein solcher sich selbst entfremdeter Mensch muss fast sein ganzes Selbst-Gefühl, das Gefühl, ein einzigartiges und nicht wiederholbares Wesen zu sein, verlieren. Das Selbst-Gefühl entstammt der Erfahrung von mir selbst als dem Subjekt meiner Erfahrungen, meiner Gedanken, meiner Gefühle, meiner Entscheidungen, meines Urteilens und meines Handelns. Es hat zur Voraussetzung, dass meine Erfahrung wirklich meine eigene und kein entfremdetes Erlebnis ist. Die Dinge besitzen kein Selbst, und Menschen, die zu Dingen geworden sind, können kein Selbst besitzen.

In diesem Verlust des Selbst-Gefühls des heutigen Menschen sieht der verstorbene H. S. Sullivan, einer der begabtesten und originellsten modernen Psychiater, ein natürliches Phänomen. Er meinte von den Psychologen, die - wie ich selbst - die Ansicht vertreten, dass das Fehlen dieses Selbst-Gefühls ein pathologisches Phänomen sei, sie litten unter einer „Täuschung“. Für ihn ist das Selbst nichts anderes als die zahlreichen Rollen, die wir in unseren Beziehungen zu anderen spielen, Rollen, welche die Funktion haben, Billigung zu ernten und die Angst zu vermeiden, die durch Missbilligung hervorgerufen wird. Wie erstaunlich schnell ist der Begriff des Selbst seit dem Neunzehnten Jahrhundert heruntergekommen, wo Ibsen in seinem Peer Gynt noch den Verlust des Selbst zum Hauptthema seiner Kritik am modernen Menschen machte. Peer Gynt wird als ein Mensch geschildert, der hinter materiellem Gewinn herjagt und schließlich merkt, dass er sein Selbst dabei verloren hat, dass er einer Zwiebel aus lauter Schalen und ohne Kern gleicht. Ibsen schildert, wie Peer Gynt von der Angst vor dem Nichts ergriffen wird, als er diese Entdeckung macht, von einer Panik, die ihn veranlasst, lieber in der Hölle zu landen als mit der Schmelzkelle ins Nichts zurückgeworfen zu werden. Tatsächlich geht ja mit dem Verlust des Selbst-Gefühls das Identitätserleben verloren - und wenn einem Menschen das geschieht, kann er wahnsinnig werden, sofern es ihm nicht gelingt, sich ein sekundäres Selbst-Gefühl zu erwerben. Er erwirbt es sich durch die Erfahrung, dass andere ihn anerkennen, dass sie sich für ihn interessieren - kurz dass er erfolgreich ist und eine gut verkäufliche Ware darstellt und die anderen in ihm keine einzigartige Persönlichkeit sehen, sondern jemanden, der in den allgemeinen Betrieb hineinpasst. [IV-104]

Man kann das Wesen der Entfremdung nicht ganz verstehen, wenn man einen speziellen Aspekt unseres modernen Lebens außer acht lässt: die Routinisierung und die Verdrängung der Grundprobleme menschlicher Existenz aus dem Bewusstsein. Wir berühren hier ein universales Problem des Lebens. Der Mensch muss sich sein tägliches Brot verdienen, und das ist stets eine Aufgabe, die ihn mehr oder weniger in Anspruch nimmt. Er muss die vielen Zeit und Energie verschlingenden Aufgaben des täglichen Lebens erfüllen und kommt dabei ohne eine gewisse Routine nicht aus. Er baut eine gesellschaftliche Ordnung, Konventionen, Gewohnheiten und Vorstellungen auf, die ihm das Notwendige vollbringen helfen und die es ihm ermöglichen, mit den Mitmenschen möglichst reibungslos zusammenzuleben. Es ist kennzeichnend für eine jede Kultur, dass sie als Überbau über der natürlichen Welt, in der wir leben, eine vom Menschen geschaffene künstliche Welt errichtet. Aber der Mensch kann nur zur Erfüllung seiner selbst gelangen, wenn er mit den Grundgegebenheiten seiner Existenz in Berührung bleibt, wenn er noch fähig ist, das Erregende von Liebe und Solidarität wie auch die tragische Tatsache seiner Einsamkeit und des fragmentarischen Charakters seiner Existenz zu erleben. Wenn er ganz in der Routine und in den künstlichen Machenschaften des Lebens verfangen ist, wenn er nichts anderes mehr sehen kann als das vom Menschen geformte Alltagsgesicht der Welt, dann verliert er den Kontakt mit sich selbst und mit der Welt. Wir finden den Konflikt zwischen der Routine und dem Versuch, zu den fundamentalen Realitäten des Lebens zurückzugelangen, in jeder Kultur. Dabei zu helfen, war von jeher eine der Funktionen von Kunst und Religion - wenn auch die Religion selbst gelegentlich zu einer neuen Form der Routine wurde.

Selbst auf der primitivsten Stufe der Menschheitsgeschichte finden wir den Versuch, durch künstlerisches Schaffen mit dem Wesen der Wirklichkeit in Berührung zu kommen. Der Primitive gibt sich mit dem rein praktischen Gebrauch seiner Werkzeuge und Waffen nicht zufrieden, sondern versucht sie über die Nützlichkeitsfunktion hinaus zu verzieren und zu verschönern. Neben der Kunst ist der bedeutsamste Weg, durch die Oberfläche der Routine durchzudringen und mit den letzten Wirklichkeiten des Lebens in Berührung zu kommen, in dem zu finden, was man ganz allgemein als „Ritual“ bezeichnet. Ich gebrauche das Wort Ritual hier in seinem weitesten Sinn, wie wir es zum Beispiel bei den Vorführungen des griechischen Dramas finden, und nicht nur im religiösen Sinn. Welche Funktion hatte das griechische Drama? Es stellte fundamentale Probleme der menschlichen Existenz in einer künstlerischen und dramatischen Form dar, und der an der Vorführung teilnehmende Zuschauer - wenn auch nicht als Zuschauer im modernen Sinne des Konsumenten - wurde aus dem Bereich der täglichen Routine herausgerissen und mit sich selbst als einem menschlichen Wesen, mit den Wurzeln seiner Existenz in Berührung gebracht. Er berührte mit seinen Füßen den Boden und gewann dabei die Kraft, die ihn zu sich selbst zurückbrachte. Ob wir an das griechische Drama, an das mittelalterliche Mysterienspiel oder an einen indischen Tanz, an die hinduistischen, jüdischen oder christlichen Rituale denken, stets haben wir es mit verschiedenen Formen der Dramatisierung fundamentaler Probleme der menschlichen Existenz zu tun, bei der die gleichen Probleme ausagiert werden, die in der Philosophie und Theologie zu Ende gedacht werden. [IV-105]

Was ist in der modernen Kultur von einer solchen Dramatisierung des Lebens übrig geblieben? So gut wie nichts. Der Mensch kommt kaum je aus dem Bereich der von Menschen geschaffenen Konventionen und Dinge heraus, und er bricht kaum je durch die Oberfläche der Routine hindurch, außer bei grotesken Versuchen, das Bedürfnis nach einem Ritual zu befriedigen, wie es etwa in Logen und Bruderschaften praktiziert wird. Das einzige Phänomen, das der Bedeutung eines Rituals noch nahekommt, ist die Teilnahme der Zuschauer bei Sportwettkämpfen. Hier wenigstens geht es noch um ein fundamentales Problem der menschlichen Existenz, um den Kampf zwischen Menschen und um das fundamentale Erlebnis von Sieg und Niederlage. Aber was für ein primitiver und beschränkter Aspekt der menschlichen Existenz, bei dem der ganze Reichtum des menschlichen Lebens auf einen Teilaspekt reduziert ist!

Wenn irgendwo ein Brand ausbricht oder wenn es in einer Großstadt zu einem Verkehrsunfall kommt, laufen Scharen von Menschen zusammen und sehen zu. Millionen lassen sich täglich von Berichten über Verbrechen und von Kriminalgeschichten faszinieren. Sie gehen frommen Sinnes in Filme, deren zwei Hauptthemen Verbrechen und Leidenschaft sind. Dieses Interesse und diese Faszination sind nicht nur Ausdruck von schlechtem Geschmack und Sensationsbedürfnis, sondern es spricht daraus ein tiefes Verlangen nach einer Dramatisierung der letzten Dinge im Menschenleben, nämlich von Leben und Tod, von Verbrechen und Strafe, vom Kampf zwischen Mensch und Natur. Aber während das griechische Drama diese Probleme auf einem hohen künstlerischen und metaphysischen Niveau behandelte, sind unser modernes „Drama“ und „Ritual“ von roher Art und haben daher keinerlei kathartische Wirkung. Diese ganze Faszination durch Sportwettkämpfe, Verbrechen und Leidenschaft zeugt von dem Bedürfnis, die routinemäßige Oberfläche zu durchbrechen, aber aus der Art, wie dies geschieht, spricht die klägliche Armut unserer Lösung.

Die Marketing-Orientierung steht in enger Verbindung mit der Tatsache, dass das Bedürfnis nach Tausch zu einem Hauptantrieb für den modernen Menschen geworden ist. Natürlich tauschen selbst in einer primitiven Wirtschaft, die sich auf eine rudimentäre Form der Arbeitsteilung gründet, die Menschen innerhalb eines Stammes oder mit Nachbarstämmen Güter aus. Der Mann, der Kleidungsstücke herstellt, tauscht sie etwa gegen Getreide ein, das ein Nachbar anbaut, oder auch gegen eine Sichel oder ein Messer, die der Schmied gemacht hat. Mit zunehmender Arbeitsteilung kommt es auch zu einem zunehmenden Warenaustausch, doch ist dieser normalerweise nur ein Mittel zu einem wirtschaftlichen Zweck. In der kapitalistischen Gesellschaft dagegen ist das Tauschen Selbstzweck geworden.

Kein Geringerer als Adam Smith erkannte die fundamentale Rolle, die das Tauschbedürfnis spielt, und erklärte es zu einem Grundtrieb im Menschen:

Die Arbeitsteilung, die so viele Vorteile mit sich bringt, ist in ihrem Ursprung nicht etwa das Ergebnis menschlicher Erkenntnis, welche den allgemeinen Wohlstand, zu dem erstere führt, voraussieht und anstrebt. Sie entsteht vielmehr zwangsläufig, wenn auch langsam und schrittweise, aus einer natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen. [IV-106]

Ob es sich bei dieser Neigung um eine jener angeborenen oder ursprünglichen Eigenschaften der menschlichen Natur handelt, die nicht weiter erklärt werden kann, oder ob sie, was wohl wahrscheinlicher sein dürfte, die notwendige Folge der menschlichen Fähigkeit, denken und sprechen zu können, ist, diese Frage wollen wir hier nicht näher untersuchen. Jene Eigenschaft ist allen Menschen gemeinsam, und man findet sie nirgends in der Tierwelt, wo es im übrigen weder einen Austausch noch eine andere Form gegenseitigen Übereinkommens zu geben scheint. (...) Niemand hat je erlebt, dass ein Hund mit einem anderen einen Knochen redlich und mit Bedacht gegen einen anderen Knochen ausgetauscht hätte (...). (A. Smith, 1974, S. 16. - Hervorhebungen E. F.)

Tatsächlich ist ja das Tauschprinzip auf dem Binnenmarkt wie auf dem Weltmarkt in ständig zunehmendem Maße eines der wirtschaftlichen Grundprinzipien, auf denen das kapitalistische System beruht; aber Adam Smith hat vorausgesehen, dass dieses Prinzip auch eines der tiefsten psychischen Bedürfnisse der modernen, entfremdeten Persönlichkeit werden würde. Das Tauschen hat seine rationale Funktion als Mittel zu wirtschaftlichen Zwecken eingebüßt und ist zum Selbstzweck geworden, der sich auch auf nicht-ökonomische Bereiche erstreckt. Ohne es selbst zu merken, weist Adam Smith auf die Irrationalität dieses Tauschbedürfnisses hin, wenn er das Beispiel mit den beiden Hunden anführt. Der Knochentausch könnte keinen realistischen Zweck haben, denn entweder wären die beiden Knochen gleichwertig, und dann wäre kein Grund vorhanden, sie auszutauschen, oder der eine wäre besser als der andere, dann aber würde der Hund mit dem besseren Knochen diesen nicht freiwillig austauschen. Das Beispiel hat nur dann einen Sinn, wenn wir annehmen, dass das Tauschen an sich ein Bedürfnis ist, selbst wenn es keinem praktischen Zweck dient - und eben dies vermutet Adam Smith.

Wie bereits in anderem Zusammenhang erwähnt, ist der Hang zum Tauschen an die Stelle der Freude am Besitz getreten. Man kauft sich einen Wagen oder ein Haus mit der Absicht, sie bei nächstbester Gelegenheit wieder zu verkaufen. Noch wichtiger aber ist, dass der Tauschbetrieb sich auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt. Die Liebe ist oft nichts anderes als ein günstiges Tauschgeschäft zwischen zwei Menschen, die dabei entsprechend ihrem Wert auf dem Personenmarkt soviel wie möglich für sich herausschlagen. Jeder stellt dabei ein „Paket“ dar, in das mehrere Aspekte seines Tauschwertes zu einer „Persönlichkeit“ zusammengepackt sind, worunter jene Eigenschaften zu verstehen sind, die ihn zu einem guten Verkäufer seiner eigenen Person machen: sein Aussehen, seine Bildung, seine Einkünfte und seine Erfolgsaussichten - jedermann bemüht sich, soviel wie möglich für dieses Paket einzuhandeln. Selbst auf eine Party zu gehen und ganz allgemein gesellschaftlichen Verkehr zu pflegen, ist weitgehend eine Angelegenheit des Tauschens. Man bemüht sich eifrig, „Paketen“, die etwas mehr wert sind, zu begegnen, um mit ihnen in Kontakt und eventuell zu einem gewinnbringenden Tauschgeschäft zu kommen. Man möchte seine gesellschaftliche Stellung - was soviel heißt wie das eigene Selbst - gegen eine höhere austauschen, und bei diesem Tauschhandel tauscht man seinen alten Freundeskreis, seine alten Gewohnheiten und Gefühle gegen neue ein, genau wie man seinen Ford in einen Buick umtauscht. Während Adam Smith [IV-107] annahm, dieses Tauschbedürfnis sei der menschlichen Natur eingeboren, handelt es sich dabei in Wirklichkeit um ein Symptom der Abstraktion und Entfremdung, die dem Gesellschafts-Charakter des modernen Menschen eigentümlich ist.

Der gesamte Lebensprozess wird analog der gewinnbringenden Investition von Kapital erlebt, wobei mein Leben und meine Person das investierte Kapital darstellen. Wenn jemand ein Stück Seife oder ein Pfund Fleisch kauft, erwartet er berechtigterweise, dass der von ihm bezahlte Geldbetrag dem Wert der von ihm gekauften Seife bzw. des Fleisches entspricht. Es liegt ihm daran, dass die Gleichung „So und soviel Seife = so und soviel Geld“ gemäß der gerade geltenden Preisstruktur stimmt. Aber nun hat man diese Erwartung auch auf alle anderen Arten der Tätigkeit ausgedehnt. Wenn jemand ins Konzert oder ins Theater geht, fragt er sich mehr oder weniger ausdrücklich, ob die Aufführung auch „das Geld wert ist“, das er bezahlt hat. Diese Frage hat zwar oberflächlich gesehen einen gewissen Sinn, doch ist sie im Grunde sinnlos, weil da nämlich zwei völlig unvergleichbare Dinge miteinander verglichen werden. Die Freude am Anhören eines Konzerts lässt sich unmöglich in einem Geldbetrag ausdrücken; das Konzert ist keine Ware, ebenso wenig wie das Erlebnis, das man beim Zuhören hat. Das gleiche gilt, wenn jemand eine Vergnügungsreise macht, einen Vortrag besucht, eine Party veranstaltet oder sonst etwas von den vielen Dingen tut, für die man heute Geld ausgibt. Das Tätigsein als solches ist ein produktiver Akt unseres Lebens und ist nicht nach dem dafür ausgegebenen Geld zu bemessen. Das Bedürfnis, lebendiges Tun mit etwas Quantifizierbarem zu messen, kommt auch in der Tendenz zum Ausdruck, zu fragen, ob es „die Zeit lohne“. Wenn ein junger Mann den Abend mit seiner Freundin verbringt, wenn er Freunde besucht und bei vielen anderen Gelegenheiten, bei denen er Geld ausgibt - oder auch nicht -, erhebt sich die Frage, ob das dafür ausgegebene Geld oder die darauf verwandte Zeit es wert waren. (Vgl. K. Marx, 1959, S. 85: „Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit.“ Auf jeden Fall hat man das Bedürfnis, seine Unternehmung damit zu rechtfertigen, dass man eine Gleichung aufstellt, aus der hervorgeht, dass man seine Energie nutzbringend investiert hat. Selbst die Hygiene und Gesundheit müssen dem gleichen Zweck dienen: Wenn jemand jeden Morgen einen Spaziergang macht, dann sieht er oft darin eine für seine Gesundheit vorteilhafte Investition und keineswegs eine entfremdete Tätigkeit, die keiner Rechtfertigung bedarf. Am prägnantesten und drastischsten hat Bentham diese Einstellung zu Freude und Schmerz beschrieben. Er geht aus von der Annahme, dass Lust das Ziel des Lebens sei, und schlägt eine Art Buchführung vor, aus der für jede Tätigkeit zu ersehen ist, ob die Lust dabei größer war als der Schmerz. War die Lust größer, so war es der Mühe wert. So wurde das ganze Leben für ihn zu einer Art Geschäft, bei dem jederzeit auf Grund der Bilanz der jeweilige Profit festzustellen war.

Wenn auch Benthams Ansichten heute nicht mehr vielen geläufig sind, so hat sich doch die Einstellung, die darin zum Ausdruck kommt, immer mehr festgesetzt.[28] Der [IV-108] moderne Mensch stellt sich aber noch eine weitere Frage, ob nämlich sein „Leben lebenswert“ ist, und hat dementsprechend das Gefühl, dass es entweder „ein Fehlschlag“ oder „ein Erfolg“ ist. Diese Idee gründet sich auf eine Auffassung, die das Leben als ein Unternehmen betrachtet, welches einen Profit aufweisen sollte. Ein verfehltes Leben ist so etwas wie der Bankrott eines Geschäfts, dessen Verluste größer waren als seine Gewinne. Eine solche Auffassung ist reiner Unsinn. Wir können glücklich oder unglücklich sein, gewisse Ziele erreichen und andere nicht erreichen; aber es gibt keine sinnvolle Bilanz, aus der hervorginge, ob ein Leben lebenswert war. Vielleicht ist kein Leben vom Standpunkt einer Bilanz aus lebenswert. Es endet unausweichlich mit dem Tode, viele unserer Hoffnungen werden enttäuscht, unser Leben bringt Leiden und Mühe. Vom Standpunkt der Bilanz aus möchte es scheinen, dass es sinnvoller gewesen wäre, überhaupt nicht geboren zu werden oder als kleines Kind zu sterben. Wer wollte aber andererseits behaupten, dass ein glücklicher Augenblick der Liebe oder die Lust zu atmen oder ein Gang in frischer Morgenluft nicht alles Leiden und alle Mühe wieder aufwiegt, die das Leben mit sich bringt? Das Leben ist eine einzigartige Gabe und eine unvergleichliche Herausforderung, die man nicht an etwas anderem messen kann, und auf die Frage, ob es „der Mühe wert“ sei zu leben, kann es keine sinnvolle Antwort geben, weil die Frage selbst sinnlos ist.

Die Interpretation des Lebens als ein Unternehmen scheint mir der Grund für eine typisch moderne Erscheinung zu sein, über die schon viel spekuliert wurde. Ich meine die Zunahme der Selbstmorde in der modernen westlichen Gesellschaft. Zwischen 1836 und 1890 nahmen die Selbstmorde in Preußen um 140 Prozent, in Frankreich um 355 Prozent zu. England hatte zwischen 1836 und 1845 62 Selbstmordfälle auf eine Million Einwohner, zwischen 1906 und 1910 waren es 110. In Schweden waren die entsprechenden Zahlen 66 bzw. 150. (Vgl. M. Halbwachs, 1930, S. 92 und 481.) Wie lässt sich diese Zunahme der Selbstmordrate erklären, die mit dem wachsenden Wohlstand im Neunzehnten Jahrhundert Hand in Hand ging?

Zweifellos sind die Motive für den Selbstmord höchst komplex, und man kann daher nicht ein einzelnes Motiv als die Ursache annehmen. Es gibt in China den „Selbstmord aus Rache“; den durch Melancholie verursachten Selbstmord finden wir auf der ganzen Welt. Aber diese Motivationen spielen beide bei der Zunahme der Selbstmordraten im Neunzehnten Jahrhundert keine wesentliche Rolle. In seinem klassischen Werk über den Selbstmord bezeichnet Durkheim die von ihm vermutete Ursache als „Anomie“. Er meint damit die Zerstörung aller traditionellen gesellschaftlichen Bindungen, ferner die Tatsache, dass alle echten kollektiven Organisationen hinter den Staat zurückgetreten seien und dass alles echte gesellschaftliche Leben ausgelöscht sei. (Vgl. E. Durkheim,1897, S. 446.) Er glaubte, dass die im modernen politischen Staat lebenden Menschen „ein unorganisierter Staub von Individuen sind“ (E. Durkheim,1897, S. 448). Durkheims Erklärung liegt in der gleichen Richtung wie die hier von mir vertretene Auffassung, und ich werde später noch näher darauf eingehen. Ich glaube auch, dass die Langeweile und Monotonie des Lebens, die durch unsere entfremdete Lebensweise hervorgerufen wird, ein zusätzlicher Faktor ist. Die Selbstmordraten der skandinavischen Länder, der Schweiz und der Vereinigten Staaten scheinen - zusammen mit den Zahlen bezüglich des Alkoholismus - diese These [IV-109] zu bestätigen.[29] Aber es gibt noch einen anderen Grund, den sowohl Durkheim wie auch andere Forscher, die sich mit dem Selbstmord beschäftigt haben, übersehen haben. Dieser Grund hängt damit zusammen, dass man das ganze Leben unter dem Gesichtspunkt einer Bilanz sieht, als ob es sich um ein Unternehmen handelte, das Konkurs machen kann. Viele Selbstmorde werden durch das Gefühl verursacht, dass „das Leben ein Fehlschlag war“ und es sich nicht lohnt weiterzuleben. Man begeht Selbstmord, genau wie ein Geschäftsmann seinen Bankrott erklärt, wenn die Verluste größer sind als der Gewinn und wenn er keine Möglichkeit mehr sieht, die Verluste auszugleichen.

3. Verschiedene andere Aspekte

Bisher habe ich versucht, ein allgemeines Bild von der Entfremdung des modernen Menschen von sich selbst und seinen Mitmenschen im Prozess der Produktion, des Konsums und der Ausfüllung der Freizeit zu entwerfen. Ich möchte mich jetzt mit einigen besonderen Aspekten des heutigen Gesellschafts-Charakters befassen, welche mit dem Phänomen der Entfremdung eng verwandt sind, deren Erörterung aber einfacher wird, wenn man sie gesondert und nicht als Teilaspekt der Entfremdung behandelt.

Anonyme Autorität und Konformität

Der erste dieser Aspekte, mit denen wir uns zu befassen haben, ist die Einstellung des heutigen Menschen zur Autorität.

Wir haben uns bereits mit dem Unterschied zwischen der rationalen und der irrationalen, der fördernden und der hemmenden Autorität beschäftigt und haben dabei festgestellt, dass die westliche Gesellschaft im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert durch die Vermischung beider Arten von Autorität gekennzeichnet war. Das Gemeinsame der beiden Arten ist, dass es sich hier wie dort um eine offene Autorität handelt. Man weiß, wer anordnet und verbietet: der Vater, der Lehrer, der Chef, der König, der Offizier, der Priester, Gott, das Gesetz, das moralische Gewissen. Die Gebote oder Verbote mögen vernünftig sein oder nicht, sie mögen streng oder milde sein, ich mag gehorchen oder mich dagegen auflehnen: Immer weiß ich, dass eine Autorität dahinter steht; ich weiß, wer es ist, was er will und was mein Gehorsam oder mein Aufbegehren für Folgen haben wird. [IV-110]

Um die Mitte unseres Jahrhunderts hat sich die Eigenart der Autorität geändert. Sie ist jetzt keine offene Autorität mehr, sondern eine anonyme, unsichtbare, entfremdete Autorität. Niemand stellt mehr eine Forderung an uns, weder eine Person noch eine Idee noch ein moralisches Gebot. Dennoch gehen wir alle ebenso sehr oder sogar noch mehr mit allen anderen konform, als dies die Menschen in einer durch und durch autoritären Gesellschaft tun würden. Tatsächlich gibt es bei uns keine andere Autorität mehr als das Man. Was aber ist dieses Man? Es ist der Profit, die wirtschaftliche Notwendigkeit, der Markt, der gesunde Menschenverstand, die öffentliche Meinung, das, was „man“ tut, denkt und fühlt. Die Gesetze der anonymen Autorität sind ebenso unsichtbar wie die Gesetze des Marktes - und genauso unangreifbar. Wer kann das Unsichtbare angreifen? Wer kann sich gegen einen „Niemand“ auflehnen?

Das Verschwinden der offenen Autorität ist in allen Lebensbereichen deutlich erkennbar. Die Eltern erteilen keine Befehle mehr; sie legen dem Kind nahe, dass es „das wohl gern tun möchte“. Da sie selber weder Prinzipien noch Überzeugungen besitzen, versuchen sie das Kind so zu lenken, dass es tut, was das Konformitätsgesetz von ihm erwartet, und da sie älter sind und mit dem „Neuesten“ weniger in Berührung stehen, lernen sie oft von ihren Kindern, welche Haltung von einem erwartet wird. Das gleiche gilt im Geschäftsleben sowie in der Industrie; man erteilt auch da keine Anordnungen, sondern man „macht Vorschläge“; man befiehlt nicht mehr, sondern überredet und manipuliert. Selbst in der amerikanischen Armee hat man weitgehend diese neue Form der Autorität akzeptiert. Man macht für die Armee Propaganda, als ob es sich um ein attraktives Geschäftsunternehmen handelte; der Soldat soll sich wie das Glied eines „Teams“ fühlen, wenn auch die harte Tatsache damit nicht aus der Welt geschafft ist, dass er dazu ausgebildet werden muss, zu töten und getötet zu werden.

Solange es noch offene Autoritäten gab, gab es Konflikte und gab es Rebellion - gegen eine irrationale Autorität. Im Konflikt mit den Geboten des eigenen Gewissens, in der Auseinandersetzung mit der irrationalen Autorität entwickelte sich die Persönlichkeit - ganz besonders das Selbst-Gefühl. Ich erlebe mich als „Ich“, weil ich zweifle, protestiere, rebelliere. Selbst dann, wenn ich mich unterwerfe und geschlagen gebe, erlebe ich mich als „Ich“ - als das besiegte Ich. Aber wenn ich nichts mehr von einer Unterwerfung oder einer Rebellion merke, wenn ich von einer anonymen Autorität beherrscht werde, verliere ich mein Selbst-Gefühl. Ich werde zu einem „man“, zu einem Teil des Man.

Der Mechanismus, mit dessen Hilfe die anonyme Autorität funktioniert, ist die Konformität. Es wird von mir erwartet, dass ich das tue, was alle anderen auch tun, daher muss ich mit ihnen konform gehen, ich darf nicht anders sein als sie, darf nicht von ihnen „abstechen“. Ich muss bereit und willens sein, mich mit den allgemeinen Verhaltensmustern zu ändern; ich darf nicht danach fragen, ob ich mich richtig oder falsch verhalte, sondern ob ich angepasst bin, ob ich nichts „Besonderes“ bin und aus dem Rahmen falle. Das einzig Beständige an mir ist meine Bereitschaft, mich zu ändern. Niemand hat Macht über mich, außer die Herde, der ich angehöre, der ich mich aber zu unterwerfen habe.

Es erübrigt sich wohl, dem Leser vor Augen zu führen, welches Ausmaß diese [IV-111] Unterwerfung unter die anonyme Autorität durch die Konformität angenommen hat. Ich möchte gern noch einige Illustrationen dazu anführen, die ich dem hochinteressanten und aufschlussreichen Bericht über eine Siedlung in Park Forest, Illinois, entnehme. Sie scheint mir die Überschrift „Die Zukunft c/o Park Forest“, die der Autor einem seiner Kapitel gibt, voll zu rechtfertigen. (Die folgenden Zitate stammen aus W. H. Whyte, 1953.) Diese Vorstadtsiedlung bei Chicago wurde zur Unterbringung von 30 000 Menschen erbaut, die teilweise in Gruppen von Apartmenthäusern mit Gärten zur Miete wohnen (die Miete für eine Wohneinheit mit zwei Schlafzimmern in einem Zweifamilienhaus beträgt 92 Dollar), und teilweise in Eigenheimen vom Ranch-Typus (Preis 11.995 Dollar). Die Bewohner sind vorwiegend jüngere Angestellte, dazu ein paar Chemiker und Ingenieure mit einem Durchschnittseinkommen von sechs bis sieben Tausend Dollar. Sie sind zwischen 25 und 35 Jahre alt und verheiratet und haben ein bis zwei Kinder.

Welcher Art sind nun die gesellschaftlichen Beziehungen, und welcher Art ist die „Anpassung“ in diesem Gemeinschaftsgebilde? Während die Leute in der Hauptsache „einfach aus wirtschaftlichen Gründen und nicht aus einem brennenden Verlangen nach Geborgenheit“ dorthin ziehen, meint der Verfasser, „dass manche in einer solchen Umgebung soviel menschliche Wärme und Unterstützung finden, dass ihnen andere Wohngegenden höchst ungemütlich und kalt vorkommen. So ist es zum Beispiel beinahe erschütternd, wenn man hört, wie die Bewohner der neuen Vorortsiedlung gelegentlich von der Welt ‘da draußen’ reden.“ Dieses Gefühl von Wärme ist mehr oder weniger gleichbedeutend damit, dass man sich akzeptiert fühlt. „Ich könnte mir eine bessere Wohngegend als die Siedlung wünschen, in die wir jetzt einziehen“, sagte einer, „und ich muss zugeben, dass es nicht gerade eine Gegend ist, wohin man seinen Chef oder einen Geschäftskunden zum Essen einlädt. Aber in so einer Gemeinschaft fühlt man sich wenigstens richtig akzeptiert“. Diese Sehnsucht, von den anderen akzeptiert zu werden, ist ein für einen entfremdeten Menschen sehr charakteristisches Gefühl. Weshalb sollte jemand auch so dankbar dafür sein, dass man ihn akzeptiert, wenn er nicht Zweifel hätte, ob er auch annehmbar sei, und weshalb sollte ein junges, gebildetes und erfolgreiches Paar derartige Zweifel hegen, wenn nicht deshalb, weil sie sich selbst nicht akzeptieren können, weil sie nicht sie selbst sind. Sein Identitätsgefühl findet man nur im Hafen der Konformität. Annehmbarsein bedeutet in Wirklichkeit nichts anderes, als sich von den anderen nicht zu unterscheiden. Wenn man Minderwertigkeitsgefühle hat, so kommt das daher, dass man das Gefühl hat, anders zu sein, und man fragt erst gar nicht, ob man sich vorteilhaft oder unvorteilhaft von den anderen unterscheidet.

Die Anpassung beginnt schon früh. Ein Vater drückte recht treffend aus, was unter der anonymen Autorität zu verstehen ist, als er sagte: „Die Anpassung an die Gruppe scheint für sie (die Kinder) gar nicht so viele Probleme mit sich zu bringen. Ich habe beobachtet, dass sie offenbar bald das Gefühl bekommen, dass keiner der Boss ist - es herrscht ein Gefühl völliger Kooperation. Zum Teil kommt das daher, dass sie schon sehr zeitig auf dem Spielplatz miteinander spielen.“ Aus dieser Äußerung spricht die ideologische Auffassung, dass das Nichtvorhandensein von Autorität ein positiver Wert im Sinne des Freiheitsbegriffs des Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhunderts sei. In [IV-112] Wirklichkeit aber steht hinter diesem Freiheitsbegriff die anonyme Autorität bei fehlender Individualität. Könnte man diesen Begriff der Konformität besser formulieren als jene Mutter, die sagte: „Johnny macht sich in der Schule nicht besonders gut. Der Lehrer hat mir gesagt, er mache seine Sache zwar in mancher Hinsicht recht nett, aber seine soziale Anpassung lasse einiges zu wünschen übrig. Er suche sich immer nur einen oder zwei Freunde zum Spielen aus, und manchmal wolle er am liebsten ganz für sich allein bleiben“. (Hervorhebung E. F.). Tatsächlich ist es ja für einen sich selbst entfremdeten Menschen so gut wie unmöglich, mit sich allein zu sein, weil ihn dann eine panische Angst vor dem Nichts erfasst. Dass dies so unverblümt ausgesprochen wird, ist allerdings erstaunlich und zeigt, dass wir uns unserer Herdenneigung nicht einmal mehr schämen.

Manchmal klagen Eltern darüber, die Schule sei zu „nachgiebig“ und die Kinder hätten keine Disziplin, aber „welche Fehler die Eltern von Park Forest auch immer machen mögen, Härte und autoritäres Vorgehen gibt es bei ihnen nicht“. Gewiss gibt es das nicht, aber warum sollte man auch seine Autorität in offener Form geltend machen, wenn bereits die anonyme Autorität des Konformismus die Kinder veranlasst, sich dem Man vollständig zu unterwerfen, selbst wenn sie den eigenen Eltern nicht gehorchen? Auch ist die Klage der Eltern über den Mangel an Disziplin nicht allzu ernst gemeint, denn „was wir in Park Forest haben, ist ganz offensichtlich die Apotheose des Pragmatismus. Vielleicht wäre es übertrieben zu sagen, dass die Bewohner die Gesellschaft - und den Job, sich ihr anzupassen - zu ihrem Gott erhoben haben, aber gewiss haben sie keinerlei Verlangen danach, sich mit ihr zu streiten. Sie sind, wie man heute sagt, die praktische Generation“.

Ein anderer Aspekt der entfremdeten Konformität ist der Nivellierungsprozess von Geschmack und Urteil, den der Verfasser unter der Überschrift „Der Schmelztiegel“ beschreibt.

Zu einem meiner Besucher sagte neulich eine „Intellektuelle“’ mit eigenem Stil: „Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als ich eines Tages den jungen Frauen auf dem Hof erzählte, wie begeistert ich mir am Abend zuvor die ‘Zauberflöte’ angehört hatte. Sie wussten gar nicht, wovon ich redete. Ich merkte bald, dass ihnen eine Unterhaltung über Windeln weit wichtiger war. Ich höre mir immer noch die ‘Zauberflöte’ an, aber ich weiß jetzt, dass den meisten Leuten andere Dinge im Leben wichtiger erscheinen.“ (W. H. Whyte, 1953.)

Eine andere Frau berichtet, eine dieser jungen Frauen habe sie unerwartet besucht und dabei ertappt, wie sie Platon gelesen habe. Ihre Besucherin sei äußerst verwundert gewesen, und sie meinte: „Jetzt halten sie mich bestimmt alle für ein bisschen verrückt.“ Der Autor meint dazu, die arme Frau habe den angerichteten Schaden in Wirklichkeit überschätzt; die anderen würden sie nicht für übergeschnappt halten, „denn wenn sie auch anders ist, so besitzt sie doch genügend Takt und nimmt genügend Rücksicht auf die kleinen Gewohnheiten, die bewirken, dass das Leben auf dem Hof reibungslos abläuft, so dass das Gleichgewicht gewahrt bleibt“. Es kommt darauf an, Werturteile in Meinungen zu verwandeln. Ob man sich lieber die „Zauberflöte“ anhört oder über Windeln redet, ob einem die Republikanische oder die Demokratische Partei lieber ist, darüber kann man sich unterhalten, und es kommt dabei lediglich darauf an, dass die Unterhaltung nicht zu ernst wird, dass man Meinungen austauscht und bereit ist, eine jede Meinung oder Überzeugung (wenn [IV-113] es so etwas überhaupt gibt) als ebenso gut wie jede andere zu akzeptieren. Auf dem Meinungsmarkt nimmt man von jedem an, dass er eine gleichwertige Ware anbietet, und es wäre ungehörig und nicht fair, das zu bezweifeln.

In dem Ausdruck, mit dem man die entfremdete Konformität und Kontaktfreudigkeit bezeichnet, kommt natürlich eine äußerst positive Wertung zum Ausdruck: Wer den Umgang mit einem jeden ohne Unterschied pflegt und auf jede Individualität verzichtet, wird als jemand bezeichnet, der „aus sich herausgeht“. Hier bekommt die Sprache einen psychiatrischen Anstrich, und die Philosophie von Dewey dient dabei als ein guter Maßstab. „Man kann in der Tat hier viel dazu beitragen, viele Menschen glücklich zu machen“, sagt ein sozialer Aktivist. „Ich habe zwei Ehepaare dazu gebracht, aus sich herauszugehen. Ich habe Möglichkeiten in ihnen gesehen, von denen sie selbst keine Ahnung hatten. Immer wenn wir jemanden kennen lernen, der schüchtern und menschenscheu ist, geben wir uns besondere Mühe mit ihm.“

Ein weiteres Zeichen für die soziale „Anpassung“ ist das völlige Fehlen einer privaten Sphäre und das hemmungslose Reden über seine persönlichen „Probleme“. Auch hier erkennen wir wieder den Einfluss der modernen Psychiatrie und Psychoanalyse. Sogar die dünnen Wände werden begrüßt, weil sie gegen das Gefühl des Alleinseins helfen. „Ich fühle mich, auch wenn Jim nicht zu Hause ist, nie allein“, lautet ein typischer Kommentar dazu. „Man merkt, dass man Freunde in der Nähe hat, weil man sie nachts durch die Wände hört.“ Ehen, die sonst vielleicht auseinandergingen, werden gerettet, Depressionen werden davor bewahrt, schlimmer zu werden, indem man redet, redet und redet.

„Es ist einfach phantastisch“, sagt eine junge Frau. „Man bespricht alle seine Probleme mit den Nachbarn - auch Dinge, die wir drunten in Süddakota für uns behalten hätten.“ Mit der Zeit fällt es immer leichter, aus seinem Herzen keine Mördergrube zu machen; und man bespricht auf dem Hof auch die intimsten Details des Familienlebens mit einer erstaunlichen Offenheit miteinander. Sie machen einem klar, dass niemand sich jemals mit einem Problem allein auseinanderzusetzen braucht. (W. H. Whyte, 1953.)

Hinzuzufügen wäre, dass es richtiger wäre, wenn man sagte, dass sie sich in Wirklichkeit überhaupt niemals einem Problem stellen.

Sogar die Architektur erhält ihre Funktion im Kampf gegen die Vereinsamung. Genau wie die Türen innerhalb der Häuser - von denen es gelegentlich heißt, sie seien das Zeichen für die Geburt der Mittelklasse gewesen - im Verschwinden begriffen sind, so verschwinden auch die Schranken, die uns vom Nachbarn trennen. So zeigen zum Beispiel die schaufenstergroßen Fenster, was drinnen vor sich geht - oder was bei den anderen Leuten hinter dem Schaufenster vor sich geht.

Der Konformitätsstil entwickelt eine neue Art von Moral, eine neue Art des Über-Ichs. Aber bei der neuen Moral handelt es sich nicht um das Gewissen humanistischer Tradition, und das neue Über-Ich entspricht auch nicht der Vorstellung vom autoritären Vater. Tugendhaft sein, heißt angepasst sein und so sein wie die anderen. Lasterhaft sein, heißt sich unterscheiden. Oft wird das in den Begriffen der Psychiatrie ausgedrückt, wo „tugendhaft“ soviel wie gesund und „böse“ soviel wie neurotisch bedeutet. „Dem Auge des Hofes entgeht nichts.“ Aus diesem Grund sind auch Liebesaffären selten geworden, und das nicht etwa aus moralischen Gründen, oder weil eine Ehe etwas so Befriedigendes wäre. Noch gibt es schwache Versuche, sich eine [IV-114] kleine private Sphäre zu erhalten. Während man in der Regel ein Haus betritt, ohne anzuklopfen oder sich sonstwie bemerkbar zu machen, verschaffen sich jetzt manche Leute ein bisschen Privatleben dadurch, dass sie ihren Stuhl nach der Straße stellen anstatt nach dem Hof zu, um zu zeigen, dass sie nicht gestört werden möchten.

Aber derartige Bemühungen um eine private Sphäre weisen eine wichtige Begleiterscheinung auf - die Leute fühlen sich dabei immer ein wenig schuldig. Mit sehr seltenen Ausnahmen sieht man darin, dass sich jemand auf diese Weise von den anderen abschließt, entweder eine Kinderei oder - was wahrscheinlicher ist - einen Hinweis auf eine neurotische Erkrankung. Der Einzelne und nicht die Gruppe befindet sich auf einem Irrweg. Dieses Gefühl scheinen wenigstens viele, die sich abweichend verhalten, zu haben, und sie haben oft ein heimliches Schuldgefühl wegen Dingen, von denen man sonst annimmt, dass sie niemand anders etwas angehen und völlig normal sind. „Ich habe mir vorgenommen, es bei ihnen wieder gut zu machen“, sagte neulich eine der Bewohnerinnen der Siedlung zu ihrer Vertrauten. „Ich habe mich nicht wohlgefühlt und konnte es einfach nicht über mich bringen, die anderen dann zu mir hereinzulassen. Ich nehme es ihnen überhaupt nicht übel, dass sie so darauf reagiert haben. Ich werde es schon irgendwie bei ihnen wiedergutmachen!“ (W. H. Whyte, 1953.)

In der Tat, „Privatleben gibt es nur noch heimlich“. Auch hier sind die Begriffe, deren man sich bedient, die der progressiven politischen und philosophischen Tradition. Was könnte schöner klingen als der Satz: „Nicht in einsamer und selbstsüchtiger Kontemplation, sondern indem man etwas mit anderen gemeinsam tut, erfüllt man sich selbst.“ In Wirklichkeit bedeutet es, dass man sich selbst aufgibt und zu einem Herdentier wird und dass man sich dabei wohlfühlt. Man bezeichnet diesen Zustand häufig mit dem netten Wort „Zusammengehörigkeit“. Am liebsten wird diese Einstellung in psychiatrischen Begriffen ausgedrückt:

„Wir haben gelernt, nicht mehr introvertiert zu sein“, sagt ein junger, sehr nachdenklicher und erfolgreicher höherer Angestellter, und auf welche Weise, beschreibt er folgendermaßen:

Bevor wir hierherkamen, haben wir ziemlich für uns gelebt. Sonntags sind wir beispielsweise bis gegen zwei Uhr im Bett geblieben und haben Zeitung gelesen und uns im Radio eine Symphonie angehört. Jetzt machen wir die Runde und besuchen unsere Nachbarn, oder die besuchen uns. Ich glaube wirklich, dass Park Forest unseren Horizont erweitert hat. (W. H. Whyte, 1953.)

Mangelnde Konformität wird nicht nur mit abfälligen Worten wie „neurotisch“, sondern gelegentlich mit grausamen Sanktionen bestraft.

„Estelle ist ein Fall für sich“, sagt eine Bewohnerin eines besonders aktiven Blocks. „Sie wäre ganz gern in unseren Kreis hineingekommen, als sie eingezogen ist. Sie ist ein sehr warmherziges Ding und versucht immer, den Leuten zu helfen, aber sie ist, na ja, ein bisschen eingebildet. Neulich wollte sie sich bei allen lieb Kind machen und hat unsere Frauen zu einer Nachmittagsparty eingeladen. Aber das arme Ding hat es ganz verkehrt angefangen. Unsere sind alle wie gewöhnlich im Badeanzug und in Hauskleidung hingegangen, und sie hatte lauter Tellerdeckchen und Silber und all so was gedeckt. Seitdem haben sie sich geradezu verschworen, sie aus allem herauszuhalten. Es ist wirklich ein Jammer. Sie sitzt da in ihrem Liegestuhl vorm Haus und möchte gar zu gern, dass einer kommt und mit ihr einen Kaffeeklatsch hält, und genau gegenüber sitzen vier oder [IV-115] fünf und tratschen miteinander. Und immer wenn sie über einen Spaß lachen, meint sie, sie lachten über sie. Gestern Nachmittag ist sie zu uns rübergekommen und hat die ganze Zeit geweint. Sie meint, sie und ihr Mann überlegten, ob sie nicht lieber irgendwo anders hinziehen sollten, um einen neuen Anfang zu machen.“ (W. H. Whyte, 1953.)

Andere Kulturen haben Menschen, die vom politischen oder religiösen Glaubensbekenntnis abwichen, zum Kerker oder zum Scheiterhaufen verurteilt. Hier bestraft man nur mit einem Scherbengericht, mit dem man eine arme Frau zur Verzweiflung treibt und mit einem intensiven Schuldgefühl erfüllt. Was für ein Verbrechen hat sie begangen? Sie hat einen einzigen Irrtum begangen, sie hat sich gegen den Gott der Konformität versündigt.

Es ist ein weiterer Aspekt der entfremdeten Art zwischenmenschlicher Beziehungen, dass Freundschaften nicht mehr auf Grund persönlicher Zuneigung oder Anziehung geschlossen werden, sondern dass sie davon abhängen, in welcher Nachbarschaft unser Haus oder unsere Wohnung liegt. Das geht etwa so vor sich:

Es fängt an mit den Kindern. Die neuen Vorstädte sind Matriarchate, aber die Kinder verhalten sich so diktatorisch, dass eine Bezeichnung wie Filiarchat keineswegs nur ein Witz wäre. Die Kinder geben den Ausschlag; ihre Freundschaften übertragen sich auf die Mütter und deren Freundschaften wiederum auf die ganze Familie. Die Väter trotten einfach mit.

Der Weg, den die Fahrräder der Jungen nehmen (...) bestimmt, welches die Tür ist, der man zustrebt - das heißt, in den Einfamilienhäusern ist es die Haustür, in den Apartment-Wohnungen ist es die Hoftür. Dieser Weg der Kinderfahrräder bestimmt auch, wohin man von dieser Tür aus seine Schritte lenkt; denn wenn die jungen Frauen ihre Nachbarin besuchen, dann gehen sie lieber in die Häuser, die in Sicht und Hörweite ihrer Kinder sind und von wo aus sie ihr Telefon hören können. Dies kristallisiert sich zur Bewegung auf dem Damebrett (das heißt zur regelmäßigen Kaffeeklatsch-Runde) und bildet die Basis für die Freundschaften der Erwachsenen. (W. H. Whyte, 1953.)

Dieses Zustandekommen von Freundschaften geht so weit, dass der Verfasser dieses Artikels behauptet, seine Leser könnten allein aus der Lage der Häuser und ihrer Eingangs- und Ausgangstüren in diesem Sektor darauf schließen, welche Familien miteinander befreundet sind.
Wichtig an diesem Bild ist nicht nur die Tatsache, dass die Freundschaften entfremdet sind und dass eine automatenhafte Konformität herrscht, sondern auch wie die Leute darauf reagieren. Es scheint, dass sie die neue Form der Anpassung bewusst akzeptieren.

Früher hat man es durchaus nicht zugeben wollen, dass man sich in seinem Verhalten von etwas anderem als dem eigenen freien Willen bestimmen ließ. Nicht so die neuen Vorortbewohner - sie sind sich der alles durchdringenden Macht, die die Umgebung auf sie ausübt, voll bewusst. Tatsächlich gibt es nur wenige Gesprächsthemen, über die man sich so gern unterhält; und entsprechend der ständig wachsenden Neugier des Laien in Bezug auf Psychologie, Psychiatrie und Soziologie diskutieren sie ihr gesellschaftliches Leben, wobei sie in erstaunlicher Weise mit klinischen Begriffen um sich werfen. Aber sie fühlen sich hierdurch nicht etwa bedrückt; es ist nun einmal nicht anders, scheinen sie sich zu sagen, und es kommt darauf an, dass man sich nicht dagegen wehrt, sondern es versteht. [IV-116]

Diese junge Generation hat ihre eigene Philosophie, mit der sie ihren Lebensstil erläutert.

Die kommende Generation von Führern ist im Begriff, die gesellschaftliche Zweckmäßigkeit zu ihrem Gott zu machen, und das nicht nur aus einem instinktiven Wunsch heraus, sondern um diese bestimmten Werte den eigenen Kindern weiterzugeben. Ob etwas funktioniert, und nicht aus welchem Grunde es das tut, ist die Hauptfrage. Nachdem die Gesellschaft zu etwas so Komplexem geworden ist, kann der Einzelne nur noch insoweit etwas bedeuten, als er zur Harmonie der Gruppe beiträgt, erklären die Bewohner, und für sie, die ständig in Bewegung sind und sich mit immer neuen Gruppen konfrontiert sehen, ist die Anpassung an die Gruppe besonders notwendig geworden. Sie sitzen alle im gleichen Boot, wie sie sich selbst sooft ausdrücken. (W. H. Whyte, 1953.)

Andererseits meint der Verfasser dazu: „Der Wert einsamen Nachdenkens, die Tatsache, dass Konflikte manchmal notwendig sind, derartige beunruhigende Gedanken drängen sich ihnen nur selten auf.“ Das Wichtigste, oder besser gesagt, das einzig Wichtige, was Kinder wie Erwachsene lernen müssen, ist, mit anderen Leuten auszukommen, was als Lehrfach in der Schule als „Gemeinschaftskunde“ bezeichnet wird und was die Erwachsenen als „Aus-sich-Herausgehen“ und als „Zusammengehörigkeit“ bezeichnen.

Sind die Menschen wirklich glücklich, sind sie auch unbewusst so zufrieden, wie sie es von sich glauben? Wenn man die Natur des Menschen und die Voraussetzungen für sein Glücklichsein bedenkt, kann dies kaum der Fall sein. Aber sie haben auch bewusst gewisse Zweifel. Während sie einerseits das Gefühl haben, dass die Konformität und das Aufgehen in der Gruppe ihre Pflicht und Schuldigkeit ist, haben doch auch viele von ihnen das Gefühl, dass dabei „andere Bedürfnisse zu kurz kommen“. Sie meinen, dass

sich den Gruppengewohnheiten anzupassen so etwas wie eine moralische Pflicht ist, und so fahren sie zögernd und unsicher damit fort als Gefangene ihrer Brüderlichkeit. „Es passiert mir immer wieder“, sagt eine Bewohnerin in einem verstohlenen Augenblick des Nachdenkens, „dass mir Fragen kommen. Ich möchte ja nichts tun, was die Leute hier kränkt: sie sind freundlich und nett, und ich bilde mir etwas darauf ein, dass wir so gut miteinander auskommen - bei all unserer Verschiedenheit. Aber hier und da denke ich an mich und meinen Mann und an all das, was wir nicht tun, und werde ganz deprimiert. Genügt es denn, sich nicht schlecht zu benehmen?“ (Hervorhebung E. F.) (W. H. Whyte, 1953.)

Tatsächlich ist dieses Leben voller Kompromisse, dieses Leben des „Aus-sich-Herausgehens“ ein Leben in der Gefangenschaft, in Selbstverlust und Depression. Sie sitzen tatsächlich „alle im gleichen Boot“, aber - so fragt der Verfasser ironisch - „wohin fährt das Boot? Niemand scheint auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben; und sie scheinen es auch kaum für sinnvoll zu halten, diese Frage überhaupt zu stellen.“

Das Bild der Konformität, wie wir es hier an den „aus sich herausgehenden“ Bewohnern von Park Forest veranschaulicht haben, ist sicher nicht überall in Amerika das gleiche. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Diese Leute sind jung, sie gehören der Mittelklasse an und sind im sozialen Aufstieg begriffen. Es handelt sich meist um Menschen, die in ihrer Laufbahn Symbole und Menschen manipulieren und deren Vorankommen davon abhängt, ob sie sich selbst manipulieren lassen. Zweifellos gibt es viele ältere Menschen, die der gleichen sozialen Gruppe angehören, und auch viele [IV-117] junge Leute aus anderen Berufsgruppen, die weniger „fortschrittlich eingestellt“ sind als zum Beispiel diese Ingenieure, Chemiker und Physiker, und denen ihre Arbeit wichtiger ist, als dass sie so bald wie möglich in eine leitende Stellung kommen. Daneben gibt es Millionen von Farmern und Landarbeitern, deren Lebensstil sich durch die Lebensbedingungen des Zwanzigsten Jahrhunderts nur zum Teil geändert hat. Schließlich sind da auch noch die Industriearbeiter, deren Einkommen sich nicht wesentlich von dem der Angestellten unterscheidet, wenn auch ihre Arbeitssituation eine andere ist. Wenn auch eine Diskussion der Bedeutung der Arbeit für den heutigen Industriearbeiter nicht hierhergehört, so darf ich doch dazu sagen, dass zweifellos ein Unterschied besteht zwischen Menschen, die andere Menschen manipulieren, und solchen, die Dinge schaffen, wenn auch ihre Rolle im Produktionsprozess nur unbedeutend und in vielfacher Hinsicht entfremdet ist. Der Arbeiter in einem großen Stahlwerk arbeitet mit anderen Hand in Hand und muss das tun, wenn er sein Leben nicht gefährden will. Er ist gemeinsam mit anderen Gefahren ausgesetzt; seine Arbeitskollegen wie seine Vorarbeiter können seine Geschicklichkeit beurteilen, und es kommt dabei weniger auf sein Lächeln und sein „liebenswürdiges Wesen“ an. Außerhalb seiner Arbeit verfügt er über ein beträchtliches Maß an Freiheit; er hat bezahlten Urlaub, er kann sich in seinem Garten oder mit einem Hobby, vielleicht auch in der Gemeindepolitik oder der Gewerkschaftsarbeit betätigen. (Vgl. W. Bloomberg, 1953 sowie 1934.) Aber selbst wenn man alle diese Faktoren berücksichtigt, die den Industriearbeiter vom Angestellten und dem Angehörigen der oberen Mittelklasse unterscheiden, scheint die Chance doch gering, dass es dem Arbeiter schließlich gelingen wird, dem Schicksal zu entgehen, ebenfalls von dem herrschenden Konformitätsstil geformt zu werden. Einmal ändern selbst die eben erwähnten positiven Seiten seiner Arbeitssituation nichts an der Tatsache, dass seine Arbeit ihm entfremdet und nur in begrenztem Maße ein sinnvoller Ausdruck seiner Arbeitskraft und seiner Vernunft ist; zum anderen vermindert der Trend zu einer wachsenden Automatisierung der Industriearbeit die beiden letztgenannten Faktoren immer mehr. Schließlich ist er dem Einfluss unseres gesamten Kulturapparats, der Werbung, den Filmen, dem Fernsehen, den Zeitungen genauso wie alle anderen ausgesetzt und kann daher kaum vermeiden, in die Konformität hineingetrieben zu werden, wenn vielleicht auch etwas langsamer als andere Gruppen der Bevölkerung. (Eine ausführlichere Analyse des Industriearbeiters folgt später.) Dies gilt auch für den Farmer.

Das Prinzip, jede Frustration zu vermeiden

Wie bereits dargelegt, sind die anonyme Autorität und die automatenhafte Konformität weitgehend die Folge unserer Produktionsweise, die eine rasche Anpassung an die Maschine, ein diszipliniertes Massenverhalten, einen einheitlichen Geschmack und Gehorsam ohne Gewaltanwendung verlangt. Eine weitere Seite unseres Wirtschaftssystems, das Bedürfnis nach Massenkonsum, hat einen neuen Zug im Gesellschafts-Charakter des modernen Menschen erzeugt, der einen der auffälligsten Gegensätze zum Gesellschafts-Charakter des vorigen Jahrhunderts darstellt. Ich meine den Grundsatz, dass jeder Wunsch sofort befriedigt werden muss und kein Verlangen frustriert werden darf. Die augenfälligste Illustration hierzu ist das Kaufen auf Raten. [IV-118]

Im Neunzehnten Jahrhundert kaufte man das, was man brauchte, sobald man das Geld dafür zusammengespart hatte; heute kauft man, was man braucht - oder auch nicht braucht - auf Kredit, und die Werbung dient im wesentlichen dazu, uns zum Kaufen zu verführen und uns Appetit auf Dinge zu machen, so dass wir zu ihrem Kauf verführt werden. Wir leben sozusagen im Kreis. Wir kaufen nach einem Kreditplan, und wenn die letzte Rate bezahlt ist, verkaufen wir das Ding wieder und kaufen uns stattdessen das neueste Modell.

Das Grundgesetz, nach dem Wünsche ohne viel Zögern befriedigt werden müssen, bestimmt besonders seit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch unser sexuelles Verhalten. Eine grobe Form eines missverstandenen Freudianismus pflegte die geeigneten Rationalisierungen dafür zu liefern: die Idee, dass Neurosen die Folge „verdrängter“ sexueller Begierden, dass Frustrationen „traumatisierend“ sind und dass man umso gesünder ist, je weniger man verdrängt hat. Selbst Eltern entwickelten einen „Komplex“ aus der Sorge heraus, ihren Kindern ja alles zu geben, was sie haben wollten, damit sie nur nicht „frustriert“ würden. Leider landeten viele dieser Kinder samt ihren Eltern auf der Couch des Analytikers - vorausgesetzt sie konnten es sich leisten.

Dass die Gier nach bestimmten Dingen und die Unfähigkeit, die Befriedigung seiner Wünsche hinauszuschieben, für den modernen Menschen so charakteristisch sind, darauf haben nachdenkliche Menschen wie Max Scheler und Henri Bergson nachdrücklich hingewiesen. Am prägnantesten hat es Aldous Huxley in Brave New World (1946) getan. Unter den Devisen, auf welche die Heranwachsenden in Brave New World konditioniert werden, ist eine der wichtigsten: „Schiebe nie das Vergnügen, das du heute haben kannst, auf morgen auf.“ Sie wird ihnen „zweimal die Woche von 14 bis 16 Uhr dreißig zweihundert Mal“ eingehämmert. Diese augenblickliche Wunscherfüllung wird als Glück empfunden. „Heutzutage ist jeder glücklich“, lautet eine andere Devise von Brave New World. Die Menschen „kriegen alles, was sie haben wollen, und sie wollen niemals etwas haben, was sie nicht kriegen können“. Dieses Bedürfnis nach dem unmittelbaren Konsum der Gebrauchsgüter und nach der unmittelbaren Befriedigung der sexuellen Wünsche sind in Brave New World - genau wie in unserer Welt - miteinander gekoppelt. Es gilt als unmoralisch, seinen „Liebes“-Partner über eine relativ kurze Zeit hinaus zu behalten. Die „Liebe“ ist eine kurzlebige sexuelle Begierde, die sofort befriedigt werden muss.

Man gibt sich die größte Mühe zu verhindern, dass jemand gar zu sehr liebt; so etwas wie eine gegenseitige Verpflichtung zur Treue gibt es nicht. Man wird darauf konditioniert, dass man gar nicht anders kann als das zu tun, was man tun sollte. Und was man tun sollte, ist im Großen und Ganzen so amüsant, und so vielen natürlichen Impulsen wird freies Spiel gewährt, dass man tatsächlich keinen Versuchungen mehr zu widerstehen braucht. (A. Huxley, 1946, S. 196.)

Dieser Mangel, sich Wünsche versagen zu müssen, hat die gleichen Folgen wie das Fehlen einer offenen Autorität - es führt zur Lähmung und schließlich zur Zerstörung des Selbst. Wenn ich die Erfüllung meiner Wünsche nicht hinausschiebe (und ich bin darauf konditioniert, mir nur das zu wünschen, was ich bekommen kann), dann habe ich keine Konflikte, keine Zweifel, ich brauche keinen Entschluss zu fassen, ich bin [IV-119] nie mit mir selbst allein, weil ich immer beschäftigt bin - mit meiner Arbeit oder mit meinem Vergnügen. Ich brauche mir nicht meiner selbst bewusst zu werden, weil ich immerzu mit meinem Vergnügen beschäftigt bin. Ich bin ein System von Wünschen und deren Befriedigung; ich muss allerdings arbeiten, um mir meine Wünsche erfüllen zu können - und eben diese Wünsche werden von der Wirtschaft ständig stimuliert und gelenkt. Die meisten dieser Begierden sind künstlich erzeugt, selbst die sexuelle Begierde ist bei weitem nicht so „natürlich“, wie man behauptet. Sie ist zum Teil künstlich stimuliert. Und das kann auch gar nicht anders sein, wenn wir Menschen haben wollen, wie sie das gegenwärtige System braucht - Menschen, die sich „glücklich“ fühlen, die keine Zweifel kennen, die keine Konflikte haben und die sich ohne Anwendung von Gewalt lenken lassen.

Seinen Spaß zu haben, besteht hauptsächlich in der Befriedigung, zu konsumieren und sich etwas einzuverleiben. Gebrauchsgüter, Landschaften, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, Vorlesungen, Bücher, Filme - alles wird konsumiert, verschlungen. Die Welt ist ein einziges großes Objekt für unseren Appetit, ein Riesenapfel, eine Riesenflasche, eine Riesenbrust. Wir sind die ewig wartenden, ewig hoffenden - und ewig enttäuschten Säuglinge. Wie könnten wir auch nicht enttäuscht sein, wenn unsere Geburt bei der Mutterbrust bereits endet, wenn wir doch nie entwöhnt werden und immer über ihr Alter hinausgewachsene Babys bleiben, wenn wir über die rezeptive Orientierung niemals hinauskommen?

So machen sich die Menschen Sorgen, fühlen sich minderwertig, unzulänglich und schuldbewusst. Sie fühlen, dass sie leben ohne richtig zu leben, dass das Leben ihnen wie Sand durch die Finger rinnt. Wie werden sie mit ihren Beschwerden fertig, die von ihrer passiven Haltung stammen, sich immer nur Dinge einzuverleiben? Es gelingt ihnen mit Hilfe einer anderen Form der Passivität, mit einem ständigen Überlaufen sozusagen, indem sie reden. Auch hier hat sich genau wie im Falle der Autorität und des Konsums eine einst produktive Idee in ihr Gegenteil verkehrt.

Freie Assoziation und freies Reden

Freud hat das Prinzip der freien Assoziation entdeckt. Dadurch dass man in Gegenwart eines erfahrenen Zuhörers seine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle hält, kann man hinter seine unbewussten Gedanken und Gefühle kommen, ohne zu schlafen und ohne dass man verrückt, betrunken oder hypnotisiert ist. Der Psychoanalytiker liest dann zwischen den Zeilen und kann den Betreffenden besser verstehen, als dieser selbst es kann, denn jener erfährt die Gedanken seines Patienten ohne die Behinderungen durch die gewohnte Gedankenkontrolle. Aber die freie Assoziation ist genau wie die Freiheit und das Glück bald entartet. Zuerst entartete sie im orthodoxen psychoanalytischen Verfahren selbst - nicht immer, aber doch häufig. Anstatt dem Betreffenden zu helfen, seine gefangen gehaltenen Gedanken sinnvoll zum Ausdruck zu bringen, kam es nur zu einem sinnlosen Geschwätz. Andere therapeutische Schulen beschränkten die Rolle des Analytikers auf die eines mitfühlenden Zuhörers, der die Worte des Patienten in leicht abgeänderter Form wiederholt, ohne den Versuch zu machen, sie zu interpretieren oder zu erklären. All das geschieht aus der Idee heraus, dass man dem Patienten seine volle Freiheit lassen soll. Die Freudsche Idee [IV-120] von der freien Assoziation ist zum Werkzeug vieler Psychologen geworden, die sich Berater nennen, wenngleich „beraten“ das einzige ist, was sie nicht tun. Diese Berater spielen in der Privatpraxis und als Industrieberater eine immer größere Rolle. (Vgl. W. J. Dickson, 1948; G. Friedmann, 1950, S. 142 ff. und H. W. Harrell, 1949, S. 372 ff.) Welche Auswirkungen hat ein solches Verfahren? Ganz offensichtlich bringt es nicht die Heilung, die Freud im Sinne hatte, als er die freie Assoziation als Grundlage für ein Verständnis des Unbewussten erfand. Eher schon bewirkt sie ein Nachlassen der Spannung, wie es zustande kommt, wenn man sich in Gegenwart eines teilnehmenden Zuhörers ausspricht. Solange wir unsere Gedanken für uns behalten, können sie uns beunruhigen - doch kann sich aus dieser Beunruhigung Fruchtbares ergeben; man wälzt sie im Kopf hin und her, man denkt darüber nach, man hat das Gefühl, man könnte auf Grund dieser Denkarbeit auf neue Ideen kommen. Aber wenn wir einfach drauflosreden, wenn wir es erst gar nicht dazu kommen lassen, dass sich aus unseren Gedanken und Gefühlen sozusagen ein Druck aufbaut, dann werden sie nicht fruchtbar. Es ist genau das gleiche wie beim uneingeschränkten Konsum. Man ist dann ein System, in das die Dinge unaufhörlich hinein- und wieder herausströmen - und drinnen ist keine Spannung, keine Verdauung, kein Selbst. Freud wollte mit seiner Entdeckung der freien Assoziation herausfinden, was unter der Oberfläche vor sich geht, er wollte entdecken, wer wir wirklich sind; das moderne Gerede an die Adresse des mitfühlenden Zuhörers hat - wenngleich uneingestanden - den entgegengesetzten Zweck, es hat die Funktion, den Betreffenden vergessen zu lassen, wer er ist (falls er überhaupt noch ein Gedächtnis dafür besitzt), ihm alle Spannung und damit jedes Selbst-Gefühl zu nehmen. Genauso wie man Maschinen ölt, ölt man Menschen, und besonders die in den Massenorganisationen der Arbeit. Man ölt sie mit erfreulichen Devisen, mit materiellen Vorteilen und mit dem teilnehmenden Verständnis der Psychologen.

Das Reden und Zuhören ist schließlich zum häuslichen Sport von Leuten geworden, die sich keinen professionellen Zuhörer leisten können oder die aus dem einen oder anderen Grund dem Laien den Vorzug geben. „Sich auszusprechen“, ist Mode geworden und zeugt von intellektueller Kultur. Man hat dabei keinerlei Hemmungen, kein Schamgefühl und übt keinerlei Zurückhaltung. Man spricht über tragische Vorkommnisse im eigenen Leben ebenso leichthin, wie man über einen anderen Menschen spricht, der einen nicht sonderlich interessiert, oder wie man über irgendwelche Schwierigkeiten reden würde, die man vielleicht mit seinem Wagen hat.

Psychologie und Psychiatrie sind in der Tat im Begriff, ihre Aufgabe von Grund auf zu ändern. Vom Delphischen Orakelspruch „Erkenne dich selbst“ bis hin zu Freuds psychoanalytischer Therapie war es die Aufgabe der Psychologie, das Selbst zu entdecken, den einzelnen zu verstehen und „die Wahrheit, die uns freimacht“, zu finden. Heute besteht die Gefahr, dass Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse zu Werkzeugen der Manipulation von Menschen werden. Die Spezialisten auf diesem Gebiet sagen uns, was unter einem „normalen Menschen“ zu verstehen ist und was daher bei uns nicht in Ordnung ist; sie raten uns zu Methoden, die uns helfen sollen, uns anzupassen, glücklich und normal zu sein. In A. Huxleys Brave New World (1946) erfolgt diese Konditionierung vom ersten Monat der Besamung (mit chemischen [IV-121] Mitteln) an bis nach der Pubertät. Bei uns fängt man erst etwas später damit an. Unsere Konditionierung geschieht größtenteils durch ständige Wiederholung in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen. Aber die Krönung der Manipulation ist die moderne Psychologie. Was Taylor für die Arbeit in der Industrie getan hat, leisten die Psychologen für die Gesamtpersönlichkeit - und das alles im Namen des Verständnisses und der Freiheit. Es gibt unter den Psychiatern, Psychologen und Psychoanalytikern viele Ausnahmen, aber es zeigt sich immer deutlicher, dass diese Berufe im Begriff sind, zu einer ernsten Gefahr für die Entwicklung des Menschen zu werden, dass diejenigen, welche diese Berufe ausüben, zu Priestern der neuen Religion des Vergnügens, des Konsums und des Selbst-Verlustes, zu Spezialisten der Manipulation und zu den Wortführern der entfremdeten Persönlichkeit werden.

Vernunft, Gewissen und Religion

Was wird in einer entfremdeten Welt aus Vernunft, Gewissen und Religion? Oberflächlich gesehen gedeihen sie. Es gibt in den Ländern des Westens kaum noch Analphabeten, und in den Vereinigten Staaten besuchen immer mehr Menschen ein College. Jedermann liest die Zeitung und unterhält sich vernünftig über die Weltprobleme. Was das Gewissen betrifft, so verhalten sich die meisten in ihrem engen persönlichen Kreis ziemlich anständig, ja erstaunlich anständig, wenn man die allgemeine Verwirrung der Begriffe bedenkt. Was die Religion angeht, so haben die Kirchen [in den Vereinigten Staaten] heute mehr Mitglieder denn je, und die meisten Amerikaner glauben an Gott - wenigstens behaupten sie das bei den Meinungsumfragen. Man braucht jedoch nicht weit in die Tiefe zu gehen, um auf weniger erfreuliche Dinge zu stoßen.

Wenn wir von Vernunft reden, dann müssen wir uns zunächst einmal entscheiden, welche menschliche Fähigkeit wir damit meinen. Wie bereits erwähnt, haben wir zwischen Intelligenz und Vernunft zu unterscheiden. Unter Intelligenz verstehe ich die Fähigkeit, mit Vorstellungen zur Erreichung praktischer Ziele umzugehen. Der Schimpanse, der zwei Stäbe ineinander steckt, um an die Banane heranzukommen, weil ein einzelner Stab allein nicht lang genug dafür ist, bedient sich seiner Intelligenz. Das tun wir alle, wenn wir unserer Arbeit nachgehen, wenn wir „uns ausdenken“, wie wir etwas am besten in Angriff nehmen. Intelligenz in diesem Sinne heißt die Dinge so nehmen, wie sie sind, und Kombinationen vorzunehmen, um ihre Handhabung zu vereinfachen; Intelligenz ist Denken im Dienst des biologischen Fortbestandes. Vernunft dagegen möchte verstehen; sie versucht dahinterzukommen, was unter der Oberfläche ist; sie möchte den Kern, das Wesen der uns umgebenden Wirklichkeit erkennen. Auch die Vernunft hat eine Funktion. Doch diese Funktion besteht nicht so sehr darin, unsere physische, als vielmehr unsere geistige und seelische Existenz zu fördern. Aber im individuellen wie auch im gesellschaftlichen Leben braucht man seine Vernunft oft auch, um etwas vorauszusehen (wobei die Voraussage oft davon abhängt, dass man Kräfte erkennt, die unter der Oberfläche wirken), und eine solche Voraussicht ist manchmal sogar für das physische Überleben unentbehrlich.

Vernunft erfordert Bezogenheit und Selbst-Gefühl. Wenn ich nur passiver Empfänger von Eindrücken, Gedanken und Meinungen bin, dann kann ich diese zwar miteinander vergleichen und sie manipulieren, aber ich kann sie nicht durchschauen. [IV-122] Descartes leitete die Tatsache, dass ich bin, davon ab, dass ich denke. „Ich zweifle“, so argumentierte er, „also denke ich; ich denke, also bin ich.“ Aber auch das Umgekehrte gilt. Nur wenn ich bin, wenn ich meine Individualität nicht an das Man verloren habe, kann ich denken, das heißt, dann kann ich meine Vernunft gebrauchen.

In engem Zusammenhang hiermit steht der Mangel an Wirklichkeitssinn, der für die entfremdete Persönlichkeit kennzeichnend ist. Wenn man von einem „Mangel an Wirklichkeitssinn“ beim heutigen Menschen spricht, so steht das im Widerspruch zu der weitverbreiteten Idee, dass wir uns durch unseren größeren Realismus von den meisten geschichtlichen Epochen unterscheiden. Aber von unserem Realismus zu reden, kommt beinahe einer paranoiden Entstellung gleich. Was für Realisten, die mit Waffen spielen, welche zur Vernichtung der gesamten modernen Zivilisation, wenn nicht gar unserer Erde, führen können! Wenn ein einzelner bei so etwas ertappt würde, dann würde er sofort hinter Schloss und Riegel kommen, und wenn er sich mit seinem Realismus brüstete, so würden die Psychiater darin ein zusätzliches, und zwar ziemlich ernstes Symptom einer kranken Seele sehen. Aber ganz abgesehen davon ist unverkennbar, dass der heutige Mensch einen erstaunlichen Mangel an Realismus in Bezug auf alle Gebiete, auf die es ankommt, aufweist: in Bezug auf die Bedeutung von Leben und Tod, in Bezug auf Glück und Leiden, auf Gefühle und ernsthaftes Denken. Er hat die gesamte Wirklichkeit der menschlichen Existenz zugedeckt und durch ein künstliches, verniedlichtes Bild einer Pseudowirklichkeit ersetzt - so ähnlich wie die Eingeborenen ihr Land und ihre Freiheit für glitzernde Glasperlen hergegeben haben. Er hat sich tatsächlich so weit von der menschlichen Wirklichkeit entfernt, dass er mit den Bewohnern von Brave New World sagen kann: „Wenn der Einzelne fühlt, gerät die Gemeinschaft ins Wanken.“

Noch ein weiterer bereits erwähnter Faktor in der heutigen Gesellschaft wirkt sich destruktiv auf die Vernunft aus. Da niemals jemand die ganze Arbeit allein verrichtet, sondern nur einen Teil davon, da die Dimension der Dinge und die Organisation der Menschen zu groß ist, um noch als Ganzes verstanden zu werden, kann man nichts mehr in seiner Totalität übersehen. Daher kann man die den Erscheinungen zugrunde liegenden Gesetze nicht mehr beobachten. Die Intelligenz reicht aus, einen Teilbereich einer größeren Einheit richtig zu handhaben, ob es sich nun um eine Maschine oder um einen Staat handelt. Aber die Vernunft kann sich nur entwickeln, wenn sie mit dem Ganzen verzahnt ist, wenn sie es mit beobachtbaren und noch zu bewältigenden Größen zu tun hat. Genauso wie unsere Augen und Ohren nur innerhalb gewisser quantitativ begrenzter Wellenlängen funktionieren, ist auch unsere Vernunft an das als Ganzes und in seinem Gesamtmechanismus Übersehbare gebunden. Anders gesagt geht jenseits einer gewissen Größenordnung die Konkretheit zwangsläufig verloren, und es kommt zur Abstraktion; damit schwindet auch der Sinn für die Wirklichkeit. Aristoteles hat als erster dieses Problem gesehen. Er meinte, dass man in einer Stadt, deren Einwohnerzahl größer ist als die einer Siedlung, die man heute als Kleinstadt bezeichnen würde, nicht leben könne.

Wenn man beobachtet, wie ein so entfremdeter Mensch denkt, dann fällt einem auf, dass seine Intelligenz sich entwickelt hat, während seine Vernunft an Qualität verloren hat. Er nimmt seine Wirklichkeit als selbstverständlich hin; er möchte sie verzehren, [IV-123] konsumieren, berühren, manipulieren. Er fragt nicht einmal, was dahintersteckt, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und wohin das alles führt. Die Bedeutung kann man nicht essen, den Sinn kann man nicht verkonsumieren, und was die Zukunft betrifft - nach uns die Sintflut! Sogar vom Neunzehnten Jahrhundert bis heute scheint die Dummheit merklich zugenommen zu haben - wenn man darunter das Gegenteil von Vernunft und nicht von Intelligenz versteht. Wenngleich heute jeder brav die Tageszeitung liest, herrscht ein wahrhaft erschreckender Mangel an Verständnis für die Bedeutung der politischen Ereignisse, weil unsere Intelligenz uns ermöglicht, Waffen herzustellen, die unsere Vernunft nicht mehr unter Kontrolle zu halten vermag. Wir besitzen das know how, aber wir wissen nicht, weshalb und wozu. Unter uns sind viele mit einem guten und hohen Intelligenzquotienten, aber die Intelligenztests messen unsere Fähigkeit, etwas auswendig zu lernen und Gedankenverbindungen rasch herzustellen - sie messen jedoch nicht unsere Vernunft. All das trifft zu, wenngleich Menschen von überragender Vernunft in unserer Mitte leben, deren Denken so tiefgründig und lebendig ist wie je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Aber ihr Denken bewegt sich abseits des allgemeinen Herdendenkens, und man misstraut ihnen, wenn man sie auch wegen ihrer überragenden Leistungen in den Naturwissenschaften nicht entbehren kann.

Die neuen automatischen Gehirne veranschaulichen vorzüglich, was hier unter Intelligenz zu verstehen ist. Sie manipulieren die Daten, die ihnen eingefüttert werden; sie vergleichen, wählen aus und bringen die Resultate schneller und fehlerfreier heraus, als dies der menschlichen Intelligenz möglich wäre. Die wesentliche Voraussetzung ist jedoch, dass sie zuvor mit den Grunddaten gefüttert werden. Aber das Elektronengehirn kann nicht schöpferisch denken. Es kann nicht zu einer Einsicht in das Wesen der beobachteten Tatsachen kommen und über die eingefütterten Daten hinausgelangen. Die Maschine kann die Intelligenz reproduzieren oder vielleicht sogar übertreffen, aber sie kann nicht die Vernunft simulieren.

Die Ethik ist - wenigstens nach griechisch-jüdisch-christlicher Tradition - von der Vernunft nicht zu trennen. Sittliches Verhalten gründet sich auf die Fähigkeit, Werturteile auf Grund vernünftiger Überlegungen zu fällen; es bedeutet, dass man zwischen Gut und Böse unterscheidet und seiner Entscheidung entsprechend auch handelt. Der Gebrauch der Vernunft setzt das Vorhandensein eines Selbst voraus; das gleiche gilt für das sittliche Urteilen und Handeln. Außerdem gründet sich die Ethik - ob es sich nun um eine monotheistische Religion oder um die des säkularen Humanismus handelt - auf das Prinzip, dass keine Institution und kein Ding höher steht als irgendein Mensch; dass es das Ziel des Lebens ist, die Liebe und Vernunft des Menschen zur Entfaltung zu bringen, und dass jede andere menschliche Aktivität diesem Ziel unterzuordnen ist. Wie aber kann die Ethik einen bedeutsamen Bestandteil in einem Leben ausmachen, in dem der Mensch zum Automaten wird, in dem er dem großen Man dient? Und wie kann sich das Gewissen entwickeln, wenn Konformität das Lebensprinzip ist? Das Gewissen ist seinem Wesen nach nicht-konformistisch; es muss „nein“ sagen können, auch wenn jedermann sonst „ja“ sagt; um aber dieses „Nein“ sagen zu können, muss es sich der Richtigkeit des Urteils sicher sein, auf welches sich das Nein gründet. In dem Maße, wie ein Mensch sich gleichschaltet, kann er die [IV-124] Stimme seines Gewissens nicht mehr hören, geschweige denn danach handeln. Ein Gewissen existiert nur, wo der Mensch sich als Mensch und nicht als Ding, als Ware erlebt. In Bezug auf die Dinge, die auf dem Markt getauscht werden, existiert ein anderes, quasi-ethisches Gesetz, das Gesetz der Fairness. Hierbei geht es darum, dass man Dinge zu einem fairen Preis tauscht und dass der Handel ohne üble Tricks und ohne Gewaltanwendung abgeschlossen wird. Diese Fairness, die weder gut noch böse ist, ist das sittliche Prinzip des Marktes, und sie ist das sittliche Prinzip, welches das Leben der Marketing-Persönlichkeit beherrscht.

Das Prinzip der Fairness führt zweifellos zu einem bestimmten Typ des sittlichen Verhaltens. Man lügt nicht, man betrügt nicht und wendet keine Gewalt an - man gibt sogar dem anderen eine Chance -, wenn man sich an das Gesetz der Fairness hält. Aber seinen Nächsten zu lieben, sich mit ihm eins zu fühlen, sein Leben dem Ziel hinzugeben, seine geistigen Kräfte zu entwickeln, das gehört nicht zur Fairness-Ethik. Wir leben in einer paradoxen Situation: Wir praktizieren die Fairness-Ethik und bekennen uns zur christlichen Ethik. Müssen wir nicht über diesen offensichtlichen Widerspruch straucheln? Offensichtlich straucheln wir nicht. Aus welchem Grund? Teilweise weil das Erbe unseres in viertausend Jahren entwickelten Gewissens keineswegs ganz verlorengegangen ist. Ganz im Gegenteil hat es die Befreiung des Menschen von der Macht des Feudalstaates und der Kirche in mannigfacher Weise ermöglicht, dass dieses Erbe neue Früchte trug, und in der Epoche zwischen dem Achtzehnten Jahrhundert und heute hat es eine Blütezeit wie vielleicht nie zuvor erlebt. Wir stehen noch immer in diesem Prozess, aber angesichts unserer Lebensbedingungen im Zwanzigsten Jahrhundert sieht es so aus, als ob keine neuen Knospen mehr aufblühen würden, wenn die Pflanze verwelkt ist.

Ein weiterer Grund, weshalb wir uns an dem Widerspruch zwischen der humanistischen Ethik und der Fairness-Ethik stoßen, ist darin zu suchen, dass wir die religiöse und die humanistische Ethik im Licht der Fairness-Ethik neu interpretieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Auslegung der Goldenen Regel. In ihrer ursprünglichen jüdischen und christlichen Bedeutung war sie eine volkstümliche Fassung des biblischen Gebots „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Im System der Fairness-Ethik bedeutet sie schlicht und einfach: „Sei fair beim Tauschen. Gib, was du dafür zu bekommen erwartest. Betrüge nicht!“ Kein Wunder, dass diese Goldene Regel heute der populärste religiöse Spruch ist. Sie vereinigt zwei entgegengesetzte ethische Systeme und hilft uns, den Widerspruch zu vergessen.

Während wir immer noch von unserem christlich-humanistischen Erbe zehren, ist es kaum verwunderlich, dass die jüngere Generation immer weniger von der traditionellen Ethik erkennen lässt, und dass wir bei ihr einer zunehmenden moralischen Barbarei begegnen, die zu dem wirtschaftlichen und bildungsmäßigen Niveau, das unsere Gesellschaft erreicht hat, in völligem Gegensatz steht. Während der Durchsicht dieses Manuskriptes las ich heute zwei Notizen. Eine stand in der New York Times und betraf die Ermordung eines Mannes, der von vier Teenagern aus ganz normalen Familien der Mittelklasse auf grausame Weise zu Tode getrampelt wurde. Die andere im Time Magazine beschrieb den neuen Polizeichef von Guatemala, der als früherer Leiter der Polizei unter der Diktatur Ubicos „eine den Kopf zum Schrumpfen [IV-125] bringende stählerne Schädelkappe angewandt habe, um Geheimnisse herauszuholen und unangebrachte politische Ideen zu vernichten“. (Time, 23. August 1954). Seinem Bild war der Text beigefügt: „Ein Vernichter unangebrachter Ideen“. Kann man sich etwas Verrückteres, Gefühlloseres und Sadistischeres vorstellen als diese frivolen Worte? Ist es verwunderlich, dass in einer Kultur, wo das populärste Nachrichtenmagazin so etwas drucken kann, Teenager keine Gewissensbisse empfinden, wenn sie einen Menschen totschlagen? Genügt die Erklärung, dass wir Brutalität und Grausamkeit in Comic-Büchern und Filmen darstellen, weil man damit Geld machen kann, nicht als Erklärung für die wachsende Barbarei und den zunehmenden Vandalismus unserer Jugend? Unsere Filmzensoren wachen darüber, dass keine sexuellen Szenen gezeigt werden, weil das unerlaubte sexuelle Begierden wecken könnte. Wie harmlos wäre dieses Resultat im Vergleich zu der entmenschlichenden Wirkung dessen, was die Zensoren zulassen und wogegen die Kirchen anscheinend weniger einzuwenden haben als gegen die herkömmlichen Sünden. Ja, wir haben noch ein ethisches Erbe, aber es wird bald verschwendet und durch die Ethik der Brave New World oder von Orwells 1984 ersetzt sein, wenn es nicht aufhört, lediglich ein Erbe zu sein, und in unserer gesamten Lebensweise neu geschaffen wird. Im Augenblick dürfte sittliches Verhalten noch in der konkreten Situation vieler Einzelmenschen zu finden sein; die Gesellschaft aber marschiert auf die Barbarei zu. (Vgl. den gleichen Standpunkt, den auch A. Gehlen, 1949, vertritt.)

Vieles, was hier über die Ethik gesagt wurde, lässt sich auch über die Religion sagen. Wenn man über die Rolle der Religion beim entfremdeten Menschen spricht, hängt natürlich alles davon ab, was man unter Religion versteht. Wenn wir die Religion im weitesten Sinne als Rahmen der Orientierung und als Objekt der Hingabe verstehen, dann ist tatsächlich jedes menschliche Wesen religiös, denn niemand kann ohne ein solches System leben, wenn er bei Verstand bleiben will. Demnach ist unsere Kultur ebenso religiös wie jede andere. Unsere Götter sind die Maschinen und der Leistungsgedanke; der Sinn unseres Lebens ist voranzukommen, vorwärts zu drängen und der Spitze so nahe wie möglich zu kommen. Aber wenn wir unter Religion den Monotheismus verstehen, dann ist unsere Religion tatsächlich nicht mehr als eine Ware in den Schaufenstern. Der Monotheismus ist mit der Entfremdung und mit unserer Fairness-Ethik unvereinbar. Er macht die Entfaltung, die Erlösung zum höchsten Ziel des Lebens, ein Ziel, das niemals einem anderen untergeordnet werden kann. Insofern Gott unerkennbar und undefinierbar ist, und insofern der Mensch als Gottes Ebenbild erschaffen wurde, ist auch der Mensch undefinierbar - und dies bedeutet, dass er kein Ding ist und niemals als ein solches angesehen werden kann. Der Kampf zwischen Monotheismus und Götzendienst ist nichts anderes als der Kampf zwischen dem produktiven und dem entfremdeten Lebensstil. Unsere Kultur ist vielleicht die erste völlig säkularisierte Kultur in der Menschheitsgeschichte. Wir schieben die fundamentalen Probleme der menschlichen Existenz von uns weg und kümmern uns nicht mehr darum. Wir interessieren uns nicht für die Bedeutung des Lebens und bemühen uns nicht, eine Lösung dafür zu finden; wir gehen von der Überzeugung aus, dass unser Leben keinen anderen Zweck hat als den, es gewinnbringend zu investieren und es ohne größere Pannen hinter uns zu bringen. Die meisten von uns [IV-126] glauben an Gott, sie halten es für sicher, dass es ihn gibt. Die anderen, die nicht an Gott glauben, halten es für sicher, dass es ihn nicht gibt. In beiden Fällen aber nehmen sie den Begriff Gott als gegeben hin. Weder ihr Glaube noch ihr Unglaube verursacht ihnen schlaflose Nächte oder ernstes Kopfzerbrechen. Tatsächlich macht es in unserer Kultur weder vom psychologischen noch von einem ernsthaft religiösen Standpunkt aus einen wesentlichen Unterschied, ob jemand an Gott glaubt oder nicht. In beiden Fällen liegt ihm weder etwas an Gott noch an einer Antwort auf das Problem seiner eigenen Existenz. Genauso wie man die Nächstenliebe durch eine unpersönliche Fairness ersetzt hat, hat man Gott in einen unerreichbaren Generaldirektor der Universum GmbH verwandelt; man weiß, dass Er da ist, dass Er den Laden schmeißt (obwohl dieser vermutlich auch ohne Ihn laufen würde), man bekommt Ihn nie zu sehen, doch erkennt man Ihn als Chef an, während man selbst seine Arbeit tut.

Die religiöse „Renaissance“, die wir in diesen Tagen erleben, ist vielleicht der schlimmste Schlag, den der Monotheismus je erlitten hat. Kann man sich eine schlimmere Gotteslästerung vorstellen, als wenn man von „dem Mann da droben“ redet, wenn man das Beten lehrt, um in Gott einen Geschäftspartner zu finden, wenn man die Religion mit Methoden und Werbesprüchen „verkauft“, wie man sie benutzt, um Seife an den Mann zu bringen?

Angesichts der Tatsache, dass die Entfremdung des heutigen Menschen mit dem Monotheismus unvereinbar ist, könnte man erwarten, dass die Pfarrer, Priester und Rabbiner allen voran an dem modernen Kapitalismus Kritik üben würden. Es trifft zwar wirklich zu, dass von hohen katholischen Würdenträgern, von einigen hohen Stellen der evangelischen Kirche und von einer Anzahl Rabbiner eine derartige Kritik geäußert wurde, aber im wesentlichen gehören doch alle Kirchen zu den konservativen Kräften in der modernen Gesellschaft, und die Religion benutzen sie dazu, die Menschen zu veranlassen, immer ruhig weiterzumachen und sich mit einem zutiefst irreligiösen System zufriedenzugeben. Die meisten von ihnen scheinen nicht zu erkennen, dass diese Art von Religion schließlich zu einem unverhüllten Götzendienst entarten wird, wenn sie nicht endlich damit anfangen, den modernen Götzendienst beim Namen zu nennen und ihn zu bekämpfen, anstatt Verkündigungen von Gott von sich zu geben und auf diese Weise seinen Namen in mehr als einem Sinne zu missbrauchen.

Arbeit

Welche Bedeutung erhält die Arbeit in einer entfremdeten Gesellschaft? Wir haben uns zu dieser Frage bei unserer allgemeinen Erörterung der Entfremdung bereits kurz geäußert. Aber da das Problem nicht nur für das Verständnis der heutigen Gesellschaft, sondern auch für jeden Versuch, eine gesunde Gesellschaft zu schaffen, überaus wichtig ist, möchte ich auf das Wesen der Arbeit auf den folgenden Seiten gesondert und ausführlicher eingehen.

Wenn der Mensch nicht andere ausbeutet, muss er selbst arbeiten, um zu leben. Wie primitiv und einfach seine Arbeitsmethode auch immer sein mag, allein durch die Tatsache, dass er etwas produziert, hat er sich über das Tier erhoben, und man hat ihn mit Recht als „das Tier, das produziert“ definiert. Aber die Arbeit ist für den Menschen nicht nur eine unentrinnbare Notwendigkeit. Sie befreit ihn auch von der [IV-127] Natur und macht ihn zu einem sozialen und unabhängigen Wesen. Im Arbeitsprozess, das heißt durch das Gestalten und Verändern der Natur außerhalb seiner selbst, formt und verändert er auch sich selbst. Er erhebt sich über die Natur, indem er sie meistert; er entwickelt seine Fähigkeiten zur Zusammenarbeit, seine Vernunft, seinen Sinn für Schönheit. Er sondert sich von der Natur ab und gibt seine ursprüngliche Einheit mit ihr auf, aber gleichzeitig vereinigt er sich auch wieder mit ihr als ihr Herr und Gestalter. Je weiter sich seine Arbeit entwickelt, umso weiter entwickelt sich auch seine Individualität. Indem er die Natur umgestaltet und neu erschafft, lernt er seine Kräfte zu gebrauchen und Geschicklichkeit und Kreativität zu erhöhen. Ob wir an die herrlichen Höhlenmalereien in Südfrankreich, an die Verzierungen der Waffen primitiver Völker, an die Statuen und Tempel der Griechen, die Kathedralen des Mittelalters, an die von geschickten Handwerkern hergestellten Stühle und Tische oder an die von Bauern kultivierten Blumen, Bäume und Getreidearten denken - alles ist Ausdruck der schöpferischen Verwandlung der Natur durch die Vernunft und Geschicklichkeit des Menschen.

In der Geschichte des Westens stellt die Handwerkskunst - besonders so, wie sie sich im dreizehnten und Vierzehnten Jahrhundert entwickelte - einen der Höhepunkte in der Entwicklung schöpferischer Betätigung dar. Arbeit war nicht nur eine nützliche Tätigkeit, sie erfüllte den Schaffenden auch mit tiefer Befriedigung. C. W. Mills hat die Hauptmerkmale der handwerklichen Tätigkeit sehr klar zum Ausdruck gebracht:

Diese Arbeit hat kein anderes Motiv als das Erzeugnis und den Prozess der Herstellung. Die einzelnen Handgriffe der täglichen Arbeit sind sinnvoll, weil sie für den Handwerker nicht vom Produkt seiner Arbeit getrennt sind. Auf diese Weise behält er seine Arbeit ständig unter Kontrolle. Der Handwerker lernt hierdurch aus seiner Arbeit und gebraucht und entwickelt seine Fähigkeiten und seine Geschicklichkeit. Es existiert keine Trennung zwischen Arbeit und Spiel und zwischen Arbeit und Kultur. Die Art, wie der Handwerker seinen Lebensunterhalt erwirbt, bestimmt und durchdringt seine gesamte Lebensweise. (C. W. Mills, 1951, S. 220.)

Mit dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Struktur und dem Beginn der modernen Produktionsweise änderte sich der Sinn und die Funktion der Arbeit, besonders in den protestantischen Ländern, von Grund auf. Der Mensch fürchtete sich vor seiner neugewonnenen Freiheit und war von dem Bedürfnis besessen, seine Zweifel und Ängste dadurch zu unterdrücken, dass er eine fieberhafte Aktivität entwickelte. Das Ergebnis dieser Aktivität, ihr Erfolg oder Misserfolg, entschied über sein Heil, ob er zu den geretteten oder verlorenen Seelen zählte. Aus einer in sich befriedigenden und erfreulichen Betätigung wurde die Arbeit zu einer Pflicht und einem Zwang. Je mehr man mit ihr Reichtümer erwerben konnte, umso mehr wurde sie zu einem bloßen Mittel, um zu Reichtum und Erfolg zu gelangen. Die Arbeit wurde, um mit Max Weber zu sprechen, zum Hauptfaktor in einem System der „innerweltlichen Askese“, zu einer Reaktion auf das Gefühl des Alleinseins und der Isolation des Menschen.

Allerdings gab es Arbeit in diesem Sinne nur für die Ober- und Mittelklasse, für die, welche Kapital ansammeln und andere für sich arbeiten lassen konnten. Für die große Mehrheit all derer, die nur ihre Körperkraft zu verkaufen hatten, wurde die Arbeit [IV-128] zu einer reinen Fron. Der Arbeiter des Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhunderts, der sechzehn Stunden arbeiten musste, wenn er nicht verhungern wollte, tat dies nicht, um auf diese Weise dem Herrn zu dienen, und auch nicht deshalb, weil sein Erfolg beweisen sollte, dass er zu den „Auserwählten“ gehörte, sondern weil er seine Arbeitskraft denen verkaufen musste, die die Mittel besaßen ihn auszubeuten. Zu Beginn der Neuzeit war der Sinn der Arbeit bei der Mittelklasse Pflichterfüllung, bei den Besitzlosen Zwangsarbeit.

Die religiöse Einstellung zur Arbeit als Pflichterfüllung, die im vorigen Jahrhundert noch durchaus vorherrschte, hat sich in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gewandelt. Der heutige Mensch weiß nichts mehr mit sich anzufangen, er weiß nicht, wie er sein Leben sinnvoll verbringen soll, und er sieht sich zur Arbeit hingetrieben, um einer unerträglichen Langeweile zu entrinnen. Aber die Arbeit ist keine moralische und religiöse Verpflichtung mehr, wie sie es im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert in den Augen der Mittelklasse war. Etwas Neues ist aufgekommen. Die ständig wachsende Produktion, das Bedürfnis, immer größere und bessere Dinge herzustellen, sind zum Selbstzweck, zu den neuen Idealen geworden. Der Arbeitende ist seiner Arbeit entfremdet.

Und was geschieht mit dem Industriearbeiter? Er verwendet seine beste Energie sieben bis acht Stunden am Tag darauf, „etwas“ herzustellen. Er braucht seine Arbeit, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber er spielt dabei eine im wesentlichen passive Rolle. Er erfüllt in einem höchst komplizierten und hoch organisierten Produktionsprozess eine kleine, isolierte Funktion und hat nie „sein“ Produkt als Ganzes vor Augen, wenigstens nicht als Hersteller, sondern höchstens als Verbraucher, sofern er das Geld hat, sich „sein“ Erzeugnis in einem Laden zu kaufen. Ihn interessiert das Gesamtprodukt weder hinsichtlich seiner materiellen Beschaffenheit noch hinsichtlich seiner weiterreichenden ökonomischen und sozialen Aspekte. Er wird an einen bestimmten Arbeitsplatz verwiesen und hat eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, aber er hat keinen Anteil an der Organisation oder dem Management der Arbeit. Er weiß nicht, weshalb gerade diese und nicht eine andere Ware produziert wird, und interessiert sich auch nicht dafür, genauso wenig wie er sich dafür interessiert, in welcher Beziehung diese Ware zu den Bedürfnissen der Gesellschaft als Ganzer steht. Die Schuhe, die Autos, die Glühbirnen werden „vom Werk“ mit Hilfe der Maschinen hergestellt. Er ist eher ein Bestandteil der Maschine als ihr Herr und tätiger Urheber. Die Maschine steht nicht in seinem Dienst und verrichtet für ihn Arbeiten, die man früher mit seiner eigenen Körperkraft verrichten musste, sondern sie ist zu seinem Herrn und Meister geworden. Nicht die Maschine ist zum Ersatz für menschliche Energie geworden, sondern der Mensch zum Ersatz für die Maschine. Man kann seine Arbeit definieren als Ausführung von Tätigkeiten, die nicht von den Maschinen ausgeführt werden können.

Die Arbeit ist ein Mittel zum Geldverdienen und nicht eine an sich sinnvolle menschliche Tätigkeit. P. F. Drucker, der Arbeiter in der Automobilindustrie beobachtete, bringt diesen Gedanken scharfsinnig zum Ausdruck:

Für die allermeisten Automobilarbeiter liegt der einzige Sinn ihres Jobs in der Lohntüte und nicht in irgendetwas, das mit ihrer Arbeit oder dem Erzeugnis direkt [IV-129] zu tun hätte. In ihrer Arbeit sehen sie etwas Unnatürliches, eine unangenehme, bedeutungslose und verdummende Voraussetzung dafür, dass man seine Lohntüte erhält; etwas ohne jede Würde und Wichtigkeit. Kein Wunder, dass schlampige Arbeit, Verlangsamung des Tempos und andere Tricks, um gleichen Lohn für weniger Mühe zu erlangen, erstrebenswert erscheinen. Kein Wunder, dass das zu unzufriedenen, unglücklichen Arbeitern führt - weil man seine Selbstachtung nicht nur auf eine Lohntüte gründen kann. (Peter F. Drucker, 1946, S. 179.)

Die Beziehung des Arbeiters zu seiner Arbeit ist ein Ergebnis der gesamten gesellschaftlichen Organisation, von der er ein Teil ist. Da er „eingestellt“ ist (das Wort „eingestellt“ bzw. „angestellt“ bezieht sich genau wie das entsprechende englische Wort employed eher auf Dinge als auf Menschen), ist der Arbeiter kein tätiger Urheber (active agent), er trägt keine Verantwortung außer für die fehlerfreie Herstellung des Einzelteils, an dem er arbeitet; und er interessiert sich auch kaum für etwas anderes als dafür, dass er genug Geld mit nach Hause bringt, um sich und seine Familie ernähren zu können. Und man erwartet oder verlangt auch nicht mehr von ihm. Er ist ein Teil der mit dem Kapital angeschafften oder gemieteten Fertigungseinrichtung, und seine Rolle und Funktion wird eben dadurch bestimmt, dass er ein Teil der Einrichtung ist. In den letzten Jahrzehnten schenkt man der Psychologie des Arbeiters und seiner Einstellung zu seiner Arbeit - dem „menschlichen Problem der Industrie“ - wachsende Aufmerksamkeit, aber schon diese Formulierung ist ein Hinweis auf die ihr zugrunde liegende Einstellung. Da ist ein menschliches Wesen, das den größten Teil seines Lebens seiner Arbeit widmet, und worüber man diskutieren sollte, wäre das industrielle Problem menschlicher Wesen und nicht „das menschliche Problem der Industrie“.

Die meisten Forschungsarbeiten auf dem Gebiete der Industrie-Psychologie beschäftigen sich mit der Frage, wie die Produktivität des einzelnen Arbeiters gesteigert werden kann und wie er dazu gebracht werden kann, reibungsloser zu funktionieren. Die Psychologie hat sich in den Dienst der „Menschentechnik“ gestellt und versucht, den Arbeiter und den Angestellten als Maschine zu behandeln, die besser läuft, wenn sie gut geölt ist. Während Taylor sich in erster Linie für eine bessere Organisation der technischen Verwendung der körperlichen Kräfte des Arbeiters interessierte, interessieren sich die meisten Industrie-Psychologen in der Hauptsache für die Manipulation seiner Psyche. Die zugrunde liegende Idee könnte man etwa folgendermaßen formulieren: Wenn er, falls er glücklich ist, besser arbeitet, wollen wir ihn doch glücklich, sicher, zufrieden oder was sonst auch immer machen, vorausgesetzt es erhöht seine Leistung und reduziert Reibungen. Im Namen der „zwischenmenschlichen Beziehungen“ wird der Arbeiter mit allen Methoden behandelt, die sich für einen völlig entfremdeten Menschen eignen. Das Glück und die humanen Werte werden sogar als Mittel empfohlen, ein besseres Verhältnis zu den Kunden herzustellen. So soll zum Beispiel nach dem Time Magazine einer der bekanntesten amerikanischen Psychiater zu einer Gruppe von 1 500 Angestellten eines Supermarkts gesagt haben: „Unsere Kunden werden zufriedener sein, wenn wir glücklicher sind. (...) Es würde sich mit harten Dollars und Cents für das Management bezahlt machen, wenn wir ein paar von diesen allgemeinen Wertprinzipien der zwischenmenschlichen Beziehungen wirklich [IV-130] in die Praxis umsetzen könnten.“ Man redet von „zwischenmenschlichen Beziehungen“ und meint damit die allerunmenschlichsten Beziehungen zwischen entfremdeten Automaten; man redet von Glück und meint damit die vollendete Routine, die den letzten Zweifel und jede Spontaneität ausgetrieben hat. (Ich komme im achten Kapitel noch einmal auf das Problem der Arbeit zurück.)

Der entfremdete und zutiefst unbefriedigende Charakter der Arbeit hat zwei Reaktionen zur Folge: einmal das Ideal vollkommener Faulheit, und zum anderen eine tief sitzende, wenn auch häufig unbewusste feindselige Einstellung zur Arbeit und zu allem, was damit in Zusammenhang steht.

Die weitverbreitete Sehnsucht nach dem Zustand vollkommener Faulheit und Passivität ist nicht schwer zu erkennen. Unsere Werbung appelliert sogar noch mehr an sie als an den Sex. Natürlich gibt es auch viele nützliche und arbeitsparende Geräte. Aber diese Nützlichkeit dient dem Appell an eine vollkommene Passivität und Rezeptivität häufig nur als Ausrede. Ein Paket Frühstücksflocken wird angepriesen als „neu - leichter zu essen“. Ein elektrischer Brotröster wird folgendermaßen angepriesen: „Der einzigartigste Toaster der Welt! Dieser neue Toaster tut alles für Sie. Sie brauchen nicht einmal das Brot einzulegen. Durch einen einzigartigen Elektromotor wird Ihnen das Brot automatisch sanft aus den Fingern genommen.“ Sprachkurse oder Kurse auf anderen Gebieten werden mit dem Werbespruch angepriesen: „Müheloses Lernen - Schluss mit der alten Büffelei!“ Jeder kennt das Bild des älteren Ehepaars in den Anzeigen der Lebensversicherungen, das sich mit sechzig Jahren zur Ruhe gesetzt hat und jetzt sein Leben in der vollen Glückseligkeit des Nichtstuns verbringt, vom Reisen abgesehen.

Rundfunk und Fernsehen demonstrieren ein weiteres Element dieser Sehnsucht nach Faulheit, die Idee, dass „man nur auf den Knopf zu drücken braucht“. Wenn ich auf einen Knopf drücke oder an einem Schalter meines Geräts drehe, kann ich Musik, Vorträge, Sportveranstaltungen produzieren, und ich kann Weltereignissen befehlen, vor meinen Augen auf dem Fernsehschirm zu erscheinen. Die Freude am Autofahren beruht bestimmt zum Teil auf der Befriedigung, nur auf den Knopf drücken zu müssen. Indem ich, ohne Kraft aufwenden zu müssen, auf einen Knopf drücke, setze ich eine machtvolle Maschine in Gang. Es gehört nur wenig Geschicklichkeit und Anstrengung dazu, und der Fahrer hat das Gefühl, Beherrscher des Raumes zu sein.

Aber die Sinnlosigkeit und Langeweile der Arbeit hat noch eine weit ernstere und tiefer sitzende Reaktion zur Folge. Es ist eine feindselige Einstellung zur Arbeit, die uns weit weniger bewusst ist als unsere Sehnsucht nach Faulheit und Untätigkeit. Mancher Geschäftsmann hat das Gefühl, er sei der Gefangene seines Geschäfts und der Waren, die er verkauft; er hat das Gefühl, seine Erzeugnisse seien Schwindel, und er verachtet sie insgeheim. Er hasst seine Kunden, die ihn zwingen, eine Schau abzuziehen, wenn er ihnen etwas verkaufen will. Er hasst seine Konkurrenten, weil sie eine Gefahr für ihn sind; er hasst seine Untergebenen genauso wie seine Vorgesetzten, weil er mit ihnen in einem ständigen Konkurrenzkampf steht. Vor allem aber hasst er sich selbst, weil er sieht, wie ihm sein Leben entgleitet, ohne einen Sinn zu haben außer dem momentanen Rausch des Erfolges. Natürlich sind dieser Hass und diese Verachtung für andere und sich selbst wie auch für die Dinge, die man herstellt, in [IV-131] der Hauptsache unbewusst, und nur hie und da kommen sie uns flüchtig ins Bewusstsein, was dann so beunruhigend ist, dass wir solche Gedanken schleunigst wieder beiseite schieben.

Demokratie

Ebenso wie die Arbeit dem Menschen entfremdet wurde, ist auch die Art, wie der Wille des Bürgers in der modernen Demokratie zum Ausdruck kommt, entfremdet. Die Demokratie geht von der Idee aus, dass nicht ein Herrscher oder eine kleine Gruppe, sondern das Volk als Ganzes sein Schicksal bestimmt und seine die öffentlichen Belange betreffenden Entscheidungen trifft. Dadurch, dass jeder Bürger seine eigenen Vertreter wählt, die im Parlament die Gesetze des Landes beschließen, ist er angeblich an den öffentlichen Angelegenheiten aktiv und mitverantwortlich beteiligt. Mit der Gewaltenteilung wurde ein sinnreiches System geschaffen, das dazu dienen soll, die Integrität und Unabhängigkeit der Rechtspflege zu wahren und die Funktionen von Legislative und Exekutive im Gleichgewicht zu halten. Theoretisch trägt so jeder Bürger die gleiche Verantwortung für die Beschlussfassung und übt gleichen Einfluss darauf aus.

In Wirklichkeit aber litt das demokratische System von Anfang an an wichtigen inneren Widersprüchen. Da es in Staaten herrschte, in denen die Chancen und das Einkommen höchst ungleich verteilt waren, wollten die privilegierten Klassen dort natürlich die Vorrechte nicht aufgeben, die ihr Stand ihnen einräumte und die sie leicht hätten verlieren können, wenn der Wille der besitzlosen Masse voll zum Ausdruck gekommen wäre. Um diese Gefahr zu bannen, schloss man viele aus der Klasse der Besitzlosen vom Wahlrecht aus, und nur ganz allmählich akzeptierte man den Grundsatz, dass jedem Bürger ohne Einschränkung und Qualifikation das Wahlrecht zusteht.

Im Neunzehnten Jahrhundert schien es so, als ob das allgemeine Wahlrecht alle Probleme der Demokratie lösen würde. O’Connor, einer der Chartistenführer, sagte 1838: „Das allgemeine Wahlrecht würde mit einem Schlage den gesamten Charakter der Gesellschaft aus einem Zustande des Argwohns, des Zweifels und der Verdächtigungen in einen Zustand brüderlicher Liebe, gegenseitigen Interesses und allgemeinen Vertrauens verwandeln“, und 1842 sagte er: „(...) sechs Monate nach Annahme der Charta wird jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im Lande wohlgenährt, gut untergebracht und gut gekleidet sein.“ (Zit. nach J. R. M. Butler, 1928, S. 86.) Seitdem haben alle großen Demokratien (mit Ausnahme der Schweiz) das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen eingeführt, aber selbst in den reichsten Ländern der Welt war immer noch ein Drittel der Bevölkerung nach Franklin D. Roosevelt „schlecht ernährt, schlecht untergebracht und schlecht gekleidet“.

Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts enttäuschte nicht nur die Hoffnungen der Chartisten, sie enttäuschte auch alle jene, die geglaubt hatten, dass es dazu beitragen würde, die Bürger in verantwortungsbewusste, aktive und unabhängige Persönlichkeiten zu verwandeln. Es stellte sich heraus, dass das Problem der Demokratie heute nicht mehr in der Einschränkung des Wahlrechts, sondern in der Art und Weise, wie dieses gehandhabt wird, besteht. [IV-132]

Wie können Menschen „ihren“ Willen zum Ausdruck bringen, wenn sie gar keinen eigenen Willen und keine eigene Überzeugung besitzen, wenn sie entfremdete Automaten sind, deren Geschmack, Meinungen und Vorlieben von den großen Konditionierungsapparaten manipuliert werden? Unter diesen Umständen wird das allgemeine Wahlrecht zu einem Fetisch. Wenn eine Regierung nachweisen kann, dass jedermann das Recht hat zu wählen und die Stimmen ehrlich gezählt werden, dann ist sie demokratisch. Wenn alle wählen, die Stimmen aber nicht ehrlich gezählt werden, oder wenn die Wähler Angst haben, gegen die regierende Partei zu stimmen, dann ist das Land undemokratisch. Es trifft natürlich zu, dass ein beträchtlicher Unterschied zwischen freien und manipulierten Wahlen besteht; aber auch wenn wir den Unterschied feststellen, so sollten wir doch darüber nicht vergessen, dass selbst freie Wahlen nicht unbedingt „den Willen des Volkes“ zum Ausdruck bringen. Wenn eine Zahnpasta, für die viel Reklame gemacht wird, von den meisten deshalb benutzt wird, weil die Propaganda ihr phantastische Eigenschaften zuschreibt, wird kein verständiger Mensch sagen, die Leute hätten sich für diese Zahnpasta „entschieden“. Man könnte höchstens behaupten, dass die Werbung für sie so zugkräftig war, dass sie Millionen dazu verführt hat, das zu glauben, was von ihr behauptet wird.

In einer entfremdeten Gesellschaft ist die Art und Weise, wie die Menschen ihren Willen äußern, nicht viel anders als die Art, wie sie beim Kauf die Waren auswählen. Sie hören auf die Werbetrommeln, und die Tatsachen bedeuten ihnen wenig im Vergleich zu dem, was ihnen suggestiv und geräuschvoll eingehämmert wird. In den letzten Jahren konnten wir immer deutlicher beobachten, welchen Einfluss die Ratschläge der Public-Relations-Fachleute auf die politische Propaganda ausüben. Entsprechend der Taktik, wie sie das Publikum dazu bringen, alle Waren zu kaufen, für deren „Aufbau“ das nötige Geld vorhanden ist, behandeln sie auch die politischen Ideen und die führenden Politiker. Sie bedienen sich des Fernsehens genauso, um politische Persönlichkeiten „aufzubauen“, wie sie das mit ihrer Waschmittelwerbung tun. Worauf es ihnen ankommt, ist der Effekt, mag es nun um den Absatz oder um die Wählerstimme gehen, und nicht die Vernünftigkeit oder Nützlichkeit dessen, was sie propagieren, ist maßgebend. Diese Erscheinung kam kürzlich mit erstaunlicher Offenheit in einer Äußerung über die Zukunft der Republikanischen Partei zum Ausdruck. Sie läuft darauf hinaus, dass man, da man nicht damit rechnen könne, die Stimmenmehrheit für die Republikanische Partei zu gewinnen, eine bekannte Persönlichkeit auftreiben müsse, welche bereit sei, die Partei zu repräsentieren - diese würde dann schon die nötigen Stimmen bekommen. Im Prinzip ist das nichts anderes, als wenn ein berühmter Sportler oder Filmstar dafür gewonnen wird, eine Zigarettenmarke zu empfehlen.

Tatsächlich unterscheidet sich ja auch die Art, wie der politische Apparat in einem demokratischen Land funktioniert, kaum von dem Verfahren auf dem Gebrauchswarenmarkt. Die politischen Parteien unterscheiden sich nicht wesentlich von großen Wirtschaftsunternehmen, und auch die Berufspolitiker versuchen, der Wählerschaft ihre Waren zu verkaufen. Ihre Methode ähnelt mehr und mehr der Intensivwerbung. J. A. Schumpeter, ein scharfsinniger Beobachter der politischen und wirtschaftlichen Szene, hat für diesen Prozess eine besonders klare Formulierung gefunden. Er geht [IV-133] von der klassischen Formulierung der Demokratie des Achtzehnten Jahrhunderts aus:

Die demokratische Methode besteht in den institutionellen Vorkehrungen, die getroffen werden, um zu politischen Entscheidungen zu gelangen, die dem Gemeinwohl dienen, indem man das Volk selbst die Entscheidung durch die Wahl von Einzelpersönlichkeiten treffen lässt, welche zusammentreten, um seinen Willen zu vollziehen. (J. A. Schumpeter, 1962, S. 250; vgl. dt. S. 397.)

Schumpeter analysiert dann die Einstellung des modernen Menschen zum Problem der öffentlichen Wohlfahrt und kommt zu einem Resultat, das sich nicht wesentlich von dem oben erwähnten unterscheidet:

Wenn wir uns jedoch noch weiter von den privaten Anliegen der Familie und den Geschäftsinteressen entfernen und uns jenen Gebieten der nationalen und internationalen Angelegenheiten zuwenden, die mit diesen Privatinteressen in keiner direkten und unmissverständlichen Verbindung stehen, dann werden das individuelle Wollen, die unerbittlichen Tatsachen und die daraus zu ziehenden Folgerungen den Erfordernissen der klassischen Doktrin nicht mehr gerecht. Was mir am meisten auffällt und was ich für den Kern des Übels halte, ist die Tatsache, dass uns das Gefühl für die Realität so restlos verlorengegangen ist. Normalerweise nehmen die großen politischen Fragen im Seelenhaushalt des Durchschnittsbürgers einen ähnlichen Platz ein wie seine Freizeitinteressen, die noch nicht den Rang eines Hobbys erreicht haben, und wie unverbindliche Themen der Unterhaltung. All diese Dinge liegen irgendwie in weiter Ferne; sie sind etwas ganz anderes als zum Beispiel geschäftliche Überlegungen. Die Gefahren brauchen ja nicht Wirklichkeit zu werden, und wenn sie es doch tun sollten, können sie sich als halb so schlimm herausstellen. Man hat das Gefühl, sich in einer fiktiven Welt zu bewegen.

Dieses reduzierte Realitätsgefühl hat nicht nur ein vermindertes Verantwortungsgefühl zur Folge, sondern ist auch schuld daran, dass man seinen Willen nicht durchsetzt. Man verfügt natürlich über bestimmte Redensarten und hat seine Wünsche und Tagträume und auch seinen Ärger; besonders hat man seine Vorlieben und Abneigungen. Aber meistens kommt es dabei nicht zu dem, was wir als Willen bezeichnen - dem psychischen Gegenstück zu einem zielgerichteten, verantwortungsbewussten Handeln. Wenn der private Bürger tatsächlich einmal über die nationalen Angelegenheiten nachdenkt, so sind diese außerhalb der Reichweite seines Willens, und es gibt auch keine Aufgaben, an denen sich dieser entfalten könnte. Er ist Mitglied eines arbeitsunfähigen Komitees, des Komitees der gesamten Nation, und aus diesem Grund verwendet er weniger disziplinierte Anstrengung auf die Lösung politischer Probleme, als er auf eine Partie Bridge zu verwenden pflegt.

Das reduzierte Verantwortungsgefühl und das Fehlen eines festen Willens erklären wiederum die Unwissenheit und mangelnde Urteilsfähigkeit des Durchschnittsbürgers in Bezug auf Fragen der Innen- und Außenpolitik, was bei gebildeten Menschen und bei solchen, die in den nichtpolitischen Lebensbereichen aktiv und erfolgreich sind, noch unverständlicher ist als bei ungebildeten Menschen, die in bescheidenen Verhältnissen leben. Und wir brauchen uns auch nicht weiter [IV-134] darüber zu wundern. Wir brauchen nur einmal die Haltung eines Rechtsanwalts bei einem seiner Prozesse und die desselben Rechtsanwalts bei der Darstellung politischer Ereignisse in seiner Zeitung miteinander zu vergleichen, um zu sehen, wie die Dinge liegen. Im einen Fall hat der Rechtsanwalt sich in jahrelanger zielstrebiger Arbeit, angetrieben von seinem Streben nach beruflichem Erfolg, dafür qualifiziert, die Bedeutung der Gegebenheiten richtig einzuschätzen, und unter einem nicht weniger mächtigen Antrieb setzt er jetzt seine erworbenen Kenntnisse, seinen Verstand und seinen Willen für den ihm anvertrauten Prozess ein. Im anderen Fall hat er sich nicht die Mühe gemacht, die nötigen Kenntnisse zu erwerben; es liegt ihm nichts daran, sich zu qualifizieren; er macht sich nicht die Mühe, die Informationen in sich aufzunehmen und sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen, was er doch so vorzüglich versteht, und langes kompliziertes Argumentieren macht ihn ungeduldig. All das beweist, dass man ohne die Initiative, welche einer unmittelbaren Verantwortung entspringt, trotz massenweise zur Verfügung stehender Informationen nicht im Bilde ist, so vollständig und korrekt die Informationen auch sein mögen. Diese mangelnde Unterrichtung auf politischem Gebiet wird auch durch die verdienstvollen Bemühungen nicht beseitigt, die gegenwärtig unternommen werden, über die bloße Vermittlung von Informationen hinaus, mit Hilfe von Vorträgen, Kursen und Diskussionsgruppen die Dinge an die Leute heranzubringen. Der Erfolg ist zwar nicht gleich Null, aber doch recht gering. Man kann den Hund eben nicht zum Jagen tragen.

So kommt es, dass der typische Bürger auf ein niedrigeres geistiges Niveau herabsinkt, sobald er sich auf das politische Gebiet begibt. Er argumentiert und analysiert dann in einer Art, die er auf seinem eigentlichen Interessengebiet als kindisch bezeichnen würde. Er wird wieder zum Primitiven. (J. A. Schumpeter, 1962, S. 261 f. - Vgl. dt. S. 415-417.)

Schumpeter weist auch darauf hin, dass der Wille der Öffentlichkeit in ganz ähnlicher Weise hergestellt wird wie bei der kommerziellen Werbung. Er sagt:

Die Art und Weise, wie der Wille des Volkes in Bezug auf jede Art von Problemen künstlich fabriziert wird, entspricht genau den Methoden der kommerziellen Werbung. Auch hier treffen wir auf die gleichen Versuche, das Unbewusste anzusprechen. Wir treffen auf die gleiche Technik, vorteilhafte und unvorteilhafte Assoziationen zu erzeugen, die umso wirksamer sind, je weniger rational sie sind. Wir treffen auf die gleichen Ausflüchte, auf das gleiche Verschweigen und den gleichen Trick, durch immerzu wiederholte Behauptungen, eine bestimmte Meinung zu erzeugen, was eben in dem Maße zum Erfolg führt, wie es vernünftigen Argumenten und damit der Gefahr entgegenwirkt, den kritischen Verstand der Leute zu wecken. Und so fort. Nur haben alle diese Kniffe im Bereich der öffentlichen Angelegenheiten einen unendlich größeren Wirkungsbereich als in der privaten und beruflichen Sphäre. Auf die Dauer wird es auch dem Bilde des allerhübschesten Mädchens nicht gelingen, die Leute zum Kauf einer schlechten Zigarette zu veranlassen. Bei politischen Entscheidungen gibt es keinen entsprechenden Schutz. Viele Entscheidungen von verhängnisvollen Konsequenzen lassen es ihrer Natur nach nicht zu, dass die Öffentlichkeit damit in aller Ruhe und mit nur geringen [IV-135] Kosten experimentiert. Selbst wenn diese Möglichkeit besteht, gelangt man hier in der Regel nicht so leicht zu einem Urteil, wie das bei einer Zigarette der Fall ist, da die Wirkungen weniger leicht zu beurteilen sind. (J. A. Schumpeter, 1962, S. 263 ; vgl. dt. S. 418 f.).

Aufgrund dieser Analyse kommt Schumpeter zu einer Definition der Demokratie, die zwar weniger großartig als seine zuerst angeführte, aber dafür zweifellos realistischer ist:

Die demokratische Methode ist jene institutionelle Einrichtung zur Herbeiführung politischer Entscheidungen, bei der sich einzelne mit den Mitteln des Konkurrenzkampfes die Stimmen der Wähler sichern und damit die Entscheidungsgewalt gewinnen. (J. A. Schumpeter, 1962, S. 269; vgl. dt. S. 428. - Hervorhebung E. F.)

Den Vergleich zwischen dem Prozess der Meinungsbildung in der Politik und dem auf dem Warenmarkt kann man noch ergänzen, indem man ihn nicht so sehr auf die Meinungsbildung selbst, sondern vielmehr auf deren Ausdrucksformen bezieht. Ich denke hier an die Rolle, welche der Aktionär in den amerikanischen Großunternehmen spielt, und an den Einfluss, den er auf das Management ausübt.

Wie bereits angedeutet, gehören die Großunternehmen heute Hunderttausenden von Einzelaktionären, von denen jeder nur einen verschwindend geringen Bruchteil des gesamten Kapitals besitzt. Juristisch gesehen gehört das Unternehmen den Aktionären, und diese haben daher das Recht, seine Politik zu bestimmen und das Management zu berufen. Praktisch gesehen fühlen sie sich auf Grund ihres Eigentumsrechts kaum verantwortlich und sind mit dem, was das Management unternimmt, einverstanden, sofern sie nur ihre regelmäßige Dividende erhalten. Die überwiegende Mehrheit der Aktionäre macht sich nicht die Mühe, bei den Aktionärsversammlungen zu erscheinen, und begnügt sich damit, die erforderlichen Stellvertreter hinzuschicken. Wie bereits dargelegt, wurde 1930 nur bei 6 Prozent der Großunternehmen die Kontrolle ausschließlich von den eigentlichen Eigentümern oder von einer Majorität derselben ausgeübt.

In einer modernen Demokratie unterscheidet sich die Kontrollsituation kaum von der in den Großunternehmen. Zwar geben über die Hälfte der Stimmberechtigten ihre Stimme persönlich ab. Dabei entscheiden sie sich zwischen zwei Parteiapparaten, die um ihre Stimme konkurrieren. Sobald einer dieser Apparate gewählt und in die Ämter eingesetzt ist, werden die Beziehungen zum Wähler sehr distanziert: Die wirklichen Entscheidungen liegen oft nicht mehr bei den einzelnen Parlamentsmitgliedern, die die Interessen und Wünsche ihrer Wählerschaft vertreten, sondern beim Parteiapparat. (Vgl. R. H. S. Crossman, 1954.) Aber selbst dort werden die Entscheidungen von einflussreichen Schlüsselfiguren getroffen, die der Öffentlichkeit oft kaum bekannt sind. Tatsächlich meint der einzelne Bürger zwar, dass er die Entscheidungen seines Landes bestimmt, doch tut er dies in kaum höherem Maße, als ein durchschnittlicher Aktienbesitzer an der Kontrolle „seiner“ Gesellschaft teilhat. Zwischen dem Akt des Wählens und den ausschlaggebenden Entscheidungen auf höchster politischer Ebene besteht ein undurchsichtiger Zusammenhang. Man kann nicht sagen, es bestünde überhaupt keine Verbindung zwischen beiden, ebenso wenig wie man sagen kann, die endgültige Entscheidung sei ein Ergebnis des Willens der Wähler. Es ist dies genau die Situation, in der der Wille des Bürgers auf eine entfremdete Weise zum Ausdruck kommt. Er tut zwar etwas, er gibt seine Stimme ab und hat die [IV-136] Illusion, er sei der Urheber von Entscheidungen, die er akzeptiert, als ob es seine eigenen wären, aber in Wirklichkeit werden diese weitgehend von Kräften bestimmt, die außerhalb seiner Kontrolle und seines Wissens liegen. Kein Wunder, dass diese Situation dem Durchschnittsbürger ein tiefes Gefühl der Ohnmacht in politischen Dingen gibt (wenn ihm dies auch nicht unbedingt bewusst sein muss), und dass sein politisches Verständnis immer geringer wird. Denn genauso wie es zutrifft, dass man denken sollte, bevor man handelt, so trifft es auch zu, dass das Denken verkümmert, wenn man keine Chance zum Handeln hat; mit anderen Worten, wenn man nicht wirkungsvoll handeln kann, dann kann man auch nicht produktiv denken.

e) Entfremdung und seelische Gesundheit

Welche Wirkung übt die Entfremdung auf die seelische Gesundheit aus? Die Antwort hängt natürlich davon ab, was man unter Gesundheit versteht. Wenn Gesundheit bedeutet, dass jemand seine gesellschaftlichen Aufgaben zu erfüllen, der Produktion zu dienen und sich fortzupflanzen vermag, kann natürlich auch ein entfremdeter Mensch gesund sein. Schließlich haben wir ja den machtvollsten Produktionsapparat geschaffen, den es bisher je auf Erden gegeben hat, wenn wir auch zugleich den machtvollsten Vernichtungsapparat geschaffen haben, den sich ein Wahnsinniger nur ausdenken konnte. Wenn wir uns die üblichen Definitionen von seelischer Gesundheit seitens unserer Psychiater ansehen, könnten wir auch den Eindruck gewinnen, dass wir gesund sind. Natürlich entsprechen die Begriffe von Gesundheit und Krankheit den Vorstellungen derer, die sie formulieren - also der Kultur, in der diese Menschen leben. Entfremdete Psychiater werden die seelische Gesundheit mit den Begriffen der entfremdeten Persönlichkeit definieren und deshalb das für gesund halten, was vom Standpunkt des normativen Humanismus bereits als krank angesehen würde. In dieser Beziehung gilt die famose Schilderung der Psychiater und Chirurgen in H. G. Wells’ The Country of the Blind (1925) genauso für viele Psychiater in unserer Kultur. Der junge Mann, der bei einem völlig isoliert lebenden Stamm von Menschen, die unter angeborener Blindheit leiden, Zuflucht gefunden hat, wird von deren Ärzten untersucht.

Dann hatte schließlich einer der Ältesten nach tiefem Nachdenken eine Idee. Es handelte sich um den großen Arzt dieses Volkes, um ihren Medizinmann. Er besaß einen sehr philosophischen und erfinderischen Geist, und es kam ihm die Idee, Nuñez von seinen Sonderbarkeiten zu heilen. Als eines Tages der alte Yakob anwesend war, kam er auf das Thema zurück.

„Ich habe Bogota untersucht“, sagte er, „und der Fall ist mir jetzt klarer. Ich glaube, dass man ihn höchstwahrscheinlich heilen könnte.“

„Das habe ich schon immer gehofft“, sagte der alte Yakob.

„Sein Gehirn ist nicht in Ordnung“, sagte der blinde Doktor. Die Ältesten murmelten zustimmend.

„Aber was fehlt ihm denn?“

„Ah“, sagte der alte Yakob.

“Folgendes“, sagte der Doktor als Antwort auf seine eigene Frage. „Die komischen Dinger, die man Augen nennt und die dazu da sind, im Gesicht eine hübsche leichte Vertiefung zu erzeugen, sind im Falle Bogotas erkrankt, und zwar so, dass sein Gehirn davon mitbetroffen ist. Sie sind stark aufgequollen, er hat Wimpern, seine Lider bewegen sich, wodurch sich sein Gehirn in einem Zustand ständiger Erregung und Ablenkung befindet.“

„Tatsächlich“, sagte der alte Yakob, „was du nicht sagst!“

„Und ich glaube mit ziemlicher Gewissheit sagen zu können, dass wir, um ihn völlig zu heilen, nur einen einfachen und leichten chirurgischen Eingriff vorzunehmen brauchen; wir müssen ihm bloß diese störenden Dinger entfernen.“

„Und dann wird er ganz gesund sein?“

„Dann wird er vollkommen gesund und ein ganz prachtvoller Bürger sein.“

„Dem Himmel sei Dank für die Wissenschaft“, sagte der alte Yakob und ging sogleich zu Nuñez, um ihm die erfreuliche Nachricht mitzuteilen. (H. G. Wells, 1925.)

Unsere heutigen psychiatrischen Definitionen der seelischen Gesundheit heben alle jene Eigenschaften hervor, die zum entfremdeten Gesellschafts-Charakter unserer Zeit passen: Anpassung, Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Aggressivität, Toleranz, Ehrgeiz usw. Ich zitierte bereits Streckers Definition der „Reife“ als Beispiel für die naive Übersetzung des Stellenangebots für einen jüngeren leitenden Angestellten in die Terminologie des Psychiaters. Aber wie ich bereits in anderem Zusammenhang kurz erwähnte, war selbst H. S. Sullivan, der doch einer der tiefgründigsten und glänzendsten Psychoanalytiker unserer Zeit war, in seinen theoretischen Vorstellungen von dieser alles durchdringenden Entfremdung beeinflusst. Gerade wegen seiner überragenden Bedeutung und wegen des wichtigen Beitrages, den er für die Psychiatrie geleistet hat, dürfte es aufschlussreich sein, hierauf ausführlicher einzugehen. Sullivan hielt die Tatsache, dass dem entfremdeten Menschen ein echtes Selbstgefühl fehlt, und dass er sich als Reaktion auf die Erwartungen anderer erlebt, für eine Eigentümlichkeit der menschlichen Natur, genau wie Freud den Wettbewerbsgeist, der für den Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts kennzeichnend war, für eine natürliche Erscheinung hielt. So bezeichnete Sullivan die Ansicht, dass es ein einzigartiges individuelles Selbst gäbe, als die „Täuschung der einzigartigen Individualität“. (H. S. Sullivan, 1953, S. 140.) Ebenso deutlich ist seine Formulierung der Grundbedürfnisse des Menschen vom entfremdeten Denken beeinflusst. Nach ihm gibt es folgende Bedürfnisse: „das Bedürfnis nach persönlicher Sicherheit - das heißt nach der Freiheit von Angst; das Bedürfnis nach Intimität - das heißt nach enger Zusammenarbeit mit mindestens einer anderen Person; und das Bedürfnis nach lustvoller Befriedigung, was sich auf die genitale Betätigung zur Erreichung des Orgasmus bezieht“ (H. S. Sullivan, 1953, S. 264). Die drei Kriterien der seelischen Gesundheit, die Sullivan hier postuliert, werden weitgehend akzeptiert. Auf den ersten Blick wird ja auch niemand etwas dagegen einzuwenden haben, dass Liebe, Sicherheit und sexuelle Befriedigung völlig normale Ziele eines psychisch gesunden Menschen sind. Eine kritische Überprüfung dieser Begriffe zeigt jedoch, dass sie in einer entfremdeten Welt etwas anderes bedeuten, als was sie vielleicht in anderen Kulturen bedeutet hätten. [IV-138]

Der populärste Begriff im Arsenal der psychiatrischen Formeln ist der der Sicherheit. In den letzten Jahren stellt man den Begriff der Sicherheit als das oberste Ziel des Lebens und als den Inbegriff der seelischen Gesundheit mehr und mehr in den Vordergrund. Ein Grund für diese Einstellung liegt vielleicht darin, dass die Kriegsgefahr, die seit vielen Jahren über der Welt hängt, die Sehnsucht nach Sicherheit verstärkt. Ein anderer, wichtigerer Grund ist darin zu suchen, dass die Menschen sich durch die wachsende Automatisierung und die übertriebene Konformität immer mehr verunsichert fühlen.

Das Problem wird noch komplizierter durch die Verwechslung der psychischen mit der wirtschaftlichen Sicherheit. Es ist eine der fundamentalen Veränderungen der letzten fünfzig Jahre, dass sich in allen westlichen Ländern das Prinzip durchgesetzt hat, dass jeder Bürger ein gewisses Minimum an materieller Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter haben soll. Während man dies jedoch prinzipiell akzeptiert, sind doch noch viele Unternehmer heftig dagegen und bekämpfen erbittert seine immer weitergehende Anwendung; sie sprechen verächtlich vom „Wohlfahrtsstaat“, der die private Initiative und den Unternehmungsgeist abtöte, und während sie die sozialen Sicherheitsmaßnahmen attackieren, behaupten sie, für die Freiheit und Initiative des Arbeiters einzutreten. Dass ihre Argumente nichts weiter sind als bloße Rationalisierungen, zeigt sich daran, dass die gleichen Leute keine Bedenken haben, die wirtschaftliche Sicherheit als eines der Hauptlebensziele zu preisen. Man braucht nur die Anzeigen der Versicherungsgesellschaften zu lesen mit ihren Versprechungen, ihre Kunden von allen Unsicherheiten zu befreien, die durch Unfall, Tod, Krankheit, Alter usw. eintreten könnten, und man wird merken, welch wichtige Rolle das Ideal wirtschaftlicher Sicherheit für die Begüterten spielt. Welchen Sinn könnte etwa das Sparen haben, wenn es nicht der wirtschaftlichen Sicherheit diente? Dieser Widerspruch zwischen der Verurteilung des Strebens nach Sicherheit unter der Arbeiterschaft und dem Lob des gleichen Zieles bei den höheren Einkommensklassen ist wieder einmal ein Beispiel für die unbegrenzte Fähigkeit des Menschen, widersprüchliche Meinungen zu haben, ohne auch nur einen schwachen Versuch zu unternehmen, sich über diesen Widerspruch klar zu werden.

Aber die Propaganda gegen den „Wohlfahrtsstaat“ und das Prinzip der wirtschaftlichen Sicherheit ist deshalb noch wirksamer, weil man auf breiter Ebene wirtschaftliche Sicherheit mit emotionaler Sicherheit verwechselt.

Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass sie keine Zweifel und keine Probleme haben sollten, dass sie keinerlei Risiko eingehen sollten, und dass sie sich immer „sicher“ fühlen sollten. Die Psychiatrie und die Psychoanalyse haben diesem Ziel erheblich Vorschub geleistet. Viele Autoren postulieren Sicherheit als Hauptziel der seelischen Entwicklung und halten ein Gefühl der Sicherheit für mehr oder weniger gleichbedeutend mit seelischer Gesundheit. (Sullivan ist der gründlichste und tiefgründigste unter ihnen.) So machen sich Eltern - und besonders solche, die sich in der diesbezüglichen Literatur auf dem Laufenden halten - Sorgen, ihr kleiner Sohn oder ihr Töchterchen könnte sich schon in früher Kindheit ein Gefühl der „Unsicherheit“ zuziehen. Sie versuchen daher, ihren Kindern Konflikte zu ersparen, ihnen alles leicht zu machen, ihnen alle Hindernisse möglichst aus dem Weg zu räumen, nur [IV-139] um ihnen ein Gefühl der „Sicherheit“ zu geben. Genauso wie sie das Kind gegen alle möglichen Krankheiten impfen lassen und zu verhindern suchen, dass es mit Bazillen in Berührung kommt, meinen sie, sie könnten die Unsicherheit dadurch aus der Welt schaffen, dass sie jede Berührung damit verhindern. Das Ergebnis ist oft genauso bedauerlich, wie das gelegentlich bei einer übertriebenen Hygiene der Fall ist; wenn es tatsächlich zu einer Ansteckung kommt, ist der Betreffende noch anfälliger und hilfloser.

Wie kann ein empfindender und lebendiger Mensch sich auch je sicher fühlen? Die Bedingungen unserer Existenz bringen es mit sich, dass wir uns in keiner Hinsicht wirklich sicher fühlen können. Unsere Gedanken und Einsichten sind bestenfalls mit vielen Irrtümern untermischte Teilwahrheiten, von den unnötigen falschen Informationen über Leben und Gesellschaft, denen wir vom Tag unserer Geburt an ausgesetzt sind, ganz zu schweigen. Unser Leben und unsere Gesundheit sind von Unglücksfällen bedroht, die wir nicht unter Kontrolle haben. Wenn wir einen Beschluss fassen, sind wir nie sicher, was dabei herauskommen wird. Jegliche Entscheidung schließt das Risiko ein, dass sie falsch war, und wenn dies nicht mit gegeben ist, war es keine Entscheidung im eigentlichen Sinn des Wortes. Wir können nie sicher sein, was dabei herauskommt, und wenn wir uns noch so sehr Mühe geben. Das Ergebnis hängt stets von Faktoren ab, die wir nicht in der Hand haben. Genau wie ein empfindender und lebendiger Mensch es nicht vermeiden kann, gelegentlich traurig zu sein, so kann er es auch nicht vermeiden, sich unsicher zu fühlen. Die psychische Aufgabe, der man sich stellen kann und muss, ist nicht, sich sicher zu fühlen, sondern zu lernen, die Unsicherheit ohne Panik und unangebrachte Angst zu ertragen.

Das seelische und geistige Leben ist immer unsicher und ungewiss. Gewissheit gibt es nur darüber, dass wir geboren wurden und sterben werden. Vollkommene Sicherheit finden wir nur, wenn wir uns vollkommen Mächten unterwerfen, die als stark und beständig gelten und die den Menschen der Notwendigkeit entheben, selbst Entscheidungen zu treffen, Risiken zu übernehmen und Verantwortung auf sich zu nehmen. Der freie Mensch ist notwendigerweise unsicher; der denkende Mensch ist sich notwendigerweise seiner Sache nicht gewiss.

Wie aber kann der Mensch die mit seiner Existenz gegebene Unsicherheit ertragen? Eine Möglichkeit ist, dass er so stark in der Gruppe verwurzelt ist - sei es in der Familie, der Sippe, der Nation oder der Klasse -, dass die Zugehörigkeit zur Gruppe das Identitätsgefühl garantiert. Solange der Individuierungsprozess noch nicht ein Stadium erreicht hat, wo der einzelne sich von diesen primären Bindungen löst, ist er noch „wir“, und solange die Gruppe funktioniert, ist er durch seine Zugehörigkeit zu ihr sich seiner eigenen Identität bewusst. Die Entwicklung der modernen Gesellschaft hat zur Auflösung dieser primären Bindungen geführt. Der heutige Mensch ist im wesentlichen allein, er ist auf sich allein gestellt, und man erwartet von ihm, dass er auf eigenen Füßen steht. Er kann nur dadurch zu einem Identitätsgefühl gelangen, dass er das Einzigartige und Besondere, das „er“ ist, bis zu einem Punkt entwickelt, wo er wirklich fühlt: „Ich bin ich.“ Diese Leistung kann er nur vollbringen, wenn er seine eigenen Kräfte so entwickelt, dass er zur Welt in Beziehung zu treten vermag, ohne in ihr unterzugehen, also nur, wenn er es zu einer produktiven Orientierung [IV-140] bringt. Der entfremdete Mensch dagegen versucht, das Problem auf eine andere Weise zu lösen, indem er sich den anderen anpasst. Er fühlt sich sicher, wenn er seinen Mitmenschen möglichst ähnlich ist. Sein wichtigstes Ziel ist, von anderen bejaht zu werden, seine größte Angst, nicht bejaht zu werden. Anders zu sein, das Gefühl zu haben, einer Minderheit anzugehören, das sind Gefahren, die sein Sicherheitsgefühl bedrohen. Daher strebt er nach uneingeschränkter Konformität. Es liegt auf der Hand, dass gerade dieses Streben nach Konformität umgekehrt ein ständig, wenngleich im Verborgenen wirkendes Gefühl der Unsicherheit erzeugt. Jedes Abweichen vom gegebenen Schema, jede Kritik erregt Angst und Unsicherheit; man ist ständig von der Zustimmung anderer abhängig, genau wie ein Drogensüchtiger von seiner Droge abhängig ist, und genauso wird auch das Selbst-Gefühl und das Selbstvertrauen immer schwächer. An die Stelle des Schuldgefühls wegen begangener Sünden, das vor einigen Generationen noch das Leben der Menschen durchdrang, ist inzwischen ein Gefühl des Unbehagens und der Unzulänglichkeit getreten, weil man anders sein könnte als die anderen.

Ein weiteres Ziel der seelischen Gesundheit, die Liebe, hat - ebenso wie die Sicherheit - in der Situation der Entfremdung eine neue Bedeutung angenommen. Für Freud war die Liebe dem Geist seiner Zeit entsprechend wesentlich ein sexuelles Phänomen. „Wir sagten, die Erfahrung, dass die geschlechtliche (genitale) Liebe dem Menschen die stärksten Befriedigungserlebnisse gewähre, ihm eigentlich das Vorbild für alles Glück gebe, müsste es nahegelegt haben, die Glücksbefriedigung im Leben auch weiterhin auf dem Gebiet der geschlechtlichen Beziehungen zu suchen, die genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen. Wir setzten fort, dass man sich auf diesem Wege in bedenklicher Weise von einem Stück der Außenwelt, nämlich vom gewählten Liebesobjekt, abhängig mache und den stärksten Leiden aussetze, wenn man von diesem verschmäht werde oder es durch Untreue oder Tod verliere.“ (S. Freud, 1930a, S. 461.) Um sich vor der Gefahr zu schützen, dass man durch die Liebe leidet, können die Menschen - „aber nur eine geringe Minderzahl“ - die Liebesfunktion dahingehend abändern, dass sie „den Hauptwert vom Geliebtwerden auf das eigene Lieben verschieben“ und „ihre Liebe nicht auf einzelne Objekte, sondern in gleichem Maße auf alle Menschen richten“; so „vermeiden sie die Schwankungen und Enttäuschungen der genitalen Liebe dadurch, dass sie von deren Sexualziel ablenken, den Trieb in eine zielgehemmte Regung verwandeln (...)“ Aber „die zielgehemmte Liebe war eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewussten des Menschen noch immer“ (S. Freud, 1930a, S. 462 f.). Das Gefühl des Einsseins und der Vereinigung mit der Welt (das „ozeanische Gefühl“), welches das Wesen der religiösen Erfahrung und speziell der mystischen Erfahrung ausmacht, wie auch das Erlebnis des Einsseins und der Vereinigung mit der geliebten Person interpretiert Freud als eine Regression zu einem Zustand des frühkindlichen „uneingeschränkten Narzissmus“ (S. Freud, 1930a, S. 430).

Übereinstimmend mit seinen Grundauffassungen ist seelische Gesundheit für Freud gleichbedeutend mit der vollen Liebesfähigkeit, die gegeben ist, sobald die Libidoentwicklung die genitale Stufe erreicht hat.

In Sullivans psychoanalytischem System treffen wir im Gegensatz zu dem von Freud [IV-141] auf eine scharfe Trennung von Sexualität und Liebe.[30] Was versteht Sullivan unter Liebe und Intimität? „Intimität ist jene Situation zwischen zwei Menschen, welche es ermöglicht, alle Komponenten des persönlichen Wertes voll zur Geltung zu bringen. Dies erfordert eine Art der Beziehung, die ich als Kollaboration bezeichnen möchte, worunter ich die klar umrissene Anpassung des Verhaltens des einen Partners an die zum Ausdruck gebrachten Bedürfnisse des anderen Partners verstehe, mit dem Ziel einer immer mehr identischen, das heißt nahezu gegenseitigen Befriedigung, wobei immer ähnlichere Mittel angewandt werden, um dem anderen ein Gefühl der Sicherheit zu geben.“ (H. S. Sullivan, 1953, S. 246.) Mit etwas einfacheren Worten hat Sullivan das Wesen der Liebe als eine Situation der Kollaboration bezeichnet, in der zwei Menschen das Gefühl haben: „Wir halten uns an die Spielregeln, um unser Prestige zu wahren und uns das Gefühl zu erhalten, anderen überlegen zu sein und gewisse Verdienste zu haben.“ Eine andere Definition der Liebe, in der Sullivan sagt, die Liebe beginne damit, dass ein Mensch das Gefühl habe, dass die Bedürfnisse des anderen ebenso wichtig seien wie seine eigenen, ist weniger von der Marketing-Orientierung geprägt als die oben erwähnte Formulierung.[31]

Genau wie Freuds Vorstellung von der Liebe dem patriarchalischen Mann im Sinne des Materialismus des Neunzehnten Jahrhunderts entspricht, bezieht sich Sullivans Definition auf die Erfahrung der entfremdeten Marketing-Persönlichkeit des Zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelt sich um die Beschreibung eines „egoisme à deux“ von zwei Menschen, die ihre beiderseitigen Interessen in einen Topf werfen und gegen eine feindliche und entfremdete Welt zusammenstehen. Tatsächlich gilt seine Definition der Intimität im Prinzip für das Gefühl eines jeden zusammenarbeitenden Teams, „in dem jeder sein Verhalten den zum Ausdruck gebrachten Bedürfnissen des anderen in der Verfolgung gemeinsamer Ziele anpasst“ (H. S. Sullivan, 1953, S. 246). (Bemerkenswert ist, dass Sullivan hier von zum Ausdruck gebrachten Bedürfnissen spricht, wo doch das Mindeste ist, was man über die Liebe sagen könnte, dass zu ihr auch die Reaktion auf nicht zum Ausdruck gebrachte Bedürfnisse des anderen gehört.)

In populärerer Form begegnet man der am Markt orientierten Art der Liebe in Diskussionen über die eheliche Liebe und das Bedürfnis der Kinder nach Liebe und Zärtlichkeit. In vielen Artikeln, bei der Eheberatung und in Vorträgen wird die eheliche Liebe als ein Zustand gegenseitiger Fairness und gegenseitiger Manipulation beschrieben, die man als „Verständnis füreinander“ bezeichnet. Die Frau soll auf die Bedürfnisse und Empfindlichkeiten des Mannes Rücksicht nehmen und umgekehrt. Wenn er müde und verstimmt heimkommt, sollte sie ihm keine Fragen stellen - oder sollte sie ihm gerade Fragen stellen, je nachdem, womit sie ihn nach Ansicht des jeweiligen Verfassers am besten wieder „in Schwung bringt“. Und er sollte ihr ein paar anerkennende Worte über ihre Kochkünste oder ihr neues Kleid sagen - und das alles im Namen der Liebe. Man kann jetzt jeden Tag lesen, dass ein Kind „Liebe braucht“, um sich sicher zu fühlen, oder dass ein anderes Kind „von seinen Eltern nicht genug Liebe erfahren hat“, und dass es deshalb kriminell oder schizophren geworden ist. Es gibt gewissermaßen Rezepte für Liebe und Zärtlichkeit, ähnlich wie es Ratschläge fürs Kinderkriegen gibt oder wie man Empfehlungen erteilt, ein College zu besuchen oder sich den letzten Film „nicht entgehen zu lassen“. Man füttert die Menschen mit [IV-142] Liebe, wie man sie mit Sicherheit, Wissen und was sonst noch allem füttert - und man hat einen glücklichen Menschen!

Glücklich sein ist eine weitere Vorstellung, und zwar eine der populärsten, womit man heutzutage seelische Gesundheit definiert. So lautet auch die Formel in Brave New World „Jeder ist heutzutage glücklich“.

Was versteht man unter Glück? Die meisten würden vermutlich auf diese Frage heute antworten, glücklich sein sei gleichbedeutend mit „sich amüsieren“ oder „seinen Spaß haben“. Die Antwort auf die Frage, was man unter „sich amüsieren“ verstehe, hängt bis zu einem gewissen Grade von der wirtschaftlichen Lage des Betreffenden und noch mehr von seinem Bildungsgrad und seiner Persönlichkeitsstruktur ab. Wirtschaftliche Unterschiede sind jedoch nicht mehr so wesentlich, wie es zunächst scheinen möchte. Das Amüsement der Oberen Zehntausend ist das Vorbild für alle jene, die es sich noch nicht leisten können, aber bestimmt hoffen, dass auch ihnen dieses Glück einmal beschert sein wird - und die Art, wie sich die unteren Gesellschaftsschichten amüsieren, ist immer mehr eine billigere Imitation der Vergnügungen der Oberschicht, wobei der Unterschied mehr in den Kosten als in der Qualität liegt.

Wie amüsiert man sich? Man geht ins Kino, auf Partys, zu Sportveranstaltungen, hört Radio und sieht fern, man unternimmt sonntags einen Autoausflug, „liebt sich“, schläft sonntagsmorgens lange und geht auf Reisen, wenn man es sich leisten kann. Wenn wir uns etwas gewählter ausdrücken, reden wir nicht davon, dass wir uns amüsieren, sondern sagen vielleicht, dass Glück für uns bestenfalls mit Lust identisch ist. Wenn wir uns an unsere Diskussion des Konsumproblems erinnern, können wir „Glück“ etwas treffender als die Lust am uneingeschränkten Konsum, als die Lust am Drücken auf den Knopf und als die Lust an der Faulheit definieren.

Von diesem Standpunkt aus könnte man Glück als das Gegenteil von Kummer und Traurigkeit definieren, und tatsächlich bezeichnet ja auch der Durchschnittsmensch einen Seelenzustand, der frei von Kummer und Traurigkeit ist, als „Glück“. Diese Definition zeigt jedoch, dass bei einer solchen Auffassung von Glück etwas grundsätzlich falsch ist. Ein lebendiger und empfindender Mensch kann gar nicht umhin, oftmals in seinem Leben traurig und bekümmert zu sein. Hieran sind nicht nur die vielen unnötigen Leiden schuld, die auf die Unvollkommenheit unserer gesellschaftlichen Einrichtungen zurückzuführen sind, sondern es liegt im Wesen der menschlichen Existenz begründet, dass es unmöglich ist, dass wir nicht mit mannigfachem Schmerz und Kummer auf das Leben reagieren. Da wir lebendige Wesen sind, müssen wir uns voll Trauer darüber klar sein, dass zwischen dem, was wir erreichen möchten, und dem, was wir in unserem kurzen, mühsamen Leben erreichen können, eine tiefe Kluft besteht. Da der Tod uns vor die unvermeidliche Tatsache stellt, dass entweder wir vor denen, die wir lieben, sterben werden oder sie vor uns - da wir täglich um uns herum unvermeidliches wie auch vermeidbares und überflüssiges Leiden mit ansehen müssen, wie können wir es da vermeiden, Kummer und Traurigkeit darüber zu empfinden? Das ist uns nur möglich, wenn wir unsere Sensitivität, unsere Offenheit und unsere Liebe reduzieren, wenn wir unser Herz verhärten und unsere Anteilnahme und unser Gefühl den anderen wie auch uns selbst entziehen.

Wenn wir das Glück mit seinem Gegenteil definieren wollen, dürfen wir es nicht der [IV-143] Traurigkeit gegenüberstellen, sondern wir müssen es zur Depression in Gegensatz stellen.

Was ist Depression? Es ist die Unfähigkeit zu fühlen, das Gefühl, tot zu sein, während unser Körper noch lebt. Es ist die Unfähigkeit, froh zu sein, genauso wie man unfähig ist, traurig zu sein. Ein depressiver Mensch wäre höchst erleichtert, wenn er traurig sein könnte. Ein Zustand von Depression ist deshalb so unerträglich, weil man überhaupt nicht imstande ist, etwas zu fühlen, weder Freude noch Traurigkeit. Wenn wir das Glück im Gegensatz zur Depression zu definieren versuchen, kommen wir Spinozas Definition von Freude und Glück nahe, der diese als einen Zustand intensivster Vitalität bezeichnet, der unser Bemühen, unsere Mitmenschen zu verstehen und eins mit ihnen zu werden, in sich vereint. Glück resultiert aus dem Erlebnis, ein produktives Leben zu führen, und aus dem Gebrauch der Kräfte von Liebe und Vernunft, die uns mit der Welt vereinen. Glück besteht darin, dass wir den Felsgrund der Realität berühren, dass wir unser Selbst entdecken und uns mit anderen eins und gleichzeitig von ihnen unterschieden fühlen. Glück ist ein Zustand intensiver innerer Aktivität, das Erlebnis wachsender Lebenskraft, die durch die produktive Bezogenheit auf die Welt und auf uns selbst entsteht.

Hieraus folgt, dass das Glück nicht in einem Zustand innerer Passivität und in der Einstellung des Konsumenten zu finden ist, die das Leben des entfremdeten Menschen durchdringt. Glücklichsein heißt Fülle erleben und nicht Leere, die gefüllt werden muss. Der Durchschnittsmensch von heute mag recht vergnügt sein und sich zu amüsieren wissen, aber im Grunde ist er trotzdem deprimiert. Vielleicht wird das noch etwas klarer, wenn wir statt „deprimiert“ „gelangweilt“ sagen. Tatsächlich besteht kaum ein Unterschied zwischen beiden Begriffen - höchstens ein Gradunterschied - denn Langeweile ist nichts anderes als die Erfahrung einer Lähmung unserer produktiven Kräfte und das Gefühl der Unlebendigkeit. Unter den Übeln des Lebens gibt es nur wenige, die so schmerzhaft sind wie die Langeweile, weshalb man alles versucht, ihr aus dem Weg zu gehen.

Man kann der Langeweile auf zweierlei Weise entrinnen: entweder grundsätzlich, indem man produktiv ist und hierdurch sich glücklich fühlt, oder indem man ihre Manifestationen zu vermeiden versucht. Letzterer Versuch scheint kennzeichnend für die Jagd nach Amüsement und Vergnügungen aller Art beim heutigen Durchschnittsmenschen. Dieser fühlt sich deprimiert und gelangweilt, was besonders offenbar wird, wenn er mit sich oder mit denen, die ihm am nächsten stehen, allein ist. Alle unsere Vergnügungen dienen dem Zweck, es ihm zu erleichtern, vor sich und der drohenden Langeweile auf einem der vielen Fluchtwege, die unsere Kultur ihm anzubieten hat, davonzulaufen; aber ein Symptom verdecken heißt nicht, die Bedingungen beseitigen, die es verursachen. Neben der Angst vor körperlichen Krankheiten oder der Furcht vor den Demütigungen durch Status- oder Prestigeverluste spielt die Angst vor der Langeweile unter den Ängsten des heutigen Menschen eine hervorragende Rolle. In einer Welt voller Vergnügungen und Amüsements hat er Angst vor der Langeweile und ist froh, wenn wieder einmal ein Tag ohne Panne vorbei ist, eine Stunde totgeschlagen ist, ohne dass ihm die auf der Lauer liegende Langeweile bewusst geworden ist. [IV-144]

Vom Standpunkt des normativen Humanismus aus müssen wir zu einer anderen Vorstellung von geistig-seelischer Gesundheit gelangen: Derselbe Mensch, der in den Kategorien einer entfremdeten Welt als gesund gilt, erscheint vom humanistischen Standpunkt aus als der am schwersten Erkrankte - wenn er auch nicht an einer individuellen Krankheit, sondern an einem gesellschaftlich vorgeprägten Defekt leidet. Seelische Gesundheit im humanistischen Sinne ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit zu lieben und schöpferisch tätig zu sein, durch die Loslösung von den inzestuösen Bindungen an die Familie und die Natur, durch ein Gefühl der Identität, das sich auf das Erlebnis des Selbst als Subjekt und Urheber der eigenen Kräfte gründet, und durch die Erfassung der Realität im eigenen Ich und außerhalb seiner selbst, das heißt durch die Entwicklung von Objektivität und Vernunft. Das Ziel des Lebens besteht darin, intensiv zu leben, voll geboren zu werden und voll wach zu sein; von den Ideen eines infantilen Allmachtsgefühls loszukommen und zur Erkenntnis seiner wirklichen, wenngleich begrenzten Kraft zu gelangen; fähig zu werden, das Paradoxon zu akzeptieren, dass ein jeder von uns zugleich das Allerwichtigste auf der Welt und doch nicht wichtiger als eine Fliege oder ein Grashalm ist; fähig zu sein, das Leben zu lieben und trotzdem den Tod furchtlos zu akzeptieren; die Ungewissheit über die wichtigsten Fragen, mit denen das Leben uns konfrontiert, hinzunehmen und trotzdem an unser Denken und Fühlen, soweit es wirklich ein Stück von uns selbst ist, zu glauben; allein sein zu können, und gleichzeitig mit den geliebten Menschen, mit jedem unserer Brüder auf Erden, mit allem Lebendigen eins sein zu können; der Stimme des Gewissens zu folgen, jener Stimme, die uns zu uns selber ruft, und trotzdem nicht uns selbst zu hassen, wenn einmal die Stimme des Gewissens nicht laut genug zu hören war und wir ihr nicht gefolgt sind. Der seelisch gesunde Mensch ist ein Mensch, der aus seiner Liebe, seiner Vernunft und seinem Glauben heraus lebt, der sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen achtet.

Der entfremdete Mensch, so wie wir ihn in diesem Kapitel zu beschreiben versuchten, kann nicht gesund sein. Da er sich selbst als ein Ding, eine Investition erlebt, die von sich selbst und von anderen zu manipulieren ist, fehlt ihm das Selbst-Gefühl. Dieser Mangel an Selbst erzeugt eine tiefe Angst. Die Angst, die dadurch entsteht, dass er vor dem Abgrund des Nichts steht, ist schlimmer als alle Qualen der Hölle. In der Höllenvision werde ich gestraft und gepeinigt - in der Vision des Nichts werde ich an die Grenze des Wahnsinns getrieben - weil ich nicht mehr „Ich“ sagen kann. Wenn man unsere heutige Zeit mit Recht als das Zeitalter der Angst bezeichnet hat, dann hauptsächlich wegen dieser Angst, die durch das Fehlen des Selbst entsteht. In dem Maße, wie „ich so bin, wie du mich haben willst“ - bin ich nicht; ich bin dann ängstlich, abhängig von der Billigung anderer und immer darauf bedacht, es ihnen recht zu machen. Der entfremdete Mensch bekommt Minderwertigkeitsgefühle, sobald er den Verdacht hat, von der allgemeinen Linie abzuweichen. Da sein Wertgefühl sich auf die allgemeine Billigung als Belohnung für seine Konformität gründet, fühlt er sich natürlich in seinem Selbst-Gefühl und seiner Selbstachtung bedroht, sobald er etwas fühlt, denkt oder tut, was in den Verdacht geraten könnte, von der Norm abzuweichen. Aber insofern er ein Mensch und kein Automat ist, kann er Abweichungen gar nicht vermeiden, und deshalb muss er in einer ständigen Angst vor [IV-145] Missbilligung leben. Die Folge ist, dass er sich nur noch umso mehr um Konformität bemühen muss, um nur anerkannt zu werden und Erfolg zu haben. Nicht die Stimme seines Gewissens verleiht ihm Kraft und Sicherheit, sondern das Gefühl, den engen Kontakt mit der Herde nicht verloren zu haben.

Eine weitere Folge der Entfremdung ist die Überbetonung des Schuldgefühls. Es ist in der Tat erstaunlich, dass in einer von Grund auf irreligiösen Kultur wie der unseren Schuldgefühle so weit verbreitet und tief eingewurzelt sind. Der Hauptunterschied zu den Schuldgefühlen beispielsweise einer calvinistischen Gemeinde ist, dass die unseren uns weder recht bewusst sind, noch sich auf Sünden im religiösen Sinne beziehen. Aber wenn wir etwas unter die Oberfläche gehen, finden wir, dass die Menschen aus Hunderten von Gründen ein schlechtes Gewissen haben: weil sie nicht schwer genug gearbeitet haben, weil sie zu nachsichtig - oder nicht nachsichtig genug - mit ihren Kindern waren, weil sie nicht genug für ihre Mutter getan haben oder einem Schuldner gegenüber zu nachgiebig waren. Man hat ein schlechtes Gewissen, weil man etwas Gutes oder auch weil man etwas Schlechtes getan hat. Fast sieht es so aus, als ob man geradezu auf der Suche nach etwas wäre, weswegen man ein schlechtes Gewissen haben könnte.

Was könnte die Ursache für so viele Schuldgefühle sein? Mir scheint, dass sie aus zwei Hauptquellen stammen, die zwar an sich völlig unterschiedlicher Art sind, aber zum gleichen Ergebnis führen. Die eine Quelle ist dieselbe, aus der auch die Minderwertigkeitsgefühle entspringen: Anders zu sein als die übrigen, nicht völlig angepasst zu sein, bewirkt, dass man gegenüber den Geboten des großen Man ein schlechtes Gewissen hat. Die andere Quelle des Schuldgefühls ist des Menschen eigenes Gewissen. Er fühlt seine Gaben oder Talente, seine Fähigkeit zu lieben, zu denken, zu lachen, zu weinen, zu staunen und etwas zu schaffen, er fühlt, dass sein Leben die einzige Chance ist, die ihm gegeben wurde, und dass er alles verloren hat, wenn er sie sich entgehen lässt. Er lebt in einer Welt mit mehr Komfort und Behaglichkeit, als sie seine Vorväter je kannten, und doch fühlt er, dass ihm das Leben wie Sand durch die Finger rinnt, während er hinter immer mehr Komfort herjagt. Er kann nicht umhin, sich schuldig zu fühlen, weil er sein Leben verschwendet und seine Chance verspielt. Dieses Schuldgefühl ist lange nicht so bewusst wie das ersterwähnte, aber eines verstärkt das andere - wobei das eine oft als Rationalisierung des anderen dient. So fühlt der entfremdete Mensch sich schuldig, weil er er selbst ist und weil er nicht er selbst ist, weil er lebendig ist und weil er ein Automat ist, weil er eine Person ist und weil er ein Ding ist.

Der entfremdete Mensch ist unglücklich. Der Konsum von Vergnügungen dient ihm dazu zu verhindern, dass ihm sein Unglück bewusst wird. Er versucht, Zeit zu gewinnen, und bemüht sich trotzdem, die gewonnene Zeit wieder totzuschlagen. Er ist froh, wenn er wieder einmal einen Tag ohne eine Panne oder Demütigung hinter sich gebracht hat, anstatt dass er den neuen Tag mit der Begeisterung begrüßt, die nur das Erlebnis „ich bin ich“ verleihen kann. Es fehlt ihm der immer neue Zustrom von Energie, der aus einer produktiven Beziehung zur Welt stammt.

Da er keinen Glauben besitzt, da er für die Stimme des Gewissens taub ist, zwar über eine manipulative Intelligenz, aber über wenig Vernunft verfügt, ist er verwirrt, [IV-146] unruhig und bereit, jeden zum Führer zu ernennen, der eine - totale Lösung verspricht.

Kann man das Bild der Entfremdung mit den Erscheinungsbildern einer der traditionellen Geisteskrankheiten in Verbindung bringen? Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir uns vor Augen halten, dass der Mensch auf zweierlei Art zur Welt in Beziehung treten kann. Die eine ist die, dass er die Welt so sieht, wie er sie sehen muss, um sie zu manipulieren und seinen Zwecken nutzbar zu machen. Es ist dies im wesentlichen die Sinneserfahrung und die Welterfahrung des gesunden Menschenverstandes. Unser Auge sieht das, was wir sehen müssen, unser Ohr hört, was wir hören müssen, um leben zu können; unser gesunder Menschenverstand nimmt die Dinge so wahr, dass wir in der Lage sind zu handeln. Sowohl unsere Sinne wie auch unser gesunder Menschenverstand stehen im Dienste des Überlebens. In Bezug auf unsere Sinne und den gesunden Menschenverstand sowie die sich darauf gründende Logik sind die Dinge für alle Menschen die gleichen, weil ihr Gebrauch nach den gleichen Gesetzen erfolgt.

Die andere Fähigkeit des Menschen ist die, die Dinge sozusagen von innen her zu sehen; subjektiv und durch meine innere Erfahrung, durch mein Fühlen und meine Stimmung geformt. (Vgl. meine Ausführungen in Märchen, Mythen, Träume, 1951a, GA IX, S. 169-309.) In gewissem Sinne malen zehn Maler ein und denselben Baum auf die gleiche Weise, und doch malen sie in einem anderen Sinne zehn verschiedene Bäume. Jeder Baum ist ein Ausdruck ihrer Individualität, wenngleich es sich um denselben Baum handelt. Wenn wir träumen, sehen wir die Welt ganz von innen her; sie verliert dann ihre objektive Bedeutung und verwandelt sich in ein Symbol unserer rein individuellen Erfahrung. Wer im Wachen träumt, das heißt, wer nur mit seiner Innenwelt in Kontakt steht, ist nicht fähig, die Außenwelt in ihrem objektiven Kontext zu sehen - er ist geisteskrank. Wer nur die Außenwelt fotografisch erlebt und mit seiner eigenen Innenwelt keinen Kontakt hat, ist ein entfremdeter Mensch. Schizophrenie und Entfremdung sind komplementär. In beiden Krankheitsformen fehlt ein Pol menschlichen Erlebens. Nur wenn beide Pole vorhanden sind, können wir von einem produktiven Menschen sprechen, dessen Produktivität eben aus der Polarität zwischen einer inneren und einer äußeren Form der Wahrnehmung resultiert.

Unsere Beschreibung des entfremdeten Charakters des heutigen Menschen ist etwas einseitig; es gibt auch eine ganze Reihe positiver Faktoren, die wir nicht erwähnt haben. Einmal gibt es immer noch eine lebendige humanistische Tradition, die der unmenschliche Prozess der Entfremdung noch nicht zerstört hat. Aber darüber hinaus gibt es auch Anzeichen dafür, dass die Menschen mit ihrer Lebensweise in zunehmendem Maße unzufrieden und von ihr enttäuscht sind, und dass sie versuchen, etwas von ihrem verlorenen Selbst-Gefühl und ihrer Produktivität zurückzugewinnen. Millionen von Menschen hören im Konzert oder im Rundfunk gute Musik, und immer mehr Menschen malen, verrichten Gartenarbeit, bauen sich selbst ein Boot oder ein Haus und haben alle möglichen Do-it-yourself-Hobbys. Die Erwachsenenbildung gewinnt immer mehr Anhänger, und selbst im Geschäftsleben wächst die Erkenntnis, dass ein leitender Angestellter Vernunft und nicht nur Intelligenz besitzen sollte. (Ein interessantes Beispiel für diesen neuen Trend ist der Literatur- und Philosophiekurs [IV-147] für jüngere leitende Angestellte der Bell Telephone Co. unter Leitung von Professor Morse Peckham und Professor Rex Crawford an der University of Pennsylvania.)

Aber so vielversprechend und unbestreitbar auch alle diese Trends sind, sie genügen nicht, um die Einstellung zu rechtfertigen, die bei sich besonders klug vorkommenden Schreibern zu beobachten ist, welche behaupten, eine Gesellschaftskritik wie die hier geäußerte sei veraltet und überholt; wir hätten den Höhepunkt der Entfremdung bereits überschritten und befänden uns auf dem Wege in eine bessere Welt. So schön ein solcher Optimismus klingen mag, so ist er doch nur eine besonders spitzfindige Verteidigung des status quo, eine Übersetzung des Lobs des American way of life auf die Vorstellung einer kulturellen Anthropologie, die, von Marx und Freud zehrend, über beide „hinausgeht“ und der Menschheit versichert, es gäbe keinen Grund zur Beunruhigung.

6. Andere Auffassungen vom Menschen und der Gesellschaft im Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhundert

Die Diagnose der Krankheit der heutigen westlichen Kultur, wie wir sie im vorigen Kapitel zu stellen versuchten, ist keineswegs neu; sie möchte lediglich zu einem besseren Verständnis des Problems beitragen, indem sie versucht, den Begriff der Entfremdung auf eine mehr empirische Weise auf verschiedene beobachtbare Erscheinungen anzuwenden und die Verbindung zwischen den Krankheitserscheinungen der Entfremdung und der humanistischen Auffassung der menschlichen Natur und der seelischen Gesundheit herzustellen. Tatsächlich ist es höchst bemerkenswert, dass bereits einige Denker im vorigen Jahrhundert eine kritische Einstellung zur Gesellschaft des Zwanzigsten Jahrhunderts hatten, schon lange bevor die heute so offenkundigen Symptome in Erscheinung traten. Bemerkenswert ist auch, dass ihre kritischen Diagnosen und Prognosen soviel miteinander und auch mit den kritischen Äußerungen unserer Zeit gemeinsam haben.

Die Prognose, dass das zwanzigste Jahrhundert in Verfall geraten und der Barbarei anheimfallen werde, wurde von Menschen der verschiedensten philosophischen und politischen Richtungen gestellt. Der Schweizer Konservative Jakob Burckhardt, der russische religiöse Radikale Leo Tolstoi, der französische Anarchist Pierre Joseph Proudhon wie auch sein konservativer Landsmann Charles Baudelaire, der amerikanische Anarchist Henry Thoreau und später sein stärker politisch orientierter Landsmann Jack London sowie der deutsche Revolutionär Karl Marx - sie alle waren sich in ihrer schärfsten Kritik an der modernen Kultur einig, und die meisten von ihnen rechneten mit der Möglichkeit, dass ein Zeitalter der Barbarei bevorstehe. Die Voraussagen von Marx waren etwas weniger pessimistisch, weil er annahm, dass der Sozialismus eine mögliche, ja sogar wahrscheinliche Alternative darstelle.

Jakob Burckhardt schrieb aus seiner konservativen Sicht und mit dem Eigensinn des Schweizers, der es ablehnt, sich von schönen Worten und äußerem Glanz beeindrucken zu lassen, in einem Brief, Europa werde vielleicht noch ein paar friedliche Jahrzehnte erleben, bevor es sich im Verlauf einiger furchtbarer Kriege und Revolutionen in eine neue Art von Imperium Romanum, in einen militärischen und wirtschaftlichen Despotismus verwandeln werde: „Das zwanzigste Jahrhundert ist für alles andere als für eine wahre Demokratie auserlesen.“ (Vgl. J. Burckhardt, 1935, S. CXLI.) [IV-149] Und vorher (26.4.1872) schrieb er an seinen Freund Friedrich von Preen:

Ich habe eine Ahnung, die vorderhand noch völlig wie Torheit lautet und die mich doch durchaus nicht loslassen will: der Militärstaat muss Großfabrikant werden. Jene Menschenanhäufungen in den großen Werkstätten dürfen nicht in Ewigkeit ihrer Not und ihrer Gier überlassen bleiben; ein bestimmtes und überwachtes Maß von Misere mit Avancement und in Uniform, täglich unter Trommelwirbel begonnen und beschlossen, das ist’s, was logisch kommen müsste. (J. Burckhardt, 1935, S. 364.)

Eine lange freiwillige Unterwerfung unter einzelne Führer und Usurpatoren stehe in Aussicht. Die Leute glaubten nicht länger an Prinzipien, aber sie würden periodisch an Retter glauben. Aus diesem Grunde würde in dem herrlichen Zwanzigsten Jahrhundert die Autorität wieder das Haupt erheben, und es würde ein schreckliches Haupt sein.

In seiner Voraussage von Systemen wie dem Faschismus und dem Stalinismus für das zwanzigste Jahrhundert unterscheidet sich Burckhardt nur wenig von den Prophezeiungen des Revolutionärs Pierre Joseph Proudhon. Dieser schreibt, in Zukunft drohe

(...) eine kompakte Demokratie, die dem Anschein nach auf die Diktatur der Massen gegründet ist, aber in der die Massen nicht mehr Macht besitzen als notwendig ist, um eine allgemeine Sklaverei sicherzustellen, die sich an die vom alten Absolutismus entliehenen Rezepte und Prinzipien hält: die Unteilbarkeit der öffentlichen Macht, die alles umfassende Zentralisierung, die systematische Vernichtung aller individuellen, korporativen und regionalen Ideen (die für zersetzend gehalten werden), sowie eine inquisitorische Polizei. (...) Wir sollten nicht länger die Augen davor schließen: Europa ist des Denkens und der Ordnung müde; es steht am Anfang eines Zeitalters brutaler Gewalt und der Verachtung von Grundsätzen. (...) Dann wird der gewaltige Krieg der sechs Großmächte beginnen. (...) Es wird zu einem Gemetzel kommen, und die Schwächung durch diese Blutbäder wird furchtbar sein. Wir werden den Aufbau des neuen Zeitalters nicht erleben, wir werden im Dunkeln kämpfen; wir müssen uns darauf vorbereiten, dieses Leben ohne allzu große Traurigkeit zu ertragen, indem wir unsere Pflicht erfüllen. Helfen wir einander, rufen wir einander zu in der Finsternis und üben wir Gerechtigkeit, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet. (...) Heute befindet sich die Zivilisation in einer Krise, zu der man in der Geschichte nur eine einzige Parallele finden kann - nämlich die Krise, welche die Entstehung des Christentums zur Folge hatte. Alle Traditionen haben sich überlebt, alle Glaubensbekenntnisse sind abgeschafft; aber das neue Programm ist noch nicht bereit, womit ich sagen will, dass es den Massen noch nicht ins Bewusstsein gedrungen ist. Daher kommt das, was ich als Auflösung bezeichne. Es ist dies der grausamste Augenblick im Leben einer Gesellschaft. (...) Ich mache mir keine Illusionen und erwarte nicht, eines Morgens aufzuwachen und wie durch einen Zauberschlag die Auferstehung der Freiheit in unserem Land zu erleben. (...) Nein, nein; unser Los ist Niedergang, nichts als Niedergang, während einer Periode, deren Ende ich nicht absehe und die mindestens eine oder zwei Generationen überdauern wird; (...) ich werde nur Zeuge des Unheils sein und inmitten der Finsternis sterben. (Zit. nach E. Dolleans, 1948, S. 96 ff.)

Während Burckhardt und Proudhon den Faschismus und Stalinismus als Folge der [IV-150] Kultur des Neunzehnten Jahrhunderts voraussahen (eine Prophezeiung, die Jack London in seinem Roman Iron Heel 1907 noch deutlicher wiederholte), stellten andere die geistige Armut und die Entfremdung der damaligen Gesellschaft, die ihrer Meinung nach zu einer wachsenden Entmenschlichung und einem ständig zunehmenden Niedergang der Kultur führen mussten, in den Mittelpunkt ihrer Diagnose.

Wie sehr gleichen sich die Äußerungen zweier sonst so verschiedener Autoren wie Baudelaire und Tolstoi. Charles Baudelaire schreibt 1851 in seinen Fusées betitelten Fragmenten:

Die Welt geht ihrem Untergang entgegen. Der einzige Grund für ihren Fortbestand ist ihr tatsächliches Vorhandensein. Wie schwach ist aber dieser Grund im Vergleich zu all dem, was das Gegenteil ankündigt, insbesondere zu der Frage: was hat die Welt in Zukunft noch unter dem Himmel zu schaffen? Denn selbst gesetzt, sie würde in ihrer materiellen Existenz fortdauern, wäre dies noch eine Existenz, die dieses Namens und des historischen Wörterbuches würdig wäre? Ich will nicht behaupten, dass die Welt dem ratlosen possenhaften Durcheinander südamerikanischer Republiken verfallen wird, und dass wir auf die Stufe der Wilden zurücksinken werden, um, das Gewehr in der Hand, in den überwachsenen Trümmern unserer Zivilisation der Nahrung nachzugehen. Nein; denn solche Abenteuer würden immer noch eine gewisse vitale Energie, einen Nachhall der Urzeit, voraussetzen. Wir werden eher einen neuen Beweis für die unerbittlichen Gesetze der Moral liefern und ihr Opfer werden, indem wir gerade an dem zugrunde gehen werden, von dem wir uns Leben versprachen. Die Mechanisierung wird uns derart amerikanisiert haben, der Fortschritt wird die Verkümmerung unserer geistigen Existenz so vollkommen gemacht haben, dass auch der blutrünstigste, ruchloseste und widernatürlichste aller Träume der Utopisten harmlos erscheinen wird im Vergleich zu solchen positiven Ergebnissen. Ich fordere jeden denkenden Menschen auf, mir zu zeigen, was denn vom Leben noch übriggeblieben ist. Was die Religion angeht, so halte ich es für überflüssig, sie auch nur zu erwähnen und nach ihren Überresten zu forschen, denn dass sich einer noch die Mühe macht, Gott zu leugnen, ist das einzige Ärgernis auf diesem Gebiet. Privates Eigentum war im Grunde schon mit der Aufhebung des Majoratsrechtes abgeschafft; aber es wird eine Zeit kommen, wo die Menschheit, wie ein sich rächender Kannibale, denen ihr letztes Stück entreißen wird, die sich für die rechtmäßigen Erben der Revolution halten. Immerhin, das wäre nicht einmal das Schlimmste. (...) Auch werden es nicht einzig und allein die politischen Einrichtungen sein, die den allgemeinen Verfall offenbaren, oder den allgemeinen Fortschritt; denn die Benennung ist gleichgültig. Dieser wird vielmehr deutlich werden durch die Gemeinheit des menschlichen Herzens. Brauche ich noch hinzuzufügen, dass nur noch kümmerliche Reste eines politischen Lebens in der ansteigenden Flut bloß tierischer Begierden übrigbleiben werden, und dass die Regierenden, um sich an der Macht zu halten und auch nur einen Schein von Ordnung zu schaffen, zu Mitteln ihre Zuflucht nehmen werden, von denen die heutige Menschheit, die doch schon abgebrüht genug ist, zurückschaudern würde? (Zit. nach K. Löwith, 1953, S. 93; engl. S. 97 f.).

Ein paar Jahre später schrieb Leo Tolstoi:

Die mittelalterliche Theologie oder die römische Sittenverderbtheit vergifteten nur ihre eigenen Leute, einen kleinen Teil der Menschheit; heute verderben Elektrizität, Eisenbahnen und Telegraph die ganze Menschheit. Alle eignen sich diese Dinge an, können nicht umhin, sie sich anzueignen, und alle leiden in gleicher Weise, sind in gleichem Maße gezwungen, ihre Lebensweise zu ändern. Alle werden in die Notwendigkeit versetzt, an dem für ihr Leben Wichtigsten Verrat zu üben: an dem Begreifen des Lebens selbst, an der Religion. Maschinen - um was zu verfertigen? Telegraphen - um was zu befördern? Schulen, Universitäten, Akademien - um was zu lehren? Versammlungen - um was zu erörtern? Bücher, Zeitungen - um was für Nachrichten zu verbreiten? Eisenbahnen - um zu wem und wohin zu reisen? Zusammengetriebene und einer höchsten Macht unterworfene Millionen von Menschen - um was zu vollbringen? Spitäler, Ärzte, Apotheken, um das Leben zu verlängern - wofür? (...) Wie leicht eignen sich einzelne sowohl wie ganze Völker das an, was sich Zivilisation - echte Zivilisation nennt! Die Universität absolvieren, die Nägel reinhalten, die Dienste des Schneiders und Friseurs brauchen, das Ausland bereisen - und der höchst zivilisierte Mensch ist fertig. Und hinsichtlich der Völker: möglichst viele Eisenbahnen, Akademien, Fabriken, Schlachtschiffe, Festungen, Zeitungen, Bücher, Parteien, Parlamente - und das höchst zivilisierte Volk ist fertig. Deshalb sind genug einzelne sowie Völker für die Zivilisation, aber nicht für die Aufklärung zu gewinnen; die erste ist leicht, bedarf keiner Anstrengung und findet Beifall; die zweite jedoch erfordert Anspannung der Kräfte und findet daher bei der großen Mehrheit nicht nur keinen Beifall, sondern immer nur Verachtung und Hass, denn sie deckt die Lüge der Zivilisation auf. (L. Tolstoi, 1925, S. 103 f.)

Weniger drastisch, aber genauso deutlich wie bei Leo Tolstoi ist Henry Thoreaus Kritik an der modernen Kultur. In seinem Buch Life without Principle (1863) sagt er:

Bedenken wir einmal, wie wir unser Leben hinbringen. Unsere Welt ist ein Ort der Geschäftigkeit. Welch ein unendliches Getriebe! Ich werde fast jede Nacht vom Keuchen der Lokomotive geweckt. Sie unterbricht meine Träume. Es gibt keinen Sabbat. Wie herrlich wäre es, die Menschheit einmal untätig zu sehen. Aber es gibt nichts als Arbeit, Arbeit, Arbeit. Ich kann mir kaum ein leeres Heft kaufen, um meine Gedanken hineinzuschreiben; sie sind fast stets für die Eintragung von Dollars und Cents eingeteilt. Als einmal ein Ire mir zusah, wie ich mir auf dem Feld eine Notiz machte, hielt er es für sicher, dass ich meinen Lohn berechnete. Wenn jemand als Kind aus dem Fenster gefallen und für sein ganzes Leben zum Krüppel geworden ist oder wenn jemand von den Indianern um seinen Verstand gebracht wurde, so bedauert man das hauptsächlich, weil er hierdurch für das Geschäftsleben untauglich wurde. Ich glaube, dass nichts - nicht einmal das Verbrechen - der Poesie, der Philosophie, ja dem Leben selbst feindlicher ist als diese unaufhörliche Geschäftigkeit (...).

Wenn jemand aus Liebe zum Wald regelmäßig einen halben Tag darin spazieren geht, muss er damit rechnen, für einen Müßiggänger gehalten zu werden, aber wenn er seine ganze Zeit als Spekulant verbringt und die Wälder abholzt und die Erde [IV-152] vorzeitig kahl macht, dann sieht man in ihm einen fleißigen, unternehmungsfreudigen Mitbürger. Als ob eine Stadt an ihren Wäldern kein anderes Interesse hätte, als sie zu roden! (...)

Die Wege, auf denen man Geld verdienen kann, führen fast ausnahmslos bergab. Wenn man etwas getan hat, womit man lediglich Geld verdient hat, dann ist man in Wirklichkeit faul gewesen, oder noch schlimmeres. Wenn der Arbeiter nicht mehr bekommt als den Lohn, den sein Arbeitgeber ihm bezahlt, dann ist er betrogen, dann betrügt er sich selbst. Wer als Schriftsteller oder als Vortragsredner Geld verdienen möchte, muss populär sein, und das bedeutet, dass es mit ihm steil bergab geht.

Das Ziel des Arbeiters sollte nicht sein, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und „einen guten Job“ zu bekommen, sondern eine bestimmte Arbeit gut zu verrichten. Und selbst vom materiellen Standpunkt aus wäre es für eine Stadt vorteilhaft, ihre Arbeiter so gut zu bezahlen, dass sie nicht das Gefühl hätten, für simple gemeinsame Ziele, wie zum Beispiel ausschließlich für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, sondern für wissenschaftliche oder sogar moralische Ziele. Stelle nicht den Mann ein, der deine Arbeit für Geld tut, sondern den, der sie aus Liebe zur Arbeit tut. (...) Die Art und Weise, wie die meisten Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen, das heißt wie sie leben, ist ein bloßer Notbehelf und ein Sich-Drücken vor der wahren Lebensaufgabe - und das hauptsächlich, weil sie es nicht anders wollen. (...)

Es heißt, Amerika sei die Arena, in der der Kampf um die Freiheit ausgetragen werde, aber ganz gewiss kann damit nicht die Freiheit im rein politischen Sinne gemeint sein. Selbst wenn wir einräumen, dass der Amerikaner sich von einem politischen Tyrannen befreit hat, ist er noch immer der Sklave eines wirtschaftlichen und moralischen Tyrannen. Jetzt, nachdem die Republik - die res publica - begründet ist, ist es Zeit, sich um die res privata - den privaten Bereich - zu kümmern, so wie der römische Senat seinen Konsuln auftrug, darauf zu sehen, ne quid res privata detrimenti caperet (dass der private Bereich keinen Schaden leide).

Nennen wir unser Land das Land der Freien? Was nützt es, von König Georg befreit und weiterhin Sklaven von König Vorurteil zu sein? Was nützt es, frei geboren zu sein und kein freies Leben zu führen? Welchen Wert hat die politische Freiheit, wenn sie nicht der moralischen Freiheit dient? Rühmen wir uns der Freiheit, Sklaven zu sein, oder der Freiheit, freie Menschen zu sein? Wir sind eine Nation von Politikern, die sich bis jetzt nur um die äußersten Verteidigungsanlagen der Freiheit kümmern können. Vielleicht werden unsere Kindeskinder einmal wirklich frei sein. Unsere Steuern sind nicht gerecht verteilt. Ein Teil von uns ist gar nicht erfasst. Es ist eine Besteuerung ohne rechte Erfassung. Wir quartieren Truppen ein, wir quartieren Narren und Vieh aller Art ein. Wir legen unsere groben Leiber auf unsere armen Seelen, bis jene deren ganze Substanz aufgezehrt haben. (...)

Die Dinge, die heute die Aufmerksamkeit der Menschen am meisten beschäftigen, wie die Politik und die tägliche Routine, sind zwar lebenswichtige Funktionen der menschlichen Gesellschaft, doch sollten sie unbewusst ablaufen wie die entsprechenden Körperfunktionen. Sie sind infra-human, eine Art vegetatives System. Manchmal wache ich gleichsam auf, und es wird mir halbbewusst, wie sie in [IV-153] meinem Inneren ablaufen, etwa so wie jemandem gewisse Verdauungsprozesse bei einer Störung bewusst werden; dann hat er das, was man eine Dyspepsie nennt. Es ist, als ob ein Denker sich von dem großen Vogelmagen der Schöpfung klein raspeln ließe. Die Politik ist sozusagen der Magen der Gesellschaft voller Sandkörner und Kies, und die beiden politischen Parteien sind die beiden Magenhälften - manchmal sind sie auch in Viertel aufgeteilt, die gegeneinander reiben. So haben nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Staaten eine unverkennbare Dyspepsie, die sich in Tönen äußert, deren Art man sich leicht vorstellen kann. Daher ist unser Leben nicht nur ein Vergessen, sondern leider auch weitgehend ein Sich-Erinnern an Dinge, die uns nie hätten bewusst werden dürfen, ganz gewiss nicht in unseren wachen Stunden. Weshalb sollten wir uns nicht gelegentlich treffen, nicht immer nur als Dyspeptiker, die sich ihre schlimmen Träume erzählen, sondern manchmal auch als Eupeptiker, die sich zu dem herrlichen Morgen beglückwünschen? Ich meine, das wäre doch gewiss kein übertriebenes Ansinnen. (H. Thoreau, 1947, S. 632-655.)

Eine der scharfsinnigsten Diagnosen der kapitalistischen Kultur des Neunzehnten Jahrhunderts stammt von dem Soziologen Emile Durkheim, der weder ein politischer noch ein religiöser Radikaler war. Er stellt fest, dass in der modernen Industriegesellschaft weder der Einzelne noch die Gruppe noch zufriedenstellend funktionieren, dass sie in einem Zustand der „Anomie“ leben, das heißt, dass es ihnen an einem sinnvollen und strukturierten gesellschaftlichen Leben fehlt; dass der Einzelne immer mehr „sich einer rastlosen Bewegung, einer planlosen Selbst-Entwicklung hingibt, einem Lebensziel, das keine Wertkriterien kennt, bei dem das Glück stets in der Zukunft liegt und nie in der Gegenwart erreicht wird“. Der Ehrgeiz des Menschen, der die ganze Welt zum Kunden hat, wird grenzenlos, und Ekel erfüllt ihn über „die Sinnlosigkeit des endlosen Vorwärtsstrebens“. Durkheim weist darauf hin, dass nur der politische Staat als isolierter Faktor der kollektiven Organisation die Französische Revolution überlebt hat. Die Folge ist, dass eine echte Gesellschaftsordnung verschwunden ist, und dass der Staat zur einzigen kollektiven organisierenden Aktivität mit gesellschaftlichem Charakter geworden ist. Der von allen echten sozialen Bindungen befreite Einzelne fühlt sich im Stich gelassen, isoliert und demoralisiert. (Vgl. E. Durkheim, 1897, S. 449.) Die Gesellschaft wird zu „einem unorganisierten Staub von Individuen“ (a.a.O., S. 448. - Hervorhebung E. F.).

Wenn wir uns jetzt dem Zwanzigsten Jahrhundert zuwenden, so finden wir auch hier eine bemerkenswerte Ähnlichkeit der kritischen Äußerungen und der Diagnosen der seelischen Erkrankung der heutigen Gesellschaft, genauso wie das im Neunzehnten Jahrhundert der Fall war. Dies ist deshalb besonders bemerkenswert, weil sie von Menschen mit ganz unterschiedlichen philosophischen und politischen Ausgangspunkten stammen. Wenn ich in dieser Übersicht auch nicht auf die sozialistischen Kritiker des Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhunderts eingehen möchte, weil ich sie im nachfolgenden Kapitel gesondert behandeln will, möchte ich doch hier mit den Ansichten des britischen Sozialisten R. H. Tawney den Anfang machen, weil sie in mannigfacher Weise mit den in diesem Buch vertretenen Ansichten übereinstimmen. In seinem klassischen Werk [IV-154] The Acquisitive Society (1920), ursprünglich unter dem Titel The Sickness of an Acquisitive Society veröffentlicht, weist er darauf hin, dass sich die kapitalistische Gesellschaft auf das Prinzip der Beherrschung des Menschen durch die Dinge gründet. Er sagt, dass in unserer Gesellschaft

(...) selbst vernünftige Menschen davon überzeugt sind, dass das Kapital die Arbeiterschaft „einstellt“, so wie unsere heidnischen Vorfahren sich vorstellten, dass Stücke aus Holz und Eisen, die sie in jenen Zeiten zu ihren Götzen machten, ihnen eine gute Ernte schenkten und ihre Kämpfe gewannen. Wenn es soweit gekommen ist, dass die Menschen so reden, als ob ihre Götzen lebendig wären, ist es Zeit, dass einer kommt und diese zerbricht. Die Arbeiterschaft besteht aus Menschen, das Kapital aus Dingen, und Dinge sind einzig dazu da, in den Dienst von Menschen gestellt zu werden. (R. H. Tawney, 1920, S. 99.)

Er weist darauf hin, dass der Arbeiter in der heutigen Industrie deshalb nicht sein Bestes gibt, weil ihn seine Arbeit nicht interessiert, weil er an der Kontrolle des Betriebs nicht beteiligt ist. (Vgl. R. H. Tawney, 1920, S. 106 f.) Er fordert als einzigen Ausweg aus der Krise der modernen Gesellschaft eine Änderung unserer moralischen Werte:

Wir müssen der wirtschaftlichen Tätigkeit selbst den ihr zukommenden Platz als Diener und nicht als Herr der Gesellschaft zuweisen. Unsere Zivilisation wird nicht nur, wie viele vermuten, dadurch belastet, dass das Industrieprodukt schlecht verteilt ist, oder dass die Unternehmen tyrannisch geleitet werden, oder dass die Arbeit im Werk durch erbitterte Arbeitskämpfe unterbrochen wird. Es kommt daher, dass die Industrie selbst inzwischen eine absolut vorherrschende Position unter allen menschlichen Interessengebieten einnimmt, eine Position, die kein Einzelinteresse und am allerwenigsten die Beschaffung materieller Existenzmittel einzunehmen vermag. Wie ein Hypochonder, der von den Vorgängen der eigenen Verdauung so in Anspruch genommen ist, dass er ins Grab sinkt, bevor er recht zu leben begonnen hat, so vernachlässigen unsere industrialisierten Gesellschaften eben die Dinge, für die es sich lohnte, Reichtümer zu erwerben, in ihrer fieberhaften Beschäftigung mit den Mitteln, mit denen man Reichtümer erwerben kann.

Diese Besessenheit von wirtschaftlichen Dingen ist ebenso lokal begrenzt und vorübergehend, wie sie abstoßend und beunruhigend ist. Künftigen Generationen wird sie ebenso beklagenswert erscheinen, wie uns heute die Besessenheit des Siebzehnten Jahrhunderts von seinen religiösen Streitigkeiten vorkommt; ja, sie ist noch unvernünftiger, weil ihr Gegenstand noch unwesentlicher ist. Und sie ist ein Gift, das jede Wunde entzündet und jede unbedeutende Schramme zu einem bösartigen Geschwür werden lässt. Die Gesellschaft wird die besonderen Probleme der Industrie, die ihr zu schaffen machen, nicht lösen, bevor das Gift ausgetrieben ist und sie gelernt hat, die Industrie selbst wieder in der richtigen Perspektive zu sehen. Wenn sie das erreichen will, muss sie ihre Wertskala neu ordnen. Sie muss die wirtschaftlichen Interessen als ein Element im Leben und nicht als das Leben selbst betrachten. Sie muss ihre Mitglieder dazu bringen, dass sie darauf verzichten, jede Gelegenheit wahrzunehmen, Gewinne zu erzielen, die ihnen ohne entsprechende Arbeitsleistung zufallen, weil der Kampf darum die gesamte Gemeinschaft im Fieber hält. Sie muss die Industrie so organisieren, dass die wirtschaftliche Tätigkeit [IV-155] wieder Mittel zum Zweck wird, indem man sie den sozialen Aufgaben, denen sie zu dienen hat, unterordnet. (R. H. Tawney, 1920, S. 183 f.)

Einer der hervorragendsten Experten unserer Zeit für die Fragen der industriellen Zivilisation der Vereinigten Staaten, Elton Mayo, teilt Durkheims Ansichten, wenn er sich auch etwas vorsichtiger ausdrückt:

Es stimmt, dass das Problem der sozialen Desorganisation mit der sich daraus ergebenden Anomie in Chicago vermutlich in einer noch akuteren Form existiert als in anderen Teilen der Vereinigten Staaten. Wahrscheinlich ist es auch in den Vereinigten Staaten noch akuter als in Europa. Aber es handelt sich um ein Problem der Rangordnung in der gesellschaftlichen Entwicklung, das die ganze Welt angeht. (E. Mayo, 1933, S. 125.)

Zur heutigen Überbewertung der wirtschaftlichen Tätigkeit bemerkt Mayo:

Genauso, wie unsere politischen und wirtschaftlichen Untersuchungen seit zweihundert Jahren die Tendenz zeigen, nur diejenigen wirtschaftlichen Funktionen in Betracht zu ziehen, die unmittelbar mit der Lebenshaltung zu tun haben, so haben wir es auch in unserem heutigen Leben unvermerkt geschehen lassen, dass das Streben nach wirtschaftlichem Aufschwung uns in eine Situation weitgehender sozialer Auflösung hineinmanövriert hat. (...) Vermutlich stellt ja die Arbeit, die ein Mensch verrichtet, seine wichtigste Funktion in der Gesellschaft dar; aber wenn keinerlei entsprechender gesellschaftlicher Hintergrund für sein Leben vorhanden ist, kann seine Arbeit nicht einmal einen Wert für ihn selbst haben. Durkheims Feststellungen im Frankreich des Neunzehnten Jahrhunderts dürften sich auch auf das Amerika des Zwanzigsten Jahrhunderts anwenden lassen. (E. Mayo, 1933, S. 131.)

Unter Bezugnahme auf seine umfassende Studie über die Einstellung der Arbeiter bei Hawthorne zu ihrer Arbeit kommt er zu folgendem Schluss:

Das Unvermögen der Arbeiter und Vorarbeiter, ihre Arbeit und ihre Arbeitsbedingungen zu verstehen, das weitverbreitete Gefühl, persönlich überflüssig zu sein, ist in der zivilisierten Welt ganz allgemein anzutreffen und ist nicht nur für Chicago charakteristisch. Der Glaube des einzelnen an seine soziale Aufgabe und seine Solidarität mit der Gruppe - seine Fähigkeit, mit den anderen zusammenzuarbeiten -, all das ist im Verschwinden begriffen und wird teilweise durch den raschen wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zerstört. Mit diesem Glauben verschwinden auch sein Gefühl der Sicherheit und sein Wohlbefinden, und er fängt an, jene übertriebenen Ansprüche an das Leben zu stellen, wie Durkheim sie beschrieben hat. (E. Mayo, 1933, S. 159.)

Mayo stimmt Durkheim nicht nur in Bezug auf den wesentlichen Punkt seiner Diagnose zu, er gelangt auch zu der kritischen Schlussfolgerung, dass in dem halben Jahrhundert wissenschaftlicher Arbeit nach Durkheim in Bezug auf das Verständnis des Problems nur sehr geringe Fortschritte gemacht worden sind. Er schreibt: „Während wir im materiellen und wissenschaftlichen Bereich Sorge getragen haben, unser Wissen und unsere Technik weiterzuentwickeln, haben wir im menschlichen und soziopolitischen Bereich alles dem Zufall überlassen und aufs Geratewohl herumgewirtschaftet.“ (E. Mayo, 1933, S. 132.) Und weiter heißt es da:

Wir stehen also der Tatsache gegenüber, dass wir auf den wichtigen Gebieten des [IV-156] Verständnisses der Menschen füreinander und der Menschenführung die Fakten nicht mehr kennen und nicht wissen, was ihnen zugrunde liegt. Unser Opportunismus in der Verwaltung und Sozialforschung hat dazu geführt, dass wir es bisher nur zu ohnmächtigen Feststellungen des Unheils gebracht haben. (...) So bleibt uns nichts anderes übrig als abzuwarten, ob der soziale Organismus sich wieder erholen oder ob er ohne zureichende medizinische Hilfe zugrunde gehen wird. (E. Mayo, 1933, S. 169 f.)

Speziell zur Rückständigkeit unserer politischen Theorie bemerkt er:

Die politische Theorie zeigte bisher die Tendenz, sich hauptsächlich mit ihren historischen Ursprüngen zu beschäftigen; man hat versäumt, eine gründliche Untersuchung der Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur in Angriff zu nehmen. In der Zwischenzeit haben sich der soziale Kontext, die faktischen Lebensbedingungen der zivilisierten Völker auf so mannigfache Weise geändert, dass die bloße Verkündigung der alten Formeln hohl klingt und keinen Menschen mehr zu überzeugen vermag. (E. Mayo, 1933, S. 138.)

Ein anderer ideenreicher Beobachter der heutigen gesellschaftlichen Szene ist Frank Tannenbaum. Er kommt zu ähnlichen Schlüssen wie Tawney, wenn er auch den Nachdruck auf die zentrale Bedeutung der Gewerkschaften legt, im Gegensatz zu der sozialistischen Forderung Tawneys, die Arbeiter unmittelbar mitbestimmen zu lassen. Am Schluss von A Philosophy of Labor (1952, S. 168) schreibt Tannenbaum:

Der grundsätzliche Irrtum des vorigen Jahrhunderts war die Annahme, eine totale Gesellschaft könne auf einem ökonomischen Motiv, nämlich dem Profit, aufgebaut werden. Die Gewerkschaftsbewegung hat bewiesen, dass diese Auffassung falsch war. Sie hat wieder einmal gezeigt, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Da das Großunternehmen nur Brot oder Kuchen zu bieten hat, hat es sich als unfähig erwiesen, die Anforderungen an ein „gutes Leben“ zu erfüllen. Die Gewerkschaft kann trotz all ihrer Fehler das Großunternehmen mit seinen enormen Leistungsmöglichkeiten noch retten, wenn sie ihm ihre eigene natürliche „Gesellschaft“, den Zusammenhalt ihrer eigenen Arbeitskraft einbaut und ihr auf diese Weise einen Sinn verleiht, wie ihn alle wirklichen Gesellschaften besitzen, einen Sinn, der dem Menschen auf seinem Weg zwischen Wiege und Grab eine gewisse idealistische Substanz mitgibt. Zu einer solchen Sinngebung kann man nicht gelangen, indem man das wirtschaftliche Motiv noch stärker betont. Wenn das Großunternehmen weiterbestehen soll, wird es in der Welt nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine moralische Rolle zu übernehmen haben. In dieser Hinsicht ist die Herausforderung des Managements durch die Gewerkschaft heilsam und vielversprechend. Es ist ein Weg, vielleicht der einzig gangbare, die Werte unserer demokratischen Gesellschaft und darüber hinaus das heutige Industriesystem zu retten. Irgendwie muss das Großunternehmen und seine Arbeiterschaft zu einer Gemeinschaft werden, anstatt wie bisher ein geteiltes Haus zu sein, das sich in einem kriegsähnlichen Zustand befindet.

Lewis Mumford, mit dem ich in vielen meiner Ideen übereinstimme, sagt über unsere heutige Zivilisation:

Die tödlichste Kritik, die man an der modernen Zivilisation üben könnte, ist die, [IV-157] dass sie - abgesehen von ihren vom Menschen herbeigeführten Krisen und Katastrophen - für den Menschen nicht interessant ist. (...)

Letzten Endes kann eine solche Zivilisation nur einen Massenmenschen erzeugen, der unfähig ist, sich für etwas zu entscheiden, unfähig zu allen spontanen, selbständigen Tätigkeiten, und der bestenfalls geduldig, gefügig, in einem mitleiderregenden Grad diszipliniert in seiner monotonen Arbeit, aber dabei in wachsendem Maß ohne Verantwortung ist, weil er immer weniger Entscheidungen zu treffen hat; ein Geschöpf, das hauptsächlich von seinen konditionierten Reflexen beherrscht wird - der Idealtyp, der von den Anzeigeagenturen und den Verkaufsorganisationen des modernen Geschäftslebens gewünscht, wenn auch nie ganz erreicht wird -, und wie ihn die Propagandaämter und Planungsbüros totalitärer oder quasitotalitärer Regierungen brauchen. Das schönste Lob für solche Wesen lautet: „Sie machen keine Schwierigkeiten.“ Ihre höchste Tugend ist: „Sie fallen nicht auf.“ Schließlich produziert eine derartige Gesellschaft nur zwei Gruppen von Menschen: die Konditionierer und die Konditionierten, die aktiven und die passiven Barbaren. Vielleicht war es die Aufdeckung dieses Gewebes aus Falschheit, Selbstbetrug und Leere, wodurch Arthur Millers Schauspiel Death of a Salesman das amerikanische Publikum in den großen Städten so stark beeindruckte.

Nun ist es aber so, dass dieses mechanische Chaos nicht ohne unser Zutun von selbst immer weiterbesteht, denn es beleidigt und demütigt den menschlichen Geist, und je straffer und leistungsfähiger es als mechanisches System wird, desto widerspenstiger wird der Mensch darauf reagieren. Schließlich muss es den Menschen zur blinden Rebellion, zum Selbstmord oder aber zu einer inneren Erneuerung treiben. Bisher hat es sich nur auf die beiden ersten Arten ausgewirkt. Nach dieser Analyse wäre die Krise, mit der wir uns zur Zeit konfrontiert sehen, unserer Kultur inhärent, selbst dann, wenn wir nicht durch eine Art Wunder auch die aktiveren Auflösungsprozesse ausgelöst hätten, die sich in der jüngsten Geschichte ereignet haben. (L. Mumford, 1951, S. 14 u. 16.)

A. R. Heron, ein überzeugter Befürworter des kapitalistischen Systems und ein viel konservativer eingestellter Autor als die zuvor zitierten, kommt nichtsdestoweniger zu kritischen Schlussfolgerungen, die denen von Durkheim und Mayo ihren Grundgedanken nach sehr nahe kommen. In seinem vom Executive Book Club of New York 1948 herausgebrachten Buch Why Men Work schreibt er:

Es ist zwar reine Phantasie, wenn man sich vorstellt, dass, eine große Menge von Arbeitern aus Langeweile und aus einem Gefühl der Nutzlosigkeit und Frustrierung heraus Massenselbstmord begehen. Aber es hört auf, Phantasie zu sein, wenn wir unsern Selbstmordbegriff nicht mehr nur auf die Tötung unseres Körpers beziehen. Ein Mensch, der sich damit begnügt, ein Leben ohne Denken, ohne Ehrgeiz, Stolz und ein Gefühl persönlicher Leistung zu führen, hat sich mit dem Tod von Eigenschaften abgefunden, die für menschliches Leben wesentlich sind. Dass man einen Platz in einer Fabrik oder einem Büro mit seinem Körper ausfüllt, dass man Bewegungen ausführt, die sich andere ausgedacht haben, dass man seine Körperkraft einsetzt oder Dampfkraft oder Elektrizität auslöst - all das heißt noch nicht, wesentliche menschliche Fähigkeiten miteinzusetzen. [IV-158]

Diese unzureichende Inanspruchnahme menschlicher Fähigkeiten wird uns nirgends überzeugender vor Augen geführt als bei der Methode, die Arbeiter einzusetzen. Die Erfahrung hat gelehrt, dass es bestimmte Jobs - und zwar erstaunlich viele - gibt, die von Menschen von durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz nicht befriedigend ausgeführt werden können. Das Problem ist nicht damit gelöst, dass man sagt, eine große Zahl von Menschen von geringer Intelligenz brauchten solche Jobs. Das Management ist genauso wie unsere Staatsmänner, Geistliche und Erzieher dafür verantwortlich, dass unser aller Intelligenz höher entwickelt wird. Wir werden in einer Demokratie stets von den Stimmen des Volkes als Volk regiert, worunter sich auch die befinden, deren angeborene Intelligenz nur gering ist oder deren potenzielle seelische und geistige Entwicklung verkümmert ist.

Wir dürfen die materiellen Vorteile, die wir der technischen Entwicklung, der Massenproduktion und der Spezialisierung der Aufgaben verdanken, natürlich nicht mehr aufgeben. Aber wir werden niemals die Ideale Amerikas verwirklichen, wenn wir eine Arbeiterklasse entstehen lassen, der die Befriedigung durch sinnvolle Arbeit versagt bleibt. Wir werden nicht in der Lage sein, diesen Idealen treu zu bleiben, wenn wir nicht sämtliche Mittel der Gesetzgebung, des Bildungswesens und der Industrie für die Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten all jener einsetzen, die uns regieren - jener zehn Millionen einfacher Männer und Frauen. Die spezielle Aufgabe des Managements ist es, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die die kreativen Anlagen eines jeden Arbeiters befreien und seiner göttlich-menschlichen Fähigkeit zu denken freien Spielraum verschaffen. (A. R. Heron, 1948, S. 121 f.)

Nachdem wir nun die Stimme verschiedener Sozialwissenschaftler gehört haben, wollen wir zum Abschluss dieses Kapitels noch drei Männer zu Wort kommen lassen, die keine Sozialwissenschaftler waren: Aldous Huxley, Albert Schweitzer[32] und Albert Einstein.

Aldous Huxleys Urteil über den Kapitalismus des Zwanzigsten Jahrhunderts ist in seiner Brave New World enthalten. Er zeigt in diesem 1931 entstandenen Roman das Bild einer automatisierten Welt, die unverkennbar verrückt ist und sich trotzdem nur in Einzelheiten und bis zu einem gewissen Grad von der realen Welt etwa im Jahre 1954 unterscheidet. Die einzige Alternative, die er sieht, ist das Leben des Wilden mit einer Religion, die halb Fruchtbarkeitskult und halb bußfertige Wildheit ist. In einem für die Neuausgabe der Brave New World 1949 geschriebenen Vorwort sagt er:

Gesetzt nun, wir seien fähig, ebenso viel aus Hiroschima zu lernen, wie unsere Vorfahren aus dem Beispiel Magdeburgs lernten, dann dürfen wir uns vielleicht eine Zeit, wenn nicht tatsächlichen Friedens, so doch begrenzten und nur zum Teil verheerenden Kriegführens erwarten. Es ist anzunehmen, dass während dieser Zeitspanne atomare Energie für industrielle Zwecke nutzbar gemacht werden wird. Das Ergebnis wird wohl unbezweifelbar eine Reihe wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen sein, wie sie in solch schneller Aufeinanderfolge und Vollständigkeit noch nie da waren. Alle bestehenden Formen des menschlichen Lebens werden gesprengt werden, und neue werden improvisiert werden [IV-159] müssen, damit sie mit der nicht-menschlichen Tatsache der Atomkraft übereinstimmen. Ein Prokrustes in modernem Gewand, wird der Atomphysiker das Bett vorbereiten, auf dem die Menschheit liegen müssen wird; und wenn die Menschheit nicht hineinpasst - nun, desto schlimmer für die Menschheit. Da wird eben ein wenig ausgereckt und abgehackt werden müssen, auf dieselbe Weise wie schon immer, seit die angewandte Wissenschaft so recht eigentlich in Gang kam; nur dass diesmal das Ausrecken und Abhacken ein gut Teil drastischer sein wird als in der Vergangenheit. Diese alles eher als schmerzlosen Operationen werden von hoch zentralisierten totalitären Regierungen überwacht werden. Das ist unvermeidlich; denn die unmittelbare Zukunft wird wohl der unmittelbaren Vergangenheit ähneln, und in dieser neigten technische Umwälzungen, welche in einer Massen erzeugenden Wirtschaft und unter einer vorwiegend besitzlosen Bevölkerung vor sich gingen, stets dazu, wirtschaftliche und gesellschaftliche Unruhen hervorzurufen. Um mit Unruhen fertig zu werden, wurde immer Macht zentralisiert und die Herrschgewalt der Regierungen verstärkt. Es ist also wahrscheinlich, dass alle Regierungen der Welt mehr oder weniger totalitär sein werden, sogar noch vor der industriellen Nutzbarmachung atomarer Energie; dass sie während und nach solcher Nutzbarmachung totalitär sein werden, ist fast gewiss. Nur eine ganz große, auf Dezentralisierung und Selbsthilfe gerichtete Volksbewegung könnte den gegenwärtigen Zug zur Staatsallmacht aufhalten. Gegenwärtig ist kein Anzeichen erkennbar, dass es zu einer solchen Bewegung kommen wird. (Hervorhebung E. F.)

Es gibt natürlich keinen Grund, warum der neue Totalitarismus dem alten gleichen sollte. Ein Regieren mittels Knüppeln und Erschießungskommandos, mittels künstlicher Hungersnot, Massenverhaftungen und Massendeportationen ist nicht nur unmenschlich (darum schert sich heutzutage niemand viel); es ist beweisbar leistungsunfähig - und in einem Zeitalter fortgeschrittener Technik ist Leistungsunfähigkeit die Sünde wider den Heiligen Geist. Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre einer, worin die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrschen, die gar nicht gezwungen zu werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben. Ihnen die Liebe zu ihr beizubringen, ist in heutigen totalitären Staaten die den Propagandaministerien, den Zeitungsredakteuren und Schullehrern zugewiesene Aufgabe. Aber deren Methoden sind noch immer plump und unwissenschaftlich. Die alte, prahlerische Behauptung der Jesuiten, sie könnten, wäre ihnen die Schulung des Kindes übertragen, für die religiösen Überzeugungen des Mannes bürgen, war bloß ein Wunschtraum. Und der moderne Pädagoge ist wahrscheinlich noch weniger leistungsfähig darin, die Reflexe des Zöglings zu bedingen, als es die ehrwürdigen Patres waren, welche Voltaire erzogen. Die größten Triumphe der Propaganda wurden nicht durch ein Tun, sondern durch das Unterlassen eines Tuns vollbracht. Groß ist die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt, ist das Verschweigen der Wahrheit. Indem totalitäre Propagandisten gewisse Dinge einfach nicht erwähnten, indem sie einen „eisernen Vorhang“ herabließen zwischen den Massen und solchen Tatsachen oder Beweisgründen, die von den politischen Machthabern für unerwünscht gehalten wurden, beeinflussten sie die [IV-160] öffentliche Meinung viel wirksamer, als sie es durch die beredsamsten Anschwärzungen, die zwingendsten logischen Widerlegungen hätten tun können. Aber Verschweigen ist nicht genug. Wenn Verfolgungen, Liquidierungen und die anderen Symptome sozialer Reibung vermieden werden sollen, müssen die positiven Seiten der Propaganda so wirksam gemacht werden wie die negativen. Die wichtigsten „Manhattan-Projekte“ der Zukunft werden umfangreiche, von der Regierung geförderte Untersuchungen darüber sein, was die Politiker und die daran teilnehmenden Wissenschaftler „das Problem des Glücklichseins“ nennen werden, - mit anderen Worten, das Problem, wie man Menschen dahin bringt, ihr Sklaventum zu lieben. Ohne wirtschaftliche Sicherheit kann die Liebe zur Sklaverei unmöglich entstehen; der Kürze halber nehme ich an, dass es der allmächtigen Exekutive und ihren Managern gelingen wird, das Problem dauernder wirtschaftlicher Sicherheit zu lösen. Sicherheit wird aber fast immer sehr schnell für gegeben genommen. Sie zu erzielen, ist bloß eine oberflächliche, äußere Revolution. Die Liebe zur Sklaverei kann nicht fest verankert sein, wenn sie nicht das Ergebnis einer tiefgehenden persönlichen Revolution in den Gemütern und Leibern der Menschen ist. Um die herbeizuführen, bedarf es unter anderen der folgenden Entdeckungen und Erfindungen: erstens einer sehr verbesserten Methode der Suggestion - durch Konditionieren der Reflexe des Kleinkindes und, später, mit Hilfe von Medikamenten wie Skopolamin; zweitens einer voll entwickelten Wissenschaft von den Unterschieden der Menschen, die es den von der Regierung bestellten Managern ermöglicht, jedem beliebigen Individuum seinen oder ihren Platz in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rangordnung anzuweisen (kantige Pflöcke in runden Löchern neigen zu gefährlichen Gedanken über das Gesellschaftssystem und stecken leicht andere mit ihrer Unzufriedenheit an); drittens (da die Wirklichkeit, wenn auch noch so utopisch, etwas ist, was die Menschen die Notwendigkeit empfinden lässt, recht häufigen Urlaub davon zu nehmen) bedarf es eines Ersatzes für Alkohol und die anderen Rauschmittel, etwas, das zugleich weniger schadet und mehr Genuss bringt als Branntwein oder Heroin; und viertens (aber das wäre ein Vorhaben auf lange Sicht, das zu seinem erfolgreichen Abschluss Generationen totalitärer Herrschaft erfordern würde) eines betriebssicheren Systems der Eugenik, darauf berechnet, das Menschenmaterial zu normen und so die Aufgabe der Manager zu erleichtern. In Brave New World ist diese Normung des menschlichen Produkts bis zu phantastischen, wenngleich vielleicht nicht unmöglichen Extremen getrieben. Technisch und ideologisch haben wir noch einen weiten Weg bis zu Kindern in Flaschen und Bokanowsky-Gruppen von Halbtrotteln. Doch ums Jahr 600 n. F. [nach Ford] - wer weiß, was bis dahin nicht alles geschehen mag? Inzwischen sind die anderen charakteristischen Züge dieser glücklicheren und beständigeren Welt - die Äquivalente für Soma und Hypnopädie und das wissenschaftlich durchgeführte Kastensystem - wahrscheinlich nur noch drei oder vier Generationen weit entfernt. Auch scheint die sexuelle Promiskuität der Brave New World nicht gar so weit vor uns zu liegen. Es gibt bereits gewisse amerikanische Städte, in welchen die Zahl der Scheidungen die der Heiraten erreicht. In einigen Jahren werden Trauungsscheine zweifellos so verkauft werden wie Hundescheine: gültig für zwölf [IV-161] Monate, wobei kein Gesetz das Wechseln der Hunde oder das gleichzeitige Halten mehr als eines verbietet. Je mehr sich politische und wirtschaftliche Freiheit verringert, desto mehr strebt, entschädigungsweise, die sexuelle Freiheit danach, sich zu vergrößern. Und der Diktator (falls er nicht Kanonenfutter braucht und kinderreiche Familien, um mit ihnen noch unbesiedelte oder zu erobernde Gebiete zu kolonisieren) wird gut daran tun, diese Freiheit zu fördern. In Verbindung mit der Freiheit des Tagträumens unter dem Einfluss von Rauschmitteln, Kino und Rundfunk wird die sexuelle Freiheit dazu beitragen, seine Untertanen mit der Sklaverei, die ihr Los ist, zu versöhnen.

Das alles in Betracht gezogen, sieht es ganz danach aus, dass uns Utopia viel näher sei, als irgendjemand es sich auch nur vor zwanzig Jahren hätte vorstellen können. Damals verlegte ich diese Utopie sechshundert Jahre in die Zukunft. Heute scheint es ganz gut möglich zu sein, dass uns ein solcher Schrecken binnen einem einzigen Jahrhundert auf den Hals kommt; das heißt, wenn wir in der Zwischenzeit davon abstehen, einander zu Staub zu zersprengen. In der Tat, wenn wir nicht lieber dezentralisieren und die angewandte Wissenschaft lieber nicht als den Zweck gebrauchen, zu welchem aus Menschen die Mittel gemacht werden, sondern als das Mittel zur Hervorbringung eines Geschlechts freier Individuen - ja, da bleiben nur noch zwei Möglichkeiten: entweder eine Anzahl nationaler, militarisierter Totalitarismen, die in Angst vor der Atombombe wurzeln und deren Frucht die Vernichtung der Zivilisation (falls aber die Kriegführung beschränkt wird, die Verewigung des Militarismus) sein wird; oder ein übernationaler Totalitarismus, hervorgerufen durch das soziale Chaos, der sich, aus raschem technischem Fortschritt im allgemeinen und der atomaren Revolution im besondern, unter dem Zwang notwendiger Leistungsfähigkeit und Beständigkeit zur Wohlfahrtstyrannei Utopias entwickeln wird. Du zahlst dein Geld und hast die Wahl. (A. Huxley, 1950, S. 15-20)

Albert Schweitzer und Albert Einstein verkörpern vielleicht mehr als jeder andere unter den Lebenden die höchste Entfaltung der intellektuellen und moralischen Traditionen der westlichen Kultur. Über unsere Kultur schreibt Albert Schweitzer:

Unöffentlich muss eine neue öffentliche Meinung entstehen. Die jetzige erhält sich durch die Presse, die Propaganda, die Organisationen und die Macht- und Geldmittel, die ihr zur Verfügung stehen. Dieser unnatürlichen Verbreitung von Ideen hat sich die natürliche entgegenzusetzen, die von Mensch zu Mensch geht und nur mit der Wahrheit des Gedankens und der Empfänglichkeit für Wahrheit rechnet. Ungewappnet, in der primitiven Kampfesweise des Geistes, muss sie gegen die andere angehen, die ihr wie Goliath dem David in der mächtigen Rüstung der Zeit entgegentritt.

Für das Ringen, das sich daraus entwickeln wird, lassen uns alle geschichtlichen Analogien im Stich. Wohl hat auch die Vergangenheit den Kampf des denkenden Einzelgeistes gegen den gebundenen Gesamtgeist gekannt. Nie aber trat das Problem auf wie heute, weil der in modernen Organisationen, moderner Gedankenlosigkeit und modernen Volksleidenschaften gebundene Gesamtgeist eine einzigartige Erscheinung ist. [IV-162] Wird der moderne Mensch die Kraft haben, das, was der Geist von ihm verlangt und was die Zeit ihm unmöglich machen will, zu vollführen?

In den überorganisierten Kollektivitäten, die ihn auf hundert Arten in ihrer Gewalt haben, soll er wieder zur selbständigen Persönlichkeit werden und auf sie zurückwirken. Durch alle Organe werden sie es unternehmen, ihn in der ihnen genehmen Unpersönlichkeit zu erhalten. Sie fürchten die Persönlichkeit, weil der Geist und die Wahrheit, die sie stumm haben möchten, in ihr zu Worte kommen können. Ihre Macht aber ist so groß wie ihre Furcht.

Mit den Kollektivitäten sind in tragischer Weise die wirtschaftlichen Verhältnisse verbündet. Mit grausiger Härte erziehen sie den modernen Menschen zum unfreien, zum ungesammelten, zum unselbständigen, zum humanitätslosen Wesen. Sie sind das letzte, was wir ändern können. Auch wenn uns beschieden sein sollte, dass der Geist sein Werk beginnt, werden wir nur langsam und unvollständig Macht über sie gewinnen. Also wird von den vielen verlangt, was die Lebensverhältnisse, in die wir hineingestellt sind, verneinen.

Und wie groß sind die Aufgaben, die der Geist in Angriff zu nehmen hat! Er soll wieder Verständnis für die wahre Wahrheit schaffen, wo nur noch die Wahrheit der Propaganda gilt. Er soll den unedlen Patriotismus absetzen und den edlen, auf die Ziele der Menschheit ausschauenden, inthronisieren, wo die trostlosen vergangenen und gegenwärtigen politischen Ereignisse nationale Leidenschaften auch bei denen unterhalten, die sich innerlich dagegen wehren. Er soll wieder zur Anerkennung bringen, dass Kultur eine Sache der Menschen ist, an der die Völker teilhaben, wo jetzt die nationale Kultur als Idol verehrt wird und der Begriff der Kulturmenschheit in Trümmer gegangen ist. Er soll unser Vertrauen in den Kulturstaat aufrechterhalten, wo die durch den Krieg geistig und wirtschaftlich heruntergekommenen modernen Staaten gar nicht an Kulturaufgaben denken können, sondern nur darauf bedacht sein dürfen, wie sie mit allen Mitteln, auch mit denen, die den Begriff des Rechtes untergraben, Geld zusammenbringen, um weiterzuexistieren. Er soll uns in dem Ideal der Kulturmenschheit einen, wo ein Volk dem andern den Glauben an Menschlichkeit, Idealismus, Gerechtigkeit, Vernünftigkeit und Wahrhaftigkeit genommen und jedes unter die Herrschaft der Mächte gekommen ist, die uns immer weiter in die Unkultur hineinführen. Er soll die Aufmerksamkeit auf die Kultur lenken, wo die wachsende Schwierigkeit des Lebensunterhaltes die vielen immer mehr durch die materielle Sorge in Anspruch nimmt und ihnen alles andere als Phantom erscheinen lässt. Er soll uns Glauben an die Möglichkeit eines Fortschritts geben, wo die Rückwirkung des Wirtschaftlichen auf das Geistige sich von Tag zu Tag unheilvoller gestaltet und eine ständig wachsende Demoralisation unterhält. Er soll uns die Fähigkeit des Hoffens verleihen, wo nicht nur die weltlichen und religiösen Institutionen und Genossenschaften, sondern auch die Menschen, die als bedeutend angesehen werden, fortgesetzt versagen, wo Gelehrte und Künstler sich in Unkultur hervortun und die Berühmtheiten, die als Denker gelten und sich als solche gebärden, in entscheidenden Gelegenheiten als bloße Schriftsteller und Akademiemitglieder vor uns stehen.

Dies alles wirft sich dem Willen zur Kultur entgegen. Eine dumpfe Verzweiflung [IV-163] lauert auf uns. Wie verstehen wir die Menschen der griechisch-römischen Dekadenz, die den Ereignissen gegenüber widerstandslos wurden und sich, die Welt ihrem Schicksal preisgebend, auf sich selbst zurückzogen! Wie sie sind wir betäubt von dem, was wir erleben. Wie sie hören wir versuchende Stimmen, die uns sagen, dass das einzige, was das Leben noch erträglich mache, das Dahinleben sei. Nicht über sein eigen Schicksal hinaus denken und hinaus hoffen wollen. (...) In Resignation Ruhe suchen. (...)

Die Erkenntnis, dass Kultur auf Weltanschauung beruht und nur wieder aus dem geistigen Erwachen und dem ethischen Wollen der vielen entstehen kann, zwingt uns, uns die Schwierigkeiten der Regeneration der Kultur zu vergegenwärtigen, die das gewöhnliche Überlegen übersehen würde. Zugleich aber hebt sie uns über alle Erwägungen der Möglichkeit und Unmöglichkeit hinaus. Ist der ethische Geist der zureichende Grund auf dem Gebiete der Geschehnisse zur Verwirklichung der Kultur, so gelangen wir wieder zur Kultur, wenn wir es nur wieder zur Kulturweltanschauung und daraus sich ergebenden Kulturgesinnungen bringen. (A. Schweitzer, 1973a, S. 72-75.)

In einem kurzen Artikel mit der Überschrift Why Socialism? schreibt Albert Einstein (1949):

Ich bin jetzt an dem Punkt angelangt, wo ich kurz andeuten kann, was mir das Wesen der Krise unserer Zeit zu sein scheint. Es betrifft die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft. Der Einzelne ist sich seiner Abhängigkeit von der Gesellschaft mehr denn je bewusst geworden. Aber er erlebt diese Abhängigkeit nicht als etwas Positives, als eine organische Bindung, als eine beschützende Kraft, sondern vielmehr als eine Bedrohung seiner natürlichen Rechte, ja sogar seiner wirtschaftlichen Existenz. Überdies ist seine Stellung in der Gesellschaft derart, dass die in ihm angelegten egoistischen Triebe ständig akzentuiert werden, während seine sozialen Triebe, die von Natur aus schwächer sind, immer mehr entarten. Alle Menschen, welches auch immer ihre Stellung in der Gesellschaft sein mag, leiden unter diesem Verfallsprozess. Unwissentlich Gefangene ihres eigenen Egoismus, fühlen sie sich unsicher, vereinsamt und der naiven, einfachen und unkomplizierten Lebensfreude beraubt. Der Mensch kann in seinem so kurzen und gefahrvollen Leben nur einen Sinn finden, wenn er es dem Dienst an der Gesellschaft widmet.

7. Verschiedene Lösungsversuche

Im Neunzehnten Jahrhundert erkannten Menschen mit Weitblick hinter dem Glanz und Reichtum und der politischen Macht der westlichen Gesellschaft den Prozess des Verfalls und der Entmenschlichung. Einige unter ihnen haben sich resigniert mit der Unabwendbarkeit eines solchen Rückfalls in die Barbarei abgefunden, andere zeigten Alternativen auf. Aber ob sie die eine oder die andere Haltung einnahmen, stets gründete sich ihre Kritik auf eine religiös-humanistische Auffassung vom Menschen und von der Geschichte. Indem sie ihre eigene Gesellschaft kritisierten, transzendierten sie sie. Sie waren keine Relativisten, die sagten, solange die Gesellschaft funktioniert, ist es eine gesunde und gute Gesellschaft - und solange sich der Einzelne seiner Gesellschaft anpasst, ist er ein vernünftiger und gesunder Mensch. Ob wir an Jakob Burckhardt oder Proudhon, an Leo Tolstoi oder Baudelaire, an Karl Marx oder Kropotkin denken, sie alle hatten eine ihrem Wesen nach religiöse und moralische Auffassung vom Menschen. Der Mensch ist Selbstzweck und darf nie als Mittel zum Zweck benutzt werden; die materielle Produktion ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die materielle Produktion. Ziel des Lebens ist die Entfaltung der schöpferischen Kräfte des Menschen; Ziel der Geschichte ist die Umwandlung der Gesellschaft in eine solche, die von Gerechtigkeit und Wahrheit beherrscht wird - das sind die Grundsätze, auf die sich explizit und implizit jede Kritik am modernen Kapitalismus gründete.

Diese religiös-humanistischen Grundsätze lagen auch den Vorschlägen für eine bessere Gesellschaft zugrunde. Tatsächlich war es so, dass in den letzten zweihundert Jahren der religiöse Enthusiasmus gerade in jenen Bewegungen zu finden war, die sich von der traditionellen Religion losgesagt hatten. Als Organisation und Bekenntnis zum Dogma lebte die Religion in den Kirchen weiter; im Sinne religiöser Glut und lebendigen Glaubens wurde sie weitgehend bei den Religionsgegnern praktiziert und weitergetragen.

Um diese Behauptung zu belegen, scheint es mir angebracht, auf einige wesentliche Züge in der Entwicklung der christlichen Kultur des Westens hinzuweisen. Während die Geschichte für die Griechen keinem Endziel zustrebte, ist für die jüdisch-christliche Geschichtsauffassung der Gedanke kennzeichnend, dass der ihr innewohnende [IV-165] Sinn die Erlösung des Menschen sei. Das Symbol für die endgültige Erlösung war der Messias, die Zeit selbst, die Messianische Zeit. Es gibt jedoch zwei verschiedene Auffassungen über das eschaton, das „Ende der Tage“, das Ziel der Geschichte. Die eine bringt den biblischen Mythos von Adam und Eva mit dem Begriff der Erlösung in Verbindung. Kurz zusammengefasst ist der Kern dieser Idee, dass der Mensch ursprünglich mit der Natur eins war; dass es keinen Konflikt zwischen ihm und der Natur, zwischen Mann und Frau gab. Aber es fehlte ihm noch das wesentliche Merkmal des Menschen: die Erkenntnis von Gut und Böse. Daher war er zu einer freien Entscheidung und zur Übernahme der Verantwortung noch nicht fähig. Der erste Akt des Ungehorsams wurde zum ersten Akt der Freiheit und damit zum Beginn der Menschheitsgeschichte. Der Mensch wird aus dem Paradies vertrieben. Er hat seine Harmonie mit der Natur verloren, er wird auf eigene Füße gestellt. Aber er ist schwach, seine Vernunft ist noch nicht voll entwickelt, seine Kraft, Versuchungen zu widerstehen, ist noch gering. Er muss seine Vernunft erst entwickeln, um seine volle Menschlichkeit zu entfalten und zu einer neuen Harmonie mit der Natur, mit sich selbst und mit seinen Mitmenschen zu gelangen. Das Ziel der Geschichte ist die volle Geburt des Menschen, seine volle Humanisierung: „denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist“ (Jes 11,9). Alle Völker werden eine einzige Gemeinschaft bilden, und die Schwerter werden zu Pflugscharen umgeschmiedet werden (vgl. Jes 2,4). Bei dieser Auffassung vollzieht Gott keinen Gnadenakt. Der Mensch muss durch viele Irrtümer hindurch, er muss sündigen und die Folgen auf sich nehmen. Gott löst seine Probleme nicht für ihn, wenn er ihm auch die Ziele des Lebens offenbart. Der Mensch muss sich selbst erlösen, er muss seine eigene Geburt herbeiführen. Dann wird am Ende der Tage die neue Harmonie, der neue Friede zustande kommen. (Im Hebräischen bedeutet schalom sowohl Harmonie [Ganzheit] als auch Friede.) Der über Adam und Eva verhängte Fluch wird gewissermaßen durch die Selbstentfaltung des Menschen im Prozess der Geschichte aufgehoben werden.

Die andere messianische Auffassung von der Erlösung, die in der christlichen Kirche die Oberhand gewann, lautet, dass der Mensch sich niemals selbst von der Verderbnis erlösen kann, der er durch Adams Ungehorsam anheimfiel. Nur Gott allein kann den Menschen durch einen Gnadenakt erlösen, und er erlöste ihn dadurch, dass er selbst Mensch wurde in der Person Christi, der den Opfertod des Heilands starb. Durch die Sakramente der Kirche hat der Mensch teil an dieser Erlösung und wird so der Gnade Gottes teilhaftig. Das Ende der Geschichte ist die Wiederkunft Christi - ein übernatürliches und kein historisches Ereignis.

Diese Tradition lebte in jenen Teilen der westlichen Welt weiter, in denen die Katholische Kirche die Oberhand behielt. Im übrigen Europa und in Amerika verlor die theologische Denkweise im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert jedoch mehr und mehr ihre Lebendigkeit. Kennzeichnend für das Zeitalter der Aufklärung war der Kampf gegen die Kirche und den Klerikalismus. Im Verlauf der weiteren Entwicklung kamen immer neue Zweifel auf, schließlich kam es zu einer völligen Ablehnung aller religiösen Vorstellungen. Aber diese Negation der Religion war nur eine neue Form des Denkens, in der der alte religiöse Enthusiasmus besonders in Bezug [IV-166] auf den Sinn und das Ziel der Geschichte zum Ausdruck kam. Im Namen der Vernunft und des Glücks, der menschlichen Würde und der Freiheit fand die messianische Idee einen neuen Ausdruck.

In Frankreich legte 1793 Condorcet in seiner Schrift Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain den Grundstein für den Glauben an die Vervollkommnung des Menschengeschlechts, die ein neues Zeitalter der Vernunft und des Glücks ohne jede Einschränkung heraufführen werde. Condorcets Botschaft war der Anbruch des Messianischen Reiches, womit er Saint-Simon, Comte und Proudhon beeinflusst hat. Die Glut der Französischen Revolution war nichts anderes als die messianische Begeisterung in weltlicher Sprache.

Die deutsche Aufklärungsphilosophie hat ebenfalls den theologischen Begriff der Erlösung in eine weltliche Sprache übersetzt. Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts übte besonders auf das deutsche, aber auch auf das französische Denken einen großen Einfluss aus. Für Lessing war die Zukunft das Zeitalter der Vernunft und der Selbstverwirklichung, herbeigeführt durch die Erziehung der Menschheit als Erfüllung des Versprechens der christlichen Offenbarung. Fichte glaubte an das Herannahen eines geistigen Millenniums, Hegel an die Verwirklichung des Reiches Gottes in der Geschichte. Hierdurch wurde die christliche Theologie in eine diesseitige Philosophie übersetzt. Hegels Philosophie fand ihre bedeutsamste historische Fortsetzung in Karl Marx. Noch deutlicher vielleicht als die Ideen vieler anderer Philosophen der Aufklärung, ist das Denken von Marx messianisch-religiös in weltlicher Sprache. Die gesamte vergangene Geschichte ist nur „Vorgeschichte“, es ist die Geschichte der Selbstentfremdung; mit dem Sozialismus wird das Reich der menschlichen Geschichte, der menschlichen Freiheit anbrechen. Die klassenlose Gesellschaft der Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Vernunft wird der Anfang einer neuen Welt sein, auf die sich die gesamte vorangegangene Geschichte zubewegte. (Vgl. K. Löwith, 1953, S. 175-189).

Dieses Kapitel soll sich zwar hauptsächlich mit den Ideen des Sozialismus befassen, als dem wichtigsten Versuch, einen Ausweg aus den Übeln des Kapitalismus zu finden, doch möchte ich zunächst kurz auf die totalitären Lösungsversuche und auf einen speziellen Versuch eingehen, den man vielleicht am treffendsten als Super-Kapitalismus bezeichnen könnte.

a) Der Totalitarismus

Faschismus, Nazismus und Stalinismus[33] haben miteinander gemeinsam, dass sie dem atomisierten Individuum eine neue Zuflucht und Sicherheit boten. Diese Systeme bilden den Höhepunkt der Entfremdung. Der Einzelne wird dazu gebracht, sich ohnmächtig und unbedeutend zu fühlen, und zugleich gelehrt, alle seine menschlichen Kräfte auf die Figur des Führers, den Staat, das „Vaterland“ zu projizieren, denen er sich zu unterwerfen und die er anzubeten hat. Er flieht vor der Freiheit in einen neuen Götzendienst. Alle Errungenschaften der Individualität und Vernunft vom ausgehenden Mittelalter bis zum Neunzehnten Jahrhundert wurden auf den Altären [IV-167] der neuen Götzen geopfert. Die neuen Systeme wurden sowohl hinsichtlich ihrer Programme als auch ihrer Führer auf den flagrantesten Lügen aufgebaut. In ihren Programmen behaupteten sie, eine Art Sozialismus durchzuführen, während in Wirklichkeit das, was sie taten, die Negation von allem war, was nach sozialistischer Tradition unter diesem Begriff zu verstehen ist. Die Gestalten ihrer Führer unterstrichen diesen Betrug nur noch. Mussolini, ein feiger Prahler, wurde zum Symbol von Männlichkeit und Mut. Hitler, von einer Zerstörungsmanie getrieben, wurde als Erbauer eines neuen Deutschland gepriesen. Stalin, ein kaltblütiger, ehrgeiziger Intrigant, wurde als das liebe Väterchen seines Volkes hingestellt.[34]

Trotzdem sollte man über den Gemeinsamkeiten gewisse wichtige Unterschiede der drei Formen der Diktatur nicht übersehen. Italien, in Bezug auf seine Industrie die schwächste der westeuropäischen Großmächte, blieb trotz seines Sieges im Ersten Weltkrieg relativ schwach und machtlos. Seine Oberschicht war nicht bereit, irgendwelche notwendigen Reformen vorzunehmen, besonders nicht auf dem Gebiet der Landwirtschaft, und seine Bevölkerung war mit dem status quo zutiefst unzufrieden. Der Faschismus sollte mit seinen prahlerischen Schlagworten den verletzten Nationalstolz kurieren und den Groll der Massen von seinen ursprünglichen Gegenständen ablenken; gleichzeitig wollte er aus Italien eine weiter fortgeschrittene Industriemacht machen. Er scheiterte mit allen seinen realistischen Zielen, weil er nie den ernsthaften Versuch unternahm, die drängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes zu lösen.

Deutschland dagegen war das höchstentwickelte und fortschrittlichste Industrieland Europas. Während der Faschismus wenigstens eine wirtschaftliche Funktion hätte haben können, hatte der Nazismus keine derartige Funktion zu erfüllen. Es war der Aufstand des kleinen Mittelstandes und beschäftigungsloser Offiziere und Studenten, der sich auf die Demoralisierung durch die militärische Niederlage und die Inflation und speziell auf die Massenarbeitslosigkeit im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise nach 1929 stützte. Aber er hätte nicht siegen können ohne die aktive Unterstützung durch wichtige Gruppen des Finanz- und Industriekapitals, die sich durch die ständig wachsende Unzufriedenheit der Massen mit dem kapitalistischen System bedroht fühlten. Anfang der Dreißiger Jahre bestand die Mehrheit des Deutschen Reichstages aus Parteien, deren Programm teils aufrichtig, teils unaufrichtig antikapitalistisch war. Diese drohende Gefahr veranlasste wichtige Vertreter des deutschen Kapitalismus, Hitler zu unterstützen.

Russland war das Gegenteil von Deutschland. Es war auf dem Gebiet der Industrie die rückständigste unter den europäischen Großmächten und eben erst im Begriff, einen halbfeudalen Staat hinter sich zu lassen, wenngleich der industrielle Sektor selbst hochentwickelt und zentral gelenkt war. Der plötzliche Zusammenbruch des zaristischen Systems hatte ein Vakuum geschaffen, so dass Lenin hoffte, er könne, wenn er die einzige andere Macht, die das Vakuum hätte ausfüllen können - nämlich die Konstituierende Versammlung - auflöste, unmittelbar von der feudalen Phase in ein industrialisiertes sozialistisches System überspringen. Lenins Politik war jedoch nicht das Produkt eines Augenblicks, sie war die logische Konsequenz seines politischen Denkens, und er hatte sie bereits Jahre vor dem Ausbruch der Russischen [IV-168] Revolution konzipiert. Genau wie Marx glaubte er, es sei die historische Aufgabe der Arbeiterklasse, die Gesellschaft zu emanzipieren, doch hatte er kaum das Vertrauen, dass sie bereit und fähig sein würde, dieses Ziel spontan zu erreichen. Er glaubte, nur dann, wenn diese Arbeiterklasse von einer disziplinierten Gruppe von professionellen Revolutionären geführt und nur, wenn sie von dieser Gruppe dazu gezwungen würde, die Gesetze der Geschichte - wie Lenin sie sah - durchzuführen, könne die Revolution Erfolg haben, anstatt in einer neuen Version einer Klassengesellschaft zu enden. Das Entscheidende bei Lenin war, dass er nicht an eine spontane Aktion der Arbeiter und Bauern glaubte. Er glaubte nicht an sie, weil ihm der Glaube an den Menschen fehlte. Dieser Glaube an den Menschen fehlte den antiliberalen und klerikalen Ideen ebenso, wie er Lenin abging. Andererseits aber war dieser Glaube an den Menschen immer in der Geschichte die Grundlage aller echten progressiven Bewegungen; er ist die wesentlichste Vorbedingung für die Demokratie und den Sozialismus. Der Glaube an die Menschheit ohne den Glauben an den Menschen ist entweder unaufrichtig, oder er führt - sofern er aufrichtig ist - zu Resultaten, wie wir sie in der tragischen Geschichte der Inquisition, in Robespierres Schreckensherrschaft und in Lenins Diktatur finden. Viele demokratische Sozialisten und sozialistische Revolutionäre sahen die Gefahren in Lenins Konzept, und keiner erkannte sie klarer als Rosa Luxemburg. Sie warnte, man habe nur die Wahl zwischen dem Demokratismus und dem Bürokratismus, und die Entwicklung in Russland hat bewiesen, wie richtig ihre Voraussage war. Trotz ihrer leidenschaftlichen und kompromisslosen Kritik am Kapitalismus war sie eine Frau mit einem unerschütterlichen und tiefen Glauben an den Menschen. Als sie und Gustav Landauer von den Soldaten der deutschen Gegenrevolution ermordet wurden, sollte mit ihnen die humanistische Tradition des Glaubens an den Menschen ausgelöscht werden. Dieser mangelnde Glaube an den Menschen hat es den autoritären Systemen ermöglicht, den Menschen zu besiegen und ihn dazu zu verführen, an einen Götzen anstatt an sich selbst zu glauben.

Zwischen der Ausbeutung durch den Frühkapitalismus und der durch den Stalinismus besteht ein nicht geringer Unterschied. Die brutale Ausbeutung der Arbeiter im Frühkapitalismus konnte das Aufkommen neuer, fortschrittlicher Ideen nicht verhindern, obgleich die politische Macht des Staatsapparats hinter dem Kapitalismus stand. Tatsächlich sind ja alle großen sozialistischen Ideen eben in dieser Epoche entstanden, in welcher der Owenismus zur Blüte gelangen konnte und die Chartistenbewegung erst nach zehn Jahren gewaltsam unterdrückt wurde. Selbst die reaktionärste Regierung in Europa, die des russischen Zaren, bediente sich keiner Unterdrückungsmethoden, die mit denen des Stalinismus zu vergleichen gewesen wären. Seit der brutalen Niederwerfung des Aufstandes von Kronstadt gab es in Russland keine Chance mehr für eine fortschrittliche Entwicklung, wie sie selbst in den dunkelsten Perioden des Kapitalismus noch gegeben war. Unter Stalin gingen dem Sowjetsystem die letzten Reste seiner ursprünglichen sozialistischen Absichten verloren. In der Ermordung der alten Garde der Bolschewiken in den Dreißiger Jahren fand diese Tatsache nur ihren letzten dramatischen Ausdruck. Das stalinistische System weist zwar Ähnlichkeiten mit der Frühphase des europäischen Kapitalismus auf, die durch eine rasche Anhäufung von Kapital und die bedenkenlose Ausbeutung der Arbeiter [IV-169] gekennzeichnet war, doch lag der Unterschied darin, dass beim Stalinismus der Terror an die Stelle der ökonomischen Gesetze trat, die im Neunzehnten Jahrhundert den Arbeiter zwangen, die wirtschaftlichen Bedingungen, denen er ausgesetzt war, zu akzeptieren.

b) Der Superkapitalismus

Den genau entgegengesetzten Pol bilden Ideen, die in den Vereinigten Staaten (und auch in Frankreich) von einer Gruppe Industrieller vorgeschlagen werden, die nach einer Lösung des industriellen Problems suchen. Die Weltanschauung dieser Gruppe, die im Council of Profit Sharing Industries (Rat der am Gewinn beteiligenden Industrien) zusammengeschlossen ist, kommt in dem Werk von James F. Lincoln - seit 38 Jahren Direktor der Lincoln Electric Company - besonders klar und deutlich zum Ausdruck. Die Ideen dieser Gruppe gehen von Voraussetzungen aus, die in mancher Hinsicht an die oben zitierten Einwände gegen den Kapitalismus erinnern. So schreibt Lincoln:

Der Industrielle konzentriert sich auf Maschinen und vernachlässigt den Menschen, welcher der Erzeuger und Entwickler der Maschine ist und unbestreitbar weit größere Möglichkeiten besitzt. Er überlegt nicht, dass unentwickelte Genies in seinem Werk Handgriffe verrichten, bei denen sie weder Gelegenheit noch einen Ansporn haben, sich zum Genie oder auch nur zu einem Menschen von normaler Intelligenz und Geschicklichkeit zu entwickeln. (J. F. Lincoln, 1951, S.113 f. - Hervorhebung E. F.).

Der Verfasser hat das Gefühl, dass das mangelnde Interesse des Arbeiters an seiner Arbeit eine Unzufriedenheit erzeugt, die entweder zu einem Nachlassen der Produktivität des Arbeiters oder zum Streik und Klassenkampf führt. Er sieht in seiner Lösung keine Verschönerung unseres Industriesystems, sondern eine Sache von lebenswichtiger Bedeutung für den Fortbestand des Kapitalismus. „Amerika befindet sich in dieser Hinsicht am Scheideweg“, schreibt er. „Es muss eine Entscheidung getroffen werden, und zwar bald. Im allgemeinen hat man wenig Verständnis dafür, aber es bleibt uns keine Wahl. Von der Entscheidung hängt die Zukunft der Vereinigten Staaten und eines jeden Einzelnen von uns ab.“ (J. F. Lincoln, 1951, S. 117.) Ganz im Gegensatz zu den meisten Verteidigern des kapitalistischen Systems kritisiert er die Überbetonung des Profitmotivs im industriellen System:

In der Industrie wird in den Statuten des Unternehmens als Ziel der Betriebsführung angegeben, einen Gewinn zu erzielen, und nichts weiter als einen Gewinn. Außer den Aktionären hat keiner teil an diesem Gewinn, und im allgemeinen arbeiten nur wenige Aktionäre für das Unternehmen. Solange das zutrifft, wird das Ziel, einen Gewinn zu erzielen, bei den Arbeitern keine Begeisterung wecken. Damit erreicht man das nicht. Tatsache ist, dass die meisten Arbeiter das Gefühl haben, dass die Aktionäre bereits zu hoch am Gewinn beteiligt sind. (...) Er, der Arbeiter, fühlt sich von Wirtschaftstheorien über die Kosten des Produktionsprozesses zum Narren gehalten, wenn er sieht, wie das Geld durch die Unfähigkeit und den Egoismus der oberen Stellen vergeudet wird. (J. F. Lincoln, 1951, S. 106-108.)

Diese kritischen Äußerungen sind denen vieler sozialistischer Kritiker des Kapitalismus sehr ähnlich, und sie zeugen von einer nüchternen und realistischen Einschätzung [IV-170] der ökonomischen und menschlichen Gegebenheiten. Die dahinterstehende Weltanschauung steht jedoch in schroffem Gegensatz zu den sozialistischen Ideen. Lincoln ist überzeugt, „dass die Entwicklung des Individuums nur im wilden Konkurrenzspiel des Lebens erfolgen kann“ (J. F. Lincoln, 1951, S. 72). „Die Selbstsucht ist die Triebkraft, welche die Menschheit zu dem macht, was sie ist - im Guten wie im Bösen. Sie ist daher die Macht, von der wir abhängig sind und die wir in die richtigen Bahnen lenken müssen, wenn die Menschheit Fortschritte machen soll.“ (J. F. Lincoln, 1951, S. 89.) Lincoln unterscheidet dann zwischen der „stupiden“ und der „intelligenten“ Selbstsucht. Bei ersterer handelt es sich um die Selbstsucht, die den Menschen zum Stehlen veranlasst, letztere treibt ihn dazu, sich um seine Vervollkommnung zu bemühen, so dass es ihm mit der Zeit besser geht. (Vgl. J. F. Lincoln, 1951, S. 91.) In Bezug auf den Leistungsanreiz stellt Lincoln fest, dass, ebenso wie beim Amateursportler nicht das Geld die ausschlaggebende Rolle spielt, wir annehmen dürfen, dass auch für den Industriearbeiter nicht unbedingt das Geld der Leistungsanreiz ist, genauso wenig wie kurze Arbeitszeit, Sicherheit, Beförderung auf Grund des höheren Dienstalters, Altersversicherung oder Mitbestimmungsrecht (vgl. J. F. Lincoln, 1951, S. 99). Der einzig wirksame Ansporn ist seiner Ansicht nach „die Anerkennung unserer Tüchtigkeit durch unsere Mitmenschen und unsere eigene Überzeugung davon“ (J. F. Lincoln, 1951, S. 101). Als praktische Folgerung aus diesen Ideen schlägt Lincoln eine Methode der industriellen Organisation vor, bei der der Arbeiter „für alles, was für das Unternehmen von Vorteil ist, belohnt wird, und bei der ihm Nachteile erwachsen, wenn er auf allen diesen Gebieten nicht soviel leistet wie die anderen. Er ist Glied eines Teams, und er hat Vorteile oder Nachteile je nach dem, was er leisten kann und tatsächlich auch bei allen Gelegenheiten, die sich ihm bieten, leistet.“ (J. F. Lincoln, 1951, S. 109.) Nach diesem System

wird der Mann von allen eingestuft, die eine bestimmte Phase seiner Arbeit genau kennen. Bei dieser Einstufung wird er belohnt, oder er erleidet eine Einbuße. Man geht bei diesem Programm ähnlich vor wie bei Sportwettkämpfen oder bei der Auswahl einer amerikanischen Nationalmannschaft, wo man sich nach dem Spiel Notizen über die einzelnen Spieler macht. Der Beste der Mannschaft erntet das Lob und erhält den Rang, der ihm zukommt und den er anstrebte. Nach dem hier beschriebenen Bonus-Plan entspricht die Belohnung, die jeder erhält, direkt seinem Beitrag zum Erfolg des Unternehmens. Die Parallele liegt auf der Hand. Jedermann wird seinem laufenden Leistungsbericht entsprechend befördert oder zurückgestuft. Er wird dreimal jährlich einer Beurteilung unterzogen. Das Gesamtergebnis dieser Einstufungen ist für seinen Bonusanteil und seine Beförderung maßgebend. Zum Zeitpunkt, wo ihm seine Einstufung mitgeteilt wird, kann er sich erkundigen, weshalb er gerade so eingestuft wurde und auf welche Weise er sich verbessern könnte, was ihm von seinen Vorgesetzten ausführlich erklärt wird. (J. F. Lincoln, 1951, S. 109 f.)

Die Höhe des Bonus wird folgendermaßen festgelegt: Sechs Prozent des Gewinns werden den Aktionären als Dividende ausgezahlt. „Nachdem die Dividende sichergestellt ist, legen wir das für die Zukunft der Gesellschaft bestimmte ‘Saat-Geld’ beiseite. Die Höhe dieses ‘Saat-Geldes’ bestimmen die Direktoren auf Grund des laufenden Programms.“ (J. F. Lincoln, 1951, S. 111.) Das „Saat-Geld“ dient für Betriebserweiterungen [IV-171] und für die Modernisierung des Maschinenparks. Nachdem diese Abzüge gemacht sind, wird der verbliebene Betrag als Bonus unter den Arbeitern und dem Management verteilt. Insgesamt betrugen die Jahresgutschriften in den letzten sechzehn Jahren minimal 20 Prozent der Löhne und Gehälter und maximal 28 Prozent. Im Durchschnitt erhielt jeder Angestellte in den sechzehn Jahren insgesamt 40 000 Dollar, das heißt jährlich 2 500 Dollar. Sämtliche Arbeiter bekommen neben dem Bonus den gleichen Grundlohn, wie er für vergleichbare Tätigkeiten üblich ist. Ein Mitarbeiter kostete den Lincoln-Betrieb im Jahre 1950 durchschnittlich 7 705 Dollar, während die General Electric Co. ein Mitarbeiter 3 705 Dollar kostete.[35] Bei diesem System florierte die Lincoln-Gesellschaft, die rund 1 000 Arbeiter und Angestellte beschäftigt, sehr gut, und der Verkaufswert ihrer Erzeugnisse pro Arbeiter war etwa doppelt so hoch wie in der übrigen Elektromaschinen-Industrie. Zwischen 1934 und 1945 gab es bei Lincoln überhaupt keine Arbeitsniederlegungen, während in der übrigen Elektroindustrie mindestens elf und höchstens 96 Arbeitsniederlegungen zu verzeichnen waren. Die Fluktuation belief sich nur auf etwa 25 Prozent der Fluktuation in der übrigen Fertigungsindustrie. (Vgl. J. F. Lincoln, 1951, S. 254 ff.)

Das Prinzip des höheren Bonus für höhere Leistung unterscheidet sich in einer Beziehung drastisch vom herkömmlichen Kapitalismus. Die Löhne des Arbeiters sind nicht mehr unabhängig von den Anstrengungen und vom Erfolg seiner Arbeit, sondern stehen dazu in Beziehung. Er hat teil am steigenden Gewinn, während der Aktionär ein reguläres Einkommen bezieht, das in keiner so unmittelbaren Beziehung zu den Einkünften der Firma steht.[36] Aus der Gewinn- und Verlustrechnung der Firma geht deutlich hervor, dass dieses System zu einer Leistungssteigerung der Arbeiter, zu einer geringeren Fluktuation in der Belegschaft und zur Vermeidung von Streiks geführt hat. Während sich jedoch das System in diesem einen wichtigen Punkt vom Prinzip und den Praktiken des herkömmlichen Kapitalismus unterscheidet, kommen doch darin gleichzeitig einige seiner wichtigsten Grundsätze zum Ausdruck, besonders was die menschliche Seite betrifft. Es gründet sich auf das Prinzip der Selbstsucht und des Wettbewerbs, auf die Belohnung mit Geld als Ausdruck sozialer Anerkennung, und ändert an der Stellung des Arbeiters im Arbeitsprozess im Hinblick auf eine für ihn sinnvolle Tätigkeit nur wenig. Lincoln weist immer wieder darauf hin, dass das Vorbild für dieses System die Fußballmannschaft sei, eine Gruppe von Männern, die in einem leidenschaftlichen Wettbewerb mit allen außerhalb der Gruppe stehen und die ebenso innerhalb der Gruppe miteinander konkurrieren, wobei die Gruppe ihre Erfolge diesem Geist einer konkurrierenden Kooperation verdankt. Genau genommen ist dieses System des höheren Bonus für höhere Leistung eine letzte logische [IV-172] Konsequenz des kapitalistischen Systems. Es zeigt die Tendenz, jedermann - den Arbeiter und den Angestellten wie den Manager - zu einem kleinen Kapitalisten zu machen. Es tendiert dazu, in jedem den Geist des Wettbewerbs und der Selbstsucht zu fördern und den Kapitalismus so umzuformen, dass er schließlich die ganze Nation umfasst.[37]

Dieses System, das die Belegschaft am Gewinn beteiligt, unterscheidet sich nicht so sehr von den traditionellen kapitalistischen Praktiken, wie es dies von sich behauptet. Es handelt sich dabei um eine glorifizierte Form des Akkordsystems, bei dem die an die Aktionäre ausbezahlten Gewinne etwas an Bedeutung verloren haben. Trotz des ganzen Geredes über die „menschliche Persönlichkeit“ wird doch die Höhe der an die Arbeiter ausgegebenen Gutschriften und der Dividenden vom Management in selbstherrlicher Weise festgesetzt. Das Prinzip läuft im wesentlichen auf eine „Beteiligung am Gewinn“ und nicht auf eine „Beteiligung an der Arbeit“ hinaus. Aber wenn auch die Prinzipien nicht neu sind, so ist die Beteiligung am Gewinn doch insofern interessant, als sie das logische Ziel eines Superkapitalismus ist, bei dem die Unzufriedenheit des Arbeiters dadurch überwunden wird, dass man ihm das Gefühl gibt, auch er sei ein Kapitalist und aktiv am System beteiligt. [IV-173]

c) Der Sozialismus

Neben dem faschistischen und stalinistischen Totalitarismus und dem Superkapitalismus mit seiner Beteiligung am Gewinn ist die sozialistische Theorie die dritte große kritische Reaktion auf den Kapitalismus. Im Gegensatz zum Faschismus und Stalinismus, welche zu politischen und gesellschaftlichen Realitäten wurden, handelt es sich beim Sozialismus im wesentlichen um eine theoretische Vision. Dies trifft zu, obgleich in England und in den skandinavischen Ländern sozialistische Regierungen für kürzere oder längere Zeit an der Macht waren, da die hinter ihnen stehende Majorität so klein war, dass sie nicht über erste tastende Versuche, ihr Programm einer Umformung der Gesellschaft zu realisieren, hinauskamen.

Leider sind heute, wo ich dieses Buch schreibe, die Wörter „Sozialismus“ und „Marxismus“ derart emotional geladen, dass es schwerfällt, diese Probleme in einer ruhigen Atmosphäre zu diskutieren. Die Assoziationen, welche diese Wörter heute bei vielen hervorrufen, sind „Materialismus“, „Gottlosigkeit“, „Blutvergießen“ oder ähnliches - kurz nur Böses und Schlimmes. Man kann eine derartige Reaktion nur verstehen, wenn man sich klarmacht, in welchem Maß derartige Wörter eine magische Funktion gewinnen können, und wenn man den Niedergang des vernünftigen Denkens, das heißt der Objektivität, bedenkt, der für unsere Zeit so kennzeichnend ist. Verstärkt wird diese irrationale Reaktion auf die Wörter „Sozialismus“ und „Marxismus“ noch durch eine erstaunliche Ignoranz derjenigen, die hysterisch werden, sobald sie diese Wörter hören. Obgleich die Lektüre sämtlicher Schriften von Marx und anderen Sozialisten heute jedermann offensteht, haben doch die meisten von denen, die besonders heftige Gegner des Sozialismus und des Marxismus sind, noch nie ein Wort von Marx gelesen, und viele andere besitzen nur sehr oberflächliche Kenntnisse davon. Wenn das nicht so wäre, wäre es doch wohl unmöglich, dass Menschen von Einsicht und Vernunft die Ideen des Sozialismus und Marxismus derart entstellen können, wie das heute üblich ist. Selbst viele Liberale und solche, die von hysterischen Reaktionen relativ frei sind, halten den Marxismus für ein System, dem die Idee zugrunde liegt, das Interesse am materiellen Gewinn sei die aktivste Kraft im Menschen, die die Gier nach materiellem Wohlstand zu befriedigen suche. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, dass das Hauptargument zugunsten des Kapitalismus die Idee ist, dass das Interesse am materiellen Gewinn der Hauptansporn für das Arbeiten ist, und wir werden sofort erkennen, dass eben der Materialismus, welcher dem Sozialismus zugeschrieben wird, der kennzeichnendste Zug des Kapitalismus ist. Wenn jemand sich die Mühe macht, die sozialistischen Schriftsteller mit einer Spur von Objektivität zu studieren, so wird er finden, dass sie genau die entgegengesetzte Einstellung haben und dass sie am Kapitalismus dessen Materialismus kritisieren, welcher die echten humanen Kräfte im Menschen verkümmern lässt. Tatsächlich kann man den Sozialismus in all seinen verschiedenen Schulen nur begreifen, wenn man ihn als eine der bedeutsamsten idealistischen und moralischen Bewegungen unserer Zeit versteht.

Von allem anderen abgesehen, kann man die politische Torheit dieser falschen Interpretation des Sozialismus von Seiten der westlichen Demokratien nur bedauern. Der Stalinismus hat seine Siege in Russland und Asien eben durch die Anziehungskraft [IV-174] gewonnen, welche die Idee des Sozialismus auf die große Masse der Weltbevölkerung ausübt. Diese Anziehungskraft beruht auf nichts anderem als dem Idealismus der sozialistischen Weltanschauung, auf der geistigen und moralischen Ermutigung, die von ihr ausgeht. Genauso wie Hitler das Wort „Sozialismus“ dazu benutzte, um seine rassischen und nationalistischen Ideen noch schmackhafter zu machen, hat auch Stalin den Begriff des Sozialismus und des Marxismus zu seinen Propagandazwecken missbraucht. Sein Anspruch darauf ist in wesentlichen Punkten unberechtigt. Er hat den rein ökonomischen Aspekt des Sozialismus, die Verstaatlichung der Produktionsmittel, vom Gesamtkonzept abgetrennt und seine humanen und sozialen Ziele in ihr Gegenteil pervertiert. Das stalinistische System steht heute trotz seiner Verstaatlichung der Produktionsmittel den rein ausbeuterischen Formen des frühen westlichen Kapitalismus vielleicht näher als irgendeine andere denkbare Idee von einer sozialistischen Gesellschaft. Ein zwanghaftes Streben nach industriellem Fortschritt, eine rücksichtslose Missachtung des Individuums und die Gier nach persönlicher Macht sind seine Hauptantriebskräfte. Wenn man der These zustimmt, dass der Sozialismus und der Marxismus mit dem Stalinismus mehr oder weniger identisch seien, so leistet man der Propaganda der Stalinisten den größten Dienst. Anstatt nachzuweisen, wie falsch ihre Behauptungen sind, bestätigt man sie noch. Das mag in den Vereinigten Staaten kein wesentliches Problem darstellen, wo die sozialistischen Vorstellungen im Denken der Menschen keine große Rolle spielen, aber in Europa und besonders in Asien, wo das Gegenteil der Fall ist, ist es ein sehr ernstes Problem. Um die Anziehungskraft des Stalinismus in diesen Teilen der Welt zu bekämpfen, müssen wir den Betrug aufdecken und ihn nicht noch bestätigen.

Zwischen den verschiedenen Schulen sozialistischen Denkens, wie sie sich seit dem Ende des Achtzehnten Jahrhunderts entwickelt haben, existieren beträchtliche Unterschiede. Wie das aber so häufig in der Geschichte des menschlichen Denkens der Fall ist, verdunkeln die Streitigkeiten zwischen den Vertretern der einzelnen Schulen die Tatsache, dass das gemeinsame Element bei den verschiedenen sozialistischen Denkern bei weitem wichtiger und entscheidender ist als die Unterschiede.

Man kann sagen, dass der Sozialismus als politische Bewegung und gleichzeitig als eine Theorie, die sich mit den Gesetzen der Gesellschaft befasst und eine Diagnose ihrer Übel stellt, in der Französischen Revolution von Babeuf ins Leben gerufen wurde. Er tritt für die Abschaffung des privaten Grundbesitzes ein und verlangt, dass alle an den Erzeugnissen der Erde teilhaben sollen, dass der Unterschied zwischen Reich und Arm und zwischen Regierenden und Regierten abzuschaffen sei. Er glaubt, die Zeit für eine Republik der Gleichberechtigten (égalitaires), für „die große gastliche Herberge (hospice), die allen offensteht“, sei gekommen.

Im Gegensatz zu der relativ einfachen und primitiven Theorie Babeufs liefert Charles Fourier, dessen erstes Werk, die Théorie des quatre mouvements et des destinées générales“, 1808 erschien, eine höchst komplexe und durchgearbeitete Theorie und Diagnose der Gesellschaft. Er vertritt die Meinung, dass der Mensch und seine Leidenschaften die Grundlage eines jeden Verständnisses der Gesellschaft sind und dass das Ziel einer gesunden Gesellschaft nicht so sehr die Vergrößerung des materiellen Wohlstandes als die Verwirklichung unserer Grundleidenschaft, der brüderlichen [IV-175] Liebe, sein sollte. Unter den menschlichen Leidenschaften betont er besonders die „Schmetterlings-Leidenschaft“, das Bedürfnis des Menschen nach Veränderung, welches den zahlreichen und vielfältigen Möglichkeiten in jedem Menschen entspreche. Die Arbeit sollte ein Vergnügen („travail attrayant“) sein, und täglich zwei Arbeitsstunden sollten genügen. Anstelle der universalen Errichtung großer Monopolbetriebe in allen Zweigen der Industrie fordert er kommunale Verbände im Bereich der Produktion und des Konsums, freie und freiwillige Zusammenschlüsse, bei denen der Individualismus spontan eine Verbindung mit dem Kollektivismus eingehen werde. Nur auf diese Weise könne die dritte historische Phase, nämlich die der Harmonie, die beiden vorangegangenen ersetzen, nämlich jene Gesellschaften, die sich auf die Beziehungen des Sklaven zu seinem Herrn und auf die der Lohnempfänger zu den Unternehmern gründeten. (Vgl. Ch. Fourier, 1851.)

Während Fourier ein Theoretiker mit gewissen fixen Ideen war, war Robert Owen ein Mann der Praxis, der Leiter und Eigentümer eines der bestgeführten Textilwerke Schottlands. Auch für ihn war das Ziel einer neuen Gesellschaft nicht in erster Linie die Steigerung der Produktion, sondern die Verbesserung des Kostbarsten, was es gibt: des Menschen. Ebenso wie bei Fourier gründeten sich seine Ideen auf psychologische Einsichten in den Charakter des Menschen. Die Menschen werden zwar mit bestimmten Charakteranlagen geboren, doch wird ihr Charakter erst durch die Umstände, in denen sie leben, definitiv bestimmt. Sind die sozialen Bedingungen im Leben zufriedenstellend, so entfalten sich die im menschlichen Charakter angelegten guten Tugenden. Owen glaubte, der Mensch sei in allen vorangegangenen Geschichtsepochen nur dazu erzogen worden, sich zu verteidigen oder andere umzubringen. Er meinte, eine neue Gesellschaftsordnung müsse geschaffen werden, in der den Menschen jene Grundsätze eingeübt würden, die es ihnen möglich machten, gemeinschaftlich zu handeln und untereinander wirkliche und echte Bindungen einzugehen. Genossenschaftsähnliche Gruppen von dreihundert bis zweitausend Personen sollten überall auf der Erde gegründet und nach den Grundsätzen der kollektiven Unterstützung innerhalb der Gruppe und der Gruppen untereinander organisiert werden. In jeder dieser Gemeinschaften werde die örtliche Verwaltung in innigster Harmonie mit jedem einzelnen Mitglied wirken.

Eine noch drastischere Verurteilung des Prinzips der Autorität und der Hierarchie finden wir in den Schriften Pierre Joseph Proudhons. Für ihn besteht das Hauptproblem nicht darin, dass man ein politisches System durch ein anderes ersetzt, sondern dass man eine politische Ordnung aufbaut, die ein Ausdruck der Gesellschaft selbst ist. Für die Hauptursache aller Missstände und Übel in der Gesellschaft hält er die hierarchische Struktur der Autorität:

Die Begrenzung der Aufgaben des Staates ist sowohl für die kollektive wie auch für die individuelle Freiheit eine Sache von Leben oder Sterben. (...) Durch Monopole hat die Menschheit vom Erdball Besitz ergriffen, und durch Zusammenschluss wird sie erst zu seinem wahren Herrn werden (zit. nach E. Dolleans, 1948).

Seine Zukunftsvision von einer neuen Gesellschaftsordnung gründet sich auf die Idee der

(...) Gegenseitigkeit, bei der alle Arbeiter, anstatt für einen Unternehmer zu arbeiten, der sie bezahlt und die Erzeugnisse für sich behält, füreinander arbeiten und so zusammenarbeiten, dass sie ein gemeinsames Erzeugnis herstellen, dessen Gewinn sie [IV-176] untereinander teilen (zit. nach E. Dolleans, 1948).

Wesentlich für Proudhon ist, dass diese Zusammenschlüsse frei und spontan erfolgen und nicht vom Staat verordnet werden wie die staatlich finanzierten sozialen Werkstätten, die Louis Blanc forderte. Ein solches vom Staat kontrolliertes System würde seiner Meinung nach nur eine Anzahl großer Zusammenschlüsse bedeuten,

in denen die Arbeit reglementiert und schließlich durch eine Staatspolitik des Kapitalismus versklavt würde. Und was hätten die Freiheit, das universale Glück und die Zivilisation dabei gewonnen? Nichts. Wir hätten nur unsere Ketten gegen andere ausgetauscht, und der soziale Gedanke wäre keinen Schritt vorangekommen. Wir unterstünden noch immer der gleichen willkürlichen Macht, um nicht zu sagen, dem gleichen wirtschaftlichen Fatalismus. (Zit. nach E. Dolleans, 1948.)

Diese Stelle beweist deutlich, dass niemand die später im Stalinismus Wirklichkeit gewordene Gefahr klarer erkannte, als das Proudhon bereits um die Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts getan hat. Er war sich auch über die Gefahren des Dogmatismus klar, welcher sich dann in der Entwicklung der marxistischen Theorie so verheerend auswirken sollte, und hat dies in einem Brief an Marx deutlich zum Ausdruck gebracht:

Lassen Sie uns, wenn Sie wollen, miteinander nach den gesellschaftlichen Gesetzen forschen, nach der Art, wie sie verwirklicht werden, nach der Methode, wie sie zu entdecken sind - aber um Gottes willen, wenn wir alle Dogmen zerbrochen haben, lassen Sie uns nicht daran denken, unsererseits dem Volke ein Dogma einzuflößen; lassen Sie uns nicht den Widersprüchen ihres Landsmanns Luther verfallen, der die protestantische Theologie mit Exkommunikationen und Anathemas zu begründen begann, nachdem er die katholische Theologie über den Haufen geworfen hatte. (Zit. nach E. Dolleans, 1948, S. 96.)

Proudhons Denken gründet sich auf Ethik, bei der die Selbstachtung die oberste sittliche Maxime ist. Aus der Selbstachtung ergibt sich die Achtung vor dem Mitmenschen als zweite sittliche Maxime. Diese Sorge um die innere Wandlung des Menschen als Grundlage einer neuen Gesellschaftsordnung hat Proudhon in einem Brief zum Ausdruck gebracht, in dem es heißt:

Die Alte Welt befindet sich in einem Auflösungsprozess, (...) man kann sie nur durch eine Revolution sowohl in den Ideen wie auch in den Herzen ändern. (Brief an Jules Michelet vom Januar 1860, zit. nach E. Dolleans, 1948, S. 7. - Hervorhebung E. F.)

Auch in den Schriften von Michail Bakunin finden wir die gleiche Erkenntnis der Gefahren einer Zentralisierung und den gleichen Glauben an die produktiven Kräfte des Menschen, wenn auch mit einer romantischen Glorifizierung der Zerstörung untermischt. In einem Brief aus dem Jahre 1868 sagt er:

Unser aller großer Lehrer Proudhon sagte, die unglücklichste Kombination, zu der es kommen könnte, wäre, wenn sich der Sozialismus mit dem Absolutismus verbünden würde; wenn das Streben des Volkes nach wirtschaftlicher Freiheit und materiellem Wohlstand durch die Diktatur und die Konzentration aller politischen und sozialen Macht im Staat erreicht würde. Möge uns die Zukunft vor den Wohltaten des Despotismus bewahren; aber möge sie uns auch vor den unglückseligen Folgen und der Verdummung durch einen doktrinären oder einen Staats-Sozialismus bewahren. (...) Nichts Lebendiges und Menschliches kann ohne Freiheit gedeihen, und eine Form des Sozialismus, welche die Freiheit beseitigt oder sie nicht als das einzige schöpferische Prinzip und die einzige Grundlage [IV-177] anerkennt, würde uns direkt in die Sklaverei und Bestialität führen. (Zit. nach E. Dolleans, 1948, S. 7.)

Fünfzig Jahre nach Proudhons Brief an Marx hat Pjotr Kropotkin seine Idee des Sozialismus in der Feststellung zusammengefasst: Anzustreben ist

die vollständigste Entwicklung der Individualität, verbunden mit der höchsten Entwicklung der freiwilligen Assoziation unter allen Aspekten, in allen möglichen Graden, für alle erdenkbaren Ziele: eine immer wechselnde Assoziation, die in sich die Elemente ihrer Dauer trägt und die Formen annimmt, welche in jedem Augenblick am besten dem vielfältigen Trachten aller entsprechen (zit. nach M. Buber, 1950, S. 76).

Kropotkin hat wie viele seiner sozialistischen Vorgänger mit Nachdruck auf die dem Menschen wie auch den Tieren angeborene Neigung zur Kooperation und zur gegenseitigen Hilfe hingewiesen.

Ein Anhänger der humanistischen und ethischen Vorstellungen Kropotkins war einer der letzten großen Vertreter anarchistischer Ideen: Gustav Landauer. Unter Bezugnahme auf Proudhon sagt er, dass die soziale Revolution keinerlei Ähnlichkeit mit einer politischen Revolution habe, dass sie „allerdings ohne vielerlei politische Revolution nicht lebendig werden und bleiben kann, dass sie aber ein friedlicher Aufbau, ein Organisieren aus neuem Geiste und zu neuem Geiste und nichts weiter sei“ (zit. nach M. Buber, 1950, S. 91). Die Aufgabe der Sozialisten und ihrer Bewegung definiert er folgendermaßen: „den Geist auszulösen, der hinter dem Staate gefangen sitzt“. Diese Bereitung aber, die wirkliche „Umwandlung der Gesellschaft kann nur in Liebe, in Arbeit, in Stille kommen“ (M. Buber, 1950, S. 91).

Die Erörterung der Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels erfordert mehr Raum als die der Ideen der anderen oben erwähnten sozialistischen Denker, zum Teil, weil ihre Theorien komplizierter sind und einen weiteren Bereich umfassen und weil sie auch nicht ohne Widersprüche sind, zum Teil aber auch, weil die marxistische Richtung des Sozialismus zu der dominierenden Form geworden ist, die das sozialistische Denken in der Welt genommen hat.[38]

Ebenso wie bei allen anderen Sozialisten ist die Hauptsorge von Marx der Mensch. Radikal sein bedeutet bei Marx, an die Wurzeln gehen, und die Wurzel ist der Mensch selbst. Die Weltgeschichte ist nichts als die Erzeugung des Menschen, die Geschichte der Geburt des Menschen. Aber die gesamte Geschichte ist auch die Geschichte der Entfremdung des Menschen von sich selbst, von seinen eigenen menschlichen Kräften: Die Konsolidierung unseres eigenen Produkts zu einer objektiven Macht über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen enttäuscht und unsere Berechnungen zunichte macht, ist einer der Hauptfaktoren aller bisherigen geschichtlichen Entwicklung. Der Mensch war das Objekt der Umstände, er muss zum Subjekt werden, so dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen wird. Freiheit bedeutet für Marx nicht nur Freiheit von politischen Unterdrückern, sondern auch Freiheit von der Beherrschung des Menschen durch Dinge und Umstände. Der freie [IV-178] Mensch ist der reiche Mensch, jedoch nicht reich in einem ökonomischen Sinn, sondern reich im humanen Sinn. Reich ist für Marx der Mensch, der viel ist, und nicht der, der viel hat. (Vgl. K. Marx, 1971, S. 246.)

Die Analyse der Gesellschaft und des Geschichtsprozesses muss mit dem Menschen und nicht mit einer Abstraktion beginnen, aber mit dem wirklichen, konkreten Menschen mit all seinen physiologischen und psychologischen Eigenschaften. Sie muss mit einer Auffassung vom Wesen des Menschen beginnen, und die Untersuchung von Wirtschaft und Gesellschaft dient nur dazu, verstehen zu lernen, wie die Umstände den Menschen verkrüppelt haben, wie er sich selbst und seinen Kräften entfremdet wurde. Die Natur des Menschen kann nicht von den besonderen Manifestationen der menschlichen Natur im kapitalistischen System abgeleitet werden. Unser Ziel muss sein zu erkennen, was für den Menschen gut ist. Aber, so fragt K. Marx:

Wenn man zum Beispiel wissen will, was ist einem Hunde nützlich?, so muss man die Hundenatur ergründen. Diese Natur selbst ist nicht aus dem „Nützlichkeitsprinzip“ zu konstruieren. Auf den Menschen angewandt, wenn man alle menschliche Tat, Bewegung, Verhältnisse usw. nach dem Nützlichkeitsprinzip beurteilen will, handelt es sich erst um die menschliche Natur im allgemeinen und dann um die in jeder Epoche historisch modifizierte Menschennatur. Bentham macht kein Federlesens. Mit der naivsten Trockenheit unterstellt er den modernen Spießbürger, speziell den englischen Spießbürger, als den Normalmenschen. (K. Marx, 1971a, Band I, S. 637.)

Das Ziel der Entwicklung des Menschen ist für Marx eine neue Harmonie zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Natur, eine Entwicklung, bei der die Bezogenheit des Menschen auf seinen Mitmenschen seinem wichtigsten menschlichen Bedürfnis entsprechen wird. Für ihn ist der Sozialismus eine Vereinigung, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist, eine Gesellschaft, in der das „Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist“ (K. Marx, 1971a, Band I, S. 618). Dieses Ziel nennt er die Verwirklichung des Naturalismus und des Humanismus. Es unterscheidet sich sowohl vom Idealismus als auch vom Materialismus und verbindet doch den Wahrheitsgehalt beider.

Wie glaubt Marx, dass diese „Emanzipation des Menschen“ zu erreichen sei? Seine Lösung basiert auf dem Gedanken, dass der Prozess der Selbstentfremdung des Menschen in der kapitalistischen Produktionsweise seinen Höhepunkt erreicht hat, weil die Körperkraft des Menschen zu einer Ware und daher der Mensch zu einem Ding geworden ist. Die Arbeiterklasse ist für Marx die am meisten entfremdete Klasse der Bevölkerung, und aus eben diesem Grund ist es auch diejenige, welche den Kampf um die menschliche Emanzipation anführen wird. In der Sozialisierung der Produktionsmittel sieht er die Vorbedingung für die Umwandlung des Menschen in einen aktiven und verantwortlichen Teilnehmer am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozess und an der Überwindung der Kluft zwischen der individuellen und der gesellschaftlichen Natur des Menschen. „Erst wenn der Mensch seine ‘forces propres’ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat“ - es ist darum nicht, wie Rousseau meint, nötig, die Natur des Menschen zu verändern, ihn seiner ‘forces propres’ zu berauben und ihn von neuem mit gesellschaftlichem Charakter auszustatten - [IV-179] „und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (K. Marx, 1961a, S. 370.)

Marx nimmt an, dass sich das Wesen und der Charakter des Arbeitsprozesses ändern werden, sobald der Arbeiter nicht mehr „angestellt“ ist. Die Arbeit wird dann zu einem sinnvollen Ausdruck menschlicher Kräfte werden und keine sinnlose Plackerei mehr sein. Wie wichtig für Marx diese neue Auffassung von der Arbeit war, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass er soweit ging, den Vorschlag im Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zur völligen Abschaffung der Kinderarbeit zu kritisieren. (Ich bin G. Fuchs für seine Anregungen zu dieser Frage besonders zu Dank verpflichtet.) Natürlich war Marx gegen die Ausbeutung von Kindern, doch war er gegen das Prinzip, dass Kinder überhaupt nicht arbeiten sollten, er verlangte vielmehr, dass zu ihrer Erziehung auch die handwerkliche Ausbildung gehören sollte:

Aus dem Fabriksystem, wie man im Detail bei Robert Owen verfolgen kann, entspross der Keim der Erziehung der Zukunft, welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Kraft mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen. (K. Marx, 1971a, Band I, S. 507 f.)

Nach Marx musste die Arbeit - wie für Fourier - attraktiv gemacht werden und den Bedürfnissen und Wünschen des Menschen gerecht werden. Aus diesem Grund schlägt er - genau wie Fourier und andere vor ihm - vor, dass niemand für eine besondere Arbeit spezialisiert werden, vielmehr jeder verschiedene Tätigkeiten ausüben sollte, wie sie seinen verschiedenen Interessen und Möglichkeiten entsprächen.

Marx sah in der ökonomischen Umwandlung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus den entscheidenden Weg zur Befreiung und Emanzipation der Menschen, zu einer „wahren Demokratie“. Wenn auch in seinen späteren Schriften wirtschaftliche Fragen eine größere Rolle spielen, als das Problem des Menschen und seiner menschlichen Bedürfnisse, so wurde doch der ökonomische Bereich für ihn zu keiner Zeit zum Selbstzweck, und er hörte nie auf, ein Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu sein. Das geht besonders deutlich aus seiner Diskussion dessen hervor, was er als „rohen Kommunismus“ bezeichnet, worunter er einen Kommunismus versteht, der den Nachdruck ausschließlich auf die Abschaffung des Privateigentums bei den Produktionsmitteln legt:

Der physische unmittelbare Besitz gilt ihm (dem rohen Kommunismus) als einziger Zweck des Lebens und Daseins; die Bestimmung des Arbeiters wird nicht aufgehoben, sondern auf alle Menschen ausgedehnt. (...) Dieser Kommunismus - indem er die Persönlichkeit des Menschen überall negiert - ist aber nur der konsequente Ausdruck des Privateigentums, welches diese Negation ist. Der allgemeine und als Macht sich konstituierende Neid ist nur die versteckte Form, in welcher die Habsucht sich herstellt und nur auf eine andere Weise sich befriedigt. (...) Der rohe Kommunist ist nur die Vollendung dieses Neides und dieser Nivellierung von dem vorgestellten Minimum aus. (...) Wie wenig diese Aufhebung des Privateigentums eine [IV-180] wirkliche Aneignung ist, beweist eben die abstrakte Negation der ganzen Welt, der Bildung und der Zivilisation; die Rückkehr zur unnatürlichen Einfachheit des armen und bedürfnislosen Menschen, der nicht über das Privateigentum hinaus, sondern noch nicht einmal bei demselben angelangt ist. (K. Marx, 1971, S. 233 f.)

Noch weit komplexer und in vielfacher Weise auch widersprüchlicher sind die Ansichten von Marx und Engels zur Frage des Staates. Zweifellos waren Marx und Engels der Ansicht, dass das Ziel des Sozialismus nicht nur eine klassenlose, sondern auch eine staatslose Gesellschaft wäre, staatslos wenigstens in dem Sinn, dass der Staat, wie Engels sich ausdrückt, die Funktion der „Verwaltung von Dingen“ und nicht die der „Regierung von Menschen“ haben sollte.

Engels sagte 1874 in völliger Übereinstimmung mit der Formulierung, die Marx im Bericht der Kommission zur Überprüfung der Tätigkeit des Bakuninismus im Jahre 1872 gefunden hatte, alle Sozialisten seien darin einig, dass der Staat und mit ihm alle politische Autorität infolge der künftigen sozialen Revolutionen verschwinden werde. Diese antistaatlichen Ansichten von Marx und Engels und ihre Opposition gegen eine zentralisierte Form der politischen Autorität kommen in Marx’ Erklärungen über die Pariser Kommune besonders klar zum Ausdruck. In seiner Ansprache an den Allgemeinen Rat der Internationale (General Council of The International) über den „Bürgerkrieg in Frankreich“ betonte Marx die Notwendigkeit einer Dezentralisierung anstelle einer zentralisierten Staatsmacht, deren Ursprung im Prinzip der absoluten Monarchie zu suchen sei. Es würde zu einer weitgehend dezentralisierten Gemeinschaft kommen:

Die wenigen Funktionen, „welche dann noch für eine Zentralisierung übrigbleiben“ würden, sollten an kommunale Beamte übertragen werden. (...) „Die Kommunalverfassung würde dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bisher der Schmarotzerauswuchs ‘Staat’, der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat.“ (...) Er sieht in ihr die „endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“. Die Kommune wollte „das individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital, in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt“, und zwar der in Produktivgenossenschaften assoziierten Arbeit. (Zit. nach M. Buber, 1950, S. 161 und 148 f.)

Eduard Bernstein hat auf die Ähnlichkeit zwischen diesen Vorstellungen von Marx und den antistaatlichen und antizentralistischen Ansichten Proudhons hingewiesen, während Lenin behauptete, die Kommentare von Marx enthielten keinerlei Hinweise darauf, dass er für eine Dezentralisierung eingetreten sei. Sowohl Bernstein wie auch Lenin dürften mit ihrer Interpretation der Einstellung von Marx und Engels recht haben. Die Lösung des Widerspruchs liegt darin, dass Marx zwar für eine Dezentralisierung war und er im Absterben des Staates das Ziel sah, das der Sozialismus anstreben solle und auch schließlich erreichen würde, dass er aber der Meinung war, dies könne erst geschehen, nachdem die Arbeiterklasse an die politische Macht gekommen sei und den Staat umgeformt habe, und nicht vorher. Die Machtergreifung im Staat war für Marx das zur Erreichung dieses Zieles - der Abschaffung des Staates - notwendige Mittel. [IV-181]

Bedenkt man jedoch Marx’ Tätigkeit in der Ersten Internationale, seine dogmatische und intolerante Haltung gegenüber allen, die auch nur im geringsten von ihm abwichen, so kann man kaum bezweifeln, dass Lenins zentralistische Interpretation von Marx diesem nicht unrecht tat, wenngleich dessen Übereinstimmung mit Proudhon in Bezug auf die Dezentralisierung ebenfalls zu seinen authentischen Ansichten und Doktrinen gehörte. Dieser Zentralismus von Marx war letzten Endes die Ursache für die tragische Entwicklung der sozialistischen Idee in Russland. Während Lenin wenigstens gehofft haben mag, dass es schließlich noch zu einer Dezentralisierung kommen könnte, eine Idee, die im Konzept der Sowjets tatsächlich deutlich zu erkennen ist, wo die Entscheidungen auf der Ebene kleinster und höchst konkreter dezentralisierter Gruppen getroffen wurden, entwickelte der Stalinismus die andere Seite dieser widersprüchlichen Auffassung, das Prinzip der Zentralisation, zur Praxis der rücksichtslosesten Staatsorganisation, die die Welt je gekannt hat und die noch zentralistischer war als selbst Faschismus und Nazismus.

Die Widersprüche bei Marx reichen noch tiefer, als es in den sich widersprechenden Prinzipien der Zentralisation und Dezentralisation zum Ausdruck kommt. Einerseits war Marx wie alle anderen Sozialisten davon überzeugt, dass die Emanzipation des Menschen nicht in erster Linie eine politische, sondern eine ökonomische und soziale Frage ist; dass die Lösung des Problems der Freiheit nicht in einer Umgestaltung der politischen Staatsform, sondern in der ökonomischen und sozialen Umformung der Gesellschaft zu finden ist. Andererseits waren Marx und Engels trotz ihrer eigenen Theorien in vieler Hinsicht noch in der traditionellen Vorstellung befangen, dass die politische Sphäre über die sozio-ökonomische dominiere. Sie konnten sich nicht von der traditionellen Ansicht, von der Wichtigkeit des Staates und der politischen Macht, von der Idee der primären Bedeutung eines bloß politischen Wechsels freimachen, von einer Idee, die das Leitmotiv der großen bürgerlichen Revolutionen im Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhundert gewesen war. In dieser Beziehung waren Marx und Engels in ihren Ideen mehr „bourgeois“ als Männer wie Proudhon, Bakunin, Kropotkin und Landauer. So paradox es klingen mag, die leninistische Entwicklung des Sozialismus stellt eher einen Rückschritt zu den bürgerlichen Vorstellungen vom Staat und der politischen Macht dar, als dass es sich dabei um die neue sozialistische Auffassung handelt, wie sie bei Owen, Proudhon und anderen so viel klarer zum Ausdruck kommt. Dieses Paradoxon im Denken von Marx hat Martin Buber deutlich herausgestellt:

Diese unabtrennbaren Bestandteile der Kommunenidee hat Marx hingenommen, ohne sie mit seinem eigenen Zentralismus zu konfrontieren und zwischen beiden zu entscheiden. Dass er die tiefe Problematik, die sich hier auftut, anscheinend nicht sah, liegt an der Hegemonie des politischen Gesichtspunkts, die für ihn überall bestand, wo es um die Revolution, ihre Vorbereitung und ihr Werk ging. Von den drei Modi des Denkens in Dingen des öffentlichen Lebens, dem ökonomischen, dem sozialen und dem politischen, hat Marx den ersten mit methodischer Meisterschaft beherrscht, dem dritten war er mit Leidenschaft ergeben, mit dem sozialen ist er - so absurd das auch in den Ohren eines bedingungslosen Marxisten klingen mag - nur selten in näheren Umgang getreten, und nie ist er für ihn bestimmend geworden. (M. Buber, 1950, S. 163.) [IV-182]

Eng verwandt mit seinem Zentralismus ist die Einstellung von Marx zur Revolution. Es trifft zwar zu, dass Marx und Engels einräumten, die Machtübernahme der Sozialisten im Staat müsse nicht unbedingt (wie zum Beispiel in England und in den Vereinigten Staaten) durch Gewalt und mit Hilfe einer Revolution geschehen, doch ist ebenso unbestreitbar, dass sie im ganzen gesehen der Ansicht waren, die Arbeiterschaft müsse, um ihre Ziele zu erreichen, durch eine Revolution die Macht ergreifen. Ja, sie waren für die allgemeine Wehrpflicht und befürworteten sogar gelegentlich internationale Kriege, um auf diese Weise die revolutionäre Machtergreifung zu erleichtern. Unsere Generation ist Zeuge der tragischen Folgen der Gewaltherrschaft und Diktatur in Russland geworden. Wir haben gesehen, dass sich die Anwendung von Gewalt innerhalb der Gesellschaft ebenso destruktiv für das menschliche Wohlergehen auswirkt wie deren Anwendung in den internationalen Beziehungen in der Form eines Krieges. Wenn man aber Marx heute in erster Linie vorwirft, er sei für Gewalt und Revolution eingetreten, so ist das eine Verdrehung der Tatsachen. Die Idee der politischen Revolution ist keine spezifisch marxistische oder sozialistische, sondern die traditionelle Idee der bürgerlichen Gesellschaft der letzten dreihundert Jahre. Weil das Bürgertum glaubte, dass die Abschaffung der in der Monarchie investierten politischen Macht und die politische Machtergreifung durch das Volk die Lösung des sozialen Problems bedeuten würde, sah es in der politischen Revolution ein Mittel zur Erlangung der Freiheit. Unsere moderne Demokratie ist das Ergebnis von Gewalt und Revolution. Die Kerensky-Revolution von 1917 und die Deutsche Revolution von 1918 wurden in den demokratischen Ländern des Westens warm begrüßt. Es war der tragische Fehler von Marx, ein Fehler, der zur Entwicklung des Stalinismus mit beigetragen hat, dass er sich nicht von der traditionellen Überbewertung der politischen Macht und Gewalt freigemacht hat. Er hat im Gegenteil diese Ideen als geistiges Erbe übernommen, und es handelte sich dabei nicht um die neue sozialistische Auffassung.

Selbst eine kurze Diskussion über Marx wäre unvollständig, wenn man seine Theorie des historischen Materialismus unberücksichtigt ließe. In der Geistesgeschichte dürfte diese Theorie der beständigste und wichtigste Beitrag sein, den Marx für das Verständnis der die Gesellschaft beherrschenden Gesetze geleistet hat. Seine Prämisse lautet, dass der Mensch, bevor er irgendeine kulturelle Tätigkeit in Angriff nehmen kann, zunächst sich die Mittel für seinen physischen Lebensunterhalt verschaffen muss. Die Art und Weise, wie er produziert und konsumiert, wird von einer Reihe von objektiven Bedingungen bestimmt: von seiner eigenen Körperkonstitution, von den Produktivkräften, die ihm zur Verfügung stehen und die ihrerseits von der Fruchtbarkeit des Bodens, von den natürlichen Reichtümern des Landes, den Kommunikationsmitteln und den Techniken abhängen, welche er entwickelt. Marx postulierte, dass die materiellen Bedingungen des Menschen die Art seiner Produktion und seines Konsums bestimmen und dass diese wiederum seine sozio-politische Organisation, seine Lebenspraxis und letzten Endes auch die Art seines Denkens und Fühlens bedingen. Man hat diese Theorie weitgehend missverstanden, indem man sie so interpretierte, als habe Marx damit sagen wollen, dass das Streben nach Gewinn das Hauptmotiv beim Menschen sei. Tatsächlich ist das aber die in der kapitalistischen [IV-183] Denkweise vorherrschende Ansicht, bei der man immer wieder betont, dass der Hauptansporn des Menschen bei seiner Arbeit sein Streben nach finanziellem Gewinn sei. Die Auffassung von Marx bezüglich der Bedeutung des ökonomischen Faktors war keine psychologische Konzeption im Sinne einer subjektiven ökonomischen Motivation; sie war vielmehr soziologischer Natur in dem Sinn, dass er in der ökonomischen Entwicklung die objektive Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung sah. (Vgl. hierzu Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie: Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus (1932a, GA I, S. 37-35) sowie J. A. Schumpeter, 1947, S. 11 f.) Seine Hauptkritik am Kapitalismus lautete gerade, dass dieser den Menschen durch die Überbetonung seiner ökonomischen Interessen verkrüppele, und der Sozialismus war für ihn eine Gesellschaftsform, in der der Mensch durch eine vernünftigere und daher produktivere Form der Wirtschaftsorganisation von dieser Knechtschaft befreit würde. Marx’ Materialismus unterschied sich wesentlich von dem im Neunzehnten Jahrhundert vorherrschenden Materialismus. Letzterer vertrat die Ansicht, dass die geistigen Phänomene durch materielle Phänomene verursacht würden. So glaubten zum Beispiel die extremen Vertreter dieser Art von Materialismus, das Denken sei ein Produkt der Gehirntätigkeit, genauso „wie der Urin das Produkt der Nierentätigkeit ist“. Marx war dagegen der Ansicht, seelische und geistige Phänomene seien als Ausdruck der gesamten Lebenspraxis, als Ergebnis der Art der Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen und zur Natur zu verstehen. Mit seiner dialektischen Methode hat Marx den Materialismus des Neunzehnten Jahrhunderts überwunden und eine wahrhaft dynamische und ganzheitliche Theorie entwickelt, die sich auf die Tätigkeit des Menschen, und nicht auf seine Physiologie gründet.

Die Theorie des historischen Materialismus enthält wichtige wissenschaftliche Begriffe zum Verständnis der Gesetze der Geschichte. Sie wäre noch fruchtbarer geworden, wenn die Nachfolger von Marx sie weiterentwickelt hätten, anstatt sie in einem sterilen Dogmatismus steckenbleiben zu lassen. Der Ansatzpunkt wäre die Erkenntnis gewesen, dass Marx und Engels nur einen ersten Schritt getan hatten, als sie die Wechselwirkung in der Entwicklung von Wirtschaft und Kultur feststellten. Marx hatte den komplexen Charakter der menschlichen Leidenschaften unterschätzt. Er hatte nicht genügend berücksichtigt, dass die menschliche Natur selbst Bedürfnisse und Gesetze in sich trägt, die sich in ständiger Wechselwirkung mit den ökonomischen Bedingungen befinden, welche die historische Entwicklung gestalten. (Vgl. meine Analyse in Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, GA I, S. 379-392). Da es ihm an ausreichenden psychologischen Einsichten fehlte, hatte er keine zureichende Vorstellung vom menschlichen Charakter und war sich nicht bewusst, dass der Mensch zwar von der Art der gesellschaftlichen und ökonomischen Organisation geformt wird, dass aber auch er sie seinerseits formt. Er hat die Leidenschaften und Strebungen, die in der Natur des Menschen und in den Bedingungen seiner Existenz verwurzelt sind und selbst die mächtigste Triebkraft für die menschliche Entwicklung darstellen, nicht genügend erkannt. Aber diese Mängel sind die zwangsläufige Folge der Einseitigkeit, wie wir sie in jedem produktiven wissenschaftlichen Konzept finden, und Marx und Engels waren sich dieser Grenzen durchaus bewusst. Engels brachte diese Erkenntnis in dem bekannten Brief zum Ausdruck, in dem er schrieb, Marx und er hätten durch die Neuheit ihrer Entdeckung der Tatsache nicht genügend Beachtung geschenkt, dass die Geschichte nicht allein von [IV-184] ökonomischen Bedingungen bestimmt wird, sondern dass gerade die kulturellen Faktoren die wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft auch ihrerseits beeinflussen.

Marx selbst widmete sein Interesse mehr und mehr der rein wirtschaftlichen Analyse des Kapitalismus. An der Bedeutung seiner Wirtschaftstheorie ändert sich nichts durch die Tatsache, dass seine grundsätzlichen Annahmen und Voraussagen nur teilweise richtig waren und dass er sich in einem beträchtlichen Ausmaß geirrt hat. Dies gilt besonders in Bezug auf seine Annahme vom unabdingbaren (relativen) Niedergang der Arbeiterklasse. Auch seine romantische Idealisierung der Arbeiterklasse war falsch; sie gründete sich auf rein theoretische Erwägungen und nicht auf die Beobachtung der menschlichen Wirklichkeit dieser Klasse. Aber trotz aller Mängel stellten seine Wirtschaftstheorie und seine scharfsinnige Analyse der ökonomischen Struktur des Kapitalismus vom wissenschaftlichen Standpunkt aus einen entscheidenden Fortschritt gegenüber allen anderen sozialistischen Theorien dar.

Aber in seiner Stärke lag gleichzeitig auch seine Schwäche. Marx begann seine ökonomische Analyse mit der Absicht, die Bedingungen für die Entfremdung des Menschen herauszufinden, und obwohl er meinte, dies werde nur relativ kurze Zeit in Anspruch nehmen, widmete er doch den größten Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit fast ausschließlich der ökonomischen Analyse. Obwohl er sein Ziel - die Emanzipation des Menschen - nie aus dem Auge verlor, so wurde doch seine Kritik am Kapitalismus genau wie seine sozialistischen Interessen an den humanen Fragen mehr und mehr von seinen ökonomischen Überlegungen überwuchert. Er erkannte nicht die irrationalen Kräfte im Menschen, die ihm Angst vor der Freiheit einjagen und die seine Gier nach Macht und seinen Zerstörungstrieb verursachen. Ganz im Gegenteil gründete sich seine Auffassung auf die stillschweigende Voraussetzung der natürlichen Gutheit des Menschen, die sich geltend machen würde, sobald er von den ökonomischen Ketten befreit wäre, die ihn zum Krüppel machten. Die berühmte Behauptung am Schluss des Kommunistischen Manifests, dass die Arbeiter nichts „zu verlieren [haben] als ihre Ketten“ (K. Marx, 1971, S. 560), enthält einen tiefgreifenden psychologischen Irrtum. Mit ihren Ketten haben sie auch alle jene irrationalen Bedürfnisse und deren Befriedigung eingebüßt, die sich ausbildeten, während sie noch ihre Ketten trugen. In dieser Hinsicht sind Marx und Engels nie über den naiven Optimismus des Achtzehnten Jahrhunderts hinausgekommen.

Diese Unterschätzung der Komplexität der menschlichen Leidenschaften hat zu drei höchst gefährlichen Irrtümern im Denken von Marx geführt. Vor allem führte sie dazu, dass er dem moralischen Faktor im Menschen nicht genügend Beachtung schenkte. Eben weil er annahm, das Gute im Menschen werde sich automatisch geltend machen, sobald die wirtschaftlichen Veränderungen erreicht seien, sah er nicht, dass eine bessere Gesellschaft nicht von Menschen ins Leben gerufen werden kann, die sich nicht zuvor selbst moralisch gewandelt hatten. Er ging, wenigstens in seinen Äußerungen, nicht auf die Notwendigkeit einer neuen sittlichen Orientierung ein, ohne die alle politischen und wirtschaftlichen Veränderungen nutzlos sind.

Der zweite, auf die gleiche Ursache zurückzuführende Irrtum war seine groteske Fehleinschätzung der Chancen zur Verwirklichung des Sozialismus. Im Unterschied [IV-185] zu Männern wie Proudhon und Bakunin (und später zu Jack London in seinem Roman Iron Heel), welche die Finsternis voraussahen, die die Welt des Westens umfangen würde, bevor das neue Licht schiene, glaubten Marx und Engels an die unmittelbar bevorstehende Ankunft der „guten Gesellschaft“, und sie waren sich nur vage der Möglichkeit bewusst, dass es zu einer neuen Barbarei in Form des kommunistischen und faschistischen Totalitarismus und zu Kriegen von einer ungeahnten Destruktivität kommen könnte. Diese unrealistische Fehleinschätzung war für viele der theoretischen und politischen Irrtümer im Denken von Marx und Engels verantwortlich und wurde zur Basis für die Zerstörung des Sozialismus, die mit Lenin begann.

Der dritte Irrtum war Marx’ Auffassung, die Sozialisierung der Produktionsmittel sei nicht nur die notwendige, sondern auch eine ausreichende Voraussetzung für die Umwandlung der kapitalistischen in eine sozialistisch-kooperative Gesellschaft. Auch diesem Irrtum lag sein übermäßig vereinfachendes und übertrieben optimistisches rationalistisches Menschenbild zugrunde. Ebenso wie Freud der Ansicht war, dass man den Menschen nur von seinen unnatürlichen und überstrengen sexuellen Tabus befreien müsse, um ihn seelisch gesund zu machen, so glaubte Marx, dass die Befreiung von der Ausbeutung automatisch freie und zur Zusammenarbeit bereite Menschen erzeugen werde. Hinsichtlich der unmittelbaren Auswirkung einer Veränderung der Umweltbedingungen war er genauso optimistisch wie die Enzyklopädisten des Achtzehnten Jahrhunderts. Er zog die Macht irrationaler und destruktiver Leidenschaften, die nicht von einem Tag zum anderen durch wirtschaftliche Veränderungen umzuwandeln waren, zu wenig in Betracht. Freud erkannte nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs die Macht der Destruktivität und nahm in seinem gesamten System drastische Veränderungen vor, indem er nun den Destruktionstrieb für ebenso stark und unausrottbar erklärte wie den Eros. Marx ist nie zu einer derartigen Erkenntnis gelangt und hat seine einfache Formel von der Sozialisierung der Produktionsmittel als den geraden Weg zur Erreichung der sozialistischen Ziele niemals geändert.

Die andere Ursache für diesen Irrtum war seine Überschätzung der bereits erwähnten politischen und ökonomischen Maßnahmen. Auf eine merkwürdig unrealistische Weise übersah er, dass es für die Persönlichkeit des Arbeiters kaum einen Unterschied macht, ob sich das Unternehmen im Besitz des „Volkes“, d. h. des Staates mit seiner Verwaltungsbürokratie befindet oder ob es von einer von den Aktionären eingestellten privaten Bürokratie verwaltet wird. Völlig im Gegensatz zu seinen eigenen theoretischen Ideen sah er nicht, dass es einzig auf die tatsächlichen, realistischen Arbeitsbedingungen, auf die Beziehung des Arbeiters zu seiner Arbeit, zu seinen Arbeitskameraden und zur Unternehmensleitung ankommt.

In seinen späteren Lebensjahren scheint Marx zu gewissen Veränderungen in seiner Theorie bereit gewesen zu sein. Vor allem unter dem Einfluss der Schriften von Johann Jakob Bachofen und Lewis Henry Morgan scheint er zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass die primitive Agrargesellschaft, die sich auf Kooperation und gemeinsamen Bodenbesitz gründet, eine lebensfähige Form der sozialen Organisation darstellt, die direkt zu höheren Formen der Sozialisierung führen kann, ohne dass man erst durch die Phase der kapitalistischen Produktion hindurch muss. Er hat diese [IV-186] Überzeugung in einem Antwortbrief an Vera Zasulitsch zum Ausdruck gebracht, die ihn gefragt hatte, was er von „Mir“, der alten Form einer Agrargemeinschaft in Russland halte. (G. Fuchs hat mich in persönlichen Mitteilungen auf die große Bedeutung dieser Veränderung in der Theorie von Marx hingewiesen, ebenso auf die Tatsache, dass Marx in seinen letzten acht Lebensjahren enttäuscht und entmutigt gewesen sei und das Gefühl gehabt habe, dass sich seine revolutionären Hoffnungen nicht erfüllen würden.) Wie bereits erwähnt, hat auch Engels erkannt, dass sie in ihrer Theorie des historischen Materialismus der Macht der Ideen nicht genügend Beachtung geschenkt hatten, doch war es Marx und Engels nicht beschieden, in ihrem System die notwendigen drastischen Revisionen vorzunehmen.

Es ist für uns heute um die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts sehr leicht, die Trugschlüsse von Marx zu erkennen. Wir haben die tragische Illustration dieses Irrtums in Russland miterlebt. Während der Stalinismus bewiesen hat, dass ein sozialistisches Wirtschaftssystem vom ökonomischen Standpunkt aus erfolgreich operieren kann, hat er auch den Beweis erbracht, dass es keineswegs ganz von selbst einen Geist der Gleichheit und Kooperation erzeugen muss. Er hat gezeigt, dass der Besitz der Produktionsmittel durch „das Volk“ zu einem ideologischen Mäntelchen für die Ausbeutung des Volkes durch eine industrielle, militärische und politische Bürokratie werden kann. Die Sozialisierung gewisser Industrien, wie sie die Labour-Regierung in England vorgenommen hat, zeigt, dass es für den britischen Bergmann oder Arbeiter in der Stahlindustrie oder in der chemischen Industrie kaum einen Unterschied ausmacht, wer die Leiter des Unternehmens bestimmt, da seine Arbeitsbedingungen effektiv die gleichen bleiben.

* * *

Zusammenfassend kann man sagen, dass die letzten Ziele des marxistischen Sozialismus im wesentlichen die gleichen waren wie die anderer sozialistischer Richtungen: den Menschen von der Beherrschung und Ausbeutung durch den Menschen und vom Übergewicht des ökonomischen Bereichs zu befreien und ihn wieder zum höchsten Ziel des Lebens zu machen durch die Schaffung einer neuen Einheit zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Natur. Die Irrtümer von Marx und Engels, ihre Überschätzung der politischen und juristischen Faktoren, ihr naiver Optimismus, ihre zentralistische Orientierung, all das war darauf zurückzuführen, dass sie sowohl psychologisch wie auch intellektuell viel stärker als Männer wie Fourier, Owen, Proudhon und Kropotkin noch in der bürgerlichen Tradition des Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhunderts verwurzelt waren.

Die Irrtümer von Marx gewannen deshalb historische Bedeutung, weil die marxistische Auffassung des Sozialismus in der kontinentaleuropäischen Arbeiterbewegung die Führung übernahm. Die Nachfolger von Marx und Engels in der europäischen Arbeiterbewegung standen so stark unter dem Einfluss der Autorität von Marx, dass sie die Theorie nicht weiterentwickelten, sondern weitgehend die alten Formeln mit zunehmender Sterilität wiederholten.

Nach dem Ersten Weltkrieg spaltete sich die marxistische Arbeiterbewegung in zwei getrennte feindliche Lager. Ihr sozialdemokratischer Flügel wurde nach dem moralischen Zusammenbruch während des Ersten Weltkriegs mehr und mehr zu einer [IV-187] Partei, die die rein wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse vertrat, und zwar gemeinschaftlich mit den Gewerkschaften, von denen sie ihrerseits abhing. Sie hielt die marxistische Formel von der „Sozialisierung der Produktionsmittel“ wie ein Ritual hoch, das bei passenden Gelegenheiten von den Parteipriestern verkündet wurde. Der kommunistische Flügel dagegen versuchte, in einer Verzweiflungsaktion eine sozialistische Gesellschaft lediglich mit Hilfe der Machtergreifung und der Sozialisierung der Produktionsmittel aufzubauen. Die Folgen dieser Verzweiflungsaktion waren noch verheerender als der Glaubensverlust in den sozialdemokratischen Parteien.

So gegensätzlich die Entwicklung dieser beiden Flügel des marxistischen Sozialismus auch ist, so haben sie doch gewisse Elemente gemeinsam. Erstens die tiefe Enttäuschung und Niedergeschlagenheit in Bezug auf die übertrieben optimistischen Hoffnungen in der Frühphase des Marxismus. Beim rechten Flügel führte diese Enttäuschung häufig zur Akzeptierung des Nationalismus, zur Aufgabe der echten sozialistischen Vision und zum Verzicht auf jede radikale Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft. Dieselbe Enttäuschung veranlasste den kommunistischen Flügel unter Lenin zu einem Verzweiflungsakt, nämlich zur Konzentration aller Anstrengungen auf den politischen und rein ökonomischen Bereich, eine Akzentverlagerung, die mit ihrer Vernachlässigung der sozialen Sphäre in völligem Widerspruch zum wahren Wesen der sozialistischen Theorie stand.

Weiterhin ist beiden Flügeln der marxistischen Bewegung (im Falle Russlands) die völlige Vernachlässigung des Menschen gemeinsam. Die Kritik am Kapitalismus wurde ausschließlich zu einer Kritik vom wirtschaftlichen Standpunkt aus. Im Neunzehnten Jahrhundert, als die Arbeiterklasse noch unter einer rücksichtslosen Ausbeutung zu leiden hatte und tief unter einem menschenwürdigen Existenzniveau leben musste, war diese Kritik gerechtfertigt. Aber im Verlauf der Entwicklung des Kapitalismus im Zwanzigsten Jahrhundert hat sich diese Kritik immer mehr überlebt. Trotzdem ist es nur die logische Folge dieser Einstellung, dass die stalinistische Bürokratie in Russland der Bevölkerung immer noch den Unsinn vorsetzt, die Arbeiter in den kapitalistischen Ländern seien furchtbar verarmt und führten kein menschenwürdiges Dasein. Der Begriff des Sozialismus entartete immer mehr. In Russland bedient man sich der Formel, Sozialismus bedeute Verstaatlichung der Produktionsmittel. In den Ländern des Westens bestand die Tendenz, unter Sozialismus immer höhere Löhne für die Arbeiter zu verstehen, wobei ihm sein messianisches Pathos, sein Appell an die tiefsten Sehnsüchte und Bedürfnisse des Menschen verloren gingen. Ich sage absichtlich, es „bestand die Tendenz“, denn der Sozialismus hat sein humanistisches und religiöses Pathos keineswegs völlig eingebüßt. Selbst noch nach 1914 war er die einigende moralische Idee für Millionen europäischer Arbeiter und Intellektueller, in der ihre Hoffnung zum Ausdruck kam, den Menschen frei zu machen, neue sittliche Wertmaßstäbe zu finden und die Solidarität aller Menschen zu verwirklichen.

Meiner scharfen Kritik auf den vorangegangenen Seiten liegt vor allem die Absicht zugrunde, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass der demokratische Sozialismus sich wieder den menschlichen Aspekten des sozialen Problems zuwenden und sich [IV-188] darauf konzentrieren muss, dass er am Kapitalismus kritisieren sollte, was er den humanen Eigenschaften des Menschen, seiner Seele und seinem Geist antut. Man sollte jeden Sozialismus unter dem Gesichtspunkt des Menschen betrachten und sich die Frage stellen, auf welche Weise eine sozialistische Gesellschaft dazu beitragen kann, die Entfremdung des Menschen und die Idolatrie von Wirtschaft und Staat zu beenden.

8. Der kommunitäre Sozialismus als Weg zu einer gesunden Gesellschaft

a) Grundsätzliche Überlegungen

In den verschiedenen kritischen Analysen des Kapitalismus finden wir eine bemerkenswerte Übereinstimmung. Wenn auch am Kapitalismus des Neunzehnten Jahrhunderts Kritik geübt wurde, weil er sich nicht genügend um das materielle Wohlergehen der Arbeiter kümmerte, so ging es doch nie hauptsächlich um diesen Vorwurf. Owen und Proudhon, Tolstoi und Bakunin, Durkheim und Marx, Einstein und Schweitzer - sie alle sprechen vom Menschen und davon, was in unserem Industriesystem mit ihm geschieht. Wenn sie es auch in unterschiedlichen Begriffen ausdrücken, finden sie doch alle, dass der Mensch seine zentrale Stellung verloren hat, dass er zu einem Werkzeug zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele gemacht wurde, dass er seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet ist und seine unmittelbare Beziehung zu ihnen eingebüßt hat, dass er kein sinnvolles Leben mehr führt. Ich habe versucht, die gleichen Gedanken auszudrücken, indem ich mich mit dem Begriff der Entfremdung auseinandergesetzt und nachgewiesen habe, welche psychischen Folgen diese Entfremdung hat: dass der Mensch zu einer rezeptiven und Marketing-Orientierung regrediert und aufhört, produktiv zu sein; dass er sein Selbst-Gefühl verliert und von der Zustimmung anderer abhängig wird, weshalb er dazu neigt, mit den anderen konform zu gehen und sich trotzdem unsicher zu fühlen. Er ist unbefriedigt, gelangweilt und voller Angst, und er verwendet seine Energie größtenteils auf den Versuch, diese Angst zu kompensieren oder sie auch einfach nur zu verdecken. Er besitzt eine hervorragende Intelligenz, aber seine Vernunft degeneriert immer mehr, und in Anbetracht seiner technischen Möglichkeiten gefährdet er ernstlich die Existenz der Zivilisation, ja der gesamten Menschheit.

Wenn wir uns jetzt den Ansichten über die Ursachen dieser Entwicklung zuwenden, so finden wir weniger übereinstimmende Meinungen als bei der Diagnose der Krankheit selbst. Während das neunzehnte Jahrhundert anfangs noch dazu neigte, im Mangel an politischer Freiheit und insbesondere im Fehlen des allgemeinen Wahlrechts die Ursache allen Übels zu sehen, betonten die Sozialisten und insbesondere die Marxisten die Bedeutung der wirtschaftlichen Faktoren. Sie glaubten, der Mensch habe [IV-190] sich selbst entfremdet, weil er zu einem Objekt der Ausbeutung und Ausnutzung geworden sei. Denker wie Tolstoi und Burckhardt dagegen sahen in der geistigen und moralischen Verarmung des westlichen Menschen die Ursache für seinen Niedergang. Freud glaubte, die Schwierigkeiten des modernen Menschen seien auf die übertriebene Unterdrückung seiner instinkthaften Triebe und auf die daraus resultierenden neurotischen Erscheinungen zurückzuführen. Aber eine Erklärung, die einen Bereich unter Ausschluss aller anderen analysiert, ist nicht genügend ausgewogen und daher falsch. Die sozio-ökonomischen, geistigen und psychologischen Erklärungen betrachten das gleiche Phänomen unter verschiedenen Aspekten, und die Aufgabe einer theoretischen Analyse besteht eben darin zu erkennen, wie diese verschiedenen Aspekte in Wechselbeziehung miteinander stehen.

Was für die Ursachen gilt, gilt natürlich auch für die Heilmittel, mit denen man die Gebrechen des modernen Menschen kurieren kann. Wenn ich glaube, dass „die“ Ursache der Krankheit ökonomischer oder geistiger oder psychologischer Art sei, dann glaube ich natürlich auch, dass die Beseitigung dieser Ursache zur Gesundung führe. Wenn ich dagegen sehe, wie die verschiedenen Aspekte miteinander in Wechselbeziehung stehen, werde ich zu dem Schluss kommen, dass man die geistige und seelische Gesundheit nur erreichen kann, wenn man gleichzeitig im Bereich der industriellen und politischen Organisation, auf dem Gebiet der geistigen und weltanschaulichen Orientierung, der Charakterstruktur und der kulturellen Betätigung Veränderungen vornimmt. Konzentrieren wir dagegen unsere Bemühungen auf einen dieser Bereiche unter Ausschluss oder Vernachlässigung der anderen, so wirkt sich das destruktiv auf alle Veränderungen aus. Tatsächlich scheint mir hier eines der wichtigsten Hindernisse für den Fortschritt der Menschheit zu liegen. Das Christentum hat die spirituelle Erneuerung gepredigt und darüber Veränderungen in der Gesellschaftsordnung versäumt, ohne die eine spirituelle Erneuerung für die meisten unerreichbar bleibt. Das Zeitalter der Aufklärung hat als höchste Normen unabhängiges Urteil und Vernunft postuliert; es hat die politische Gleichberechtigung gepredigt und nicht gesehen, dass man mit der politischen Gleichberechtigung die Brüderschaft aller Menschen nicht verwirklichen kann, wenn sie nicht mit einer fundamentalen Veränderung der sozioökonomischen Organisation Hand in Hand geht. Der Sozialismus und insbesondere der Marxismus haben die Notwendigkeit sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen in den Vordergrund gestellt und dabei die Notwendigkeit einer inneren Wandlung der Menschen übersehen, ohne die ökonomische Veränderungen niemals die „gute Gesellschaft“ herbeiführen können. Jede dieser großen Reformbewegungen der letzten zweitausend Jahre hat einen Bereich des Lebens unter Ausschluss der anderen herausgestellt. Ihre Reform- und Erneuerungsvorschläge waren radikal - aber das Resultat war fast stets ein völliger Fehlschlag. Die Predigt des Evangeliums führte zur Katholischen Kirche; die Lehren der Aufklärer des Achtzehnten Jahrhunderts führten zu Robespierre und zu Napoleon; die Doktrinen von Marx führten zu Stalin. Es hätte auch kaum anders kommen können. Der Mensch ist eine Einheit, sein Denken, sein Fühlen und seine Lebenspraxis sind untrennbar miteinander verbunden. Er kann in seinem Denken nicht frei sein, wenn er nicht auch emotional frei ist; und er kann emotional nicht frei sein, wenn er in seiner Lebenspraxis, in seinen [IV-191] ökonomischen und sozialen Beziehungen abhängig und unfrei ist. Wenn man versucht, in einem Bereich unter Ausschluss der anderen radikal voranzukommen, so muss das notwendigerweise zu dem Resultat führen, zu dem es geführt hat, dass nämlich die radikalen Forderungen auf dem einen Gebiet nur von wenigen Menschen erfüllt werden, während sie für die Mehrheit zu leeren Formeln und Ritualen werden, die zur Tarnung der Tatsache dienen, dass sich in den anderen Bereichen nichts geändert hat. Zweifellos wird ein einziger Fortschritt in allen Lebensbereichen weiter reichende und dauerhaftere Erfolge für die Menschheit mit sich bringen als hundert Schritte, die man auf einem einzigen isolierten Gebiet predigt - und vielleicht sogar eine kurze Zeitlang durchführt. Dass solche „isolierten Fortschritte“ mehrere tausend Jahre lang gescheitert sind, sollte für uns eine recht überzeugende Lehre sein.

Eng verwandt mit diesem Problem ist das von Radikalismus und Reform, das eine so scharfe Trennungslinie zwischen den verschiedenen politischen Lösungen zu bilden scheint. Eine genauere Untersuchung kann jedoch zeigen, dass diese Unterscheidung, so, wie sie gewöhnlich verstanden wird, trügt. Es gibt solche Reformen und solche Reformen; eine Reform kann radikal sein, das heißt, sie kann zu den Wurzeln gehen, oder sie kann oberflächlich sein und an Symptomen herumzuflicken versuchen, ohne ihre Ursachen zu berühren. Eine Reform, die nicht in diesem Sinne radikal ist, erreicht ihre Ziele nie und endet schließlich stets in der entgegengesetzten Richtung. Andererseits ist der sogenannte „Radikalismus“, der meint, man könne die Probleme gewaltsam lösen, wenn Beobachtung, Geduld und nimmermüde Tätigkeit vonnöten sind, ebenso unrealistisch und fiktiv wie die Reform. In der Geschichte haben sie oft zum gleichen Resultat geführt. Die Revolution der Bolschewiken führte zum Stalinismus, die Reform des rechten Flügels der Sozialdemokraten führte in Deutschland zu Hitler. Das wahre Kriterium der Reform ist nicht ihr Tempo, sondern ihr Realismus, ihr echter „Radikalismus“. Es geht darum, ob sie an die Wurzeln geht und die Ursachen zu ändern versucht - oder ob sie an der Oberfläche bleibt und sich nur mit den Symptomen befasst.

Wenn in diesem Kapitel Wege zur Gesundung, das heißt Heilungsmethoden, besprochen werden sollen, so scheint es mir angebracht, einen Augenblick innezuhalten und uns zu fragen, was wir über die Heilung individueller seelischer Erkrankungen wissen. Die Heilung der Krankheiten der Gesellschaft muss das gleiche Prinzip verfolgen, weil es sich ja dabei um die Erkrankung von lauter Einzelmenschen und nicht von einer außerhalb derselben bestehenden und von ihnen abgesonderten Größe handelt.

Die Bedingungen für die Heilung einer individuellen Krankheit sind in der Hauptsache folgende:

  1. Es muss eine Entwicklung stattgefunden haben, die den Ansprüchen der Psyche zuwiderlief. In Freuds Theorie heißt dies, dass die Libido sich nicht normal entwickelte und aus diesem Grund bestimmte Symptome erzeugte. Im Bezugssystem der humanistischen Psychoanalyse bestehen die Ursachen für die Erkrankung darin, dass sich eine produktive Orientierung nicht entwickeln konnte, so dass es zur Entwicklung irrationaler Leidenschaften, insbesondere inzestuöser, destruktiver und ausbeuterischer Strebungen kam. Die Tatsache, dass diese nicht zustande gekommene normale Entwicklung bewusstes oder unbewusstes Leiden verursacht, erzeugt ein dynamisches [IV-192] Streben, das Leiden zu überwinden, das heißt, eine auf Gesundung ausgerichtete Veränderung herbeizuführen. Dieser Wille zur Gesundung ist in unserem physischen wie auch in unserem seelischen Organismus die Grundlage für jede Heilung der Erkrankung und fehlt nur in den schwersten Fällen.
  2. Der erste Schritt, der notwendig ist, um diesen Willen zur Gesundung wirksam werden zu lassen, ist das Gewahrwerden des Leidens und das Gewahrwerden von all dem, was wir aus unserer bewussten Persönlichkeit ausgeschlossen und abgetrennt haben. Nach Freud bezieht sich die Verdrängung hauptsächlich auf sexuelle Strebungen. In unserem Bezugssystem bezieht sie sich auf verdrängte irrationale Leidenschaften, auf das verdrängte Gefühl des Alleinseins und der Sinnlosigkeit unseres Lebens sowie auf die Sehnsucht nach Liebe und Produktivität, die wir ebenfalls verdrängt haben.
  3. Ein wachsendes Gewahrwerden unserer selbst kann nur dann voll wirksam werden, wenn wir auch den nächsten Schritt tun und unsere Lebenspraxis ändern, die wir auf die neurotische Struktur aufgebaut haben und die diese ständig reproduziert. So hat zum Beispiel ein Patient, dessen neurotischer Charakter in ihm den Wunsch erzeugt, sich elterlichen Autoritäten zu unterwerfen, sich gewöhnlich ein Leben aufgebaut, in dem er sich dominierende oder sadistische Vaterfiguren als Chef, als Lehrer oder dergleichen ausgesucht hat. Er kann nur geheilt werden, wenn er seine reale Lebenssituation so ändert, dass sie nicht immer wieder die Neigung sich unterzuordnen erzeugt, die er doch gerne loswerden möchte. Außerdem muss er seine Wertmaßstäbe, seine Normen und Ideale dahingehend ändern, dass sie seinen Willen zur Gesundung und sein Streben nach Reife fördern, anstatt es zu blockieren.

Die gleichen Bedingungen - der Konflikt mit den Erfordernissen der menschlichen Natur und dem daraus resultierenden Leiden, das Gewahrwerden des Verdrängten und die Änderung der realen Situation und der Wertmaßstäbe und Normen - sind auch die notwendigen Voraussetzungen für eine Heilung der Krankheitserscheinungen der Gesellschaft.

Die Absicht des vorangegangenen Kapitels war, den Konflikt zwischen den menschlichen Bedürfnissen und unserer Gesellschaftsstruktur zu zeigen und dazu beizutragen, dass wir uns unserer Konflikte und dessen, was wir verdrängt haben, bewusst werden. In diesem Kapitel möchte ich nun die verschiedenen Möglichkeiten zu praktischen Neugestaltungen in unserer ökonomischen, politischen und kulturellen Organisation diskutieren.

Bevor wir jedoch mit der Diskussion praktischer Fragen beginnen, wollen wir uns noch einmal auf der Grundlage der zu Anfang dieses Buches entwickelten Prämissen überlegen, was unter seelischer Gesundheit zu verstehen ist und welche Art von Kultur dieser seelischen Gesundheit förderlich sein könnte.

Der seelisch gesunde Mensch ist der produktive und nicht entfremdete Mensch; es ist der Mensch, der liebend zur Welt in Beziehung tritt und seine Vernunft dazu benutzt, die Realität objektiv zu erfassen; es ist der Mensch, der sich selbst als eine einzigartige individuelle Größe erlebt und sich gleichzeitig mit seinen Mitmenschen eins fühlt, der sich keiner irrationalen Autorität unterwirft und freiwillig die rationale Autorität seines Gewissens und seiner Vernunft anerkennt, der sich sein ganzes Leben [IV-193] lang im Prozess des Geborenwerdens befindet und der das Geschenk seines Lebens als die kostbarste Chance ansieht, die er besitzt.

Erinnern wir uns auch noch einmal daran, dass dieses Ziel der seelischen Gesundheit kein Ideal ist, das man jemandem aufzwingen muss oder das der Mensch nur erreichen kann, wenn er seine „Natur“ überwindet oder seine „angeborene Selbstsucht“ zum Opfer bringt. Ganz im Gegenteil ist das Streben nach seelischer Gesundheit, nach Glück, Harmonie, Liebe und Produktivität jedem Menschen angeboren, der nicht als seelischer oder moralischer Idiot auf die Welt kommt. Wenn man ihnen eine Chance gibt, setzen diese Strebungen sich unbedingt durch, wie man in zahllosen Situationen erkennen kann. Es müssen schon mächtige Konstellationen und Umstände eintreten, um dieses angeborene Streben nach Gesundheit zu pervertieren und zu ersticken; und tatsächlich ist es so, dass während des größten Teils der uns bekannten Geschichte die Ausnutzung des Menschen durch den Menschen solche Perversionen erzeugt hat. Anzunehmen, diese Perversionen seien dem Menschen angeboren, ist, wie wenn man Saatkörner in die Wüste streut und behauptet, sie hätten keine Keimkraft gehabt. Welche Gesellschaft entspricht nun aber diesem Ziel der seelischen Gesundheit, und wie sieht die Struktur einer gesunden Gesellschaft aus? Vor allem müsste es sich um eine Gesellschaft handeln, in welcher kein Mensch für einen anderen Mittel zum Zweck ist, sondern in der er stets und ausnahmslos Selbstzweck ist. Folglich dürfte niemand für Zwecke benutzt werden oder sich selbst dazu benutzen, die nicht der Entfaltung seiner eigenen menschlichen Kräfte dienen. Es müsste eine Gesellschaft sein, in der der Mensch im Mittelpunkt steht und in der alle ökonomischen und politischen Tätigkeiten dem Ziel seines Wachstums untergeordnet sind. In einer gesunden Gesellschaft haben Eigenschaften wie Habgier, Ausbeutung, Besitzstreben und Narzissmus keine Chance, jemandem größeren materiellen Gewinn oder ein höheres Ansehen zu verschaffen, und das Handeln nach dem eigenen Gewissen wird als eine fundamentale und notwendige Eigenschaft angesehen, während Opportunismus und Mangel an Prinzipien als asozial betrachtet werden. Dem Einzelnen liegen die öffentlichen Angelegenheiten nicht weniger am Herzen als seine persönlichen Anliegen, und er zieht keinen Trennungsstrich zwischen seinen Beziehungen zu den Mitmenschen und denen in seinem privaten Bereich. Eine Gesellschaft ist gesund, wenn sie es dem Menschen erlaubt, in überschaubaren Dimensionen, die er noch in der Hand hat, zu wirken und aktiv und verantwortungsbewusst am Leben der Gesellschaft teilzunehmen und gleichzeitig Herr seines eigenen Lebens zu sein. Eine solche Gesellschaft fördert die Solidarität der Menschen und gibt ihren Mitgliedern nicht nur die Möglichkeit, liebevoll miteinander in Beziehung zu treten, sondern sie regt sie geradezu dazu an. Eine gesunde Gesellschaft fördert das produktive Tätigsein eines jeden bei seiner Arbeit, sie dient der Entfaltung der Vernunft und gibt dem Menschen die Möglichkeit, seinen inneren Bedürfnissen in gemeinsamer künstlerischer Tätigkeit und in Ritualen Ausdruck zu verleihen.

b) Wirtschaftliche Neugestaltung
1. Das Problem des Sozialismus

Im vorigen Kapitel haben wir drei Antworten auf das Problem der Krankheit unserer Zeit - den Totalitarismus, den Superkapitalismus und den Sozialismus - kennengelernt. Die totalitäre Lösung, ob es sich nun um den Faschismus oder den Stalinismus handelt, führt zweifellos nur zu einer noch schwereren Erkrankung und Entmenschlichung. Die Lösung des Superkapitalismus vertieft nur noch die dem Kapitalismus eigenen Krankheitserscheinungen; sie verstärkt die Entfremdung des Menschen, seine Automatisierung und vollendet den Prozess, ihn zu einem Sklaven des Götzen der Produktion zu machen. Die einzige konstruktive Lösung ist die des Sozialismus, der eine grundlegende Neuorganisation unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems im Hinblick auf die Befreiung des Menschen anstrebt. Sie möchte erreichen, dass der Mensch nicht mehr als Mittel zu Zwecken benutzt wird, welche außerhalb seiner selbst liegen und dass eine Gesellschaftsordnung geschaffen wird, in welcher menschliche Solidarität, Vernunft und Produktivität gefördert und nicht behindert werden. Trotzdem ist nicht zu bestreiten, dass die Resultate des Sozialismus in der Praxis zumeist enttäuschend waren. Aus welchen Gründen hat er versagt? Welche Ziele müsste eine gesellschaftliche und ökonomische Neugestaltung anstreben, um diese Fehler zu vermeiden und zu einer gesunden Gesellschaft zu führen?

Im marxistischen Sozialismus baut sich eine sozialistische Gesellschaft auf folgenden zwei Prämissen auf: auf der Sozialisierung der Produktionsmittel und deren Verteilung, und auf einer zentralisierten Planwirtschaft. Marx und die frühen Sozialisten zweifelten nicht daran, dass diese Ziele zu erreichen wären und dass die Befreiung der Menschen von jeder Entfremdung und eine klassenlose Gesellschaft der Brüderlichkeit und Gerechtigkeit automatisch folgen würden. Um die Neugestaltung der Menschen zu erreichen, war ihrer Ansicht nach nichts weiter zu tun, als dass die Arbeiterklasse durch Gewalt oder durch eine Abstimmung die Macht im Staat übernahm, dass man die Industrie verstaatlichte und eine Planwirtschaft einführte. Ob sie mit ihren Annahmen recht hatten oder nicht, ist heute keine akademische Frage mehr. Russland hat das durchgeführt, was die marxistischen Sozialisten auf dem wirtschaftlichen Gebiet für notwendig hielten. Das russische System hat zwar gezeigt, dass ökonomisch gesehen, eine verstaatlichte Planwirtschaft erfolgreich arbeiten kann, aber es hat auch bewiesen, dass dies keineswegs genügt, eine freie, brüderliche und nicht entfremdete Gesellschaft zu schaffen. Ganz im Gegenteil hat es gezeigt, dass eine zentralisierte Planung eine noch stärkere Reglementierung und einen noch hochgradigeren Totalitarismus erzeugen kann, als es beim Kapitalismus oder beim Faschismus der Fall ist. Allerdings beweist die Tatsache, dass in Russland eine verstaatlichte Planwirtschaft eingeführt worden ist, nicht, dass das russische System die Verwirklichung des Sozialismus ist, wie Marx und Engels ihn verstanden haben. Es bedeutet, dass Marx und Engels sich irrten, als sie meinten, die juristische Änderung der Besitzverhältnisse und eine Planwirtschaft würden ausreichen, auch die von ihnen gewünschten gesellschaftlichen und menschlichen Veränderungen herbeizuführen.

Während die Sozialisierung der Produktionsmittel zusammen mit einer [IV-195] Planwirtschaft die Hauptforderungen der marxistischen Sozialisten waren, gab es noch einige andere Forderungen, die in Russland überhaupt nicht in die Praxis umgesetzt wurden. Marx verlangte zwar nicht die völlige Angleichung aller Einkommen, hatte aber trotzdem eine einschneidende Reduzierung der im Kapitalismus vorhandenen Ungleichheit im Sinn. Tatsächlich ist aber die Ungleichheit der Einkommen in Russland weit größer als in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien. Eine andere marxistische Idee war, dass der Sozialismus zum Absterben des Staates und zum allmählichen Verschwinden der sozialen Klassen führen werde. In Wirklichkeit sind jedoch in Russland die Macht des Staates und die Unterschiede zwischen den sozialen Klassen größer als in irgendeinem kapitalistischen Land. Schließlich und endlich stand im Mittelpunkt der Marxschen Konzeption vom Sozialismus der Gedanke, dass die emotionalen und intellektuellen Kräfte des Menschen Zweck und Ziel der Kultur seien, dass die Dinge (= das Kapital) dem Leben (= der Arbeit) zu dienen haben und dass das Leben nicht etwas Totem untergeordnet werden darf. Auch in dieser Hinsicht ist die Missachtung des Einzelnen und seiner humanen Eigenschaften in Russland größer als in irgendeinem der kapitalistischen Länder.

Aber Russland war nicht das einzige Land, das die ökonomischen Vorstellungen des marxistischen Sozialismus in die Praxis umzusetzen versuchte. Ein anderes Land war Großbritannien. Paradoxerweise hat die Labour-Partei, die sich nicht auf die marxistische Theorie gründet, mit ihren praktischen Maßnahmen genau den Weg der marxistischen Doktrin eingeschlagen, in dem Sinne, dass die Verwirklichung des Sozialismus auf der Verstaatlichung der Industrie basiert. Der Unterschied zu Russland ist unverkennbar. Die britische Labour-Partei hat sich stets friedlicher Mittel zur Verwirklichung ihrer Ziele bedient. Sie hat nie eine „Alles oder nichts“-Politik betrieben, sondern sie hat es ermöglicht, die Gesundheitspflege, das Bankwesen, die Stahlindustrie, den Bergbau, die Eisenbahnen und die chemische Industrie zu sozialisieren, ohne dass die übrige Industrie verstaatlicht worden wäre. Aber während sie eine Wirtschaftsform eingeführt hat, bei der sozialistische Elemente mit dem Kapitalismus vermischt sind, blieb doch die Sozialisierung der Produktionsmittel ihr Leitgedanke zur Verwirklichung des Sozialismus.

Wenn auch das britische Experiment nicht so drastische Mängel aufwies, so war es doch ebenfalls entmutigend. Einerseits hat es einen solchen Grad der Reglementierung und Bürokratisierung mit sich gebracht, dass all jene, denen die menschliche Freiheit und Unabhängigkeit am Herzen lag, nicht damit einverstanden waren. Andererseits hat es auch keine der grundlegenden Erwartungen des Sozialismus erfüllt. Es stellte sich klar heraus, dass es für den Arbeiter im britischen Bergbau oder der Stahlindustrie kaum einen Unterschied macht, ob Besitzer des Unternehmens ein paar tausend oder gar hunderttausend einzelne wie bei öffentlichen Gesellschaften sind, oder ob es der Staat ist. Sein Lohn, seine Rechte, und was das Wichtigste ist, seine Arbeitsbedingungen und seine Rolle im Arbeitsprozess sind im wesentlichen die gleichen geblieben. Die Verstaatlichung hat dem Arbeiter nur wenige Vorteile gebracht, die er nicht auch durch seine Gewerkschaften in einer rein kapitalistischen Wirtschaft hätte erreichen können. Obgleich sich demnach das Hauptziel des Sozialismus durch die Maßnahmen der Labour-Regierung nicht erfüllt hat, wäre es [IV-196] doch andererseits kurzsichtig zu übersehen, dass der britische Sozialismus im Leben des britischen Volkes vorteilhafte Veränderungen von größter Wichtigkeit zustande gebracht hat. Eine davon ist die Erweiterung der Sozialversicherung im Gesundheitswesen. Dass niemand in Großbritannien sich vor einer Krankheit als einer Katastrophe zu fürchten braucht, die ihn völlig aus der Bahn werfen könnte (ganz zu schweigen davon, dass sie durch fehlende ärztliche Betreuung seinen Tod herbeiführen könnte), mag den Angehörigen der Mittel- oder Oberklasse in den Vereinigten Staaten geringfügig erscheinen, denen es nicht schwer fällt, eine Arztrechnung oder die Krankenhauskosten zu bezahlen. Aber es bedeutet tatsächlich eine fundamentale Verbesserung, die man durchaus mit dem Fortschritt vergleichen kann, der durch die Einführung des öffentlichen Unterrichtswesens gemacht wurde. Außerdem ist nicht zu bestreiten, dass die Verstaatlichung der Industrie selbst in dem beschränkten Ausmaß, wie sie in Großbritannien durchgeführt wurde (etwa ein Fünftel der Gesamtindustrie), es dem Staat erlaubte, die Gesamtwirtschaft bis zu einem gewissen Grad zu lenken, wovon die gesamte britische Wirtschaft profitierte.

Aber bei allem Respekt und aller Anerkennung der Leistungen der Labour-Regierung haben ihre Maßnahmen doch nicht zu einer Verwirklichung des Sozialismus geführt, wenn wir seinen menschlichen und nicht nur seinen rein ökonomischen Aspekt ins Auge fassen. Und wenn man argumentieren wollte, dass die Labour-Partei mit der Verwirklichung ihres Programms erst begonnen habe und dass sie den Sozialismus durchgeführt hätte, wenn sie nur lange genug an der Macht geblieben wäre, um ihr Werk zu vollenden, so scheint mir dieses Argument nicht sehr überzeugend. Selbst wenn man sich eine Sozialisierung der gesamten britischen Schwerindustrie vorstellt, kann man zwar mit größerer Sicherheit und erhöhtem Wohlstand rechnen, und man braucht nicht zu befürchten, dass die neue Bürokratie die Freiheit mehr gefährdete, als es die Bürokratie von General Motors oder General Electric tut. Aber trotz allem, was sich über die Vorzüge einer solchen Sozialisierung und Planwirtschaft sagen lässt, es wäre noch kein Sozialismus, wenn wir darunter eine neue Lebensform, eine Gesellschaft der Solidarität und des Vertrauens verstehen, in der der Einzelne sich selbst findet und aus der dem kapitalistischen System inhärenten Entfremdung herausgelangt.

Das schreckliche Ergebnis des Sowjet-Kommunismus einerseits und die enttäuschenden Resultate des Sozialismus der Labour-Partei andererseits haben bei vielen demokratischen Sozialisten zu einer Stimmung der Resignation und Hoffnungslosigkeit geführt. Einige von ihnen glauben weiter an den Sozialismus, aber mehr aus einem gewissen Stolz oder Trotz heraus, als aus wirklicher Überzeugung. Andere, die sich eifrig kleineren oder größeren Aufgaben in einer der sozialistischen Parteien widmen, denken nicht allzu viel nach und geben sich mit den praktischen Aufgaben des Tages zufrieden. Wieder andere, die nicht mehr an eine Neugestaltung der Gesellschaft glauben, halten den Kreuzzug gegen den russischen Kommunismus für ihre Hauptaufgabe. Während sie ständig die Vorwürfe gegen den Kommunismus wiederholen, die allbekannt sind und von niemandem, der nicht gerade Stalinist ist, bestritten werden, enthalten sie sich einer radikalen Kritik am Kapitalismus und wollen nichts von neuen Vorschlägen wissen, wie man den demokratischen Sozialismus zum Funktionieren bringen könnte. Sie erwecken den Eindruck, dass in der Welt alles in [IV-197] Ordnung ist, wenn man sie nur vor der kommunistischen Gefahr bewahren kann; sie sind wie enttäuschte Liebhaber, die den Glauben an die Liebe verloren haben.

Als symptomatischen Ausdruck der allgemeinen Mutlosigkeit unter den demokratischen Sozialisten möchte ich einen Artikel von R. H. S. Crossman zitieren, einem der gedankenreichsten und aktivsten Führer des linken Flügels der Labour-Partei:

Da wir nicht in einer Zeit des ständigen Fortschritts auf einen Kapitalismus zu leben, welcher der Wohlfahrt der ganzen Welt dient, sondern in einem Zeitalter der Weltrevolution, wäre es töricht, annehmen zu wollen, die Aufgabe des Sozialisten bestehe darin, an der allmählichen Verbesserung des materiellen Loses der Menschheit und an der allmählichen Erweiterung des Bereichs der menschlichen Freiheit mitzuarbeiten. Die geschichtlichen Kräfte drängen alle zum Totalitarismus hin: im russischen Block infolge der bewussten Politik des Kreml, in der freien Welt infolge der wachsenden Bedeutung der Manager-Gesellschaft, der Auswirkungen der totalen Aufrüstung und der Unterdrückung der Bestrebungen der Kolonien. Die Aufgabe des Sozialismus ist weder, die politische Revolution zu beschleunigen, noch der Versuch, sie zu verhindern (es wäre dies genauso nutzlos wie die Opposition gegen die industrielle Revolution vor hundert Jahren), sondern sie zu zivilisieren. (R. H. S. Crossman, 1953, S. 31.)

Mir scheint, dass Crossmans Pessimismus zu zwei Irrtümern verleitet. Der eine besteht in der Annahme, dass der Totalitarismus der Manager oder der Stalinisten „zivilisiert“ werden könnte. Wenn man unter zivilisiert ein weniger grausames System als das der stalinistischen Diktatur versteht, mag Crossman recht haben. Aber die Version der Brave New World, die ganz auf Suggestion und Konditionierung beruht, ist ebenso unmenschlich und verrückt wie Orwells Version in seinem Buch 1984. Keine dieser beiden Versionen einer völlig entfremdeten Gesellschaft ist zu humanisieren. Crossmans zweiter Irrtum liegt in seinem Pessimismus selbst. Der Sozialismus ist in seinen echten menschlichen und moralischen Bestrebungen immer noch ein überzeugendes Ziel für viele Millionen Menschen auf der ganzen Welt, und heute sind die objektiven Voraussetzungen für einen humanistischen demokratischen Sozialismus mehr gegeben als im Neunzehnten Jahrhundert. Diese Überzeugung liegt dem folgenden Versuch zugrunde, einige Vorschläge für eine sozialistische Neugestaltung im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich zu skizzieren. Zuvor möchte ich jedoch (wenn es auch kaum notwendig sein dürfte) darauf hinweisen, dass meine Vorschläge weder neu sind, noch Anspruch darauf erheben, erschöpfend oder im einzelnen auch unbedingt richtig zu sein. Ich mache sie, weil ich es für notwendig halte, sich statt einer allgemeinen Diskussion von Prinzipien den praktischen Problemen zuzuwenden, wie man diese Prinzipien in die Wirklichkeit umsetzen könnte. Schon lange bevor die politische Demokratie realisiert wurde, haben die Denker des Achtzehnten Jahrhunderts Pläne für verfassungsrechtliche Prinzipien entworfen, die zeigen sollten, dass - und auf welche Weise - die demokratische Organisation des Staates möglich sei. Im Zwanzigsten Jahrhundert besteht unsere Aufgabe darin, Mittel und Wege zu diskutieren, wie man die politische Demokratie im einzelnen verwirklichen und in eine wahrhaft humane Gesellschaft umwandeln kann. Die Einwände, die erhoben werden, beruhen weitgehend auf einer pessimistischen Einstellung und einem tiefgehenden Mangel an [IV-198] Vertrauen. Man behauptet, der Vormarsch der Managergesellschaft und die damit verbundene Manipulation des Menschen seien nicht mehr aufzuhalten, wenn wir nicht zum Spinnrad zurückkehren wollen, weil die moderne Industrie Manager und Automaten brauche. Andere Einwände beruhen auf einem Mangel an Phantasie. Noch andere werden durch die tief sitzende Angst verursacht, keine Anordnungen mehr zu erhalten und in voller Freiheit leben zu müssen. Dennoch sind die Probleme der gesellschaftlichen Neugestaltung - theoretisch und praktisch - zweifellos nicht so schwer zu lösen wie die technischen Probleme, die unsere Chemiker und Physiker gelöst haben. Und es besteht auch kein Zweifel, dass wir eine humane Renaissance nötiger brauchen als Flugzeuge und Fernsehen. Wenn wir nur einen Bruchteil der Vernunft und des praktischen Verstandes, den wir für die Naturwissenschaften verwenden, für menschliche Probleme aufwendeten, so würde uns das die Möglichkeit geben, die Aufgabe weiterzuführen, auf die unsere Vorfahren aus dem Achtzehnten Jahrhundert so stolz waren.

2. Das Prinzip des kommunitären Sozialismus

Die marxistische Betonung der Sozialisierung der Produktionsmittel war vom Kapitalismus des Neunzehnten Jahrhunderts beeinflusst. Besitz- und Eigentumsrechte waren die zentralen Kategorien der kapitalistischen Wirtschaft, und Marx selbst blieb innerhalb dieses Bezugsrahmens, wenn er den Sozialismus als Umkehr der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse definierte und die „Expropriation der Expropriateure“ verlangte. Hier, wie auch in ihrer Einstellung zu den politischen gegenüber den sozialen Fragen, waren Marx und Engels noch stärker vom bürgerlichen Geist beeinflusst als andere sozialistische Richtungen, deren Hauptanliegen die Funktion des Arbeiters im Arbeitsprozess, seine sozialen Beziehungen zu anderen in der Fabrik und die Wirkung der Arbeitsmethoden auf den Charakter des Arbeiters waren.

Das Versagen - wie vielleicht auch die Popularität des marxistischen Sozialismus - liegt eben an dieser bürgerlichen Überschätzung der Besitzrechte und der rein wirtschaftlichen Faktoren. Aber andere sozialistische Richtungen waren sich der im Marxismus vorhandenen Fallstricke viel deutlicher bewusst, und sie haben daher das Ziel des Sozialismus weit adäquater formuliert. Owenisten, Syndikalisten, Anarchisten und Gilden-Sozialisten waren sich in ihrem Hauptanliegen einig, nämlich der gesellschaftlichen und menschlichen Situation des Arbeiters bei seiner Arbeit und die Art seiner Beziehung zu seinen Arbeitskollegen. (Unter „Arbeiter“ verstehe ich hier und auf den folgenden Seiten einen jeden, der von seiner eigenen Arbeit lebt, ohne zusätzliche Gewinne durch die Beschäftigung anderer.) Ziel all dieser verschiedenen Formen des Sozialismus, den wir als „kommunitären Sozialismus“ (communitarian socialism) bezeichnen können, war eine Organisation der Industrie, in der jeder arbeitende Mensch ein aktiver und verantwortlicher Partner ist, in der die Arbeit attraktiv und sinnvoll ist und in der nicht das Kapital die Arbeiter in seinen Dienst stellt, sondern die Arbeiter das Kapital. Sie stellten die Organisation der Arbeit und die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen, und nicht die Besitzverhältnisse in den Vordergrund. Wie ich noch zeigen werde, finden wir heute eine bemerkenswerte [IV-199] Rückwendung zu dieser Einstellung bei Sozialisten auf der ganzen Welt, die noch vor einigen Jahrzehnten in der reinen Form der marxistischen Lehre die Lösung für alle Probleme sahen. Um dem Leser eine allgemeine Vorstellung von den Prinzipien des kommunitären Sozialismus zu geben, die trotz beträchtlicher Unterschiede den Syndikalisten, den Anarchisten, den Gilden-Sozialisten und in zunehmendem Maß auch den marxistischen Sozialisten gemeinsam sind, möchte ich folgende von Cole stammende Formulierungen zitieren:

Die Freiheit ist eines der ewigen menschlichen Grundrechte. Aber der Ruf nach Freiheit wurde nicht mehr gehört, als man sich daran gewöhnt hatte, Freiheit und politische Selbstverwaltung gleichzusetzen. Der neue Begriff der Freiheit muss größer sein. In ihm muss der Mensch nicht nur als Bürger eines freien Staates enthalten sein, sondern auch als gleichberechtigtes Mitglied im wirtschaftlichen Gemeinwesen. Die bureaukratischen Reformer, die sich mit nichts als mit der materiellen Seite des Lebens abgeben, glauben an eine Gesellschaft von lauter wohlgenährten, gut gekleideten, in hübschen Häusern wohnenden menschlichen Maschinen, die alle für eine noch größere Maschine, den Staat, arbeiten; der Individualist brachte den Menschen die Alternative, im Vollbesitz der sogenannten bürgerlichen Freiheit zu verhungern. Die wahre Freiheit, die der Sinn des neuen Sozialismus ist, verlangt für den Menschen Handlungsfreiheit und Sicherung vor wirtschaftlicher Not. Sie erblickt im Menschen weder ein Problem noch ein göttliches Wesen, sondern einfach ein menschliches Wesen.

Politische Freiheit an sich ist immer eine Illusion. Ein Mann, der sechs oder gar sieben Tage in der Woche in wirtschaftlicher Abhängigkeit lebt, ist noch nicht frei, wenn er einmal alle fünf Jahre einen Stimmzettel abgibt. Wenn Freiheit für den einfachen Menschen irgendetwas bedeuten soll, so muss sie wirtschaftliche Freiheit mit einschließen. Ehe nicht die Menschen sich bei ihrer Arbeit als Glieder einer sich selbst verwaltenden Gemeinschaft aller Arbeitenden empfinden, werden sie Knechte sein, wie immer das politische System geartet sein mag, unter dem sie leben. Es genügt nicht, das entwürdigende Verhältnis zwischen Lohnsklaven und Privatunternehmer aufzuheben. Auch der Staatssozialismus hält den Arbeiter in einer Knechtschaft, und diese wirkt nicht weniger verbitternd, weil sie unpersönlich ist. In der Industrie ist aber Selbstverwaltung nicht nur ergänzender Bestandteil, sondern Vorbedingung der politischen Freiheit.

Der Mensch ist überall in Ketten. Seine Ketten werden nicht eher zerbrechen, als bis er empfindet, wie unwürdig es ist, ein Knecht zu sein, einerlei ob Knecht eines Individuums oder eines Staates. Das Übel der Zivilisation liegt nicht so sehr in der materiellen Armut der Masse, als im Niedergang der Freiheitsliebe und des Selbstvertrauens. Nicht aus dem Wohlwollen, das Reformen hervorbringt, sondern aus dem Willen zur Freiheit wird die Revolte kommen, die eines Tages die Welt verändert. Die Menschen werden zusammenarbeiten im vollen Bewusstsein ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, und doch für sich selber handeln. Sie werden nicht warten, bis ihnen die Freiheit von oben her beschert wird, sondern sie werden sie sich nehmen.

So müssen denn die Sozialisten ihren Aufruf an die Arbeiter nicht in die Frage [IV-200] kleiden: „Ist es nicht unangenehm, arm zu sein, und willst du nicht den Armen helfen?“ sondern: „Armut ist ein Zeichen menschlicher und geistiger Knechtschaft; um ihre Fesseln zu sprengen, musst du aufhören, für andere zu arbeiten und an dich selber glauben.“ Lohnsklaverei wird so lange bestehen, als es Menschen oder Einrichtungen gibt, die sich zum Herrn anderer Menschen machen. Aber sie wird aufhören, sobald die Arbeiter lernen, Freiheit für ein größeres Gut zu achten als die Bequemlichkeit. Der einfache Mann muss Sozialist sein, nicht um ein Existenzminimum zu sichern, sondern weil er sich des Sklaventums schämt, das ihn und seine Brüder gebunden hält, und weil er entschlossen ist, das wirtschaftliche System aufzuheben, das ihn zum Sklaven macht. (...)

Zunächst also, welches ist der Inhalt des Ideals, nach welchem der Arbeiter streben muss? Was bedeutet die Kontrolle der Industrie, wie sie der Arbeiter fordert? Hier genügen zwei Worte: direkte Leitung. Die wirkliche Leitung des Geschäftes muss auf die Arbeiter übergehen, die in ihm täglich sind. Ihre Aufgabe muss es sein, Erzeugung, Verteilung und Austausch zu ordnen. Erobern müssen sie die industrielle Geschäftsführung und das Recht, die Beamten selbst zu wählen; sie müssen das ganz verwickelte Räder- und Hebelwerk der Industrie und des Handels verstehen und überwachen lernen; sie müssen zu den anerkannten Beauftragten der Allgemeinheit auf wirtschaftlichem Gebiete werden. (G. D. H. Cole und W. Mellor, 1921, S. 3-6 und 27 f.)

3. Sozio-psychologische Einwände gegen den kommunitären Sozialismus

Bevor ich praktische Vorschläge zur Realisierung des kommunitären Sozialismus in einer Industriegesellschaft erörtere, halte ich es für angebracht, einige der Haupteinwände gegen diese Art von Sozialismus aufzugreifen. Die Einwände beziehen sich zum einen auf die Vorstellung vom Wesen der Industriearbeit, zum anderen auf das Wesen des Menschen und auf die psychologischen Motivationen zur Arbeit.

Viele nachdenkliche und wohlmeinende Beobachter werfen dem kommunitären Sozialismus in erster Linie vor, dass er die Arbeitssituation selbst ändern wolle. Sie argumentieren, die moderne Industriearbeit sei ihrem Wesen nach mechanisch, uninteressant und entfremdet. Sie gründe sich auf eine extreme Arbeitsteilung und könne daher niemals das Interesse und die Aufmerksamkeit des ganzen Menschen beanspruchen. Alle Ideen, die Arbeit wieder interessant und sinnvoll zu machen, seien in Wirklichkeit lediglich romantische Träume - und wenn man sie konsequenter und realistischer verfolgen würde, so käme man logischerweise zu dem Ergebnis, dass man unser industrielles Produktionssystem aufgeben und zu einer vorindustriellen, handwerklichen Produktionsweise zurückkehren müsse. Ganz im Gegenteil - so argumentiert man weiter - müsse aber unser Ziel sein, die Arbeit noch weniger sinnvoll zu machen und sie noch stärker zu mechanisieren. In den letzten hundert Jahren haben wir eine enorme Reduzierung der täglichen Arbeitszeit erlebt, und ein Arbeitstag von vier oder gar von nur zwei Stunden kommt uns heute nicht mehr wie eine phantastische Zukunftserwartung vor. Im Augenblick erleben wir eine drastische [IV-201] Veränderung der Arbeitsmethoden. Der Arbeitsprozess wird in so viele kleine Komponenten aufgeteilt, dass die Aufgabe eines jeden Arbeiters rein automatisch wird und seine volle Aufmerksamkeit nicht mehr in Anspruch nimmt. So kann er sich Tagträumen und Phantasien hingeben. Außerdem bedienen wir uns in zunehmendem Maß automatisierter Maschinen, die mit einem eigenen „Gehirn“ in sauberen, gut beleuchteten, gesunden Fabriken arbeiten, und der „Arbeiter“ hat nur noch ein paar Instrumente zu beobachten und von Zeit zu Zeit einen Hebel zu betätigen. Die Vertreter dieser Auffassung sagen sogar, die völlige Automatisierung der Arbeit sei geradezu zu erhoffen. Der Mensch werde dann nur noch ein paar Stunden zu arbeiten haben, seine Arbeit werde für ihn nicht mehr unbequem sein, und sie werde seine Aufmerksamkeit kaum noch in Anspruch nehmen. Sie werde zu einer fast unbewussten Routine werden wie das Zähneputzen, und die Freizeit werde zum Schwerpunkt im Leben eines jeden Menschen werden.

Dieses Argument klingt recht überzeugend, und wer könnte behaupten, das Ziel, dem unsere industrielle Entwicklung zustrebe, sei nicht die völlig automatisierte Fabrik und die Abschaffung aller schmutzigen und unbequemen Arbeiten? Aber es gibt da einige Erwägungen, die uns daran hindern, unsere Haupthoffnung für eine Gesundung der Gesellschaft in der Automatisierung zu sehen.

Vor allem ist es zum mindesten zweifelhaft, ob die Mechanisierung der Arbeit die oben erwähnten Resultate bringen wird. Vieles spricht dagegen. So zeigte zum Beispiel eine gut durchdachte Untersuchung der Automobilarbeiter, dass diesen ihre Arbeit in dem Maß zuwider war, wie sie die Kennzeichen der Massenproduktion aufwies, also ständige Wiederholung, mechanische Arbeitsschritte und dergleichen. Obwohl die meisten aus wirtschaftlichen Gründen mit ihrem Job einverstanden waren (147 zu 7), behagte er einem noch größeren Anteil (96 zu 1) nicht, weil ihnen die unmittelbare Art ihrer Arbeit nicht gefiel. (Vgl. R. Walker und R. H. Guest, 1952, S. 142 f.) Die gleiche Reaktion kam auch im Verhalten der Arbeiter zum Ausdruck.

Arbeiter, deren Tätigkeit „eine hohe Punktzahl in Bezug auf die Massenproduktion erreichte“ - das heißt, welche die Merkmale der Massenproduktion in extremer Form aufwies - blieben ihrem Arbeitsplatz öfter fern als Arbeiter, deren Tätigkeit nur wenige Merkmale der Massenproduktion aufwies. Mehr Arbeiter mit hohen Massenproduktionswerten geben ihren Arbeitsplatz auf als solche mit niedrigen. (Walker, R., und Guest, R. H., 1952, S. 144.)[39]

Außerdem ist es fraglich, ob die Möglichkeit, sich Tagträumen und Phantasien hinzugeben, die einem die mechanische Arbeit gibt, wirklich etwas so Positives und Gesundes ist, wie die meisten Industriepsychologen annehmen. Tatsächlich ist das Tagträumen ja ein Symptom für eine mangelnde Bezogenheit auf die Wirklichkeit. Es ist weder erfrischend noch entspannend - es ist im wesentlichen eine Flucht mit allen negativen Folgen einer Ausweichhandlung. Was die Industriepsychologen in so leuchtenden Farben schildern, bedeutet seinem Wesen nach den gleichen [IV-202] Konzentrationsmangel, der für den modernen Menschen überhaupt so kennzeichnend ist. Man tut drei Dinge auf einmal, weil man nichts konzentriert tut. Es ist ein großer Irrtum anzunehmen, dass es erfrischend sei, wenn man etwas auf unkonzentrierte Weise tut. Ganz im Gegenteil ist jede konzentrierte Tätigkeit, ob es sich nun um Arbeit, Spiel oder Ausruhen handelt (auch Sich-Ausruhen ist eine Tätigkeit), belebend, und jede nichtkonzentrierte Tätigkeit ist ermüdend. Durch einfache Selbstbeobachtung kann jedermann sich von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugen.

Aber von all dem abgesehen wird es noch viele Generationen dauern, bis ein solcher Grad der Automatisierung und Reduzierung der Arbeitszeit erreicht ist - besonders, wenn wir nicht nur an Europa und Amerika, sondern auch an Asien und Afrika denken, die mit ihrer industriellen Revolution noch kaum begonnen haben. Soll der Mensch während der nächsten Jahrhunderte noch weiter den größten Teil seiner Energie auf sinnlose Arbeit verwenden und auf den Zeitpunkt warten, wo die Arbeit kaum noch irgendwelche Energie beanspruchen wird? Was soll in der Zwischenzeit aus ihm werden? Wird er sich nicht immer mehr sich selbst entfremden, und das genauso in seiner Freizeit wie in seiner Arbeitszeit? Ist die Hoffnung auf eine Arbeit ohne Mühe nicht ein Tagtraum, der sich auf die Phantasievorstellung, immer faulenzen zu können und nur auf einen Knopf drücken zu müssen, gründet, und ist das nicht eine ziemlich ungesunde Vorstellung? Ist nicht die Arbeit ein so grundlegender Bestandteil der menschlichen Existenz, dass man sie nie und nimmer zu einer völligen Bedeutungslosigkeit reduzieren kann und sollte? Ist nicht die Art der Tätigkeit an und für sich ein wesentliches Element bei der Charakterbildung eines Menschen? Führt eine völlig automatisierte Arbeit nicht zu einem völlig automatisierten Leben?

Während all diese Fragen ebenso viele Zweifel an der Berechtigung der Idealisierung einer völlig automatisierten Arbeit bedeuten, haben wir uns jetzt mit jenen Ansichten zu befassen, die die Möglichkeit bestreiten, dass man die Arbeit attraktiv und sinnvoll machen könne und dass sie daher überhaupt nicht wirklich zu humanisieren sei. Dabei argumentiert man folgendermaßen: Die moderne Fabrikarbeit kann den Menschen ihrer ganzen Natur nach nicht interessieren und befriedigen. Außerdem sind auch notwendige Arbeiten zu verrichten, die unbestreitbar unangenehm oder abstoßend sind. Die aktive Beteiligung der Arbeiter am Management ist unvereinbar mit den Erfordernissen der modernen Industrie und würde zu einem Chaos führen. Um in diesem System richtig zu funktionieren, muss der Mensch gehorchen, muss er sich einer routinisierten Organisation anpassen. Von Natur aus ist der Mensch faul und hat keine Lust, Verantwortung zu übernehmen; daher muss man ihn dazu konditionieren, dass er reibungslos und ohne allzu viel eigene Initiative und Spontaneität funktioniert.

Um uns mit diesen Argumenten richtig auseinandersetzen zu können, müssen wir einige Spekulationen über das Problem der Faulheit und über die verschiedenen Motivationen zur Arbeit anstellen.

Es ist erstaunlich, dass die Auffassung von der natürlichen Faulheit des Menschen von Psychologen wie von Laien immer noch vertreten werden kann, wo ihr doch so viele, von jedem zu beobachtende Tatsachen widersprechen. Die Faulheit ist keineswegs normal, sondern ein Symptom einer seelischen Erkrankung. Tatsächlich ist eine der [IV-203] schlimmsten Formen seelischen Leidens die Langeweile, dass man nicht weiß, was man mit sich selbst und seinem Leben anfangen soll. Selbst wenn der Mensch keine finanzielle oder andersartige Entschädigung dafür bekäme, würde er doch mit Eifer seine Energie auf eine irgendwie sinnvolle Weise einsetzen, weil er die Langeweile, welche die Untätigkeit erzeugt, nicht aushält.

Schauen wir uns doch einmal die Kinder an: Sie sind nie faul. Wenn man sie nur im Geringsten dazu ermuntert, oder sogar auch ohne dies, sind sie eifrig am Spielen. Sie stellen Fragen, erfinden Geschichten ohne anderen Ansporn als den Spaß, den ihnen die Tätigkeit selbst macht. In der Psychopathologie finden wir, dass ein Mensch, der kein Interesse daran hat, sich zu betätigen, schwer krank und weit entfernt vom normalen Zustand der menschlichen Natur ist. Wir besitzen eine Menge Material darüber, dass Arbeiter in Zeiten der Arbeitslosigkeit ebenso sehr - oder noch mehr - unter der ihnen aufgezwungenen „Ruhe“ wie unter materiellen Entbehrungen leiden. Ebenso viel Material gibt es darüber, dass viele Menschen, die mit fünfundsechzig Jahren zu arbeiten aufhören müssen, darüber tief unglücklich sind, was häufig zu einem körperlichen Verfall und zu Erkrankungen führt.

Trotzdem gibt es auch gute Gründe für die weitverbreitete Annahme, dass der Mensch von Natur aus faul ist. Der Hauptgrund dafür ist die Tatsache, dass die entfremdete Arbeit langweilig und unbefriedigend ist, dass hierdurch sehr viel Spannung und Feindseligkeiten entstehen, welche zu einem Widerwillen gegen die Arbeit führen, die man tun muss, und gegen alles, was damit zusammenhängt. Die Folge ist, dass für viele das Faulenzen und „Nichtstun“ das Ideal ist. Solche Menschen haben daher das Gefühl, ihre Faulheit sei der „natürliche“ Zustand und nicht Symptom einer krankhaften Lebensbedingung, die das Resultat einer sinnlosen und entfremdeten Arbeit ist. Wenn man die üblichen Meinungen über die Arbeitsmotivation genauer untersucht, so zeigt sich, dass sie von der Konzeption einer entfremdeten Arbeit ausgehen und dass ihre Schlussfolgerungen sich daher nicht auf eine nicht-entfremdete, attraktive Arbeit anwenden lassen.

Die konventionelle und am meisten verbreitete Theorie lautet, das Geld sei der Hauptansporn zur Arbeit. Diese Antwort kann zweierlei bedeuten: einmal, dass die Angst, verhungern zu müssen, der Hauptantrieb zur Arbeit ist; in diesem Fall ist das Argument zweifellos zutreffend. Der Arbeiter würde viele Arbeiten wegen des Lohns oder anderer Arbeitsbedingungen niemals auf sich nehmen, wenn er nicht vor der Alternative stünde, sie entweder zu akzeptieren oder zu verhungern. Die unangenehmen, niedrigen Arbeiten werden in unserer Gesellschaft nicht freiwillig verrichtet, sondern weil die Betreffenden durch die Notwendigkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, dazu gezwungen sind.

Noch häufiger kommt es vor, dass die Auffassung vom Geld als Arbeitsansporn sich darauf bezieht, dass man sich beim Arbeiten mehr anstrengt, um noch mehr Geld zu verdienen. Wenn der Mensch nicht hoffte, besser bezahlt zu werden - lautet dieses Argument - so würde er überhaupt nicht arbeiten, oder er hätte doch wenigstens keinerlei Interesse an seiner Arbeit.

Dieser Ansicht sind noch immer die meisten Industriellen, wie auch viele Gewerkschaftsführer. So gaben beispielsweise fünfzig leitende Angestellte in einer Fabrik auf [IV-204] die Frage, was zur Hebung der Produktivität der Arbeiter von Wichtigkeit sei, folgende Antworten[40]:

„Man kann nur antworten: Geld!“ 44 %
„Geld ist bei weitem das Wichtigste, aber auch weniger greifbare Dinge spielen eine Rolle“ 28 %
„Geld ist wichtig, hat aber über einen gewissen Punkt hinaus keine Wirkung mehr“ 28 %
Summe 100 %

Tatsächlich treten auf der ganzen Welt die Arbeitgeber für das Prinzip höherer Löhne für höhere Leistungen als dem einzigen Mittel ein, das zu einer erhöhten Produktivität des einzelnen Arbeiters sowie zu einem höheren Verdienst von Arbeitern und Arbeitgebern und hierdurch indirekt zu einer verminderten Abwesenheit vom Arbeitsplatz, zur Vereinfachung der Aufsicht und dergleichen führt. Berichte und Meinungsumfragen in den Büros von Industrie und öffentlicher Verwaltung „bestätigen ganz allgemein die Wirksamkeit des Prinzips der höheren Löhne für höhere Leistungen im Hinblick auf eine Steigerung der Produktivität und zur Erreichung anderer Ziele“ (M. S. Viteles, 1953, S. 27). Es scheint, dass auch die Arbeiter der Ansicht sind, dass höherer Lohn für höhere Leistung aus jedem Arbeiter das meiste herausholt. Bei einer Meinungsumfrage der Opinion Research Corporation im Jahre 1949, bei der 1 021 Arbeiter befragt wurden, die eine nationale Stichprobe von Arbeitnehmern in Fabrikbetrieben darstellten, meinten 65 Prozent, höhere Löhne für höhere Leistung steigerten die Produktion, und nur 22 Prozent meinten, die Bezahlung im Stundenlohn wirke sich günstiger auf die Produktion aus. Auf die Frage, welche Methode sie bevorzugten, antworteten jedoch 65 Prozent, es sei der Stundenlohn, und nur 29 Prozent waren für den Akkordlohn. (Bei den Arbeitern im Stundenlohn war das Verhältnis 74 zu 20 zugunsten des Stundenlohns, aber selbst bei den bereits im Akkord bezahlten Arbeitern waren 59 Prozent für den Stundenlohn, und nur 36 Prozent zogen die höheren Löhne für höhere Leistung vor.)

Viteles interpretiert letztere Ergebnisse folgendermaßen: „So vorteilhaft höherer Lohn für höhere Leistung zur Steigerung der Produktion auch sein mag, so ist damit allein das Problem, die echte Mitarbeit der Arbeiter zu gewinnen, doch nicht gelöst. In gewisser Hinsicht kann sich hierdurch das Problem sogar noch verschärfen.“ (M. S. Viteles, 1953, S. 49 f.) Diese Meinung vertreten auch immer mehr Industriepsychologen und sogar manche Industrielle.

Die Erörterung über den Ansporn durch Geld wäre jedoch unvollständig, wenn man die Tatsache nicht berücksichtigte, dass das Verlangen nach mehr Geld durch dieselbe Industrie noch ständig genährt wird, die sich darauf verlässt, dass das Geld den Hauptantrieb zur Leistung darstellt. Durch die Reklame, durch das Angebot von Abzahlungskrediten und viele andere Methoden stachelt man die Begehrlichkeit jedes Einzelnen nach dem Kauf von immer mehr und immer neueren Dingen so sehr an, dass er nur noch selten genug Geld hat, um alle diese „Bedürfnisse“ zu befriedigen. Auf [IV-205] diese Weise spielt das Geld als Ansporn zur Leistung eine noch größere Rolle als es sonst der Fall wäre. Außerdem versteht es sich von selbst, dass der Ansporn durch das Geld solange eine Hauptrolle spielen muss, wie es den einzigen Ansporn darstellt, weil der Arbeitsprozess selbst so unbefriedigend und langweilig ist. Es gibt viele Fälle, wo sich Menschen für eine Arbeit mit geringerer Bezahlung entschieden, weil sie interessanter war.

Neben dem Geld sieht man im Prestige, dem Status und der damit Hand in Hand gehenden Macht einen Hauptansporn zur Arbeit. Der Beweis erübrigt sich, dass heute das Streben nach Prestige und Macht für die Mittel- und Oberklasse den mächtigsten Antrieb zur Arbeit darstellt. Tatsächlich liegt die Bedeutung des Geldes weitgehend darin, dass es Prestige verleiht, was mindestens ebenso wichtig ist, wie dass es Sicherheit und Komfort mit sich bringt. Aber dabei übersieht man oft, welche Rolle das Bedürfnis nach Prestige auch bei den Arbeitern und den kleinen Angestellten in der Industrie und im Geschäftsleben spielt. Das Namensschildchen des Pullman-Gepäckträgers und des Schalterbeamten usw. sind bedeutsame psychologische Stützen für das Gefühl der eigenen Bedeutung. Das gleiche gilt für das eigene Telefon und den größeren Büroraum für die gehobenen Posten. Diese Prestigefaktoren spielen auch bei den Industriearbeitern eine Rolle. (Vgl. W. Williams, 1925, S. 56, zit. nach M. S. Viteles, 1953, S. 65.)

Geld, Prestige und Macht sind heute der Hauptansporn für den größten Teil unserer Bevölkerung - die Berufstätigen. Aber es gibt auch noch andere Motivationen: die Befriedigung, die es verleiht, sich eine unabhängige wirtschaftliche Existenz aufzubauen, und die Ausübung einer qualifizierten Tätigkeit. Beides macht die Arbeit weit sinnvoller und attraktiver, als wenn allein das Streben nach Geld und Macht dahintersteht. Während aber wirtschaftliche Unabhängigkeit und handwerkliche Geschicklichkeit für den unabhängigen Geschäftsmann, den Handwerker und den hochqualifizierten Facharbeiter im Neunzehnten und zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts wichtige Quellen der Befriedigung waren, spielen diese Motivationen nun eine immer geringere Rolle.

Was die Zunahme der Arbeiter und Angestellten im Gegensatz zu den Selbständigen betrifft, so ist festzustellen, dass zu Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts etwa vier Fünftel aller Berufstätigen selbständig waren; um 1870 gehörte nur noch ein Drittel dieser Gruppe an, und 1940 zählten zu dieser alten Mittelklasse nur noch ein Fünftel der berufstätigen Bevölkerung. Diese Verschiebung von der Tätigkeit eines selbständigen Unternehmers zu der eines Abhängigen führt an sich schon zu einer geringeren Befriedigung durch die Arbeit aus den bereits erwähnten Gründen. Der Angestellte arbeitet mehr als der Selbständige in einer entfremdeten Position. Ob er ein niedrigeres oder ein höheres Einkommen bezieht, stets ist er nur ein nebensächlicher Bestandteil der Organisation und kein menschliches Wesen, das etwas für sich selbst tut.

Es gibt jedoch einen Faktor, welcher die Entfremdung der Arbeit mildern könnte, und das ist die zu ihrer Ausübung erforderliche Geschicklichkeit. Aber auch hier geht die Entwicklung in Richtung immer geringerer Anforderungen, was wiederum zu einer wachsenden Entfremdung führt. [IV-206]

Von den Büroangestellten erwartet man immer noch ein gewisses Maß an Können, doch wird es immer wichtiger, dass sie dabei auch eine „liebenswürdige Persönlichkeit“ sind, die sich zu verkaufen versteht. Bei den Industriearbeitern verliert der alte Typ des vielseitig ausgebildeten Arbeiters im Vergleich zu dem nur angelernten immer mehr an Bedeutung. Ende 1948 betrug bei Ford die Zahl der Arbeiter, die in weniger als zwei Wochen angelernt worden waren, 75 bis 80 Prozent der gesamten Belegschaft. In einer Berufsschule mit Lehrlingsausbildung bei Ford schlossen nur dreihundert Lehrlinge alljährlich ihre Ausbildung ab, und die Hälfte davon ging anschließend in einen anderen Betrieb. In einer Chicagoer Batteriefabrik sind unter hundert Mechanikern, die als hochqualifiziert angesehen werden, nur fünfzehn, die ein gründliches technisches Allgemeinwissen besitzen; fünfundvierzig weitere sind nur für die Bedienung einer bestimmten Maschine angelernt. In einem der Betriebe der Western Electric in Chicago beansprucht die Ausbildung der Arbeiter zwischen drei und vier Wochen und bis zu sechs Monaten, sofern es sich um besonders komplizierte und schwierige Aufgaben handelt. Die gesamte Belegschaft von 6 400 Personen setzte sich 1948 aus etwa 1 000 Angestellten, 5 000 einfachen Arbeitern und nur 400 Arbeitern zusammen, die man als Facharbeiter bezeichnen konnte. Anders gesagt, es warenweniger als 10 Prozent der gesamten Belegschaft technisch besonders qualifiziert. In einer großen Süßwarenfabrik in Chicago brauchen 90 Prozent der Arbeiter „für den Job“ eine Ausbildung von nicht mehr als 48 Stunden. (Zu den Zahlenangaben vgl. G. Friedmann, 1950, S. 152 ff.)

Selbst in der Schweizer Uhrenindustrie, die sich doch auf die Arbeit von hochqualifizierten und geschickten Leuten gründet, hat sich die Lage in dieser Hinsicht drastisch geändert. Es gibt zwar immer noch eine Reihe von Firmen, die sich bei ihrer Produktion an das traditionelle Handwerksprinzip halten, aber die großen Uhrenfabriken im Kanton Solothurn besitzen nur noch einen geringen Prozentsatz von voll ausgebildeten Facharbeitern. (Vgl. G. Friedmann, 1950, S. 319 f.)

Zusammenfassend ist zu sagen, dass der allergrößte Teil der Bevölkerung Arbeiten ausführt, die nur wenig Geschicklichkeit verlangen und bei denen der Einzelne fast keine Chance hat, irgendwelche besonderen Talente zu entwickeln oder herausragende Leistungen zu zeigen. Während die Gruppe der Manager und der Angehörigen höherer Berufe wenigstens noch ein beträchtliches Interesse daran hat, etwas mehr oder weniger Persönliches zu leisten, verkaufen die allermeisten ihre körperlichen und einen äußerst geringen Teil ihrer intellektuellen Fähigkeiten einem Arbeitgeber, der sie zu Gewinnzwecken, an denen sie keinen Anteil haben, und für Dinge, für die sie sich nicht interessieren, benutzt, wobei sie selbst keinen anderen Zweck verfolgen, als ihren Lebensunterhalt zu verdienen und daneben auch eine kleine Chance zu haben, ihre Konsumgier zu befriedigen.

Unzufriedenheit, Apathie, Langeweile, Mangel an Freude und Glück, ein Gefühl der Nutzlosigkeit und die unbestimmte Empfindung, dass das Leben sinnlos ist, sind die unvermeidlichen Folgen dieser Situation. Dieses Krankheitssyndrom unserer Gesellschaft mag den Leuten nicht bewusst sein. Es kann durch eine krampfhafte Flucht in Ausweichbeschäftigungen oder durch das Streben nach mehr Geld, Macht und Prestige verdeckt werden. Aber diese letzteren Motivationen spielen nur deshalb eine [IV-207] so große Rolle, weil der entfremdete Mensch nicht umhin kann, nach solchen Kompensationen für seine innere Leere zu suchen, und nicht etwa, weil diese Wünsche die „natürlichen“ oder wichtigsten Antriebskräfte für die Arbeit sind.

Gibt es irgendwelche empirischen Beweise dafür, dass die meisten Menschen heute von ihrer Arbeit nicht befriedigt sind?

Wenn wir diese Frage zu beantworten versuchen, müssen wir unterscheiden zwischen dem, was die Menschen bewusst darüber denken, ob sie zufrieden sind, und was sie in dieser Beziehung unbewusst fühlen. Aus den Erfahrungen der Psychoanalyse geht hervor, dass das Gefühl, unglücklich und unbefriedigt zu sein, tief verdrängt sein kann. Jemand kann sich bewusst ganz zufrieden vorkommen, und seine unglückliche Grundstimmung kann sich nur in seinen Träumen, in einer psychosomatischen Krankheit, in Schlaflosigkeit und vielen anderen Symptomen äußern. Die Neigung zu verdrängen, dass man unglücklich und unbefriedigt ist, wird noch stark gefördert durch das weitverbreitete Gefühl, dass nicht zufrieden sein soviel bedeute, wie dass man „ein Versager“, dass man „komisch“, erfolglos ist und so weiter. (So ist zum Beispiel die Zahl der Leute, die meinen, sie wären glücklich verheiratet, und die das bei der Beantwortung eines Fragebogens auch ganz aufrichtig zum Ausdruck bringen, weit größer als die Zahl derer, die in ihrer Ehe wirklich glücklich sind.)

Aber selbst die Daten, die sich auf die bewusste Zufriedenheit mit dem jeweiligen Job beziehen, sind recht aufschlussreich.

Bei einer entsprechenden Umfrage auf nationaler Ebene äußerten sich 85 Prozent der Angehörigen freier Berufe und leitender Angestellter zufrieden und erfreut über ihren Beruf, gegenüber 64 Prozent der Angestellten und 41 Prozent der Fabrikarbeiter. In einer anderen Untersuchung treffen wir auf ein ähnliches Bild: 86 Prozent der Angehörigen freier Berufe, 74 Prozent der Manager, 42 Prozent der in der Wirtschaft tätigen Angestellten, 56 Prozent der Facharbeiter und 48 Prozent der angelernten Arbeiter äußerten sich zufrieden. (Vgl. C. W. Mills, 1951, S. 229.)

Wir finden in diesen Zahlen eine signifikante Diskrepanz zwischen den Angehörigen freier Berufe und leitenden Angestellten einerseits und Arbeitern und kleinen Angestellten auf der anderen Seite. Bei den Erstgenannten ist nur eine Minderheit unzufrieden - bei den Letztgenannten über die Hälfte. Hinsichtlich der Gesamtbevölkerung bedeutet das, grob gesprochen, dass mehr als die Hälfte der berufstätigen Bevölkerung mit ihrer Arbeit bewusst unzufrieden ist und keine Freude daran hat. Wenn wir die unbewusste Unzufriedenheit mitberücksichtigen würden, wäre der Prozentsatz noch beträchtlich höher. Bei den 85 Prozent der „zufriedenen“ Angehörigen freier Berufe und leitender Angestellter hätten wir zu untersuchen, wie viele von ihnen unter psychisch bedingtem hohem Blutdruck, unter Magengeschwüren, Schlaflosigkeit, nervöser Überreizung und ständiger Angespanntheit leiden. Wenn es auch hierüber keine genauen Daten gibt, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass angesichts dieser Symptome die Zahl der wirklich zufriedenen Menschen, die Freude an ihrer Arbeit haben, noch viel kleiner sein dürfte, als aus den oben angegebenen Zahlen hervorgeht.

Was die Fabrikarbeiter und kleinen Angestellten betrifft, so ist unter ihnen sogar die Zahl der bewusst Unzufriedenen bemerkenswert hoch. Zweifellos ist die Zahl der [IV-208] unbewusst Unzufriedenen unter ihnen noch viel höher. Dies geht aus mehreren Untersuchungen hervor, die zeigen, dass Neurosen und psychogene Erkrankungen der Hauptgrund für das Fehlen am Arbeitsplatz sind. (Schätzungen über neurotische Symptome bei Fabrikarbeitern belaufen sich auf bis zu 50 Prozent.) Abgespanntheit und häufiger Wechsel des Arbeitsplatzes sind weitere Symptome von Unzufriedenheit und Ärger.

Das vom wirtschaftlichen Standpunkt aus wichtigste und daher auch am besten untersuchte Symptom ist die weitverbreitete Tendenz der Fabrikarbeiter, bei ihrer Arbeit nicht ihr Bestes zu geben, die sogenannte Leistungsbeschränkung. Bei einer von der Opinion Research Corporation 1945 durchgeführten Meinungsumfrage antworteten 49 Prozent aller befragten Fabrikarbeiter: „Wenn jemand in einer Fabrik einen Job übernimmt, so sollte er möglichst viel leisten“, 41 Prozent antworteten jedoch, er solle nicht möglichst viel tun, sondern nur „soviel liefern wie der Durchschnitt“.[41]

Wir sehen hieraus, dass sehr viel bewusste und noch mehr unbewusste Unzufriedenheit mit der Art der Arbeit, die unsere Industriegesellschaft den meisten ihrer Mitglieder bietet, vorhanden ist. Man sucht dieser Unzufriedenheit teils mit höherer Bezahlung, teils mit höherem Prestige im Werk entgegenzuwirken, und zweifellos erzeugt ein solcher Ansporn auch besonders auf den mittleren und höheren Stufen der geschäftlichen Hierarchie einen beträchtlichen Arbeitseifer. Aber dass diese Anreize die Leute zum Arbeiten veranlassen, ist eine Sache, und es ist etwas völlig anderes, ob eine Arbeit dieser Art zur seelischen Gesundheit und zum Glück führt. Eine Diskussion über die Arbeitsmotivation berücksichtigt meist nur ersteres Problem, ob nämlich dieser oder jener Anreiz die wirtschaftliche Produktivität des Arbeiters vergrößert, und man lässt die andere Seite, nämlich seine menschliche Produktivität, unberücksichtigt. Man übersieht, dass es viele Antriebe gibt, die jemand dazu veranlassen können, [IV-209] etwas zu tun, die aber gleichzeitig seiner Persönlichkeit schaden. Jemand kann aus Angst oder aus einem inneren Schuldgefühl heraus arbeiten. Die Psychopathologie liefert uns viele Beispiele für neurotische Motive, die zu Aktivismus oder auch zur Untätigkeit führen.

Die meisten unter uns nehmen an, die in unserer Gesellschaft übliche Art der Arbeit - nämlich die entfremdete Arbeit - sei die einzige Art, die es gebe, daher sei die Abneigung gegen die Arbeit etwas Natürliches, und daher seien Geld, Prestige und Macht die einzigen Antriebe zur Arbeit. Wenn wir unsere Phantasie nur ein wenig anstrengen wollten, könnten wir viele Beweise aus unserem eigenen Leben, aus der Beobachtung von Kindern und aus einer ganzen Reihe von anderen Situationen sammeln, denen wir mit Sicherheit begegnen werden, und die uns überzeugen würden, dass wir uns danach sehnen, unsere Kraft für etwas Sinnvolles einzusetzen, dass wir uns erfrischt fühlen, wenn wir die Möglichkeit dazu haben, und dass wir auch durchaus bereit sind, eine rationale Autorität anzuerkennen, wenn das, was wir tun, einen Sinn für uns hat.

Aber - so werden die meisten einwerfen - selbst wenn das stimmen sollte, was nützt uns diese Erkenntnis? Die mechanisierte Arbeit in der Industrie kann ihrem Wesen nach nicht sinnvoll sein. Sie kann keine Freude und keine Befriedigung gewähren - man kann an dieser Tatsache nichts ändern, wenn wir nicht unsere technischen Errungenschaften aufgeben wollen. Um diesen Einwand zu widerlegen und einige Ideen zu erörtern, wie man die moderne Arbeit sinnvoll machen könnte, möchte ich auf zwei unterschiedliche Aspekte der Arbeit hinweisen, die man bei unserem Problem unbedingt auseinanderhalten sollte. Ich meine den Unterschied zwischen dem technischen und dem sozialen Aspekt der Arbeit.

4. Interesse und Mitbestimmung als motivierende Kräfte im kommunitären Sozialismus

Wenn wir die technische und die soziale Seite der Arbeitssituation getrennt voneinander betrachten, so finden wir, dass viele Arten von Arbeit in Bezug auf ihren technischen Aspekt attraktiv wären, sofern auch ihre soziale Seite befriedigend wäre. Andererseits gibt es auch Arbeiten, die in technischer Hinsicht ihrer ganzen Natur nach nicht interessant sein können, die aber durch den sozialen Aspekt der Arbeitssituation sinnvoll und attraktiv sein könnten. Beginnen wir mit der Erörterung des ersten Falls, so finden wir, dass es viele Männer gibt, denen zum Beispiel der Beruf eines Lokomotivführers außerordentlich Spaß machen würde. Aber wenngleich dieser Beruf einer der höchstbezahlten und angesehensten in der Arbeiterklasse ist, bedeutet er trotzdem für den, der „etwas Besseres“ werden könnte, nicht die volle Erfüllung seines Ehrgeizes. Zweifellos hätte mancher leitende Angestellte der Wirtschaft mehr Freude daran, als Lokomotivführer zu arbeiten, wenn dieser Beruf nur gesellschaftlich anders bewertet würde. Oder nehmen wir als ein anderes Beispiel den Kellner in einem Restaurant. Diese Tätigkeit könnte für viele äußerst attraktiv sein, wenn sie ein anderes gesellschaftliches Prestige hätte. Sie bringt einen ständigen Kontakt mit [IV-210] anderen Menschen mit sich, und Leuten, die gern etwas Gutes essen, macht es Vergnügen, andere diesbezüglich zu beraten, ihnen das Essen nett zu servieren und so weiter. Vielen würde es viel mehr Spaß machen, als Ober zu arbeiten, als in ihrem Büro über bedeutungslosen Zahlen zu sitzen, wenn dieser Beruf nicht gesellschaftlich so wenig angesehen und so schlecht bezahlt wäre. Wieder andere wären gern Taxichauffeur, wenn die negativen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Seiten dieses Berufs nicht wären.

Oft heißt es, es gebe verschiedene Arbeiten, die niemand tun möchte, wenn er nicht durch wirtschaftliche Notwendigkeiten dazu gezwungen wäre. Oft führt man als Beispiel den Beruf eines Bergmanns an. Aber in Anbetracht der Verschiedenheit der Menschen und ihrer bewussten und unbewussten Phantasien dürfte es doch auch eine beträchtliche Zahl von Menschen geben, für die die Arbeit im Inneren der Erde und die Gewinnung ihrer Schätze eine große Anziehungskraft haben könnte, wenn mit dieser Art von Arbeit nicht solche gesellschaftlichen und finanziellen Nachteile verbunden wären. Es gibt kaum eine Arbeit, die nicht Menschen von einem bestimmten Persönlichkeitstyp anziehen dürfte, wenn man nur die damit verbundenen negativen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekte beseitigen könnte.

Aber selbst wenn dies zutrifft, so stimmt es doch zweifellos auch, dass ein großer Teil der hoch routinisierten Arbeit, wie sie die mechanisierte Industrie benötigt, an und für sich keine Freude und Befriedigung gewähren kann. Auch hier erweist es sich als wichtig, dass man zwischen der technischen und der sozialen Seite solcher Arbeiten unterscheidet. Während sie vom technischen Standpunkt aus in der Tat uninteressant sein können, kann doch die gesamte Arbeitssituation eine große Befriedigung gewähren.

Ich möchte das mit einigen Beispielen veranschaulichen. Vergleichen wir beispielsweise eine Hausfrau, die den Haushalt führt und kocht, mit einer Hausgehilfin, welche dafür bezahlt wird, dass sie genau die gleiche Arbeit verrichtet. Technisch gesehen ist diese Arbeit für die Hausfrau und für die Hausgehilfin genau die gleiche, und sie ist nicht besonders interessant. Sie wird jedoch für die beiden eine völlig unterschiedliche Bedeutung haben und ihnen eine völlig unterschiedliche Befriedigung gewähren, vorausgesetzt, wir haben eine Frau im Sinn, die mit ihrem Mann und ihren Kindern ein glückliches Familienleben führt, und eine durchschnittliche Hausgehilfin, die keine gefühlsmäßige Bindung an ihre Arbeitgeber hat. Für die Hausfrau wird die Arbeit keine Plackerei sein, während sie für die Hausgehilfin genau das sein wird, die sie nur auf sich nimmt, weil sie das Geld braucht, das man ihr dafür bezahlt. Der Grund für diesen Unterschied ist leicht einzusehen: Während die Arbeit technisch gesehen genau die gleiche ist, ist die Arbeitssituation eine völlig andere. Für die Hausfrau bildet sie einen Teil ihrer Gesamtbeziehung zu ihrem Mann und ihren Kindern, und in diesem Sinn ist ihre Arbeit sinnvoll. Die Hausgehilfin hat dagegen keinen Anteil an der Befriedigung, die diesem sozialen Aspekt der Arbeit entspringt.

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Ein mexikanischer Indianer verkauft seine Ware auf dem Markt. Die technische Seite der Arbeit, den ganzen Tag auf Kunden zu warten und von Zeit zu Zeit ihre Fragen über den Preis usw. zu beantworten, wäre ebenso langweilig und unangenehm, wie es die Arbeit einer Verkäuferin in einem [IV-211] billigen Warenhaus ist. Und doch besteht ein wesentlicher Unterschied. Für den mexikanischen Indianer bietet der Markt Gelegenheit zu einem bereichernden und anregenden menschlichen Austausch. Er antwortet seinen Kunden mit Vergnügen, es interessiert ihn, sich mit ihnen zu unterhalten, und es wäre eine große Enttäuschung für ihn, wenn er schon am frühen Morgen alle seine Waren verkauft und keine Gelegenheit mehr hätte, sein Bedürfnis nach dem Umgang mit Menschen zu befriedigen. Für die Verkäuferin im Warenhaus ist die Situation von Grund auf anders. Sie muss zwar nicht soviel lächeln wie die besser bezahlte Verkäuferin in einem eleganten Geschäft, aber ihre Entfremdung vom Kunden ist genau die gleiche. Es gibt hier keinen echten menschlichen Austausch. Sie arbeitet als Teil des Verkaufsapparats, hat Angst entlassen zu werden und ist eifrig bemüht, ihre Stellung zu sichern. In sozialer Hinsicht ist die Arbeitssituation für sie unmenschlich, sinnentleert und gewährt keinerlei Befriedigung. Es stimmt natürlich, dass der Indianer seine eigenen Erzeugnisse verkauft und den Erlös in die eigene Tasche steckt, aber auch ein kleiner unabhängiger Ladenbesitzer wird sich gelangweilt fühlen, wenn er die soziale Seite seiner Arbeitssituation nicht in eine menschliche verwandelt.

Wenn wir uns nun einigen neueren Untersuchungen auf dem Gebiet der Industriepsychologie zuwenden, so finden wir eine Menge Beweise dafür, wie wichtig es ist, zwischen der technischen und der gesellschaftlichen Seite der Arbeitssituation zu unterscheiden, sowie für die belebende und anfeuernde Wirkung einer aktiven und verantwortungsbewussten Mitbestimmung (participation) des Arbeiters an seiner Arbeit.

Eines der frappantesten Beispiele dafür, dass auch eine technisch monotone Arbeit interessant sein kann, wenn die Arbeitssituation als ganze dem Arbeiter die Möglichkeit gibt, sich dafür zu interessieren und aktiv mitbestimmen zu können, ist das inzwischen klassische Experiment, das Elton Mayo in den Chicagoer Hawthorne-Werken der Western Electric Company durchgeführt hat. (Vgl. E. Mayo,1933; F. J. Roethlisberger und W. J. Dickson, 1950.) Der dafür ausgewählte Arbeitsgang war das Montieren von Telefonspulen, eine Arbeit mit sich ständig wiederholenden Handgriffen, die im allgemeinen von Frauen ausgeführt wird. Ein Arbeitstisch mit der entsprechenden Ausrüstung und Arbeitsplätzen für fünf Arbeiterinnen wurde in einem Raum aufgestellt, der durch eine Zwischenwand vom Hauptmontageraum abgetrennt war. Insgesamt arbeiteten sechs Personen in diesem Raum, fünf bei der Montage am Arbeitstisch und eine Arbeiterin, die das erforderliche Material austeilte. Alle diese Frauen waren erfahrene Arbeiterinnen. Zwei von ihnen fielen im ersten Jahr aus, und zwei andere, ebenso geschickte Arbeiterinnen, nahmen ihre Plätze ein. Das Experiment dauerte insgesamt fünf Jahre und war in verschiedene Versuchsperioden aufgeteilt, bei denen gewisse Veränderungen in den Arbeitsbedingungen vorgenommen wurden. Ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen, es dürfte aber genügen festzustellen, dass die Veränderungen darin bestanden, dass morgens und nachmittags Ruhepausen eingeschaltet wurden und dass die Arbeitszeit um eine halbe Stunde verkürzt wurde. Während dieser Veränderungen stieg die Stückleistung einer jeden Arbeiterin beträchtlich. Gut und schön. Nichts wäre einleuchtender, als dass mehr Ruhepausen und der Versuch, es den Arbeiterinnen „behaglicher“ zu machen, [IV-212] die Ursache für ihre Leistungssteigerung war. Aber eine neue Maßnahme in der zwölften Versuchsperiode sprach gegen diese Annahme und erbrachte erstaunliche Resultate: Im Einverständnis mit den Arbeiterinnen kehrte die Gruppe zu den Arbeitsbedingungen zurück, wie sie zu Anfang des Experiments bestanden hatten. Die Ruhepausen, die besonderen Erfrischungen und andere Verbesserungen wurden sämtlich etwa drei Monate lang wieder abgeschafft. Zu jedermanns Verwunderung führte das aber nicht zu einer Leistungsminderung, sondern die tägliche und wöchentliche Stückleistung war ganz im Gegenteil höher denn je. In der folgenden Periode wurden die alten Vergünstigungen wieder eingeführt mit der einzigen Ausnahme, dass die Frauen selbst für ihr Essen sorgten, während ihnen die Firma weiterhin den Kaffee zu ihrem Mittagessen lieferte. Die Stückleistung stieg weiter an. Und nicht nur das. Ebenso wichtig ist, dass die Durchschnittsrate der Erkrankungen bei den am Experiment beteiligten Arbeiterinnen um 80 Prozent geringer war als im übrigen Betrieb, und dass sich zwischen ihnen eine freundschaftliche Beziehung entwickelte.

Wie kann man sich das überraschende Ergebnis erklären, dass „die beständige Leistungssteigerung offenbar von den Änderungen im Experiment unabhängig war“ (E. Mayo, 1933, S. 63)? Wenn es nicht an den Ruhepausen, dem Tee oder der verkürzten Arbeitszeit lag, was veranlasste dann die Arbeiterinnen, mehr zu produzieren und gesünder und netter zueinander zu sein? Die Antwort liegt auf der Hand: Während die technische Seite der monotonen, uninteressanten Arbeit die gleiche blieb und sogar gewisse Verbesserungen wie Ruhepausen nicht entscheidend waren, hatte sich die soziale Seite der Gesamt-Arbeitssituation geändert und eine Änderung in der Einstellung der Arbeiterinnen bewirkt. Man hatte sie über das Experiment und seine verschiedenen Phasen informiert; man hörte sich ihre Vorschläge an und befolgte sie auch häufig, und - was vielleicht noch wichtiger ist - sie waren sich bewusst, an einem sinnvollen und interessanten Experiment beteiligt zu sein, das nicht nur für sie allein, sondern für die Arbeiter der ganzen Fabrik wichtig war. Während sie zuerst „scheu und unruhig, still und vielleicht etwas misstrauisch in Bezug auf die Absichten der Firma“ waren, war ihre Haltung später „durch Vertrauen und Freimut“ gekennzeichnet. Die Gruppe entwickelte das Gefühl, persönlich an der Arbeit beteiligt zu sein, weil die Frauen wussten, was sie taten, weil sie einen Zweck und ein Ziel sahen und weil sie auf den gesamten Betrieb durch ihre Vorschläge Einfluss nehmen konnten.

Die verblüffenden Resultate von Mayos Experiment zeigen, dass Krankheit, Ermüdung und eine sich daraus ergebende niedrige Leistung nicht in erster Linie durch den monotonen technischen Aspekt der Arbeit verursacht werden, sondern durch die Entfremdung des Arbeiters von der gesamten Arbeitssituation in ihrem sozialen Aspekt. Sobald diese Entfremdung dadurch gemildert wurde, dass die Arbeiterinnen an etwas beteiligt waren, das sinnvoll für sie war und wobei auch sie nach ihrer Meinung gefragt wurden, veränderte sich die gesamte psychologische Reaktion auf ihre Tätigkeit, wenngleich sie technisch immer noch die gleichen Handgriffe ausführten.

An Mayos Hawthorne-Experiment schlossen sich eine Reihe von Versuchsprojekten an, die den Beweis erbringen wollten, dass der soziale Aspekt der Arbeitssituation auf die Einstellung der Arbeiter einen entscheidenden Einfluss auch dann hat, wenn [IV-213] der Arbeitsprozess in technischer Beziehung derselbe bleibt. So lieferten zum Beispiel Wyatt und seine Mitarbeiter

Aufschlüsse über andere Merkmale der Arbeitssituation, die den Arbeitswillen beeinflussen. Daraus ging hervor, dass Schwankungen in der Arbeitsleistung bei verschiedenen Personen von der tonangebenden Gruppe oder der sozialen Atmosphäre abhingen, d. h. von einem kollektiven Einfluss, der einen unberechenbaren Hintergrund bildete und die allgemeine Art der Reaktionen auf die Arbeitsbedingungen bestimmte. (Zit. nach M. S. Viteles, 1953, S. 134.)

Hierher gehört auch, dass in einer kleineren Arbeitsgruppe die subjektive Befriedigung und die Leistung besser sind als in größeren Arbeitsgruppen, obwohl in den zum Vergleich herangezogenen Fabriken die Arbeitsprozesse fast identisch und die physischen Bedingungen sowie die Wohlfahrtseinrichtungen von hohem Niveau und sehr ähnlich waren. (Vgl. M. S. Viteles, 1953, S. 138.) Die Beziehung zwischen Gruppengröße und Arbeitsmoral wurde ebenfalls in einer Untersuchung festgestellt, die von Hewitt und Parfit in einer britischen Textilfabrik durchgeführt wurde (D. Hewitt und J. Parfit, 1953, zit. bei M. S. Viteles, 1953). Hierbei wurde festgestellt, dass die Abwesenheit vom Arbeitsplatz ohne Krankheitsursache bei Arbeitern in großen Werkräumen bedeutend häufiger vorkam als bei solchen, die in kleineren Räumen beschäftigt wurden. (Vgl. M. S. Viteles, 1953, S. 139.) Eine frühere, in der Flugzeugindustrie vorgenommene Untersuchung, welche während des Zweiten Weltkriegs von Mayo und Lombard durchgeführt wurde, kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen. (Vgl. E. Mayo und G. F. F. Lombard, 1944.)

G. Friedmann hat der sozialen Seite der Arbeitssituation im Gegensatz zu ihrer rein technischen Seite besondere Beachtung geschenkt. Als ein Beispiel für den Unterschied zwischen diesen beiden Aspekten beschreibt er das „psychologische Klima“, das sich oft zwischen Männern entwickelt, die gemeinsam an einem Fließband arbeiten. In diesem Arbeitsteam entwickeln sich persönliche Bindungen und Interessen, und die Arbeitssituation wird dann im ganzen gesehen weniger einförmig, als es dem Außenseiter scheinen möchte, der nur die technische Seite in Betracht zieht. (Vgl. G. Friedmann, 1950, S. 139; vgl. ders., 1946, S. 329 f. und 370 ff.)

Bereits die hier angeführten Beispiele aus der Forschung der Industrie-Psychologie[42] zeigen uns, zu welchen Ergebnissen schon ein bescheidenes Maß an aktiver [IV-214] Beteiligung in einem modernen Industriebetrieb führt, doch gelangen wir zu noch viel überzeugenderen Einsichten über die Möglichkeiten einer Umwandlung unserer industriellen Organisation, wenn wir uns nun Berichten über die Kommunitäre Bewegung zuwenden, die eine der bedeutungsvollsten und interessantesten Bewegungen im heutigen Europa ist.

Es gibt in Europa und besonders in Frankreich, aber auch in Belgien, der Schweiz und Holland etwa hundert Werkgemeinschaften (Communautés de travail). Einige davon sind Industrieunternehmen, andere landwirtschaftliche Betriebe. Sie unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht voneinander, doch sind ihre Grundprinzipien so ähnlich, dass die Beschreibung einer einzigen Communauté de travail ein ausreichendes Bild von den wesentlichen Merkmalen auch aller anderen bietet.[43]

Boimondau ist eine Fabrik, die Uhrengehäuse herstellt. Inzwischen ist sie zu einer der sieben größten Fabriken dieser Art in Frankreich geworden. Marcel Barbu hat sie gegründet. Er musste hart arbeiten, um sich das Geld für eine eigene Fabrik zusammenzusparen, in der er einen Betriebsrat und ein von allen gebilligtes Lohnsystem mit Gewinnbeteiligung einführte. Aber dieses aufgeklärte patriarchalische System war nicht das eigentliche Ziel, das Barbu im Auge hatte. Nach der französischen Niederlage von 1940 wollte er einen wirklichen Neuanfang setzen. Da er in Valence keine Mechaniker finden konnte, ging er auf die Straße und fand einen Friseur, einen Wurstmetzger und einen Kellner - die allesamt alles andere waren als spezialisierte Industriearbeiter.

Die Männer waren alle unter Dreißig. Er bot ihnen an, ihnen die Herstellung von Uhrengehäusen beizubringen, vorausgesetzt, sie seien bereit, mit ihm zusammen nach einer Organisation zu suchen, in der der „Unterschied zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgeschafft würde“. Auf das Suchen kam es dabei an. (...) Die erste, und zwar eine epochemachende Erfindung, war, dass es jedem Arbeiter freistehen sollte, der anderen Seite frei heraus seine Meinung zu sagen. (...) Dieses Recht auf eine völlig freie Meinungsäußerung untereinander und dem Arbeitgeber gegenüber erzeugte sogleich eine unbeschwerte Atmosphäre des Vertrauens.

Es stellte sich jedoch bald heraus, dass diese Möglichkeit, dem andern jederzeit „die Meinung zu sagen“ zu Diskussionen und Zeitvergeudung während der Arbeitszeit führte. Daher kam man überein, jede Woche eine bestimmte Zeit für eine zwanglose Zusammenkunft freizuhalten, um Meinungsverschiedenheiten und Konflikte auszubügeln.

Da aber ihr eigentliches Ziel nicht nur ein besserer wirtschaftlicher Aufbau, sondern eine neue Art des Zusammenlebens war, mussten unweigerlich bei diesen Aussprachen grundsätzliche Einstellungen ans Tageslicht kommen. „Wir merkten sehr bald“, sagt Barbu, „dass wir eine gemeinsame Basis, oder wie wir es von nun an nannten, unsere gemeinsame Ethik haben mussten.“

Solange es keine gemeinsame ethische Grundlage gab, hatten sie auch keinen [IV-215] Ausgangspunkt und daher auch nicht die Möglichkeit, etwas aufzubauen. Eine gemeinsame ethische Grundlage zu finden, war nicht leicht, weil die zwei Dutzend Arbeiter, die inzwischen dem Betrieb angehörten, sehr verschieden waren. Es waren Katholiken, Protestanten, Materialisten, Humanisten, Atheisten und Kommunisten darunter. Sie überprüften alle ihre individuellen ethischen Vorstellungen, das heißt, nicht das, was man ihnen beigebracht hatte oder was sie herkömmlicherweise akzeptiert hatten, sondern das, was sie aus ihren eigenen Erfahrungen und ihrem eigenen Denken heraus für notwendig fanden.

Sie entdeckten, dass ihre individuellen ethischen Vorstellungen in gewissen Punkten übereinstimmten. Sie griffen diese Punkte heraus und betrachteten sie als das gemeinsame Minimum, mit dem sie alle einverstanden waren. Es handelte sich nicht um eine unbestimmte, theoretische Erklärung. In ihrem Vorwort sagten sie: „Es besteht keine Gefahr, dass unser gemeinsames ethisches Minimum eine willkürliche Übereinkunft darstellt, denn wir haben uns bei der Festlegung der einzelnen Punkte auf unsere Lebenserfahrungen verlassen. Wir haben unsere moralischen Grundsätze im wirklichen Leben, im Alltag, im Leben eines jeden von uns erprobt. (...)“

Was sie ganz allein und Schritt für Schritt neu entdeckt hatten, war die natürliche Ethik, der Dekalog (mit Ausnahme des ersten Gebots, das sich auf die Bestimmung des Menschen bezieht und nicht auf ethische Gebote - E. F.), den sie mit ihren eigenen Worten folgendermaßen formulierten:

„Du sollst deinen Nächsten lieben.
Du sollst nicht töten.
Du sollst deinem Nächsten nicht seinen Besitz wegnehmen.
Du sollst nicht lügen.
Du sollst dein Versprechen halten.
Du sollst dein Brot im Schweiße deines Angesichts verdienen.
Du sollst deinen Nächsten, seine Person und seine Freiheit achten.
Du sollst Achtung vor dir selber haben.
Du sollst zuerst in dir selbst alle Laster bekämpfen, die den Menschen erniedrigen, und alle Leidenschaften, die ihn in Knechtschaft halten und die dem sozialen Leben abträglich sind: Stolz, Geiz, Wollust, Begehrlichkeit, Schlemmerei, Zorn und Faulheit.
Du sollst daran festhalten, dass es Güter gibt, die wertvoller sind als selbst das Leben: Freiheit, Menschenwürde, Wahrheit und Gerechtigkeit. (...)“

Die Männer verpflichteten sich, nach Kräften ihr gemeinsames ethisches Minimum im Alltag zu verwirklichen. Sie gaben sich gegenseitig das Wort darauf. Diejenigen, welche höhere moralische Ansprüche an sich selbst stellten, verpflichteten sich, nach dem, was sie glaubten, auch zu leben, räumten aber ein, dass sie absolut nicht das Recht hatten, die anderen in ihrer Freiheit zu beeinträchtigen. Sie kamen überein, die Überzeugungen der anderen einschließlich der nicht von allen geteilten Überzeugungen zu achten und nie darüber zu lachen oder sich darüber lustig zu machen. (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 5-7.) [IV-216]

Die zweite Entdeckung, die die Gruppe machte, war ihr Hunger nach Bildung. Sie rechneten sich aus, dass sie die Zeit, die sie bei ihrer Arbeit einsparen konnten, für ihre eigene Weiterbildung verwenden konnten. Innerhalb von drei Monaten konnten sie ihre Leistung so steigern, dass sie von achtundvierzig Arbeitsstunden pro Woche neun Stunden einsparen konnten. Was taten sie damit? Sie benutzten diese neun Stunden zu ihrer Weiterbildung und erhielten die gleiche Bezahlung dafür wie für ihre reguläre Arbeit. Ihr erster Wunsch war, gut im Chor singen zu lernen, dann wollten sie ihre französische Grammatik auffrischen und schließlich wollten sie Geschäftsberichte lesen lernen. Später kam es noch zu weiteren Kursen, die sämtlich in der Fabrik abgehalten und von den besten verfügbaren Lehrkräften erteilt wurden. Die Lehrer erhielten die übliche Bezahlung. Es wurden technische Fortbildungskurse, Kurse über Physik, Literatur, Marxismus und das Christentum abgehalten. Sie nahmen Tanz-, Gesangs- und Basketball-Unterricht.

Ihr Grundsatz lautet: „Wir gehen nicht vom Betrieb, nicht von der technischen Tätigkeit des Menschen, sondern vom Menschen selbst aus. (...) In einer Werkgemeinschaft liegt die Betonung nicht auf dem gemeinsamen Erwerb, sondern auf gemeinsamer Arbeit mit dem Ziel, zur kollektiven und persönlichen vollen Entfaltung zu gelangen.“ (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 12. - Hervorhebung E. F.) Das Ziel ist nicht erhöhte Produktivität oder höhere Löhne, sondern ein neuer Lebensstil, der, „weit davon entfernt, die Vorteile der industriellen Revolution aufzugeben, sich ihnen anpasst“ (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 13). Diese und andere ähnliche Werkgemeinschaften vertreten folgende Grundsätze:

1. Um ein menschenwürdiges Leben zu führen, muss jeder die Früchte seiner Arbeit genießen können.
2. Man muss in der Lage sein, sich weiterzubilden.
3. Man muss ein gemeinsames Vorhaben innerhalb einer Arbeitsgruppe durchführen, die in ihrem Umfang menschlichen Dimensionen entspricht (100 Familien höchstens).
4. Man muss zur ganzen Welt aktiv in Beziehung treten.

Wenn man diese Forderungen überprüft, so entdeckt man, dass sie auf eine Verlagerung des Zentrums des Problems der menschlichen Existenz hinauslaufen - einer Verlagerung von der Herstellung und dem Erwerb von Dingen zur Entdeckung, Förderung und Entwicklung menschlicher Beziehungen, von einer Zivilisation der Gegenstände zu einer Zivilisation der Personen - oder besser gesagt, zu einer Zivilisation der zwischenmenschlichen Beziehungen. (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 13.)

Was die Bezahlung betrifft, so richtet sie sich nach der Leistung des einzelnen Arbeiters, wobei jedoch nicht nur dessen berufliche Arbeit berücksichtigt wird, sondern auch „jede menschliche Tätigkeit, welche für die Gruppe von Wert war: Ein erstklassiger Mechaniker, der Geige spielen kann, der lustig und ein guter Gesellschafter ist und dergleichen, hat für die Gemeinschaft einen größeren Wert als ein anderer Mechaniker, der beruflich genauso tüchtig, aber ein Miesepeter und ein eingefleischter Junggeselle ist und dergleichen.“ (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 14.) Durchschnittlich verdienen alle Arbeiter zehn bis zwanzig Prozent über Tarif, die besonderen Vergünstigungen nicht mitgerechnet. [IV-217]

Die Werkgemeinschaft hat eine Farm von 235 Morgen erworben, auf der jeder - einschließlich der Ehefrauen - dreimal jährlich je zehn Tage arbeitet. Da jeder einen Monat Urlaub hat, bedeutet das, dass nur zehn Monate im Jahr in der Fabrik gearbeitet wird. Die dahinterstehende Idee ist nicht nur die für den Franzosen charakteristische Liebe zum Leben auf dem Lande, sondern auch die Überzeugung, dass niemand völlig vom Boden getrennt leben sollte.

Höchst interessant ist die Lösung einer Mischung von Zentralisation und Dezentralisation, wobei sie die Gefahr eines Chaos vermeiden und gleichzeitig jedem Mitglied der Werkgemeinschaft eine aktive und verantwortliche Mitbestimmung beim Leben in der Fabrik und innerhalb der Gemeinschaft ermöglichen. Wir sehen hier, wie die gleiche Art zu denken und zu beobachten, die zur Formulierung von Theorien führte und die dem modernen demokratischen Staat im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert zugrunde lagen (Gewaltentrennung, gegenseitige Kontrolle usw.), auch auf die Organisation eines Industrieunternehmens angewandt wurde.

Höchste Entscheidungsgewalt hat die Generalversammlung, die zweimal jährlich zusammentritt. Nur einstimmige Entscheidungen sind für die Gemeinschaft (die Mitglieder) verbindlich.
Die Generalversammlung wählt den Chef der Gemeinschaft, der nur einstimmig gewählt werden kann. Der Chef ist nicht nur der Tüchtigste, er ist auch „der Mann, der den anderen ein Vorbild ist, der sie erzieht und liebt und der ihnen in selbstloser Weise dient. Einem sogenannten Chef, der diese Eigenschaften nicht hat, zu gehorchen, wäre Feigheit“.

Der Chef besitzt drei Jahre lang die gesamte exekutive Gewalt. Am Ende dieser Periode kann er wieder zu den Maschinen zurückkehren.

Der Chef verfügt über ein Vetorecht gegen die Beschlüsse der Generalversammlung. Will die Versammlung nicht nachgeben, so muss er die Vertrauensfrage stellen. Wird dem Chef das Vertrauen nicht einstimmig ausgesprochen, so hat er die Wahl, entweder sich der Ansicht der Generalversammlung anzuschließen oder sein Amt niederzulegen.

Die Generalversammlung wählt die Mitglieder des Generalrats. Aufgabe des Generalrates ist es, den Chef der Gemeinschaft zu beraten. Die Mitglieder werden für ein Jahr gewählt. Der Generalrat tritt mindestens alle vier Monate zusammen. Er hat sieben Mitglieder zuzüglich den Abteilungsleitern. Sämtliche Entscheidungen müssen einstimmig getroffen werden.

Innerhalb des Generalrates bilden die Leiter der einzelnen Sektionen und acht Mitglieder (darunter zwei Ehefrauen) mit dem Chef der Gemeinschaft den Direktionsrat, der wöchentlich zusammentritt.

Alle verantwortlichen Stellungen in der Gemeinschaft, einschließlich der Sektionsleiter und Vorarbeiter, werden nur besetzt, wenn der Betreffende das „doppelte Vertrauen“ besitzt, das heißt wenn er auf der einen Ebene vorgeschlagen und auf der anderen Ebene einstimmig akzeptiert wird. Üblicherweise, aber nicht immer, werden die Kandidaten auf der höheren Ebene vorgeschlagen und auf niederer Ebene genehmigt oder abgelehnt. Nach Meinung der Mitglieder verhindert das sowohl eine demagogische wie eine autoritäre Führung. [IV-218]

Alle Mitglieder treffen sich wöchentlich einmal in einer Kontaktversammlung, die - wie ihr Name sagt - dazu dient, den Kontakt untereinander aufrechtzuerhalten und jedermann auf dem Laufenden zu halten über das, was in der Werkgemeinschaft geschieht. (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 17 f.)

Ein besonders wichtiger Bestandteil der Werkgemeinschaft sind die Nachbarschaftsgruppen, die regelmäßig zusammenkommen.

Eine Nachbarschaftsgruppe ist die kleinste Einheit der Gemeinschaft. Fünf oder sechs Familien, die nicht allzu weit auseinander wohnen, treffen sich nach dem Abendessen. Die Leitung übernimmt der Vorsitzende der Nachbarschaftsgruppe, der nach dem oben erwähnten Prinzip gewählt wurde.

In gewissem Sinn ist die Nachbarschaftsgruppe die wichtigste Einheit innerhalb der Gemeinschaft. Sie ist „Sauerteig“ und Ansatzpunkt für Veränderungen. Man kommt nur im Heim der betreffenden Familien und nicht an einem anderen Ort zusammen. Hier werden dann beim Kaffee alle Fragen gründlich durchgesprochen. Es wird ein Protokoll geführt, das dem Chef der Gemeinschaft zugeschickt wird, welcher dann sämtliche Protokolle der Nachbarschaftsgruppen zusammenfasst. Die aufgeworfenen Fragen werden von den verschiedenen Abteilungsleitern beantwortet. Auf diese Weise können die Nachbarschaftsgruppen nicht nur Fragen stellen, sondern auch ihr Missfallen äußern und Vorschläge machen. Natürlich ist die Nachbarschaftsgruppe auch der Ort, wo die Leute sich am besten kennen lernen und einander helfen können. (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 18 f.)

Eine weitere Einrichtung der Werkgemeinschaft ist das Schiedsgericht. Es wird von der Generalversammlung gewählt, und seine Funktion besteht darin, bei Konflikten, die zwischen zwei Abteilungen oder zwischen einer Abteilung und einem Mitglied entstehen, die Entscheidung zu treffen. Wenn der Chef der Gemeinschaft den Streit nicht schlichten kann, so tun es die acht Mitglieder des Schiedsgerichts (wie gewöhnlich durch einstimmigen Beschluss). Einen Gesetzeskodex gibt es nicht, und das Urteil wird auf Grund der Verfassung der Gemeinschaft und entsprechend dem ethischen Minimum und dem gesunden Menschenverstand gefällt.

In Boimondau gibt es zwei Hauptbereiche: den sozialen und den industriellen. Letzterer hat folgende Struktur: „Die Arbeiter - höchstens zehn - bilden die technischen Teams. Mehrere Teams bilden eine Sektion, eine Werkstatt. Mehrere Sektionen bilden eine Dienststelle. Die Mitglieder der Teams sind gemeinsam der Sektion gegenüber verantwortlich, mehrere Sektionen der Dienststelle.“ (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 23.)

Die Sozialabteilung befasst sich mit allen nicht technischen Aktivitäten.

Von allen Mitgliedern, einschließlich den Ehefrauen, wird erwartet, dass sie sich um ihre spirituelle, intellektuelle, künstlerische und körperliche Weiterentwicklung bemühen. In dieser Beziehung ist die Lektüre der Monatsschrift von Boimondau, Le Lien, aufschlussreich. Man findet darin Berichte und Kommentare über alles: Fußball-Wettkämpfe (gegen auswärtige Mannschaften), Fotoausstellungen, Besuche von Kunstausstellungen, Kochrezepte, ökumenische Versammlungen, Rezensionen über musikalische Darbietungen, zum Beispiel des Loewenguth-Quartetts, Filmkritiken, Vorträge über den Marxismus, Basketball-Ergebnisse, eine Diskussion über Kriegsdienstverweigerer, Tagesberichte über die Arbeit auf [IV-219] der Farm, Erörterungen darüber, was Amerika zu bieten hat, Äußerungen Thomas von Aquins über das Geld, Besprechungen von Büchern wie Louis Bromfields Pleasant Valley und Sartres Schmutzige Hände und so weiter. Ein Geist guten Willens durchdringt alles. Le Lien gibt ein aufrichtiges Bild von Menschen, die mit vollem Bewusstsein zum Leben ja gesagt haben.

Es gibt 28 soziale Bereiche, zu denen ständig neue hinzukommen (hier aufgeführt in der Reihenfolge ihrer Mitgliederzahl, C. Huchet-Bishop, 1950, S. 35.):

1. Abteilung Weltanschauung:
  Katholische Gruppe
  Humanistische Gruppe
  Materialistische Gruppe
  Protestantische Gruppe
2. Abteilung Bildung:
  Gruppe für Allgemeinbildung
  Staatsbürgerkundliche Gruppe
  Bibliotheksgruppe
3. Abteilung Kunst:
  Theatergruppe
  Gesangsgruppe
  Innendekorationsgruppe
  Fotogruppe
4. Abteilung Gemeinschaftsleben:
  Bereitschaftsgruppe
  Fest- und Versammlungsgruppe
  Filmgruppe
  Gruppe für Ausgleichsarbeit
5. Abteilung Gegenseitige Hilfe:
  Solidaritätsgruppe
  Haushaltsführungsgruppe
  Buchbindergruppe
6. Abteilung Familie:
  Kinderbetreuungsgruppe
  Erziehungsgruppe
  Geselligkeitsgruppe
7. Abteilung Gesundheit:
  Zwei diplomierte Krankenschwestern
  Eine Schwester zur allgemeinen Beratung
  Drei Schwestern für Krankenbesuche
8. Abteilung Sport:
  Basketball-Mannschaft (Männer)
  Basketball-Mannschaft (Frauen)
  Waldlaufgruppe
  Fußball-Mannschaft
  Volleyball-Mannschaft
  Gymnastikgruppe (Männer)
  Gymnastikgruppe (Frauen)
9. Abteilung Presse.

Vielleicht geben einige Äußerungen von Mitgliedern der Gemeinschaft eine bessere Vorstellung vom Geist und der praktischen Arbeit in der Werkgemeinschaft, als es irgendwelche Erläuterungen tun könnten.

Ein Gewerkschaftsmitglied schreibt:
„Ich war 1936 Betriebsrat und wurde 1940 verhaftet und nach Buchenwald verschickt. Ich habe in den letzten zwanzig Jahren viele kapitalistische Firmen kennengelernt. (...) In der Werkgemeinschaft ist die Produktion nicht das Ziel des Lebens, sondern ein Mittel dazu. (...) Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, dass noch in meiner Generation so große und vollkommene Resultate erzielt würden.“

Ein Kommunist schreibt:
„Als Mitglied der Französischen Kommunistischen Partei und um Missverständnisse zu vermeiden, erkläre ich, dass ich mit meiner Arbeit und meinem kommunitären Leben völlig zufrieden bin. Meine politischen Meinungen werden respektiert, meine vollkommene Freiheit und mein früheres Lebensideal sind hier Wirklichkeit geworden.“

Ein Materialist schreibt:
„Als ein Vertreter des Atheismus und des Materialismus halte ich die Toleranz und die Achtung vor religiösen und philosophischen Überzeugungen für einen der schönsten menschlichen Werte. Aus diesem Grund fühle ich mich in unserer Werkgemeinschaft besonders zu Hause. Nicht nur bleibt es mir unbenommen, alles zu denken und zu sagen, was ich will, ich finde in der Gemeinschaft auch die materiellen Mittel und die nötige Zeit, um mich gründlicher mit meinen philosophischen Überzeugungen zu beschäftigen.“

Ein Katholik schreibt:
„Ich lebe jetzt seit vier Jahren in der Gemeinschaft. Ich gehöre zur katholischen Gruppe. Wie alle Christen versuche ich, eine Gesellschaft mit aufzubauen, in der die Freiheit und Würde des Menschen respektiert wird. (...) Ich erkläre im Namen der ganzen katholischen Gruppe, dass die Werkgemeinschaft eine Gesellschaft ist, wie sie sich ein Christ nur wünschen kann. Jedermann ist hier frei und wird respektiert, und alles regt ihn zu besserem Tun und zur Suche nach der Wahrheit an. Wenn man diese Gesellschaft auch nicht ihrem Äußeren nach als christlich bezeichnen kann, so ist sie doch in der Tat christlich. Christus gab uns das Zeichen, an dem man die Seinen erkennen kann: Und wir lieben einander in der Tat.“

Ein Protestant schreibt:
„Wir, die Protestanten in der Gemeinschaft, erklären, dass diese Revolution der Gesellschaft die Lösung ist, die einem jeden die Möglichkeit gibt, seine Erfüllung auf dem von ihm gewählten Weg unbehindert zu finden. Und dies geschieht ohne jeden Konflikt mit seinen materialistisch eingestellten oder katholischen Kameraden. (...) Die Gemeinschaft, welche sich aus Menschen zusammensetzt, die einander [IV-221] lieben, erfüllt unseren Wunsch zu sehen, wie die Menschen in Harmonie miteinander leben und wissen, weshalb sie zu leben begehren.“

Ein Humanist schreibt:
„Ich war 15 Jahre, als ich die Schule verließ, mit 11 Jahren bin ich gleich nach meiner Erstkommunion aus der Kirche ausgetreten. Ich war in der Schule etwas vorangekommen, aber mit religiösen Fragen beschäftigte ich mich nicht. Ich war ebenso wie die meisten sind: Ich kümmerte mich einen Dreck darum. Mit 22 trat ich in die Gemeinschaft ein. Dort fand ich sofort eine Atmosphäre zum Studieren und Arbeiten wie noch nirgends sonst. Zuerst fühlte ich mich von der sozialen Seite der Gemeinschaft angezogen, und erst später habe ich begriffen, was menschliche Werte sind. Ich habe dann auch die spirituelle und moralische Seite im Menschen wiederentdeckt, die ich mit 11 Jahren aus den Augen verloren hatte. (...) Ich gehöre der humanistischen Gruppe an, weil ich die Problematik anders sehe als die Christen oder die Materialisten. Ich liebe unsere Gemeinschaft, weil durch sie alle tiefen Sehnsüchte, die in jedem von uns schlummern, geweckt, gepflegt und entwickelt werden können, so dass wir aus Individuen zu Menschen werden.“ (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 35-37.)

Die Prinzipien der anderen Werkgemeinschaften, ganz gleich, ob sie landwirtschaftlicher oder industrieller Art sind, sind denen von Boimondau ähnlich. Ich füge hier noch einige Punkte der Statuten der RG-Workshops an, bei denen es sich um eine Werkgemeinschaft handelt, die Bilderrahmen herstellt und über die die Verfasserin des Buchs All Things Common berichtet (C. Huchet-Bishop, 1950, S. 134-137):

Unsere Werkgemeinschaft ist keine neue Unternehmensform und auch keine Reformbewegung, die zum Ziel hat, die Beziehung zwischen Kapital und Arbeiterschaft harmonischer zu gestalten.

Es ist eine neue Lebensform, in der der Mensch seine Erfüllung finden soll und bei der alle Probleme im Hinblick auf den ganzen Menschen gelöst werden. Hierdurch steht sie im Gegensatz zur heutigen Gesellschaft, wo es sich gewöhnlich nur um Lösungen für den Einzelnen oder nur für wenige handelt.

(...) Die Folge der bürgerlichen Moral und des kapitalistischen Systems ist eine derartige Spezialisierung der menschlichen Tätigkeiten, dass der Mensch in einem moralisch, körperlich, intellektuell und materiell elenden Zustand lebt.

In der Arbeiterklasse leiden die Menschen oft unter allen vier Arten dieses Elends, und unter solchen Bedingungen ist es eine Lüge, von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu reden.

Ziel der Werkgemeinschaft ist es, die volle Entwicklung des Menschen zu ermöglichen.

Die Genossen der RG erklären, dass dies nur in einer Atmosphäre von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit möglich ist.

Man muss jedoch zugeben, dass uns bei diesen drei Worten sehr oft nichts in den Sinn kommt als ihre Abbildung auf Münzen oder die Inschriften auf den Eingangstoren öffentlicher Gebäude. [IV-222]

FREIHEIT
Wenn ein Mensch wirklich frei sein soll, müssen folgende drei Bedingungen erfüllt sein:
Wirtschaftliche Freiheit
Intellektuelle Freiheit und
Moralische Freiheit.

Wirtschaftliche Freiheit: Der Mensch hat ein unveräußerliches Recht auf Arbeit. Er muss ein unbedingtes Anrecht auf die Früchte seiner Arbeit haben, auf die er höchstens freiwillig verzichten sollte.

Diese Auffassung steht im Gegensatz zum privaten Besitz der Produktionsmittel und der Vermehrung des Geldes durch Geld, was die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ermöglicht.

Wir erklären außerdem, dass unter „Arbeit“ jede menschliche Leistung zu verstehen ist, die für die Gesellschaft von Wert ist.

Intellektuelle Freiheit: Ein Mensch ist nur frei, wenn es ihm freisteht, seine Wahl zu treffen. Er kann das aber nur, wenn er genügend Kenntnisse besitzt, um vergleichen zu können.

Moralische Freiheit: Ein Mensch kann nicht wahrhaft frei sein, wenn er der Sklave seiner Leidenschaften ist. Er kann nur frei sein, wenn er ein Ideal und eine philosophische Einstellung hat, die es ihm ermöglichen, alles, was er im Leben tut, in einen inneren Zusammenhang zu bringen.

Er darf nicht unter dem Vorwand, seine wirtschaftliche und intellektuelle Befreiung zu beschleunigen, Mittel anwenden, welche sich nicht mit der Ethik der Gemeinschaft vertragen.

Endlich bedeutet moralische Freiheit nicht Zügellosigkeit. Es wäre leicht nachzuweisen, dass moralische Freiheit nur zu finden ist, wenn die von uns freiwillig anerkannte Gruppenethik streng eingehalten wird.

BRÜDERLICHKEIT
Der Mensch kann nur in der Gesellschaft gedeihen. Die Selbstsucht ist ein gefährlicher und vergänglicher Versuch, sich selbst zu helfen. Der Mensch kann seine wahren Interessen nicht von denen der Gesellschaft trennen. Er kann nur helfen, indem er der Gesellschaft weiterhilft. Er sollte sich bewusst werden, dass es seiner eigenen Neigung entspricht, größere Freude in der Gemeinschaft mit anderen zu suchen.

Solidarität ist nicht nur eine Aufgabe, sie gewährt auch Befriedigung und ist die beste Garantie für die Sicherheit.

Brüderlichkeit führt zu gegenseitiger Toleranz und zum Entschluss, sich niemals zu trennen. Dies ermöglicht es, auf Grund eines Minimums an gemeinsamen Überzeugungen alle Entscheidungen einstimmig zu treffen.

GLEICHHEIT
Wir lehnen die Meinung all derer ab, die auf demagogische Weise erklären, alle Menschen seien gleich. Wir wissen, dass nicht alle Menschen den gleichen Wert haben. [IV-223]

Für uns bedeutet gleiches Recht für alle, dass man jedermann die Mittel in die Hand gibt, sich selbst voll zu entfalten.

Damit ersetzen wir die herkömmliche oder erbliche Hierarchie durch eine Hierarchie des persönlichen Werts.

Zusammenfassend möchte ich folgende Punkte in den Grundsätzen dieser Gemeinschaften als besonders bemerkenswert herausstellen:

  1. Die Werkgemeinschaften bedienen sich aller modernen industriellen Verfahren und lehnen die Tendenz ab, zur handwerklichen Fertigung zurückzukehren.
  2. Sie haben einen Plan ausgearbeitet, nach dem die aktive Beteiligung eines jeden nicht im Widerspruch zu einer ausreichenden Zentralisation der Leitung steht. Die irrationale Autorität ist durch eine rationale ersetzt.
  3. Der Nachdruck liegt auf der Lebenspraxis und nicht auf ideologischen Unterschieden. Dies ermöglicht es Menschen der verschiedensten und widersprüchlichsten Überzeugungen, in Brüderlichkeit und Toleranz zusammenzuleben, ohne in Gefahr zu geraten, sich nach einer von der Gemeinschaft proklamierten „richtigen Meinung“ richten zu müssen.
  4. Es gibt eine Integration von Arbeit und sozialer und kultureller Betätigung. Wenn auch die Arbeit in technischer Hinsicht nicht attraktiv ist, ist sie doch vom sozialen Gesichtspunkt aus sinnvoll und attraktiv. Die künstlerische und wissenschaftliche Betätigung ist ein integraler Bestandteil der Gesamtsituation.
  5. Die Situation der Entfremdung ist überwunden, die Arbeit ist zu einem sinnvollen Ausdruck menschlicher Energie geworden. Menschliche Solidarität wird ohne eine Beschränkung der Freiheit und ohne die Gefahr der Konformität erreicht. Während man viele der Maßnahmen und Grundsätze der Werkgemeinschaften in Frage stellen und darüber streiten kann, hat es trotzdem den Anschein, dass wir hier eines der überzeugendsten praktischen Beispiele für eine produktive Lebensführung vor uns haben, für Möglichkeiten, die vom Standpunkt unseres heutigen Kapitalismus aus im allgemeinen als reine Phantasieprodukte angesehen werden.[44]

Die bisher beschriebenen Gemeinschaften sind natürlich nicht die einzigen Beispiele für die Möglichkeit eines kommunitären Lebens. Ob wir nun Owens Gemeinschaften nehmen oder die der Mennoniten oder der Hutterer (vgl. C. Kratu, J. W. Fretz und R. Kreider, 1954), oder die landwirtschaftlichen Siedlungen (Kibbuzim) im Staat [IV-224] Israel - sie alle zeigen uns Möglichkeiten eines neuen Lebensstils. Sie zeigen uns auch, dass die meisten dieser kommunitären - Experimente von Menschen von scharfem Verstand und einem enormen praktischen Sinn durchgeführt werden. Es sind keineswegs die Träumer, für die sie unsere sogenannten Realisten halten, sondern sie sind ganz im Gegenteil meist realistischer und phantasiebegabter, als es offenbar unsere herkömmlichen Unternehmensleiter sind. Zweifellos weisen diese Experimente in ihren Prinzipien und Praktiken vielerlei Mängel auf, die es zu erkennen gilt, wenn man sie vermeiden will. Zweifellos war auch das neunzehnte Jahrhundert mit seinem unerschütterlichen Glauben an die wohltätigen Wirkungen des industriellen Konkurrenzkampfes einem Erfolg dieser Kolonien weniger günstig, als es die zweite Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts sein wird. Aber die oberflächlich-herablassende Art, mit der man all diesen Experimenten Nutzlosigkeit und mangelnden Realismus vorwirft, ist kaum vernünftiger, als es die ersten Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Möglichkeit waren, mit der Eisenbahn zu fahren, und später, mit dem Flugzeug zu reisen. Dergleichen ist im wesentlichen ein Symptom der Trägheit des Geistes und der tiefeingewurzelten Überzeugung, dass es das, was bisher noch nicht da war, auch in Zukunft nicht geben wird.

5. Praktische Vorschläge

Lassen sich die Bedingungen der Werkgemeinschaften auch auf die Gesamtgesellschaft übertragen?[45]

Es ist nicht meine Absicht, die Werkgemeinschaften und die kommunitäre Bewegung als die Gesamtlösung des gesellschaftlichen Problems hinzustellen, da für eine solche noch andere Faktoren (wie freier Markt, zentrale Regulierung der Kapitalinvestierung und anderes) in Betracht zu ziehen sind. Das Beispiel dieser Gruppen zeigt aber, welche Möglichkeiten in einer neuen Organisation der industriellen Arbeit bestehen.

Das Ziel ist, eine Arbeitssituation zu schaffen, in welcher der Mensch sein Leben und seine Energie für etwas einsetzt, das für ihn einen Sinn hat, wobei er weiß, was er tut, wo er einen Einfluss auf das hat, was er tut, und wo er sich mit seinem Mitmenschen eins und nicht getrennt von ihm fühlt. Das setzt voraus, dass die Arbeitssituation wieder konkret gemacht wird, dass die Arbeiter in Gruppen eingeteilt werden, die klein genug sind, dass der Einzelne mit den anderen Gruppenmitgliedern als mit realen, konkreten menschlichen Wesen in Beziehung treten kann, und dies auch dann, wenn die gesamte Fabrik vielleicht viele tausend Arbeiter beschäftigt. Es bedeutet, dass Mittel und Wege gefunden werden müssen, die Zentralisierung mit der Dezentralisierung zu kombinieren, so dass ein jeder die Möglichkeit hat, direkt mitbestimmen zu können und Verantwortung zu übernehmen, und dass trotzdem - soweit nötig - die Leitung vereinheitlicht werden kann.

Wie ist das zu ermöglichen?

Die erste Voraussetzung für eine aktive Mitbestimmung des Arbeiters ist, dass er nicht nur über seine eigene Arbeit, sondern auch über die Vorgänge im gesamten [IV-225] Unternehmen gründlich informiert wird. Dazu gehören einmal technische Kenntnisse über den Arbeitsprozess. Ein Arbeiter hat vielleicht am Fließband nur einen bestimmten Handgriff zu verrichten, den er in zwei Wochen oder sogar schon in zwei Tagen erlernen kann, aber seine ganze Einstellung zu seiner Arbeit wäre eine andere, wenn er über die technischen Probleme besser Bescheid wüsste, die mit der Herstellung des gesamten Erzeugnisses verbunden sind. Derartige technische Kenntnisse kann er vor allem dadurch erwerben, dass er während der ersten Jahre seiner Tätigkeit in der Fabrik gleichzeitig eine Gewerbeschule besucht. Außerdem kann er sie laufend dadurch erwerben, dass er an technischen und wissenschaftlichen Kursen teilnimmt, die für die Arbeiter in der Fabrik abgehalten werden, selbst wenn dies auf Kosten der Arbeitszeit geschieht. (Erste Schritte in diese Richtung haben einige große Industriebetriebe bereits unternommen. Die Werkgemeinschaften haben gezeigt, dass man während der Arbeitszeit nicht nur technische, sondern auch viele andere Arten von Unterweisungen geben kann.)

Wenn die in der Fabrik angewandten technischen Methoden den Arbeiter interessieren und wenn er darüber Bescheid weiß, und wenn dieses Wissen ihn zu eigenem Denken anregt, dann wird für ihn auch die an sich einförmige Arbeit, die er verrichten muss, ein anderes Gesicht bekommen. Aber es handelt sich nicht nur um diese technischen Kenntnisse, er sollte auch über die wirtschaftliche Funktion des Unternehmens, in dem er arbeitet, sowie über dessen Beziehung zu den wirtschaftlichen Bedürfnissen und Problemen der Gesellschaft als Ganze informiert sein. Dadurch, dass er während der ersten Jahre seiner Tätigkeit in der Fabrik eine Fachschule besucht und auch weiterhin ständig über die ökonomischen Prozesse, die im Werk vor sich gehen, auf dem Laufenden gehalten wird, kann er sich wirkliche Kenntnisse über die Funktion des Unternehmens in der Wirtschaft seines Landes und in der Weltwirtschaft erwerben.

So wichtig diese technischen und ökonomischen Kenntnisse über den Arbeitsprozess und die Aufgabe des gesamten Unternehmens für den Arbeiter auch sein mögen, so genügen sie doch noch nicht. Sein theoretisches Wissen und Interesse stagniert, wenn er es nicht in die Tat umsetzen kann. Er kann nur dann zu einer direkten, interessierten und verantwortungsbewussten Mitbestimmung gelangen, wenn er Einfluss auf die Entscheidungen hat, die seine individuelle Arbeitssituation und das Gesamtunternehmen angehen. Seine Entfremdung von der Arbeit kann nur überwunden werden, wenn er nicht vom Kapital als Mittel zum Zweck benutzt wird, wenn er nicht nur Anordnungen entgegennehmen muss, sondern wenn er als verantwortliches Subjekt Kapital verwendet Es geht hierbei nicht in erster Linie um den Besitz der Produktionsmittel, sondern um die Beteiligung am Management und an der Beschlussfassung. Wie im politischen Bereich handelt es sich auch hier darum, die Gefahr eines anarchischen Zustandes zu vermeiden, wo es an der zentralen Leitung und Planung fehlt. Aber eine Alternative zwischen einem zentralisierten, autoritären Management und einem planlosen, unkoordinierten Management durch die Arbeiter, muss es nicht geben. Die Lösung ist in einer Kombination von Zentralisierung und Dezentralisierung zu suchen, in einer Synthese, bei der sich die Entscheidungen von oben nach unten und von unten nach oben bewegen.

Das Prinzip einer gemeinsamen Betriebsleitung (co-management) und der [IV-226] Mitbestimmung (participation) der Arbeiter[46] kann so bewerkstelligt werden, dass die Verantwortung zwischen der zentralen Betriebsleitung und der Belegschaft geteilt wird. Gut informierte kleine Gruppen besprechen untereinander die Probleme ihrer eigenen Arbeitssituation und des Gesamtunternehmens. Ihre Beschlüsse werden dann an das Management weitergeleitet und bilden die Grundlage für eine echte gemeinsame Betriebsleitung. Als drittem Beteiligtem müsste dem Verbraucher ein Mitspracherecht an den Entscheidungen und der Planung in irgendeiner Form zugestanden werden. Wenn wir grundsätzlich der Auffassung sind, dass der Hauptzweck einer jeden Arbeit darin besteht, den Menschen zu dienen, und nicht, Profit zu machen, dann müssen auch die, denen dieser Dienst erwiesen wird, bei der Tätigkeit derer, die ihnen dienen, ein Wort mitreden dürfen. Wie bei der politischen Dezentralisierung ist es auch hier nicht leicht, geeignete Formen dafür zu finden, doch stellt es ganz gewiss kein unüberwindliches Problem dar, vorausgesetzt, man bekennt sich zu dem allgemeinen Prinzip der gemeinsamen Betriebsleitung. In unserem Verfassungsrecht haben wir ähnliche Probleme in Bezug auf die Rechte der verschiedenen Regierungsinstanzen gelöst, und im Aktienrecht haben sich Lösungen für das gleiche Problem hinsichtlich der Rechte der verschiedenen Arten von Aktionären, des Managements usw. finden lassen.

Das Prinzip der gemeinsamen Betriebsleitung und der Mitbestimmung bedeutet eine schwerwiegende Einschränkung der Besitzrechte. Der oder die Besitzer des Unternehmens würden den Anspruch auf Verzinsung ihrer Kapitaleinlagen zu einem vernünftigen Zinssatz behalten, dagegen nicht die unbeschränkte Befehlsgewalt über die Menschen, die dieses Kapital anheuern kann. Mindestens müssten sie dieses Recht mit denen teilen, die in dem Unternehmen arbeiten. Tatsächlich machen ja - wenigstens in den großen Konzernen - die Aktionäre von ihren Rechten als Aktienbesitzer bei den zu treffenden Entscheidungen kaum Gebrauch. Wenn den Arbeitern das Mitentscheidungsrecht gemeinsam mit dem Management zugestanden würde, würde sich die Rolle der Aktionäre im Grunde kaum ändern. Ein Gesetz, welches die gemeinsame Betriebsleitung einführte, würde zwar eine Beschränkung der Besitzrechte, aber keineswegs eine revolutionäre Veränderung derselben bedeuten. Selbst ein so konservativer Industrieller wie J. F. Lincoln, der Vorkämpfer für die Gewinnbeteiligung der Industriearbeiter, schlägt - wie wir sahen - vor, dass die Dividenden einen relativ feststehenden und gleichbleibenden Betrag nicht überschreiten sollten und dass der darüber hinausgehende Gewinn unter den Arbeitern verteilt wird. Selbst unter den heutigen Bedingungen gibt es Möglichkeiten für eine Beteiligung der [IV-227] Arbeiter an der Betriebsleitung und -aufsicht. So sagt zum Beispiel B. F. Fairless, der Vorstandsvorsitzende der United States Steel Corporation in einer Ansprache (gekürzt wiedergegeben im Reader’s Digest vom 15. 11. 1953, S. 17), dass die 300 000 Arbeiter und Angestellten der United States Steel den gesamten Aktienbestand des Unternehmens aufkaufen könnten, wenn jeder 87 Anteile zu einem Gesamtpreis von 3 500 Dollar erwerben würde. „Wenn jeder (wöchentlich) 10 Dollar investierte - was etwa dem entspricht, was unsere Stahlarbeiter bei der letzten Lohnerhöhung gewonnen haben - so könnten die Arbeitnehmer der U.S. Steel in weniger als sieben Jahren den gesamten zur Verfügung stehenden Effektenbestand erwerben.“ Tatsächlich brauchten sie nicht einmal soviel, sondern nur einen Teil davon anzulegen, um sich die Stimmenmehrheit zu sichern.

Einen anderen Vorschlag macht F. Tannenbaum in seinem Buch A Philosophy of Labor. Er schlägt vor, dass die Gewerkschaften so viele Aktien der Unternehmen, deren Arbeiter sie vertreten, aufkaufen, dass sie die Aufsicht über das Management dieser Unternehmen in die Hand bekommen. (Vgl. F. Tannenbaum, 1952.) Welche Methode man auch immer anwenden mag, sie lässt sich weiterentwickeln und führt nur bereits vorhandene Tendenzen bezüglich der Änderung der Besitzverhältnisse weiter, wobei es sich stets um Mittel zum Zweck - und nur um Mittel - handeln würde, die es dem Menschen ermöglichen sollen, auf sinnvolle Weise für einen sinnvollen Zweck zu arbeiten, und nicht als Träger einer Ware - seiner Körperkraft und Geschicklichkeit -, die wie jede andere Ware eingekauft und wieder verkauft wird. Bei der Erörterung der Beteiligung der Arbeiter an der Betriebsleitung ist noch ein wichtiger Punkt hervorzuheben, nämlich die Gefahr, dass eine solche Beteiligung sich in Richtung auf eine Gewinnbeteiligung im Sinne des Superkapitalismus entwickeln könnte. Wenn die Arbeiter und Angestellten eines Unternehmens sich nur noch ausschließlich für ihren Betrieb interessierten, so würde die Entfremdung zwischen dem Menschen und seinen sozialen Kräften unverändert bestehen bleiben. Die egoistische, entfremdete Einstellung würde dann nur vom einzelnen auf das „Team“ ausgedehnt. Es ist daher kein nebensächlicher, sondern ein wesentlicher Bestandteil des Mitbestimmungsrechtes, dass die Arbeiter über ihr eigenes Unternehmen hinausblicken, dass sie sich auch für die Verbraucher interessieren und mit ihnen ebenso Kontakt haben wie mit anderen Arbeitern im gleichen Industriezweig und mit der Gesamtheit der arbeitenden Bevölkerung. Die Entwicklung einer Art Lokalpatriotismus für die Firma, eines Korpsgeists ähnlich dem der College- und Universitätsstudenten, wie er von Wyatt und anderen britischen Sozialpsychologen empfohlen wird, würde nur die egoistische und unsoziale Einstellung verstärken, die das Wesen der Entfremdung ausmacht. Alle derartigen Vorschläge, die für eine Begeisterung für das eigene „Team“ eintreten, übersehen, dass es nur eine einzige echte soziale Orientierung gibt, nämlich die der Solidarität mit der ganzen Menschheit. Sozialer Zusammenhalt innerhalb der Gruppe, der mit einer feindseligen Einstellung gegen Außenstehende verbunden ist, bedeutet nicht soziales Empfinden, sondern ist nur ein ausgeweiteter Egoismus.

Zum Abschluss dieser Erörterung über das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter möchte ich - selbst auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen - noch einmal betonen, [IV-228] dass alle Vorschläge zu einer Humanisierung der Arbeit nicht auf eine Erhöhung der wirtschaftlichen Produktion und auch nicht auf eine größere Befriedigung durch die Arbeit an sich abzielen. Sie haben nur in einer völlig veränderten Gesellschaftsstruktur einen Sinn, in der die wirtschaftliche Tätigkeit nur ein Teil - und zwar ein untergeordneter Teil - des gesellschaftlichen Lebens ist. Man kann die eigentliche Arbeit nicht von der politischen Tätigkeit, vom Gebrauch der Freizeit und vom persönlichen Leben trennen. Wenn die Arbeit interessanter würde, ohne dass die übrigen Lebensbereiche humaner würden, so würde das keine wirkliche Änderung bedeuten. Die Arbeit könnte auch gar nicht interessant werden. Es ist ja gerade das Übel der heutigen Kultur, dass sie die verschiedenen Lebensbereiche voneinander trennt und gegeneinander absondert. Der Weg zu einer gesunden Gesellschaft besteht in der Überwindung dieser Spaltung. Es gilt, eine neue Einheit in der Gesellschaft und in jedem einzelnen Menschen zu erreichen.

Ich erwähnte bereits, wie entmutigt viele Sozialisten durch die Resultate des angewandten Sozialismus sind. Aber es setzt sich doch immer mehr die Erkenntnis durch, dass der Fehler nicht im Grundziel des Sozialismus zu suchen ist - einer nichtentfremdeten Gesellschaft, in der jeder arbeitende Mensch direkt und verantwortlich an der Industrie und der Politik beteiligt ist -, sondern darin, dass man zu Unrecht einen stärkeren Nachdruck auf den Privatbesitz gegenüber dem Gemeinbesitz legt, und dass man die menschlichen und im eigentlichen Sinn sozialen Faktoren darüber vernachlässigt. Entsprechend nimmt auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer sozialistischen Auffassung zu, in deren Mittelpunkt die Idee der Mitbestimmung und der gemeinsamen Betriebsleitung, die Dezentralisation und die konkrete Funktion des Menschen im Arbeitsprozess, und nicht ein abstraktes Besitzkonzept steht. Die Ideen von Owen, Fourier, Kropotkin und Landauer und von religiösen und weltlichen Anhängern der kommunitären Bewegung verschmelzen mit denen von Marx und Engels. Man wird skeptisch gegenüber rein ideologischen Formulierungen des „Endziels“ und kümmert sich mehr um die konkrete Person in ihrem Hier und Jetzt. Es besteht die Hoffnung, dass auch unter den demokratischen und humanistischen Sozialisten die Einsicht wächst, dass der Sozialismus zu Hause, das heißt mit der Sozialisierung der sozialistischen Parteien, zu beginnen hat. Ich spreche hier natürlich nicht vom Sozialismus in Bezug auf die Besitzrechte, sondern in Bezug auf die verantwortliche Mitbestimmung eines jeden Mitglieds. Solange die sozialistischen Parteien das Prinzip des Sozialismus nicht in ihren eigenen Reihen verwirklichen, können sie nicht erwarten, andere zu überzeugen. Ihre Vertreter würden, wenn sie an der Macht wären, ihre Ideen im Geist des Kapitalismus durchführen, auch wenn sie sie mit sozialistischen Etiketten versehen würden. Dasselbe gilt auch für die Gewerkschaften. Wenn sie wirklich die industrielle Demokratie zum Ziel haben, dann müssen sie das demokratische Prinzip erst einmal in ihren eigenen Organisationen einführen und dürfen diese nicht genauso - oder manchmal noch schlimmer - führen, wie irgendwelche anderen großen Unternehmen des Kapitalismus.

Diese Betonung der konkreten Situation des Arbeiters im Arbeitsprozess war in der Vergangenheit bei den spanischen und französischen Anarchisten und Syndikalisten sowie bei den russischen Sozialrevolutionären recht stark zu spüren. Wenn auch die [IV-229] Bedeutung dieser Ideen in den meisten Ländern eine Zeitlang zurückgegangen ist, scheint sie doch in weniger ideologischen und dogmatischen und dafür realistischeren und konkreteren Formen langsam wieder an Boden zu gewinnen.

In einer der interessantesten neueren Veröffentlichungen über die Probleme des Sozialismus, den New Fabian Essays, spürt man diese zunehmende Betonung der funktionalen und humanen Aspekte des Sozialismus. So schreibt C. A. R. Crosland:

Der Sozialismus erfordert, dass diese feindselige Einstellung in der Industrie einem Gefühl der Beteiligung an einem gemeinsamen Unternehmen weicht. Wie ist das zu erreichen? Die direkteste und am leichtesten zu bewerkstelligende Strategie geht in Richtung auf gemeinsame Beratungen. In diesem Bereich ist bereits sehr viel fruchtbare Arbeit geleistet worden, und man ist sich inzwischen darüber klar, dass etwas mehr dazu nötig ist als gemeinsame Produktionsausschüsse nach dem gegenwärtigen Modell, nämlich eine radikalere Bemühung, dem Arbeiter das Gefühl zu geben, dass er an der Beschlussfassung beteiligt ist. Einige fortschrittliche Firmen haben bereits kühne Schritte in dieser Richtung unternommen, und die Resultate sind ermutigend. (C. A. R. Crosland, 1953, S. 66.)

Crosland schlägt dreierlei Maßnahmen vor: eine Ausdehnung der Verstaatlichung in großem Ausmaß, eine statutenmäßige Begrenzung der Dividenden oder als dritte Möglichkeit,

die gesetzlich geregelte Struktur der Besitzverhältnisse des Unternehmens dahingehend zu ändern, dass anstelle des alleinigen Rechts der Anteilseigner zur Aufsicht eine Verfassung tritt, die ausdrücklich die Verantwortung der Firma dem Arbeiter, dem Verbraucher und der Gemeinschaft gegenüber festlegt; die Arbeiter würden so zu Teilhabern und hätten ihre Vertreter im Aufsichtsrat (C. A. R. Crosland, 1953, S. 67).

In seiner Abhandlung über die „Gleichheit“ sieht R. Jenkins (in: R. H. S. Crossman, 1953, S. 72) das Problem der Zukunft

(...) in erster Linie darin, ob die Kapitalisten, nachdem sie soviel von ihrer Macht und damit auch von ihren Funktionen freiwillig abgetreten oder auch abgenommen bekommen haben, den immer noch recht ansehnlichen Teil ihrer Privilegien behalten dürfen, der ihnen dann noch verbleibt; und zweitens, ob die aus dem Kapitalismus herauswachsende Gesellschaft eine alle beteiligende, demokratisch sozialistische Gesellschaft sein wird, oder ob sie eine Managergesellschaft sein wird, die von einer privilegierten Elite beherrscht wird, welche sich eines Lebensstandards erfreut, der sich grundsätzlich von dem der Masse der Bevölkerung unterscheidet.

Jenkins kommt zu dem Schluss, „eine alle beteiligende, demokratisch sozialistische Gesellschaft“ erfordere, dass „der Besitz von Unternehmen von reichen Einzelbesitzern nicht an den Staat, sondern an weniger dem Volk ferne öffentliche Körperschaften übergehen sollte“, dass es zu einer stärkeren Machtverteilung kommen sollte, und man „Menschen aller Art ermutigen solle, bei der Arbeit und der Aufsicht über öffentliche und freiwillige Einrichtungen eine aktivere Rolle zu spielen“.

A. Albu stellt fest:

Wie erfolgreich die Verstaatlichung der Grundindustrien auch in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht gewesen sein mag, so hat sie doch den Wunsch nach einer weiterreichenden und demokratischeren Verteilung der Autorität nicht erfüllt, [IV-230] und es wurde damit auch keine wirkliche Mitbestimmung der Beschäftigten bei den Entscheidungen des Managements und deren Durchführung erreicht. Dies war für viele Sozialisten eine Enttäuschung, die keineswegs eine stärkere Konzentration der Staatsgewalt für wünschenswert hielten, aber keine oder nur höchst vage und utopische Vorstellungen von irgendwelchen Alternativen hatten. Die Lehren, die uns der Totalitarismus im Ausland und die wachsende Revolution der Manager im Lande erteilt haben, bestätigen nur noch die Berechtigung ihrer Besorgnisse, und das umso mehr, als man annimmt, dass die Vollbeschäftigung in einer Gesellschaft, die demokratisch bleiben soll, Probleme aufwirft, die nur mit der größtmöglichen, auf Information und Konsultation gegründeten Zustimmung des Volkes zu lösen sind. Eine Konsultation erreicht umso weniger, je weiter sie sich von einer persönlichen Beratung über den Job des Einzelnen entfernt. Daher sind Größe und Struktur der Arbeitseinheiten in der Industrie und der Grad der Möglichkeiten, unabhängig von anderen selbst die Initiative zu ergreifen, als Momente von größter Wichtigkeit anzusehen. (...) Was wir letzten Endes brauchen, ist ein Konsultativsystem, das die Sanktionierung der Beschlussfassungen über die Unternehmenspolitik und eine Exekutivautorität gewährleistet, und das von sämtlichen Mitgliedern eines Industriezweiges bereitwillig akzeptiert wird. Wie man diese Vorstellung von einer Industrie-Demokratie mit dem ursprünglicheren Wunsch nach einer Selbstverwaltung in Einklang bringen kann, wie ihn die Syndikalisten vertraten und wie er so vielen heutigen Diskussionen über gemeinsame Beratungen zugrunde liegt, ist eine Angelegenheit, die noch gründlich untersucht werden muss. Aber man sollte doch meinen, dass es ein Vorgehen geben muss, bei dem alle in einer Industrie Beschäftigten die Möglichkeit erhalten, an den Entscheidungen über die Betriebspolitik teilzunehmen, sei es durch direkt gewählte Vertreter am Verhandlungstisch oder durch ein hierarchisches System gemeinsamer Beratungen mit erheblichen Befugnissen. In jedem Fall muss es auch zu einer größeren Mitbestimmung der unteren Ebenen am Prozess der Interpretation der Betriebspolitik und der getroffenen Entscheidungen kommen. Das Gefühl eines gemeinsamen Vorgehens in der Industrie zu erzeugen, bleibt daher eines der wesentlichsten, noch unerreichten Ziele der sozialistischen Industriepolitik. (A. Albu, 1953, S. 121 f. und 129 f.)

John Strachey, unter den Autoren der New Fabian Essays der optimistischste und vielleicht auch derjenige, der mit den Resultaten der Labour-Regierung am meisten zufrieden ist, stimmt mit Albu darin überein, dass er den Nachdruck auf die Notwendigkeit der Beteiligung der Arbeiter legt:

Schließlich ist der wunde Punkt bei der Aktiengesellschaft die verantwortungslose Diktatur, die angeblich von den Aktionären, in Wirklichkeit in vielen Fällen aber von einem oder zwei Direktoren über sie ausgeübt wird, die sich selbst dazu ernannt haben und ihren Posten behaupten. Man mache nur die öffentlichen Unternehmen sowohl der Gemeinschaft wie auch der Gesamtheit aller, die mit ihnen zu tun haben, unmittelbar verantwortlich, und sie würden zu völlig anderen Institutionen werden. (J. Strachey, 1953, S. 198.)

Ich habe die Stimmen einiger britischer Labour-Führer zitiert, weil sie ihre Ansichten aus vielen praktischen Erfahrungen mit den sozialistischen Maßnahmen der [IV-231] Labour-Regierung und einer aufmerksamen und kritischen Beurteilung ihrer Errungenschaften gewonnen haben. Aber auch die Sozialisten auf dem Kontinent schenken dem Mitbestimmungsrecht der Arbeiter in der Industrie mehr Aufmerksamkeit als je zuvor. In Frankreich und in Deutschland sind nach dem Krieg Gesetze erlassen worden, welche die Beteiligung der Arbeiter an der Betriebsleitung gewährleisten. Obwohl dabei noch keineswegs befriedigende Ergebnisse erzielt wurden (die Gründe dafür waren halbherzige Maßnahmen und die Tatsache, dass in Deutschland die Gewerkschaftsführer sich in „Manager“ verwandelt haben, anstatt dass die Werksangehörigen selbst beteiligt wurden), ist doch unverkennbar, dass bei den Sozialisten die Einsicht wächst, dass die Übertragung der Besitzrechte vom privaten Kapitalisten auf die Gesellschaft oder den Staat an und für sich nur eine nebensächliche Wirkung auf die Lage der Arbeiter haben wird und dass das zentrale Problem des Sozialismus in der Änderung der Arbeitssituation liegt. Selbst in den ziemlich schwachen und verworrenen Erklärungen der 1951 in Frankfurt neugebildeten Sozialistischen Internationale liegt der Nachdruck auf der Notwendigkeit, die wirtschaftliche Macht zu dezentralisieren, wo immer das mit den Zielen der Planung vereinbar ist. (Vgl. A. Albu, 1953, S. 121, sowie A. Sturmthal, 1953.)

Unter den wissenschaftlichen Beobachtern der industriellen Szene sind es besonders G. Friedmann und bis zu einem gewissen Grad auch J. J. Gillespie (1948), die in Bezug auf die Umwandlung der Arbeit zu ähnlichen Schlüssen kommen wie ich.

Wenn der Nachdruck mehr auf die Mitbestimmung der Arbeiter bei der Unternehmensleitung gelegt wird als auf eine Änderung der Besitzrechte, so heißt das nicht, dass nicht ein gewisses Maß an direkter staatlicher Intervention und gewisse Sozialisierungen notwendig wären. Das wichtigste Problem neben dem der Mitbestimmung bei der Betriebsleitung ist darin zu sehen, dass unsere gesamte Industrie auf die Existenz eines sich ständig erweiternden Binnenmarktes aufgebaut ist. Jedes Unternehmen möchte mehr und mehr verkaufen, um sich einen immer größeren Marktanteil zu sichern. Die Folge dieser wirtschaftlichen Situation ist, dass die Industrie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzt, um die Kauflust der Bevölkerung zu reizen und eine rein rezeptive Orientierung, die der seelischen Gesundheit so sehr schadet, zu erzeugen und immer mehr zu verstärken. Wie wir gesehen haben, bedeutet das ein Verlangen nach immer neuen, aber entbehrlichen Dingen, den ständigen Wunsch, noch mehr zu kaufen, auch wenn man das neue Erzeugnis vom Standpunkt eines humanen, nicht entfremdeten Verbrauchs nicht nötig hat. (Zum Beispiel hat die Autoindustrie mehrere Milliarden Dollar für Veränderungen an den neuen Modellen von 1955 aufgewendet, und Chevrolet allein verwendete einige hundert Millionen Dollar für den Konkurrenzkampf mit Ford. Der ältere Chevrolet war unbestreitbar ein guter Wagen, und beim Wettkampf zwischen Ford und General Motors ging es nicht in erster Linie darum, den Leuten einen besseren Wagen zu liefern, sondern sie dazu zu veranlassen, sich einen neuen Wagen zu kaufen, obwohl der alte es noch ein paar Jahre getan hätte. R. Moley nahm kein Blatt vor den Mund, als er in der Newsweek über die neuesten Automobile von 1955 schrieb, der Kapitalismus möchte die Menschen mit dem, was sie haben, nur unzufrieden machen, damit sie den Wunsch bekommen, sich etwas Neues zu kaufen; der Sozialismus wolle genau das Gegenteil.) [IV-232]

Ein anderer Aspekt der gleichen Erscheinung ist die Neigung, Dinge zu vergeuden, der dem Bedürfnis der Wirtschaft, die Massenproduktion zu steigern, noch Vorschub leistet. Neben dem mit dieser Vergeudung verbundenen wirtschaftlichen Verlust hat diese auch noch eine wichtige psychologische Wirkung: Sie lässt den Verbraucher die Achtung vor der Arbeit und den Anstrengungen seiner Mitmenschen verlieren; sie lässt ihn die Bedürfnisse der Menschen im eigenen Land und in den ärmeren Ländern vergessen, für die das von ihm weggeworfene Erzeugnis ein wertvoller Besitz sein könnte. Kurz gesagt stellt unsere Gewohnheit, die Dinge wegzuwerfen, eine kindische Missachtung der Realitäten des menschlichen Lebens und des wirtschaftlichen Existenzkampfes dar, dem sich niemand entziehen kann.

Es liegt auf der Hand, dass auf lange Sicht kein geistiger Einfluss Erfolg haben kann, solange unser Wirtschaftssystem so organisiert ist, dass eine Krise droht, wenn die Leute nicht immer mehr und immer neuere und bessere Dinge kaufen wollen. Wenn unser Ziel daher ist, den entfremdeten Konsum in einen menschlichen zu verwandeln, sind Veränderungen in jenen wirtschaftlichen Prozessen notwendig, die an diesem entfremdeten Konsum schuld sind. (Vgl. die Äußerung von Clark [zit. nach N. N. Foote und P. K. Hatt, 1953]: „Wenn man ein Einkommen derselben Höhe etwas gleichmäßiger verteilte, so würde das eine relativ größere Nachfrage nach Waren zur Folge haben, als wenn es ungleich verteilt ist.“) Es ist Aufgabe unserer Wirtschaftswissenschaftler, sich solche Maßnahmen auszudenken. Allgemein gesagt bedeutet es, dass man die Produktion auf Gebiete verlagern sollte, wo wirklich vorhandene Bedürfnisse noch nicht befriedigt werden konnten, anstatt auf andere, wo die Bedürfnisse erst künstlich erzeugt werden müssen. Dies kann durch staatliche Kredite, durch die Sozialisierung bestimmter Unternehmen und durch drastische Gesetze geschehen, die eine Änderung in der Werbung bewirken.[47]

Mit anderen Worten: Obgleich in einer sozialistischen Gesellschaft der freie Markt und das selbständige Kleinunternehmen zunächst einmal weiter bestehen können, ist sie auf dem Prinzip aufgebaut, dass nicht der Profit, sondern die gesellschaftliche Nützlichkeit die Gesamtproduktion bestimmt; soweit es für die Verwirklichung dieses Prinzips notwendig ist, bedeutet dies eine demokratische Kontrolle und Leitung der Gesamtwirtschaft. (Wenn hier von demokratischer Kontrolle gesprochen wird, so ist nicht zu vergessen, dass - wie weiter unten angeführt wird - eine sozialistische Gesellschaft nur möglich ist, wenn gleichzeitig neue Formen einer echten politischen Demokratie geschaffen werden.)

Eng verwandt mit diesem Problem ist die Wirtschaftshilfe der industrialisierten Gesellschaften für die wirtschaftlich unterentwickelten Teile der Welt. Es ist völlig klar, dass die Zeit der kolonialen Ausbeutung vorüber ist, dass die verschiedenen Teile der Welt einander so nahegerückt sind, wie das noch vor hundert Jahren die Länder eines Kontinents waren, und dass der Friede des reicheren Teils der Welt von der wirtschaftlichen Weiterentwicklung des ärmeren Teils abhängen wird. Friede und Freiheit können in der westlichen Welt auf Dauer nicht neben dem Hunger und der Krankheit in Afrika und Asien bestehen. Die Einschränkung des überflüssigen Konsums in den Industrieländern ist ein Muss, wenn sie den nicht-industrialisierten Ländern helfen wollen, und das müssen sie, wenn sie den Frieden erhalten wollen. Sehen [IV-233] wir uns doch ein paar Tatsachen näher an: Nach H. Brown würde ein sich über 50 Jahre erstreckendes Welt-Entwicklungsprogramm die landwirtschaftliche Produktion so vergrößern, dass alle Menschen ausreichend ernährt werden könnten, und es würde zu einer Industrialisierung der jetzt noch unterentwickelten Gebiete führen, die etwa dem Industrieniveau von Japan vor dem Zweiten Weltkrieg gleichkäme. (Vgl. H. Brown,1954, S. 245 ff. - Ich kenne nur wenige Bücher, die die Alternative zwischen einer gesunden und einer kranken Gesellschaft, zwischen ihrem Fortschritt und ihrem Untergang, so klar vor Augen stellen und dies mit so zwingenden Argumenten und unbestreitbaren Tatsachen belegen, wie dieses Buch von Harrison Brown.) Die Ausgaben der Vereinigten Staaten für ein solches Programm würden sich während der ersten 30 Jahre zwischen 4 und 5 Milliarden Dollar jährlich bewegen, später würde es weniger:

Wenn wir das mit unserem Nationaleinkommen vergleichen, mit unserem gegenwärtigen Bundesbudget, mit den für die Rüstung aufzubringenden Geldern und den Kosten eines Krieges, so erscheint uns der erforderliche Betrag nicht übermäßig hoch. Wenn wir ihn mit dem potenziellen Gewinn vergleichen, der sich aus einem erfolgreich durchgeführten Programm ergeben kann, so erscheint er noch geringer. Und wenn wir die Kosten mit denen unseres gegenwärtigen Zustandes der Untätigkeit und mit den Folgen vergleichen, die es hätte, wenn wir den status quo beibehielten, dann ist dieser Betrag geradezu unbedeutend. (H. Brown,1954, S. 247 f.)

Das oben erwähnte Problem ist nur Teil des allgemeineren Problems, wieweit man es zulassen darf, dass die Vertreter des profitorientierten Kapitals die Bedürfnisse der Öffentlichkeit auf eine schädliche und ungesunde Weise manipulieren. Die augenfälligsten Beispiele dafür sind unsere Filmindustrie, die Industrie der Comic-Bücher und die Berichte über Verbrechen in unseren Zeitungen. Um einen möglichst großen Profit zu machen, stimuliert man künstlich die niedrigsten Instinkte und vergiftet die Seele des Volkes. Das Nahrungsmittel- und Drogengesetz (Food and Drug Act: FDA) hat der uneingeschränkten Produktion schädlicher Nahrungsmittel und Drogen und der diesbezüglichen Reklame einen Riegel vorgeschoben. Dasselbe könnte geschehen, wo es um lebensnotwendige Fragen geht. Wenn derartige Gesetze sich als unwirksam herausstellen sollten, müsste man gewisse Industrien, wie zum Beispiel die Filmindustrie, verstaatlichen, oder man müsste wenigstens Konkurrenzindustrien ins Leben rufen, die aus öffentlichen Mitteln finanziert würden. In einer Gesellschaft, deren einziges Ziel die Entwicklung des Menschen ist und in der die materiellen Bedürfnisse den geistigen Bedürfnissen untergeordnet werden, dürfte es nicht schwer sein, juristische und wirtschaftliche Mittel und Wege für die notwendigen Veränderungen zu finden.

Was die wirtschaftliche Lage des einzelnen Bürgers betrifft, so war die Gleichheit des Einkommens noch nie eine sozialistische Forderung, und sie wäre auch aus vielen Gründen weder durchführbar noch wünschenswert. Notwendig ist ein Einkommen, das die Grundlage für eine menschenwürdige Existenz ist. Die Einkommen sollten allerdings nicht so ungleich sein, dass sie eine unterschiedliche Erfahrung des Lebens bewirken. Ein Mensch mit einem Millioneneinkommen, der jede seiner Launen befriedigen kann, ohne auch nur darüber nachzudenken, erlebt das menschliche Dasein [IV-234] anders als jemand, der, um sich einen kostspieligen Wunsch zu erfüllen, auf die Erfüllung eines anderen Wunsches verzichten muss. Wer niemals über die Grenzen seiner Stadt hinauskommt, wer sich niemals einen Luxus (d. h. etwas, das nicht unbedingt nötig ist) erlauben kann, hat ebenfalls eine andere Erfahrung vom Leben als sein Nachbar, der das kann. Aber selbst bei unterschiedlichem Einkommen kann doch die Art, wie man das Leben erlebt, die gleiche sein, sofern die Unterschiede nicht allzu groß sind. Worauf es ankommt, ist nicht so sehr das höhere oder geringere Einkommen als solches, sondern der Punkt, an dem die quantitativen Unterschiede im Einkommen zu qualitativen Unterschieden in der Art, das Leben zu erleben, werden. Es ist überflüssig zu sagen, dass das System sozialer Sicherheit, wie es zum Beispiel heute in Großbritannien besteht, beibehalten werden muss. Aber das genügt nicht. Das bereits vorhandene Sozialversicherungssystem muss zur Garantie eines allgemeinen Existenzminimums ausgedehnt werden.[48]

Jeder Einzelne kann nur frei und verantwortungsbewusst handeln, wenn eine der Hauptursachen der heutigen Unfreiheit beseitigt wird: die wirtschaftliche Bedrohung, hungern zu müssen, welche die Menschen dazu zwingt, sich auf Arbeitsbedingungen einzulassen, die sie sonst nicht akzeptieren würden. Es wird keine Freiheit geben, solange der Kapitalist einem Menschen, der „nichts“ besitzt als sein Leben, seinen Willen aufzwingen kann, weil letzterer aus Mangel an Kapital keine Arbeit findet außer der, welche der Kapitalist ihm bietet.

Noch vor hundert Jahren war man noch in weiten Kreisen überzeugt, dass man für seinen Nächsten nicht verantwortlich ist. Es wurde angenommen - und von den Nationalökonomen wissenschaftlich „bewiesen“ - dass die gesellschaftlichen Gesetze es notwendig machten, dass man stets ein großes Heer von Armen und Arbeitslosen zur Verfügung hatte, um die Wirtschaft in Gang zu halten. Heute würde es kaum noch jemand wagen, eine solche Ansicht auszusprechen. Man gibt allgemein zu, dass keiner vom Reichtum der Nation ausgeschlossen werden sollte, weder durch Gesetze der Natur noch durch solche der Gesellschaft. Die noch vor hundert Jahren geläufigen Rationalisierungen, dass die Armen ihre Lage ihrer Unwissenheit und ihrem mangelnden Verantwortungsgefühl - kurzum ihren „Sünden“ - verdankten, sind heute überlebt. Man hat in allen westlichen Industrieländern ein Versicherungssystem eingeführt, das einem jeden im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter ein Existenzminimum garantiert. Die Forderung, dass jeder das bedingungslose Recht auf ein Existenzminimum habe, bedeutet nur einen Schritt weiter. Es würde praktisch heißen, dass jeder Bürger Anspruch auf eine Summe hat, die ihm ein Existenzminimum sichert, selbst wenn er nicht arbeitslos, krank oder alt ist. Er könnte diese Summe auch dann verlangen, wenn er seine Stelle freiwillig aufgibt, wenn er sich für eine andere Art von Arbeit vorbereiten will oder wenn ihn irgendwelche anderen persönlichen Gründe am Geldverdienen hindern, auch wenn er zu keiner der Kategorien gehört, denen dann die Versicherung zugute kommt. Kurz gesagt, er hätte Anspruch auf dieses Existenzminimum, auch wenn er keinen besonderen „Grund“ dafür angeben könnte. Es sollte jedoch auf eine bestimmte Periode, sagen wir, auf zwei Jahre, begrenzt bleiben, um nicht eine neurotische Haltung zu erzeugen, bei der der Betreffende sich sozialen Pflichten jeder Art entzieht. [IV-235]

Das könnte wie ein phantastischer Vorschlag klingen. (Dr. Meyer Shapiro hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Bertrand Russell (1919, S. 86 ff.) den gleichen Vorschlag macht.) Unser Versicherungssystem aber wäre den Menschen vor hundert Jahren genauso vorgekommen. Der Haupteinwand gegen einen derartigen Plan wäre, dass niemand mehr arbeiten wollte, wenn jeder einen Anspruch darauf hätte, ein Existenzminimum zu bekommen. Diese Vermutung beruht jedoch auf der irrtümlichen Ansicht von der der menschlichen Natur eigentümlichen Faulheit; in Wirklichkeit würde es, abgesehen von neurotisch faulen Menschen, nur sehr wenige geben, die nicht mehr verdienen möchten als das Existenzminimum und die lieber nichts tun würden als arbeiten.

Dagegen ist der Argwohn gegen ein System des garantierten Existenzminimums vom Standpunkt derer nicht unbegründet, die ihren Kapitalbesitz dazu benutzen möchten, andere dazu zu zwingen, sich auf die Arbeitsbedingungen einzulassen, die sie ihnen anbieten. Wenn niemand mehr gezwungen wäre, eine Arbeit anzunehmen, um nicht zu verhungern, müsste die Arbeit so interessant und attraktiv gemacht werden, dass die Menschen sich dazu veranlasst sähen, sie anzunehmen. Die Freiheit des Vertragsabschlusses ist nur möglich, wenn es beiden Parteien freisteht, den Vertrag anzunehmen oder abzulehnen; im gegenwärtigen kapitalistischen System ist das nicht der Fall.

Aber ein solches System wäre nicht nur der Anfang einer echten Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, es würde auch den Freiheitsbereich in den zwischenmenschlichen Beziehungen im täglichen Leben ungemein vergrößern.

Sehen wir uns einige Beispiele an. Jemand, der heute in Arbeit steht und dem seine Tätigkeit nicht zusagt, sieht sich oft gezwungen weiterzumachen, weil er nicht die Mittel besitzt, um eine Arbeitslosigkeit von nur ein oder zwei Monaten riskieren zu können, und weil er, wenn er seine Stelle freiwillig aufgibt, natürlich keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung hat. Tatsächlich reichen jedoch die psychologischen Auswirkungen dieser Situation viel tiefer. Schon die Tatsache, dass er nicht riskieren kann, entlassen zu werden, führt leicht dazu, dass er vor seinem Chef und vor allen, von denen er abhängig ist, Angst hat. Er wird Hemmungen haben, ihnen zu widersprechen; er wird versuchen, sich bei ihnen beliebt zu machen, und wird eine unterwürfige Haltung einnehmen, weil er ständig Angst hat, der Chef könnte ihn auf die Straße setzen, wenn er sich gegen ihn durchzusetzen versuchte. Oder nehmen wir jemanden, der mit vierzig Jahren den Wunsch verspürt, lieber eine völlig andere Tätigkeit aufzunehmen, für die er aber eine ein- bis zweijährige Ausbildung braucht. Da unter den Bedingungen eines garantierten Existenzminimums ein solcher Entschluss bedeuten würde, dass er mit einem minimalen Komfort auskommen müsste, würde es schon eine große Begeisterung für sein neues Betätigungsgebiet und ein großes Interesse daran erfordern. Deshalb würden nur wirklich dafür Begabte und besonders daran Interessierte eine solche Entscheidung treffen. Oder nehmen wir eine Frau, die in einer unglücklichen Ehe lebt und die ihren Mann nur deshalb nicht verlässt, weil sie ihren Unterhalt während der Zeit, die sie für die Ausbildung zu irgendeiner Arbeit braucht, nicht selbst bestreiten kann. Oder denken wir an einen Jugendlichen, der mit einem neurotischen oder destruktiven Vater in einem schweren Konflikt lebt, und [IV-236] dessen seelische Gesundheit gerettet wäre, wenn er frei wäre, seine Familie zu verlassen. Kurz gesagt, der fundamentale Zwang wirtschaftlicher Gründe wäre in den geschäftlichen und privaten Beziehungen beseitigt, und jedem wäre seine Handlungsfreiheit wiedergegeben.

Und die Kosten? Da wir das Versorgungsprinzip bereits für die Arbeitslosen, die Kranken und Alten eingeführt haben, würde es sich nur um eine „Randgruppe“ von zusätzlichen Personen handeln, die von diesem Vorrecht Gebrauch machen würden, und zwar um besonders Begabte, um andere, die sich in einer vorübergehenden Konfliktsituation befinden, oder um Neurotiker, die kein Verantwortungsgefühl oder kein Interesse an einer Arbeit besitzen. Zieht man alle diese Faktoren in Betracht, so sieht es doch so aus, als ob die Zahl der Menschen, die dieses Vorrecht in Anspruch nehmen dürften, nicht besonders groß sein wird, und man könnte mit Hilfe von sorgfältigen Untersuchungen bereits heute ihre Zahl ungefähr abschätzen. Freilich ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass dieser Vorschlag mit den anderen hier angeregten sozialen Veränderungen zusammenzusehen ist und dass in einer Gesellschaft, in welcher der einzelne Bürger an seiner Arbeit aktiven Anteil nimmt, die Zahl der an einer Arbeit nicht interessierten Personen nur einen Bruchteil derer ausmachen dürfte, für die das unter den heutigen Bedingungen gilt. Wie groß ihre Zahl aber auch immer sein mag, so dürften doch die Kosten für einen solchen Plan kaum höher sein als die Ausgaben der Großstaaten für ihre Streitkräfte während der letzten Jahrzehnte, von den Rüstungskosten ganz zu schweigen. Auch sollte man nicht vergessen, dass in einem System, welches in einem jeden das Interesse am Leben und an seiner Arbeit neu erweckt, die Produktivität des einzelnen Arbeiters weit größer sein dürfte, nachdem schon heute auf Grund nur weniger günstiger Veränderungen in der Arbeitssituation von Leistungssteigerungen berichtet wird. Zudem würden unsere Ausgaben für die Bekämpfung von Verbrechen und neurotischen und psychosomatischen Krankheiten beträchtlich geringer.

c) Politische Neugestaltungen

In einem vorangegangenen Kapitel habe ich nachzuweisen versucht, dass sich die Demokratie in einer entfremdeten Gesellschaft nicht bewähren kann und dass die Art und Weise, wie unsere Demokratie organisiert ist, zum allgemeinen Entfremdungsprozess beiträgt. Wenn Demokratie bedeutet, dass der Einzelne seine Überzeugung zum Ausdruck und seinen Willen zur Geltung bringen kann, so ist Voraussetzung dafür, dass er überhaupt eine Überzeugung besitzt und dass er einen eigenen Willen hat. Tatsache ist jedoch, dass der moderne, entfremdete Mensch zwar Meinungen und Vorurteile, aber keine Überzeugungen besitzt, dass er bestimmte Vorlieben und Abneigungen, aber keinen eigenen Willen hat. Seine Meinungen und Vorurteile, seine Vorlieben und Abneigungen werden ebenso wie sein Geschmack von mächtigen Propagandaapparaten manipuliert - die vielleicht wirkungslos blieben, wenn er nicht durch die Werbung und durch seine ganze entfremdete Lebensweise bereits dafür konditioniert wäre. [IV-237]

Auch ist der durchschnittliche Wähler schlecht informiert. Er liest zwar regelmäßig seine Zeitung, aber die ganze Welt ist ihm so entfremdet, dass nichts für ihn einen wirklichen Sinn oder eine reale Bedeutung besitzt. Er liest, dass Milliarden von Dollar ausgegeben und dass Millionen von Menschen getötet werden, und das alles sind nur Zahlen und Abstraktionen, die für ihn in keiner Weise ein konkretes, sinnvolles Weltbild ergeben. Die Science-Fiction-Romane, die er liest, unterscheiden sich für ihn kaum von Berichten über neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Alles ist unwirklich, grenzenlos und unpersönlich. Tatsachen sind für ihn nur Gedächtnisbrocken, Einzelstückchen eines Puzzlespiels, und keine Elemente, von denen sein Leben und das seiner Kinder abhängt. Es ist in der Tat ein Zeichen der Spannkraft und des gesunden Kerns des Durchschnittsmenschen, dass die politischen Entscheidungen heute trotz dieser Bedingungen nicht völlig unvernünftig sind, sondern dass bei den Wahlen noch ein einigermaßen nüchternes Urteilsvermögen zum Ausdruck kommt.

Darüber hinaus sollte man nicht vergessen, dass gerade die Idee des Mehrheitswahlrechts mit zum Prozess der Abstraktion und Entfremdung führt. Ursprünglich war die Regierung durch die Mehrheit die Alternative zu einer Regierung durch eine Minderheit, durch den König oder die Feudalherren. Eine Mehrheitsregierung bedeutete nicht, dass die Mehrheit immer recht hat; sie bedeutet, dass es für die Mehrheit immer noch besser ist, wenn sie unrecht hat, als wenn eine Minderheit ihr ihren Willen aufzwingt. Aber in unserem Zeitalter der Konformität hat die demokratische Methode immer mehr die Bedeutung angenommen, dass die Entscheidung einer Mehrheit unbedingt auch richtig und moralisch dem Beschluss einer Minderheit überlegen ist, und dass die Mehrheit damit das moralische Recht besitzt, ihren Willen der Minderheit aufzuzwingen. Genauso wie von einem Produkt, für das auf Bundesebene geworben wird, behauptet wird: „Zehn Millionen Amerikaner können sich nicht irren“, so sieht man auch in einem Mehrheitsbeschluss ein Argument für dessen Richtigkeit. Das ist ganz offensichtlich ein Irrtum. Tatsächlich waren - historisch betrachtet - alle „richtigen“ Ideen in der Politik wie auch in der Philosophie, in der Religion oder in der Naturwissenschaft ursprünglich die Ideen von Minderheiten. Wenn es bei dem Wert einer Idee nach der Zahl ihrer Anhänger ginge, würden wir heute noch in Höhlen leben.

Wie Schumpeter (1962) gezeigt hat, bringt der Wähler lediglich zum Ausdruck, welchem von zwei Kandidaten, die sich um seine Stimme bewerben, er den Vorzug gibt. Er sieht sich verschiedenen politischen Maschinerien gegenüber und einer politischen Bürokratie, die zwischen ihrem guten Willen, das Beste für das Land zu tun, und ihrem beruflichen Interesse, im Amt zu bleiben oder wieder hineinzukommen, hin und hergerissen wird. Diese politische Bürokratie, welche die Stimme braucht, muss natürlich bis zu einem gewissen Grad den Willen der Wähler berücksichtigen. Alle Zeichen großer Unzufriedenheit zwingen die politischen Parteien ihren Kurs zu ändern, um die Wählerstimmen zu bekommen, und jedes Anzeichen dafür, dass ein bestimmter Aktionskurs weithin populär ist, wird sie dazu veranlassen, diesen Kurs auch weiterhin zu verfolgen. In dieser Hinsicht ist sogar ein nicht-demokratisches, autoritäres Regime bis zu einem gewissen Grad vom Willen des Volkes abhängig, nur dass es sich durch seine Zwangsmethoden viel länger leisten kann, einen unpopulären Kurs [IV-238] beizubehalten. Aber abgesehen von dem behindernden oder fördernden Einfluss, den die Wählerschaft auf die Entscheidungen der politischen Bürokratie ausübt - wobei es sich mehr um einen indirekten als um einen direkten Einfluss handelt - kann der einzelne Bürger kaum etwas tun, womit er sich an der Beschlussfassung beteiligen könnte. Nachdem er einmal seinen Stimmzettel eingeworfen hat, hat er seinen politischen Willen an seinen Repräsentanten abgegeben, der ihn mit jener Mischung aus Verantwortungsbewusstsein und egoistischem Berufsinteresse, die für ihn so kennzeichnend ist, ausführt, und der einzelne Bürger kann wenig tun außer bei der nächsten Wahl wieder seinen Stimmzettel abzugeben, was ihm eine Chance gibt, seinem Repräsentanten zu helfen, im Amt zu bleiben oder ihn abzusetzen.

Der Wahlprozess hat in den großen Demokratien mehr und mehr den Charakter eines Plebiszits angenommen, bei dem der Wähler nicht viel mehr tun kann, als sein Einverständnis oder seine Unzufriedenheit mit mächtigen politischen Maschinerien zu dokumentieren und einer davon seinen politischen Willen zu überantworten.

Der Fortschritt des demokratischen Prozesses von der Mitte des Neunzehnten bis zur Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts besteht in der Ausdehnung des Wahlrechts, was inzwischen dazu geführt hat, dass das uneingeschränkte und allgemeine Wahlrecht allgemein eingeführt ist. Aber selbst das uneingeschränkte Wahlrecht für alle genügt noch nicht. Um einen weiteren Fortschritt im demokratischen System zu erzielen, muss man noch einen weiteren Schritt tun. Vor allem muss man sich klar machen, dass echte Entscheidungen nicht in einer Atmosphäre von Massenwahlen zustande kommen können, sondern nur in relativ kleinen Gruppen, die etwa den alten Gemeindeversammlungen entsprechen und zu denen nicht mehr als etwa fünfhundert Personen gehören sollten. In solchen kleinen Gruppen können die zur Entscheidung stehenden Fragen gründlich erörtert werden, jedes Mitglied kann seine Ideen äußern und kann sich auch die Argumente der anderen anhören und mit ihnen auf vernünftige Weise darüber diskutieren. Die Menschen haben persönlichen Kontakt miteinander, wodurch sie demagogischen und irrationalen Einflüssen weniger leicht zugänglich sind. Zweitens müssen die einzelnen Bürger über lebenswichtige Tatsachen Bescheid wissen, um wichtige Entscheidungen darüber treffen zu können. Drittens muss die Entscheidung, die ein Mitglied einer solchen kleinen Gruppe im persönlichen Austausch trifft, ganz gleich welcher Art sie ist, einen direkten Einfluss auf die Entscheidung haben, die dann von einer zentral gewählten Exekutive realisiert wird. Ohne das würde der Bürger politisch genauso dumm bleiben, wie er heute ist.

Es stellt sich die Frage, ob ein derartiges System, das eine zentralisierte Form der Demokratie, wie wir sie heute haben, mit einer hochgradigen Dezentralisation verbindet, überhaupt möglich ist, ob wir das Prinzip der Gemeindeversammlung in unserer modernen industrialisierten Gesellschaft wieder einführen können.

Ich sehe hierin keine unlösbare Schwierigkeit. Eine Möglichkeit wäre, die gesamte Bevölkerung nach Wohnbezirken oder auch entsprechend dem Arbeitsplatz in kleine Gruppen (face-to-face groups) von etwa fünfhundert Personen zu organisieren, wobei diese Gruppen bezüglich der sozialen Stellung ihrer Mitglieder möglichst verschiedenartig zusammengesetzt sein sollten. Diese Gruppen würden regelmäßig - sagen wir einmal monatlich - zusammenkommen und ihre Funktionäre und Ausschüsse [IV-239] wählen, die alljährlich wechseln würden. Ihr Programm bestünde in der Erörterung der wichtigsten politischen Fragen, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene. Wie bereits ausgeführt, würde jede solche Diskussion, wenn etwas Vernünftiges dabei herauskommen soll, ein gewisses Maß an Tatsachen-Information voraussetzen. Wie kann diese beschafft werden? Es scheint durchaus möglich, dass eine politisch unabhängige „Kultur-Agentur“ (cultural agency) die Funktion ausübt, das Tatsachenmaterial, das man als Unterlagen für diese Diskussionen benutzen möchte, vorzubereiten und zu veröffentlichen. Das ist nichts anderes, als was wir bereits in unserem Schulsystem tun, wo unsere Kinder Informationen erhalten, die relativ objektiv und von den wechselnden Regierungen unbeeinflusst sind. Man könnte sich beispielsweise vorstellen, dass man Persönlichkeiten aus den Bereichen von Kunst, Wissenschaft, Religion, Wirtschaft und Politik, deren überragende Leistungen und moralische Integrität über jeden Zweifel erhaben sind, zur Bildung einer politischen unabhängigen „Kultur-Agentur“ auswählt. Auch wenn ihre politischen Ansichten verschieden wären, dürfte man doch annehmen, dass sie sich über die Zusammenstellung von Fakten zum Zweck einer objektiven Information in vernünftiger Weise einigen könnte. Im Fall von Meinungsverschiedenheiten bestünde die Möglichkeit, den Bürgern verschiedene Zusammenstellungen von Tatsachen vorzulegen und ihnen den Grund für den Unterschied zu erklären. Nachdem diese kleinen Gruppen die Information erhalten und darüber diskutiert haben, werden sie darüber abstimmen. Mit Hilfe der uns heute zur Verfügung stehenden technischen Einrichtungen dürfte es sehr einfach sein, in kurzer Zeit das Gesamtresultat dieser Abstimmung festzustellen. Das Problem wäre jetzt, wie die auf diese Weise zustande gekommenen Entscheidungen der Zentralregierung zugeleitet und bei der Beschlussfassung mitberücksichtigt werden könnten. Es ist nicht einzusehen, weshalb dieser Prozess nicht in irgendeiner Form durchführbar sein soll. In der parlamentarischen Tradition gibt es gewöhnlich zwei Kammern, die beide an den Entscheidungen beteiligt sind, aber auf unterschiedliche Weise gewählt werden. Die kleinen Gruppen würden das eigentliche „Unterhaus“ darstellen, das sich mit dem Haus der aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Abgeordneten und einer auf die gleiche Weise gewählten Exekutive die Macht teilen würde.[49] In allen entscheidenden und prinzipiellen Fragen müsste in letzter Instanz der Wille des „Unterhauses“ den Ausschlag geben. Auf diese Weise würden sich die Entscheidungen nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben bewegen, und sie würden sich auf das aktive und verantwortungsbewusste Denken des einzelnen Bürgers gründen. Durch die Diskussionen und die Abstimmung in den kleinen in persönlichem Kontakt miteinander stehenden Gruppen (face-to-face groups) würde der irrationale und abstrakte Charakter der Entscheidungen großenteils verschwinden, und die politischen Probleme würden tatsächlich zu einem echten Anliegen der Bürger. Der Prozess der Entfremdung, in dem der einzelne Bürger seinen politischen Willen durch das Wahlritual Mächten überantwortet, die außerhalb seiner Reichweite sind, würde umgekehrt, und jeder Einzelne würde seine Rolle als Teilnehmer am Gemeinschaftsleben zurückgewinnen. (Vgl. zum Problem der kleinen Gruppen Robert A. Nisbet, 1953.) [IV-240]

d) Kulturelle Neugestaltungen

Keine gesellschaftliche oder politische Maßnahme kann mehr tun, als dass sie die Verwirklichung bestimmter Werte und Ideale fördert oder behindert. In einer materialistischen Zivilisation, bei der sich alles um die Produktion, den Konsum und den Erfolg auf dem Markt dreht, können die Ideale der jüdisch-christlichen Tradition unmöglich in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Andererseits kann keine sozialistische Gesellschaft ihr Ziel der Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und des Individualismus erreichen, wenn ihre Ideen die Herzen der Menschen nicht mit einem neuen Geist erfüllen.

Wir brauchen keine neuen Ideale und keine neuen geistigen Zielsetzungen. Die großen Lehrer der Menschheit haben bereits die Normen für eine gesunde Lebensführung aufgestellt. Gewiss haben sie in verschiedenen Sprachen gesprochen, haben bestimmte Aspekte in den Vordergrund gestellt und unterschiedliche Ansichten in gewissen Fragen vertreten. Aber, alles in allem genommen, waren diese Unterschiede nur geringfügig. Dass die großen Religionen und ethischen Systeme sich so oft gegenseitig bekämpft und mehr das herausgestellt haben, was sie voneinander unterschied, als ihre grundlegenden Ähnlichkeiten, ist dem Einfluss derer zuzuschreiben, die Kirchen, Hierarchien und politische Organisationen auf den einfachen Fundamenten der Wahrheit errichteten, die die Männer des Geistes gelegt hatten. Seit die Menschheit die entscheidende Wendung vollzogen hat, mit der sie sich aus ihrer Verwurzelung in der Natur und in der tierischen Existenz löste, um im Gewissen und in der brüderlichen Solidarität eine neue Heimat zu finden, seit ihr erstmals die Idee der Einheit der menschlichen Rasse kam und sie ihre Bestimmung erkannte, voll geboren zu werden - seitdem sind sich die Ideen und Ideale im wesentlichen gleich geblieben. In jedem Kulturzentrum hatte man - ohne dass sich die einzelnen Kulturen wesentlich beeinflusst hätten - die gleichen Erkenntnisse, und man verkündete dieselben Ideale. Wir, die wir heute einen leichten Zugang zu all diesen Ideen haben, die wir immer noch die Erben der großen humanistischen Lehren sind, brauchen keine neuen Erkenntnisse darüber, wie man ein gesundes Leben führt, aber wir haben es bitter nötig, dass wir das, was wir glauben, predigen und lehren, auch ernst nehmen. Die Revolution unserer Herzen erfordert keine neue Weisheit - wohl aber einen neuen Ernst und neue Hingabe.

Die Aufgabe, den Menschen die Leitbilder und Normen unserer Kultur nahezubringen, ist in erster Linie Sache der Erziehung. Aber wie schrecklich unzureichend ist unser Erziehungssystem für diese Aufgabe! Es zielt vor allem darauf ab, dem Einzelnen das Wissen zu vermitteln, das er braucht, um in einer industriellen Zivilisation zu funktionieren und um seinem Charakter die Form zu geben, die benötigt wird: dass er ehrgeizig und auf Wettbewerb eingestellt und trotzdem innerhalb gewisser Grenzen zur Zusammenarbeit bereit ist; dass er Respekt vor der Autorität hat und trotzdem „im erwünschten Maß unabhängig“ ist, wie es gelegentlich in einem Zeugnis heißt; dass er nett und trotzdem ohne eine tiefe Bindung an irgendjemanden oder irgendetwas ist. In unserer High School und im College widmet man sich auch weiterhin der Aufgabe, die Schüler mit den Kenntnissen zu versehen, die sie brauchen, um ihre [IV-241] praktischen Aufgaben im Leben zu erfüllen, und ihnen die Charakterzüge anzuerziehen, die auf dem Personalmarkt verlangt werden. Dagegen gelingt es nur äußerst selten, ihnen auch die Fähigkeiten zu kritischem Denken oder Charakterzüge beizubringen, die den Idealen entsprechen, zu denen sich unsere Kultur bekennt. Es erübrigt sich, auf diesen Punkt weiter einzugehen und die Kritik zu wiederholen, die Robert Hutchins und andere auf kompetente Weise vorgebracht haben. Ich möchte hier nur noch einen Punkt hervorheben: die Notwendigkeit, endlich mit der schädlichen Trennung zwischen theoretischem und praktischem Wissen Schluss zu machen. Eben diese Trennung ist mit schuld an der Entfremdung unserer Arbeit und unseres Denkens. Sie führt dazu, dass man die Theorie von der Praxis trennt, und sie erschwert es dem Einzelnen, anstatt es ihm zu erleichtern, einen sinnvollen Anteil an der Arbeit zu nehmen, die er verrichtet. Wenn die Arbeit zu einer Betätigung werden soll, die sich auf sein Wissen und sein Verständnis für das, was er tut, gründet, dann muss in der Tat eine drastische Änderung in unserer Erziehungsmethode in dem Sinn vorgenommen werden, dass von allem Anfang an theoretische Unterweisung und praktische Arbeit miteinander kombiniert werden. Bei Jugendlichen sollte die praktische Arbeit hinter dem theoretischen Unterricht zurückstehen, bei denen, die das Schulalter hinter sich haben, sollte es umgekehrt sein, doch sollten die beiden Bereiche in keinem Entwicklungsalter voneinander getrennt werden. Kein Jugendlicher sollte seine Schulbildung abschließen, ohne dass er auf befriedigende und sinnvolle Weise irgendein Handwerk gelernt hat, und man sollte die Grundschulausbildung erst dann als beendet ansehen, wenn der Schüler einen Begriff von den grundlegenden technischen Vorgängen in der Industrie hat. Ganz gewiss aber sollte die High School den theoretischen Unterricht mit einer praktischen Unterweisung in einem Handwerk und in der modernen Industrietechnik kombinieren.

Dass wir in erster Linie uns zum Ziel gesetzt haben, Bürger heranzuziehen, die für die Zwecke des Gesellschaftsapparates brauchbar sind, anstatt vor allem ihre menschliche Entwicklung im Auge zu haben, geht daraus hervor, dass wir eine Weiterbildung nur bis zum Alter von vierzehn, achtzehn oder höchstens zwanzig Jahren für notwendig halten. Weshalb aber sollte sich die Gesellschaft nur für die Erziehung und Bildung von Kindern und nicht auch für die Weiterbildung der Erwachsenen in jedem Alter verantwortlich fühlen? Alvin Johnson hat überzeugend dargelegt, dass das Alter zwischen sechs und achtzehn Jahren für das Lernen keineswegs so geeignet ist, wie allgemein angenommen wird. Natürlich ist es das beste Alter, um Lesen, Schreiben, Rechnen und fremde Sprachen zu lernen, aber das Verständnis für Geschichte, Philosophie, Religion, Literatur, Psychologie usw. ist zweifellos in diesem Alter nur beschränkt vorhanden, und es ist sogar mit zwanzig Jahren noch nicht optimal, dem Alter, in dem die Studenten stehen, wenn sie am College in diesen Fächern unterrichtet werden. In vielen Fällen müsste jemand, um die Probleme auf diesen Gebieten wirklich zu verstehen, eine weit größere Lebenserfahrung haben, als er sie im College-Alter besitzt. Für viele ist das Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren zum Lernen weit geeigneter, weil man die Dinge auch versteht, anstatt sie nur auswendig zu lernen, und häufig ist auch das Allgemeininteresse in späteren Jahren größer als in der stürmischen Periode der Jugend. Etwa in diesem Alter sollte es auch jedermann [IV-242] freistehen, seinen Beruf völlig zu ändern, und er sollte die Chance haben, noch einmal zu studieren, genauso wie wir diese Chance heute unserer Jugend geben.

Eine gesunde Gesellschaft muss auch für Bildungsmöglichkeiten für Erwachsene sorgen, genauso wie sie heute für die Schulbildung unserer Kinder Sorge trägt. Dieser Grundsatz kommt heute in den immer zahlreicheren Kursen für Erwachsenenbildung zum Ausdruck, aber alle diese privaten Veranstaltungen erreichen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung, und man sollte das Prinzip auf die gesamte Bevölkerung anwenden.

Schulung, ob es sich nun um Wissensvermittlung oder um Charakterbildung handelt, ist nur ein, und vielleicht nicht einmal der wichtigste Teil der Erziehung, wobei ich „Erziehung“ hier in ihrem ursprünglichen und grundlegendsten Sinn von e-ducere = herausführen, herausbringen - nämlich dessen, was im Menschen ist - verstehe. Selbst wenn der Mensch Wissen besitzt, wenn er seine Arbeit gut macht, wenn er anständig und ehrlich ist und keine Sorgen in Bezug auf seine materiellen Bedürfnisse zu haben braucht, ist er doch nicht zufrieden und kann es auch nicht sein.

Um sich in der Welt zu Hause zu fühlen, muss der Mensch sie nicht nur mit dem Verstand, sondern mit allen Sinnen erfassen, mit seinen Augen, seinen Ohren, seinem ganzen Körper. Er muss mit seinem Körper das, was er in seinem Gehirn denkt, ausagieren. Körper und Geist können in dieser Hinsicht sowenig wie in irgendeiner anderen Hinsicht voneinander getrennt werden. Wenn der Mensch die Welt erfasst und sich so in seinem Denken mit ihr vereint, erschafft er die Philosophie, die Theologie, den Mythos und die Wissenschaft. Erfasst er die Welt mit seinen Sinnen, dann erschafft er die Kunst und das Ritual, dann erfindet er das Lied, den Tanz, das Drama, die Malerei und Bildhauerkunst. Wenn wir das Wort „Kunst“ verwenden, lassen wir uns von seiner Bedeutung im modernen Sinn als einem vom Leben getrennten Bereich beeinflussen. Wir haben einerseits den Künstler, der einen speziellen Beruf ausübt - und auf der anderen Seite den Bewunderer und Konsumenten der Kunst. Aber diese Trennung ist ein modernes Phänomen. Nicht, dass es nicht in allen großen Kulturen „Künstler“ gegeben hätte. Die großen ägyptischen, griechischen und italienischen Skulpturen waren das Werk außergewöhnlich begabter Künstler, die auf ihre Kunst spezialisiert waren; das gleiche gilt für das griechische Drama und die Musik seit dem Siebzehnten Jahrhundert.

Wie aber steht es mit einer gotischen Kathedrale, mit dem katholischen Ritus, einem indianischen Regentanz, einem japanischen Blumenarrangement, einem Volkstanz und einem Gemeinschaftsgesang? Ist das auch Kunst? Ist das Volkskunst? Wir besitzen kein Wort dafür, weil die Kunst in einem weiten und allgemeinen Sinn als ein Bestandteil des Lebens eines jeden Menschen ihren Platz in unserer Welt verloren hat. Welches Wort können wir dann dafür benutzen? In meiner Erörterung der Entfremdung habe ich den Ausdruck „Ritual“ gebraucht. Hierbei besteht natürlich die Schwierigkeit, dass diesem Wort eine religiöse Bedeutung anhaftet, die es ebenfalls in einen speziellen, abgesonderten Bereich versetzt. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks werde ich im Folgenden von „kollektiver Kunst“ (collective art) sprechen, worunter ich dasselbe verstehe wie unter einem Ritual. Es handelt sich dabei darum, dass wir mit unseren Sinnen auf eine sinnvolle, gekonnte, schöpferische und aktive [IV-243] Weise gemeinsam auf die Welt reagieren. In dieser Beschreibung kommt es auf das Wort gemeinsam besonders an, das den Begriff der „kollektiven Kunst“ von der Kunst im modernen Sinn unterscheidet. Letztere ist individualistisch sowohl im Hinblick auf ihre Hervorbringung wie auch im Hinblick auf ihren Konsum. Die „kollektive Kunst“ ist etwas Gemeinsames; sie ermöglicht es dem Menschen, sich mit anderen auf eine sinnvolle, bereichernde und schöpferische Weise eins zu fühlen. Sie ist kein individueller Zeitvertreib neben dem Leben her, sondern ein integraler Bestandteil des Lebens. Sie erfüllt ein fundamentales menschliches Bedürfnis, und wenn dieses Bedürfnis unerfüllt bleibt, dann ist der Mensch ebenso unsicher und angsterfüllt, wie wenn sein Bedürfnis nach einem sinnvollen Weltbild unbefriedigt bleibt. Um aus der rezeptiven in die produktive Orientierung hineinzuwachsen, muss er künstlerisch und nicht nur philosophisch und wissenschaftlich zur Welt in Beziehung treten. Wenn eine Kultur dieses Verlangen nicht erfüllt, entwickelt sich der Durchschnittsmensch nicht über seine rezeptive oder Marketing-Orientierung hinaus.

Wo stehen wir? Außer für die Katholiken haben religiöse Rituale für uns nur noch wenig Bedeutung. Weltliche Rituale gibt es kaum. Neben Versuchen, in Logen, Bruderschaften und dergleichen Rituale nachzuahmen, gibt es ein paar patriotische Rituale und einige Sportrituale, die aber die Bedürfnisse der Gesamtpersönlichkeit nur in einem sehr beschränkten Maß ansprechen. Wir sind eine Kultur von Verbrauchern. Wir „schlürfen“ die Filme, die Berichte über Kriminalfälle, den Alkohol und das Vergnügen in uns hinein. Es kommt dabei nicht zu einer aktiven, schöpferischen Teilnahme, zu keinem gemeinsamen einigenden Erlebnis, zu keinem sinnvollen Ausagieren bedeutsamer Antworten auf das Leben. Was erwarten wir von unserer jungen Generation? Was sollen sie tun, wenn sie keine Gelegenheit haben zu sinnvoller künstlerischer Betätigung? Was bleibt ihnen anderes übrig, als sich in den Alkohol, das Tagträumen beim Anschauen von Filmen, ins Verbrechen, in die Neurose oder den Wahnsinn zu flüchten? Was hilft es, dass es bei uns so gut wie keine Analphabeten mehr gibt, dass die höhere Schulbildung so weit verbreitet ist wie nie zuvor, wenn wir keine Möglichkeit haben, unserer Gesamtpersönlichkeit kollektiv Ausdruck zu verleihen, wenn wir keine gemeinsame Kunst und kein gemeinsames Ritual besitzen? Zweifellos ist ein relativ primitives Dorf, in dem es noch wirkliche Feste und gemeinsame künstlerische Ausdrucksformen gibt und in dem niemand lesen oder schreiben kann, kulturell höherstehend und seelisch gesünder als unsere hoch gebildete, Zeitung lesende und Radio hörende Kultur.

Man kann keine gesunde Gesellschaft auf eine Mischung aus rein intellektuellem Wissen und einem fast völligen Mangel an gemeinsamen künstlerischen Erlebnissen, aus College plus Fußball, aus Krimis plus 4. Juli-Feiern aufbauen, auch wenn man zwischendurch einen Mutter- und einen Vatertag und das Weihnachtsfest als Zugabe einschiebt. Wenn man sich überlegt, wie man eine gesunde Gesellschaft aufbauen könnte, sollte man sich klarmachen, dass es mindestens ebenso wichtig ist, das Bedürfnis nach einer kollektiven Kunst und einem nicht-klerikalen Ritual zu befriedigen, wie es die Beseitigung des Analphabetentums und die höhere Bildung ist. Die Umwandlung einer atomistischen in eine kommunitäre Gesellschaft wird nur gelingen, wenn man den Menschen die Möglichkeit gibt, wieder gemeinsam zu singen, zu [IV-244] wandern, zu tanzen und etwas gemeinsam zu bewundern - gemeinsam und nicht, wie Riesman so treffend sagt, als Glied einer „einsamen Masse“.

Man hat bereits eine Reihe von Versuchen gemacht, die kollektive Kunst und das Ritual neu zu beleben. Die „Religion der Vernunft“ mit ihren neuen Festtagen und Ritualen war die von der Französischen Revolution geschaffene Form. Das Nationalgefühl hat einige neue Rituale hervorgebracht, doch haben diese nie die Bedeutung gewonnen, wie sie die verlorengegangenen religiösen Rituale einst hatten. Der Sozialismus hat sich seine eigenen Rituale in Form des Ersten Mai, mit der brüderlichen Anrede „Genosse“ usw. geschaffen, doch war auch deren Bedeutung nie größer als die der patriotischen Rituale. Ihren originellsten und tiefsten Ausdruck haben kollektive Kunst und Ritual vielleicht in der deutschen Jugendbewegung gefunden, die ihre Blütezeit in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg hatte. Aber diese Bewegung blieb ziemlich esoterisch und ging in der steigenden Flut des Nationalismus und des Rassismus unter.

Alles in allem ist unser modernes Ritual verarmt, und es befriedigt überhaupt nicht das Bedürfnis des Menschen nach kollektiver Kunst und einem gemeinsamen Ritual - weder bezüglich seiner Qualität noch seiner quantitativen Bedeutung in unserem Leben.

Was ist zu tun? Können wir Rituale erfinden? Kann man eine kollektive Kunst künstlich ins Leben rufen? Natürlich nicht! Aber wenn man erst einmal das Bedürfnis danach erkannt hat und damit anfängt, sie zu pflegen, dann wird auch der Samen aufgehen und wachsen, und es werden begabte Menschen auftauchen und neue Formen zu den alten hinzufügen, neue Talente werden in Erscheinung treten, die ohne eine solche neue Orientierung unbeachtet geblieben wären.

Die kollektive Kunst wird mit den Spielen der Kinder im Kindergarten anfangen, in der Schule fortgeführt und dann auch im späteren Leben weiterbetrieben werden. Es wird gemeinsame Tänze, Chöre, Theateraufführungen, Konzerte und Tanzkapellen geben. Sie werden zwar den modernen Sport nicht ganz ersetzen, ihm aber die untergeordnete Rolle jener Betätigungen zuweisen, die keinen Gewinn bringen und keinem besonderen Zweck dienen.

Wie bei der industriellen und politischen Organisation ist auch hier das Entscheidende die Dezentralisierung, die kleine Gruppe mit persönlichem Kontakt, die direkte und verantwortliche Mitbestimmung. In der Fabrik, in der Schule, in den kleinen politischen Diskussionsgruppen, im Dorf können verschiedene Formen gemeinsamer künstlerischer Betätigung geschaffen werden. Soweit notwendig können sie Unterstützung und Anregungen bei zentralen künstlerischen Stellen finden, doch sollten sie nicht von diesen „unterhalten“ werden. Außerdem bietet die moderne Rundfunk- und Fernsehtechnik wunderbare Möglichkeiten, einer großen Zuhörerschaft die beste Musik und Literatur nahezubringen. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass man es nicht der Geschäftswelt überlassen sollte, diese Gelegenheiten zu schaffen, sondern dass sie zu unseren Bildungsmöglichkeiten gehören müssen, aus denen niemand einen Gewinn zieht.

Man könnte dagegen einwenden, das Ritual und die kollektive Kunst in großem Umfang neu beleben zu wollen, sei eine romantische Idee; sie passe in ein Zeitalter des [IV-245] Handwerks und nicht in eine Zeit der maschinellen Produktion. Wäre dieser Einwand berechtigt, so müssten wir uns ebenso damit abfinden, dass wir uns mit unserer Lebensweise, der so sehr das Gleichgewicht und die innere Gesundheit fehlen, bald selbst zerstört haben werden. Tatsächlich jedoch ist dieser Einwand nicht überzeugender als die Zweifel, die man seinerzeit in Bezug auf die „Möglichkeit“ hatte, dass es Eisenbahnen und fliegende Maschinen geben könnte, die schwerer als Luft sind. Nur in Bezug auf einen Punkt ist dieser Einwand berechtigt. So wie wir jetzt tatsächlich sind, atomisiert, entfremdet und ohne ein echtes Gemeinschaftsgefühl, werden wir nicht fähig sein, neue Formen kollektiver Kunst und neue Rituale zu schaffen.

Doch das ist es ja, worauf ich die ganze Zeit hingewiesen habe. Man kann die Organisation unserer Industrie und Politik nicht ändern, wenn man nicht auch gleichzeitig die Struktur unseres Bildungswesens und unseres kulturellen Lebens ändert. Kein ernsthafter Versuch einer Änderung und eines Neuaufbaus wird zum Erfolg führen, wenn er nicht in allen diesen Bereichen gleichzeitig unternommen wird.

Kann man von einer inneren Neugestaltung unserer Gesellschaft sprechen, ohne die Religion zu erwähnen? Ohne Zweifel vertreten die großen monotheistischen Religionen die gleichen humanistischen Ziele, die auch der „produktiven Orientierung“ zugrunde liegen. Die Ziele von Christentum und Judentum sind die Würde des Menschen als Selbstzweck, die Nächstenliebe, die Vernunft und das Übergewicht der geistigen über die materiellen Werte. Diese ethischen Ziele sind mit bestimmten Gottesvorstellungen verbunden, durch die sich die Anhänger der verschiedenen Religionen voneinander unterscheiden und die jeweils für Millionen anderer Menschen unannehmbar sind. Trotzdem war es nicht richtig, dass die Nichtgläubigen ihre Angriffe vor allem gegen die Gottesvorstellung richteten; besser wäre es, wenn sie die Gläubigen aufforderten, ihre Religion und insbesondere ihre Vorstellung von Gott ernst zu nehmen. Das würde bedeuten, den Geist der Nächstenliebe, der Wahrheit und Gerechtigkeit praktisch zu üben und damit zu den radikalsten Kritikern unserer gegenwärtigen Gesellschaft zu werden. Andererseits bedeuten Diskussionen über Gott, selbst von einem streng monotheistischen Standpunkt aus, dass man den Namen Gottes missbraucht. Aber obwohl wir nicht sagen können, was Gott ist, können wir feststellen, was er nicht ist. Ist es nicht an der Zeit, dass wir endlich aufhören, über Gott zu streiten, und dass wir uns stattdessen gemeinsam darum bemühen, die heutigen Formen des Götzendienstes zu entlarven? Heute sind es nicht Baal und Astarte, sondern die Vergötzung des Staates und der Macht in den autoritären Ländern und die Vergötzung der Maschine und des Erfolges in unserer eigenen Kultur. Es ist die alles durchdringende Entfremdung, welche die geistigen Qualitäten des Menschen bedroht. Ob wir Anhänger einer bestimmten Religion sind oder nicht, ob wir an die Notwendigkeit einer neuen Religion oder an die Fortführung der jüdisch-christlichen Tradition glauben - sofern es uns um den Kern und nicht um die Schale, um das Erlebnis und nicht um das Wort, um den Menschen und nicht um die Institution zu tun ist, können wir uns in unserer entschiedenen Ablehnung des Götzendienstes zusammenfinden, und wir werden in dieser Negation vielleicht mehr von einem gemeinsamen Glauben entdecken als in allen positiven Behauptungen über Gott. Ganz gewiss werden wir darin mehr Demut und Nächstenliebe finden. [IV-246]

Das gilt auch für alle, die - wie ich selber - glauben, dass die theistischen Vorstellungen in der zukünftigen Entwicklung der Menschheit verschwinden werden. Für diejenigen, die in der monotheistischen Religion nur eine der Stationen auf dem Weg der Evolution der menschlichen Rasse sehen, ist es in der Tat kaum abwegig zu glauben, dass sich innerhalb der nächsten paar hundert Jahre eine neue Religion entwickeln wird, eine Religion, die der Entwicklung der Menschheit entspricht. Das wichtigste Merkmal einer solchen Religion wäre ihr universaler Charakter, welcher der Einigung der Menschheit, zu der es in diesem Zeitabschnitt kommen wird, entspräche. Sie würde die humanistischen Lehren enthalten, die allen großen Religionen des Ostens und des Westens gemeinsam sind. Ihre Lehrsätze würden zu den rationalen Erkenntnissen der heutigen Menschen nicht in Widerspruch stehen. Der Nachdruck würde auf der Lebenspraxis und nicht auf der Glaubensdoktrin liegen. Eine solche Religion würde neue Rituale und neue künstlerische Ausdrucksformen schaffen, die zu einem Geist der Ehrfurcht vor dem Leben und zur Solidarität aller Menschen führen. Man kann eine Religion natürlich nicht erfinden. Sie wird mit dem Erscheinen eines neuen großen Lehrers ins Leben treten, wie sie auch in früheren Jahrhunderten erschienen sind, wenn die Zeit reif war. Inzwischen sollten alle, die an Gott glauben, ihrem Glauben dadurch Ausdruck verleihen, dass sie ihn leben, und wer diesen Glauben nicht hat, der sollte so leben, wie es ihm Liebe und Gerechtigkeit gebieten, und - warten. (Den gleichen Vorschlag einer humanistischen Religion macht auch Julian Huxley, 1953.)

9. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Der Mensch ging einst als eine Laune der Natur aus der Tierwelt hervor. Nachdem ihm die meisten Instinkte verlorengegangen waren, die das Verhalten der Tiere regulieren, war er hilfloser und für den Kampf ums Dasein weniger gut ausgerüstet als die meisten Tiere. Aber er entwickelte die Fähigkeit zu denken, ein Vorstellungsvermögen und ein Bewusstsein seiner selbst, und auf dieser Grundlage verwandelte er die Natur und sich selbst. Viele tausend Generationen lang lebte er als Sammler und Jäger. Noch immer war er an die Natur gebunden und hatte Angst, von ihr ausgestoßen zu werden. Er identifizierte sich mit Tieren und betete diese Repräsentanten der Natur als seine Götter an. Nach einer langen Periode allmählicher Entwicklung begann er, den Boden zu bebauen und eine neue gesellschaftliche und religiöse Ordnung zu schaffen, die sich auf Ackerbau und Viehzucht gründete. Während dieser Periode verehrte er weibliche Gottheiten als Trägerinnen der Fruchtbarkeit der Natur und erlebte sich selbst als das Kind, das von der Fruchtbarkeit der Erde, von der Leben spendenden Brust der Großen Mutter abhängig war. Vor viertausend Jahren etwa kam es zu einer entscheidenden Wendung in der Menschheitsgeschichte. Der Mensch vollzog einen neuen Schritt in dem langwierigen Prozess seiner Loslösung von der Natur. Er zertrennte die Bande, die ihn mit der Natur und der Großen Mutter verbanden und setzte sich das neue Ziel, völlig geboren und völlig wach, völlig menschlich zu werden, das heißt frei zu sein. Vernunft und Gewissen wurden zu seinen Leitprinzipien. Sein Ziel war eine Gesellschaft, die durch die Bande der Nächstenliebe, der Gerechtigkeit und Wahrheit zusammengehalten wird, eine neue, wahrhaft menschliche Heimat anstelle der unwiederbringlich verlorenen Heimat in der Natur.

Dann fand etwa fünfhundert Jahre vor Christus in den großen religiösen Systemen Indiens, Griechenlands, Palästinas, Persiens und Chinas die Idee der Einheit der Menschheit und eines aller Wirklichkeit zugrunde liegenden, einenden geistigen Prinzips neue und höher entwickelte Ausdrucksformen. Lao-tse, Buddha, Jesaja, Heraklit und Sokrates und später auf palästinensischem Boden Jesus und die Apostel, auf amerikanischem Boden Quetzalcoatl und noch später auf arabischem Boden Mohammed verkündeten die Ideen von der Einheit aller Menschen, von Vernunft, Liebe und Gerechtigkeit, als die Ziele, die der Mensch anzustreben habe. [IV-248]

Nordeuropa schien lange Zeit zu schlafen. Griechische und christliche Ideen wurden auf seinen Boden verpflanzt, und es dauerte noch weitere tausend Jahre, bis Europa ganz von ihnen durchdrungen war. Um 1500 n. Chr. begann eine neue Epoche. Der Mensch entdeckte die Natur und das Individuum, er legte die Grundlagen für die Naturwissenschaften, die das Gesicht der Erde zu verwandeln begannen. Die geschlossene Welt des Mittelalters brach zusammen, der alle vereinende Himmel stürzte ein, und der Mensch fand in der Wissenschaft ein neues einendes Prinzip und suchte nach einer neuen Einheit in Form der gesellschaftlichen und politischen Einigung der Erde und in der Beherrschung der Natur. Das moralische Gewissen, das Erbe der jüdisch-christlichen Tradition, und das intellektuelle Gewissen, das Erbe der griechischen Tradition, verschmolzen miteinander, wodurch es zu einer Blütezeit menschlichen Schöpfertums kam, wie die Menschheit sie kaum je zuvor gekannt hatte.

Europa, kulturell gesehen das jüngste Kind der Menschheit, entwickelte einen solchen Reichtum und so wirksame Waffen, dass es mehrere Jahrhunderte lang zum Herrn der übrigen Welt wurde. Aber nun kommt es um die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts wiederum zu einer drastischen Veränderung, die so schwerwiegend ist, wie nur jemals eine Veränderung in der Vergangenheit. Die neuen Techniken bedienen sich statt der Körperkraft von Tieren und Menschen des Dampfs, des Öls und der Elektrizität. Sie schaffen Verkehrs- und Kommunikationsmittel, welche die Erde zur Größe eines Kontinents reduzieren und die Menschheit zu einer einzigen Gesellschaft werden lassen, in der das Schicksal einer Gruppe das Schicksal aller ist. Sie schaffen wunderbare Erfindungen, die es ermöglichen, dass die beste Kunst, Literatur und Musik jedes Mitglied unserer Gesellschaft erreichen kann. Sie erzeugen produktive Kräfte, die einem jeden eine menschenwürdige materielle Existenz ermöglichen werden, und reduzieren die Arbeitszeit so weit, dass sie nur noch den Bruchteil eines Tages in Anspruch nehmen wird.

Und trotzdem ist heute, wo der Mensch den Anfang einer neuen, reicheren und glücklicheren Ära erreicht zu haben scheint, seine Existenz und die der kommenden Generationen mehr denn je bedroht. Wie ist das möglich?

Der Mensch hatte sich seine Freiheit von kirchlichen und weltlichen Autoritäten erobert, er war auf sich allein gestellt, und Vernunft und Gewissen waren seine einzigen Richter. Aber er hatte Angst vor der neugewonnenen Freiheit. Er hatte „Freiheit von“ erlangt, ohne noch „Freiheit zu“ erreicht zu haben, nämlich die Freiheit, er selbst zu sein, produktiv und ganz erwacht zu sein. Daher versuchte er, dieser Freiheit wieder zu entrinnen, und gerade seine eigene Leistung, die Beherrschung der Natur, eröffnete ihm Wege zur Flucht.

Beim Aufbau des neuen Industrieapparats ging der Mensch so in dieser neuen Aufgabe auf, dass sie zu seinem höchsten Lebensziel wurde. Die Kräfte, die er einst auf die Suche nach Gott und dem Heil verwandt hatte, richtete er jetzt auf die Beherrschung der Natur und auf einen ständig wachsenden materiellen Komfort. Die Produktion diente ihm nicht mehr als ein Mittel zu einem besseren Leben, sondern er machte sie zum Selbstzweck, zu einem Zweck, dem er das Leben unterordnete. Im Prozess einer ständig zunehmenden Arbeitsteilung, einer ständig wachsenden Mechanisierung der Arbeit und einer immer stärkeren gesellschaftlichen [IV-249] Zusammenballung wurde der Mensch selbst zu einem Bestandteil der Maschine, anstatt ihr Herr zu sein. Er erlebte sich als eine Ware, als eine Kapitalanlage. Er setzte sich zum Ziel, ein „Erfolg“ zu sein, das heißt, sich so gewinnbringend wie möglich auf dem Markt zu verkaufen. Sein Wert als Person beruhte jetzt auf seiner Verkäuflichkeit und nicht auf seinen menschlichen Eigenschaften von Liebe und Vernunft oder auf seinen künstlerischen Fähigkeiten. Glücklichsein heißt immer neuere und bessere Waren konsumieren, sich Musik, Filme, Vergnügen, Sex, Alkohol und Zigaretten einverleiben. Da er kein Selbst-Gefühl besitzt außer dem, das die Übereinstimmung mit der Mehrheit geben kann, ist er unsicher, ängstlich und von der Billigung anderer abhängig. Er ist sich selbst entfremdet, er verehrt das Erzeugnis seiner eigenen Hände, die Führergestalten, die er selbst geschaffen hat, so als ob sie über ihm stünden und nicht seine Geschöpfe wären. In gewissem Sinn ist er wieder dorthin zurückgekehrt, wo er sich vor der großen menschlichen Entwicklung befand, die im zweiten Jahrtausend vor Christus begann.

Der Mensch ist nicht mehr fähig zu lieben und seine Vernunft zu gebrauchen oder Entscheidungen zu treffen, ja er ist unfähig, den Wert des Lebens zu erkennen, und ist daher willens und bereit, alles zu zerstören. Die Welt ist wieder zersplittert, sie hat ihre Einheit verloren. Der Mensch verehrt wieder vielerlei Dinge mit dem einzigen Unterschied, dass sie jetzt von ihm hergestellt und nicht mehr ein Teil der Natur sind.

Das neue Zeitalter begann mit der Idee der Initiative des Individuums. Die Entdecker der neuen Welten und Seewege im sechzehnten und Siebzehnten Jahrhundert, die Pioniere der Wissenschaft, die Begründer neuer Philosophien, die Staatsmänner und Philosophen der großen englischen, französischen und amerikanischen Revolutionen und schließlich die Industriepioniere, ja sogar die modernen Raubritter - sie alle bewiesen eine bewundernswerte individuelle Initiative. Aber mit der Bürokratisierung und dem Managertum des Kapitalismus verschwindet gerade die individuelle Initiative. Die Bürokratie besitzt nur wenig Initiative, das entspricht ihrer Natur: Auch Automaten besitzen sie nicht. Der Ruf nach der individuellen Initiative als einem Argument, das für den Kapitalismus sprechen soll, ist bestenfalls eine nostalgische Sehnsucht und schlimmstenfalls ein heuchlerisches Schlagwort, das gegen jene Reformpläne eingesetzt wird, die sich auf die Idee von einer echt humanen, individuellen Initiative gründen. Die moderne Gesellschaft ist von der Idealvorstellung ausgegangen, eine Kultur zu schaffen, die die Bedürfnisse der Menschen erfüllt. Ihr Ideal war die Harmonie zwischen den individuellen Bedürfnissen und den Bedürfnissen der Gesellschaft, das Ende des Konfliktes zwischen der menschlichen Natur und der Gesellschaftsordnung. Man glaubte, dieses Ziel auf zweierlei Weise erreichen zu können: durch eine verbesserte Technik der Produktion, die es ermöglichen sollte, einen jeden ausreichend zu ernähren, und durch ein vernünftiges, objektives Bild vom Menschen und seinen wirklichen Bedürfnissen. Mit anderen Worten: Es war das Ziel des modernen Menschen, sich um eine gesunde Gesellschaft zu bemühen. Genauer gesagt, handelt es sich um eine Gesellschaft, deren Mitglieder ihre Vernunft bis zu einer solchen Objektivität entwickelt haben, die es ihnen ermöglicht, sich selbst, die anderen und die Natur in ihrer wahren Wirklichkeit zu sehen und nicht verzerrt durch ein infantiles [IV-250] Gefühl der Allwissenheit oder einen paranoiden Hass. Es handelt sich um eine Gesellschaft, deren Mitglieder ihre Unabhängigkeit so weit entwickelt haben, dass sie den Unterschied zwischen Gut und Böse erkennen können, dass sie ihre eigene Entscheidung treffen können, dass sie Überzeugungen und nicht nur Meinungen haben und einen Glauben besitzen statt abergläubische Vorstellungen und nebelhafte Hoffnungen. Es handelt sich um eine Gesellschaft, deren Mitglieder die Fähigkeit entwickelt haben, ihre Kinder, ihre Nachbarn einschließlich sich selbst und die ganze Natur zu lieben; die sich mit allen eins fühlen und sich trotzdem das Gefühl für ihre Individualität und Integrität erhalten haben, die durch ihre schöpferische Tätigkeit, und nicht indem sie etwas zerstören, über die Natur hinauswachsen.

Bisher haben wir versagt. Wir haben den Abgrund nicht überbrückt zwischen einer Minderheit, die diese Ziele erkannt hat und danach zu leben versucht, und der Mehrheit, die sich psychisch noch in der Steinzeit, mitten im Totemismus, in der Götzenverehrung und im Feudalismus befindet. Wird die Majorität sich zur seelischen und geistigen Gesundheit bekehren lassen - oder wird sie die größten Entdeckungen der menschlichen Vernunft zu ihren eigenen unvernünftigen, ja irrsinnigen Zwecken benutzen? Werden wir eine Vision von einem guten, gesunden Leben zustande bringen, welche die Lebenskräfte all jener wachrütteln wird, die Angst haben voranzuschreiten? Diesmal befindet sich die Menschheit an einem Scheideweg, an dem ein falscher Schritt der letzte Schritt sein könnte.

Um die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts haben sich zwei gesellschaftliche Kolosse entwickelt, die aus Angst voreinander ihre Sicherheit in einer ständig wachsenden militärischen Aufrüstung suchen. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sind wohlhabender; ihr Lebensstandard ist höher, sie sind stärker am Komfort und am Vergnügen interessiert als ihre Rivalen, die Sowjetunion und deren Satelliten und China. Beide Rivalen behaupten, ihr System werde der Menschheit das Heil bringen, es garantiere ihnen das Paradies der Zukunft. Beide behaupten, der Gegner repräsentiere das genaue Gegenteil, und sein System müsse über kurz oder lang ausgerottet werden, wenn die Menschheit gerettet werden solle. Beide Rivalen sprechen im Sinn der Ideale des Neunzehnten Jahrhunderts - der Westen im Namen der Ideen der Französischen Revolution von Freiheit, Vernunft und Individualismus, der Osten im Namen der sozialistischen Ideen von Solidarität und Gleichheit. Beiden Parteien gelingt es, die Phantasie und fanatische Anhängerschaft von Hunderten von Millionen zu gewinnen.

Es besteht heute ein entscheidender Unterschied zwischen diesen beiden Systemen. In der westlichen Welt steht es einem jeden frei, seine Kritik am bestehenden System zu äußern. In der Welt der Sowjetunion wird jede Kritik und jede Äußerung abweichender Ideen mit brutaler Gewalt unterdrückt. Daher trägt die westliche Welt die Möglichkeit zu einer friedlichen progressiven Wandlung in sich, während in der Sowjetunion solche Möglichkeiten fast nicht existieren. In der westlichen Welt braucht der Einzelne keine Angst zu haben, eingekerkert und zu Tode gefoltert zu werden, womit jedes Mitglied der Sowjet-Gesellschaft zu rechnen hat, das nicht zum gut funktionierenden Automaten geworden ist. Tatsächlich war ja das Leben in der westlichen Welt - und es ist es selbst heute gelegentlich noch - reicher und fröhlicher, als es je [IV-251] zuvor in der Menschheitsgeschichte war. Das Leben unter dem Sowjetsystem kann niemals fröhlich sein; es kann das nirgends sein, wo der Henker hinter der Tür lauert.

Aber auch wenn man die ungeheuren Unterschiede zwischen dem freien Kapitalismus und dem heutigen autoritären Kommunismus nicht übersieht, so wäre es doch ein Zeichen von Kurzsichtigkeit, wenn man die Ähnlichkeiten besonders im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung nicht erkennen würde. Beide Systeme gründen sich auf die Industrialisierung. Ihr Ziel ist eine ständige Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und des Wohlstandes. Beides sind Gesellschaften, die von einer Klasse von Managern und Berufspolitikern geleitet werden. Beide haben eine durch und durch materialistische Weltanschauung trotz der christlichen Ideologie im Westen und dem weltlichen Messianismus im Osten. Sie organisieren die Menschen in einem zentralisierten System, in großen Fabriken, in politischen Massenparteien. Jedermann ist nur ein Zahnrädchen in der Maschinerie und hat reibungslos zu funktionieren. Im Westen erreicht man das durch die Methode der psychologischen Konditionierung, durch Massensuggestion und finanzielle Anreize. Im Osten bedient man sich der gleichen Maßnahmen, doch kommt hier noch der Terror hinzu. Es ist aber anzunehmen, dass das Sowjetsystem sich umso weniger gezwungen sehen wird, den größten Teil seiner Bevölkerung auszubeuten, als seine Wirtschaft sich weiterentwickelt, und dass das System im gleichen Maß seinen Terror durch psychologische Manipulationsmethoden wird ersetzen können. Der Westen entwickelt sich schnell in Richtung auf Huxleys Brave New World, der Osten ist bereits Orwells 1984. Aber beide Systeme tendieren dazu zu konvergieren.

Welches sind demnach die Aussichten für die Zukunft? Die erste und vermutlich wahrscheinlichste Möglichkeit ist ein Atomkrieg. Höchstwahrscheinlich wird ein solcher Krieg zur Vernichtung der industriellen Zivilisation und zu einer Regression der Welt zum Zustand einer primitiven Ackerbaukultur führen. Oder, falls sich die Zerstörung doch nicht als so gründlich herausstellen sollte, wie viele Fachleute auf diesem Gebiet es annehmen, so wäre das unausweichliche Ergebnis, dass der Sieger die ganze Welt organisieren und beherrschen würde. Dies wäre aber nur möglich in einem zentralisierten Staat, der sich auf Gewalt gründet- und es würde kaum einen Unterschied ausmachen, ob sich der Regierungssitz in Moskau oder in Washington befände. Doch leider steht uns nicht einmal dann, wenn wir einen Krieg vermeiden können, eine leuchtende Zukunft in Aussicht. In der Entwicklung des Kapitalismus und des Kommunismus wird - soweit wir das für die nächsten fünfzig oder hundert Jahre voraussehen können - der Prozess der Automatisierung und Entfremdung weiter fortschreiten. Beide Systeme entwickeln sich zu Manager-Gesellschaften mit wohlgenährten und gut gekleideten Bewohnern, deren Wünsche befriedigt werden und die keine Wünsche haben, die man nicht befriedigen könnte. Es werden Automaten sein, die folgen, ohne dass man Gewalt anwenden müsste, die auch ohne Führer gelenkt werden, die Maschinen herstellen, die sich wie Menschen benehmen, und die Menschen produzieren, die sich wie Maschinen benehmen, Menschen, mit deren Vernunft es immer mehr abwärts geht, während ihre Intelligenz zunimmt, wodurch die gefährliche Situation entsteht, dass der Mensch über die größte materielle Macht verfügen wird, ohne die Weisheit zu besitzen, sie richtig anzuwenden. [IV-252]

Diese Entfremdung und Automatisierung führt zu einer immer schlimmeren seelischen Erkrankung. Das Leben besitzt keine Bedeutung mehr, es ist ohne Freude, ohne Glauben, ohne Realität. Jedermann ist „glücklich“ - nur fühlt er nichts, kann er nicht mehr vernünftig denken und kann er nicht mehr lieben.

Das Problem des Neunzehnten Jahrhunderts war, dass Gott tot ist; das Problem des Zwanzigsten Jahrhunderts ist, dass der Mensch tot ist. Im Neunzehnten Jahrhundert war Unmenschlichkeit gleichbedeutend mit Grausamkeit; im Zwanzigsten Jahrhundert bedeutet sie eine schizoide Selbstentfremdung. In der Vergangenheit bestand die Gefahr, dass der Mensch zum Sklaven wurde. Die Gefahr der Zukunft liegt darin, dass der Mensch zum Roboter wird. Allerdings rebellieren Roboter nicht. Aber angesichts der Natur des Menschen können Roboter nicht leben und innerlich gesund bleiben, sie werden zu „Golems“, sie werden ihre Welt und sich selbst zerstören, weil sie die Langeweile eines sinnlosen Lebens nicht länger ertragen können.

Die uns drohenden Gefahren sind der Krieg und das Robotertum. Welches ist die Alternative? Dass wir aus dem Trott, in dem wir uns bewegen, herauskommen und den nächsten Schritt tun zur Geburt und Selbstverwirklichung der Menschheit. Die erste Voraussetzung dafür ist die Beseitigung der Kriegsgefahr, die heute über uns allen schwebt und unseren Glauben und unsere Initiative lähmt. Wir müssen die Verantwortung für das Leben aller Menschen auf uns nehmen und auf internationaler Ebene das entwickeln, was alle großen Staaten im Inneren bereits verwirklicht haben, eine neue und gerechtere Verteilung der wirtschaftlichen Rohstoffquellen und des Reichtums. Dies muss schließlich zu bestimmten Formen internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Planung führen, zu einer Weltregierung in irgendeiner Form und zu einer völligen Abrüstung. Wir müssen die industrielle Methode beibehalten. Aber wir müssen die Arbeit und den Staat so dezentralisieren, dass sie wieder menschliche Proportionen bekommen, und wir dürfen die Zentralisierung nur soweit zulassen, wie es die industrielle Produktion erfordert. Auf wirtschaftlichem Gebiet brauchen wir das Mitbestimmungsrecht aller, die in einem Unternehmen arbeiten, um ihre aktive und verantwortungsbewusste Mitarbeit zu ermöglichen. Die neuen Formen für ein solches Mitbestimmungsrecht aller werden sich finden lassen. Im politischen Bereich sollte man wieder auf die Gemeindeversammlungen zurückgreifen, indem man Tausende von kleinen Gruppen mit persönlichem Kontakt gründet, die gut informiert sind, die diskutieren und deren Beschlussfassungen in einem neuen „Unterhaus“ miteinander in Einklang gebracht werden. In einer kulturellen Renaissance muss die handwerkliche Ausbildung der Jugendlichen mit der Erwachsenenbildung und mit einem neuen System von Volkskunst und weltlichen Ritualen im ganzen Volk kombiniert werden.

Unsere einzige Alternative zum drohenden Robotertum ist der humanistische kommunitäre Sozialismus. Dabei geht es nicht in erster Linie um die juristische Regelung der Besitzverhältnisse und auch nicht um die Aufteilung des Profits; es geht vielmehr um das Teilhaben an der Arbeit und am Erleben. Änderungen in den Besitzverhältnissen müssen in dem Maß vorgenommen werden, wie sie zur Schaffung der Werkgemeinschaft notwendig sind und verhüten helfen, dass die Motivation durch den Profit die Produktion in Bahnen leitet, die für die Gesellschaft schädlich sind. Die [IV-253] Einkommen müssen soweit einander angeglichen werden, dass sie einem jeden die Grundlage für ein menschenwürdiges Dasein geben, wodurch verhindert wird, dass die wirtschaftlichen Unterschiede dazu führen, dass die verschiedenen Gesellschaftsklassen das Leben auf völlig unterschiedliche Weise erleben. Dem Menschen muss sein übergeordneter Platz in der Gesellschaft wieder eingeräumt werden. Er darf nie Mittel und niemals ein Ding sein, das von anderen oder auch von ihm selbst benutzt wird. Der Ausnutzung des Menschen durch den Menschen muss ein Ende gemacht werden, und die Wirtschaft muss der Höherentwicklung des Menschen dienen. Das Kapital muss im Dienst der Arbeit, und die Dinge müssen im Dienst des Lebens stehen. Anstelle der ausbeuterischen und hortenden Orientierung, wie sie im Neunzehnten Jahrhundert herrschte, und der rezeptiven und Marketing-Orientierung, wie sie heute herrscht, muss die produktive Orientierung das Ziel sein, dem alle gesellschaftlichen Maßnahmen dienen.

Keine Neugestaltung darf gewaltsam herbeigeführt werden, und sie muss gleichzeitig im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich erfolgen. Änderungen, die sich auf einen Bereich beschränken, sind destruktiv in Bezug auf eine durchgreifende Änderung auf allen Gebieten. Genauso wie der primitive Mensch den Naturgewalten hilflos gegenüberstand, steht der moderne Mensch den sozialen und wirtschaftlichen Kräften, die er selbst entfesselt hat, hilflos gegenüber. Er betet das Werk seiner Hände an und beugt sich vor den neuen Götzen, schwört aber trotzdem weiter im Namen des Gottes, der ihm befohlen hat, alle Götzenbilder zu vernichten. Der Mensch kann sich vor den Folgen seines eigenen Wahnsinns nur dadurch schützen, dass er eine gesunde Gesellschaft schafft, die den Bedürfnissen des Menschen entspricht, jenen Bedürfnissen, die in den Bedingungen seiner Existenz begründet sind. Eine Gesellschaft, in der der Mensch zu seinen Mitmenschen liebend in Beziehung tritt, in der er die Bindungen an Blut und Boden durch die Bande der Brüderlichkeit und Solidarität ersetzt; eine Gesellschaft, die ihm die Möglichkeit gibt, durch schöpferische Arbeit die Natur zu transzendieren anstatt zu zerstören, in der jeder ein Selbstgefühl dadurch erwirbt, dass er sich als Subjekt seiner eigenen Kräfte erlebt und nicht durch die Anpassung an die Herde; eine Gesellschaft, in der der Mensch ein Orientierungssystem und eine Möglichkeit zur Hingabe besitzt, ohne die Wirklichkeit entstellen und Götzen verehren zu müssen.

Der Aufbau einer solchen Gesellschaft würde bedeuten, dass wir einen Schritt weiterkommen. Sie würde das Ende der „vormenschlichen“ Geschichte bedeuten, der Phase, in der der Mensch noch nicht voll menschlich geworden war. Sie wäre nicht das „Ende der Tage“, die „Vollendung“, der Zustand vollkommener Harmonie, in dem sich der Mensch nicht mehr Konflikten und Problemen gegenübersähe. Im Gegenteil ist es das Schicksal des Menschen, dass sein Dasein voller Widersprüche ist, die er lösen muss, ohne sie jemals lösen zu können. Wenn er das primitive Stadium des Menschenopfers überwunden hat - sei es in der ritualistischen Form der Azteken, sei es in der weltlichen Form des Krieges -, wenn er fähig geworden ist, seine Beziehung zur Natur vernünftig anstatt blindlings zu regeln, wenn die Dinge wirklich zu seinen Dienern geworden sind und aufhören, seine Götzen zu sein, dann wird er sich mit den echten menschlichen Konflikten und Problemen konfrontiert sehen. Er wird [IV-254] dann wagemutig, kühn, phantasievoll und fähig zum Leiden und zur Freude sein müssen, aber seine Kräfte werden dann im Dienst des Lebens und nicht im Dienst des Todes stehen. Die neue Phase der Menschheitsgeschichte wird - wenn es dazu kommt - ein neuer Beginn und kein Ende sein.

Der heutige Mensch steht vor der entscheidenden Wahl, nicht zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern zwischen dem Robotertum (sowohl von der kapitalistischen wie auch von der kommunistischen Art) und dem humanistischen kommunitären Sozialismus. Das meiste scheint darauf hinzuweisen, dass er sich für das Robotertum entscheiden wird, und das bedeutet auf die Dauer inneren Zerfall und Zerstörung. Und doch reichen alle diese Tatsachen nicht aus, den Glauben an die Vernunft des Menschen, an seinen guten Willen und seine innere Gesundheit zu zerstören. Solange wir uns noch Alternativen ausdenken können, sind wir noch nicht verloren. Solange wir noch gemeinsam beraten und planen können, dürfen wir hoffen. Freilich werden die Schatten schon länger, und die Stimmen der Unvernunft werden lauter. Die Verwirklichung eines Zustands der Humanität, der den Visionen unserer großen Lehrer entspricht, liegt in unserer Reichweite, und trotzdem laufen wir Gefahr, unsere gesamte Zivilisation zu vernichten oder zu Robotern zu werden.[50] Die westliche Welt ist in einer Sackgasse. Sie hat viele ihrer ökonomischen Ziele erreicht und den Sinn für ein Ziel des Lebens verloren. Ohne solch ein Ziel, ohne eine Vision, die die gegebene Realität transzendiert, muss die westliche Gesellschaft, wie jede andere der Vergangenheit, ihre Vitalität und innere Kraft verlieren.

Heute sind die Dinge im Sattel und reiten den Menschen. Unsere Zukunft hängt davon ab, ob es dem Menschen - dem ganzen, schöpferischen Menschen - gelingt, sich in den Sattel zu setzen.

[1] [Anmerkung des Herausgebers: Erstveröffentlichung unter dem Titel The Sane Society, New York (Holt, Rinehart and Winston) 1955. Eine deutsche Übersetzung von Elisabeth Rotten erschien erstmals 1960 unter dem Titel Der moderne Mensch und seine Zukunft. Eine sozialpsychologische Untersuchung bei der Europäischen Verlagsanstalt, Frankfurt am Main. Eine neue Übersetzung von Liselotte und Ernst Mickel wurde anlässlich der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden angefertigt und erschien dort in Band IV unter dem Titel Wege aus einer kranken Gesellschaft erstmals 1980. Im Jahr 1982 wurde das Buch unter dem Titel Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung bei der Europäischen Verlagsanstalt veröffentlicht. - Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IV, S. 1-254. Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1955 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © E-Book Erich Fromm Gesamtausgabe 2016 by Rainer Funk.]

[2] [Anmerkung des Herausgebers: Die Veröffentlichung des Buches Wege aus einer kranken Gesellschaft im Jahr 1955 markiert eine wichtige Vertiefung im Denken und politischen Wirken von Erich Fromm: Der Charakter eines einzelnen Menschen, aber auch der Charakter vieler Menschen wird sich nur ändern, wenn sich die wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Lebenspraxis ändert, die die Gesellschafts-Charakterorientierung hervorbringt. In einer krank machenden Gesellschaft oder gar in einer kranken Gesellschaft werden die individuellen Bemühungen um eine produktive Charakterorientierung kaum Aussicht auf Erfolg haben, geht man mit Fromm davon aus, dass der Mensch ein Bezogenheitswesen ist und dass sein Bezogensein auf eine soziale Gruppe von existenzieller Bedeutung ist.

Die Frage, ob das gesellschaftliche Zusammenleben die psychische Produktivität fördert oder hemmt oder gar vereitelt, steht deshalb im Mittelpunkt dieses Buches und lässt Fromm nach alternativen Gesellschaftsentwürfen zur vorherrschenden kapitalistischen Gesellschaft fragen. Fromm belässt es aber nicht nur beim Fragen: Am Ende des Buches macht er erstmals ganz konkrete Vorschläge, wie eine „sane society“ (so der amerikanische Originaltitel), eine psychisch gesunde Gesellschaft gestaltet und organisiert sein müsste.

Wege aus einer kranken Gesellschaft ist nach Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 215-392) und Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 1-157) das dritte große Buch, das Fromm geschrieben hat. Er hat es in Mexiko konzipiert, also in kultureller Distanz zu den Vereinigten Staaten. Dieser Abstand zur kapitalistischen Gesellschaft sowie die Erfahrung anderer Kultur- und Gesellschaftsformen haben das Buch geprägt. Offensichtlich hat Fromm sehr viel Zeit auf dieses Buch verwandt, denn zwischen 1951 und 1955 sind keine nennenswerten anderen Publikationen zu verzeichnen.

Auch wenn Fromm von Mexiko aus schreibt, so hat er doch die amerikanische Gesellschaft im Auge. In einem Nachwort zur ersten deutschen Übersetzung dieses Buches betont er jedoch: „Es wäre aber ein großer Irrtum, wenn der Leser daraus schließen würde, dass dieses Buch sich in erster Linie mit der amerikanischen Gesellschaft befasst.“ Das vorliegende Buch untersucht den Charakter „des Menschen im modernen Kapitalismus, und diese wirtschaftliche Gesellschaftsform ist im Prinzip dieselbe in den Vereinigten Staaten wie in Europa. (...) Der Unterschied zwischen Amerika und Europa ist nicht in erster Linie ein Unterschied von zwei nationalen Kulturen, sondern zwischen zwei Entwicklungsstadien in der kapitalistischen Entwicklung. (...) Die so oft gehörte Meinung, Deutschland werde ‘amerikanisiert’, beruht auf einem Missverständnis. Deutschland bewegt sich in der gleichen Richtung der kapitalistischen Entwicklung wie Amerika, und die beiden Länder werden sich deshalb ähnlicher.“

Das Nachwort zur ersten deutschen Übersetzung zeigt auch an, dass Fromm einige Änderungen für die deutsche Ausgabe von The Sane Society vorgenommen hat. Diese beziehen sich auf den letzten Teil und auf sie wird in den Anmerkungen des Herausgebers hingewiesen.

Die wichtigsten Teile des Buches sind kurz zu erwähnen: Der Ausgangspunkt ist eine Konfrontation des kranken Menschen der Gegenwart mit seinen wahren Bedürfnissen. Die in Kapitel 3 (1955a, GA IV, S. 20-50) ausgeführte Bedürfnislehre findet sich in dieser Ausführlichkeit nirgends mehr sonst in den Schriften Fromms. (Eine Kurzfassung und auch Weiterentwicklung wird später das Buch Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 207-219 enthalten.) Fromms Lehre von den existenziellen psychischen Bedürfnissen ist der Versuch, von der conditio humana aus einen Zugang zum Menschen als Gesellschaftswesen zu finden, ohne auf einen metaphysischen oder naturalistischen Begriff vom Menschen zu rekurrieren, noch einer positivistischen Setzung des so oder so geprägten Menschen als Menschen das Wort zu reden. Die Tatsache spezifisch menschlicher Bedürfnisse und die Notwendigkeit ihrer Befriedigung ist die Basis eines normativen Humanismus, der den Versuch unternimmt, das, was seelische Gesundheit in der jeweiligen Gesellschaft heißt, zu formulieren. Für die gesamte Wertungsfrage „krank-gesund“ beim Einzelnen wie bei der Gesellschaft ist das knappe 4. Kapitel mit dem Titel „Seelische Gesundheit und Gesellschaft“ (1955a, GA IV, S. 51-58) von besonderer Bedeutung.

Ein zweiter Schwerpunkt des Buches liegt in der Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft, vor allem hinsichtlich der charakterologischen Wandlungen vom Kapitalismus des Siebzehnten bis Neunzehnten Jahrhunderts bis zum Marketing-Charakter des gegenwärtigen Menschen. In diesem Kapitel ist auch Fromms Begriff der Entfremdung ausführlich dargestellt. Tatsächlich hatte sich Fromm Anfang der Fünfziger Jahre intensiv damit beschäftigt, den bei Hegel und Marx zentralen Begriff der „Entfremdung“ in seiner klinischen Relevanz zu erfassen und mit dem Konzept der „nicht-produktiven“ Charakterorientierung in Verbindung zu bringen. Von diesen Bemühungen zeugen auch die 1953 entstandenen Vorträge zur Pathologie der Normalität des heutigen Menschen, in denen Fromm „die Entfremdung als Krankheit des Menschen von heute“ beschreibt (vgl. E. Fromm, 1991e, GA XI, S. 239-257).

Der dritte Schwerpunkt liegt im Aufweis konkreter Wege zu einer „gesunden“ Gesellschaft. Diese Wege werden in einem Sozialismus besonderer Art, einem „humanistischen“ Sozialismus erkannt. Nach dem Vorbild der sogenannten „Werkgemeinschaften“ arbeitet Fromm Vorstellungen und Vorschläge eines kommunitären Sozialismus für die Gegenwart aus. Diese Vorstellungen übersetzte Fromm einige Jahre später in ein Programm der Sozialistischen Partei der Vereinigten Staaten (vgl. Den Vorrang hat der Mensch. Ein sozialistisches Manifest und Programm, 1960b, GA V, S. 19-41), griff sie dann erneut in Die Revolution der Hoffnung (1968a, GA IV, S. 330-364) auf, um sie noch einmal in Teil III seines Spätwerks Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (1976a, GA II, S. 393-414) in modifizierter Form darzustellen. Wie sehr es sich bei diesen Vorstellungen um Vorschläge handelt, zeigt sich auch darin, dass Fromm in allen drei genannten Büchern bei späteren Auflagen oder bei Übersetzungen zu diesen Ausführungen Änderungen getroffen hat, obwohl er ansonsten kaum inhaltliche Veränderungen an seinen Büchern vornimmt. (Auf solche Änderungen bzw. auf die ursprünglichen Fassungen wird in Anmerkungen des Herausgebers jeweils hingewiesen.)

Mit dem Buch Wege aus einer kranken Gesellschaft begann für Erich Fromm eine neue Phase seines politischen Engagements. Die Gesellschaftstheorie und Gesellschaftskritik führte zu einer direkten Einflussnahme auf die Innen- und vor allem auf die Außenpolitik der USA. Er trat (vorübergehend) der Sozialistischen Partei der Vereinigten Staaten bei und versuchte mit seinem sozialistischen Manifest und Programm (1960b, GA V, S. 19-41) diese neu auszurichten. Ein weiterer Schwerpunkt seines politischen Engagements war die Friedensbewegung; bereits 1957 engagierte er sich als Mitbegründer der größten amerikanischen Friedensbewegung mit dem bezeichnenden Namen „SANE“ (1961e, GA XI, S. 411 f.). Mit Nachdruck wandte er sich gegen die atomare Aufrüstung im Kalten Krieg und trat für eine konsequente Abrüstungspolitik ein (Gründe für eine einseitige Abrüstung, 1960c, GA V, S. 213-224). Sein Buch Es geht um den Menschen! Eine Untersuchung der Tatsachen und Fiktionen in der Außenpolitik (1961a, GA V, S. 43-197), das sich mit der amerikanischen Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion befasst, dient dem Ziel, den Argumenten für eine atomare Aufrüstung zum Zwecke der Abschreckung den Boden zu entziehen.]

[3] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. zur Frommschen Freud-Rezeption und Freud-Kritik seine Monographien: Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und Wirkung (1959a, GA VIII, S. 153-221) und Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, 259-362).]

[4] Die statistischen Angaben von Tabelle I und Tabelle II sind entnommen: erstens den Annual epidemiological and vital statistics 1939-1946, Part 1: Vital statistics and causes of death der Weltgesundheitsorganisation (Genf, S. 38-71); um eine größere Klarheit zu erreichen, habe ich diese Zahlen von der Gesamtbevölkerung auf die erwachsene Bevölkerung umgerechnet. Zum anderen habe ich sie den Epidemiological and vital statistics, Rep. 5 (S. 377) der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahre 1952 entnommen. Die Angaben der Tabelle III entstammen dem Ersten Sitzungsbericht des Unterausschusses für Alkoholismus im Sachverständigenausschuss für seelische Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation, Genf 1951.

[5] [Anmerkung des Herausgebers: Bei den Ausführungen in diesem Kapitel greift Fromm auf Überlegungen zurück, die er bereits 1944 in seinem Aufsatz Individuelle und gesellschaftliche Ursprünge der Neurose (1944a, GA XII, S. 123-129) entwickelt und in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 139-142weiter ausformuliert hatte.]

[6] Ich habe mit verschiedenen Klassen von nicht-graduierten College-Studenten folgendes Experiment gemacht: Ich sagte ihnen, sie sollten sich vorstellen, sie müssten drei Tage lang allein in ihrem Zimmer bleiben ohne Radio und ohne Unterhaltungslektüre, lediglich mit „guten“ Büchern, normalem Essen und allen anderen körperlichen Bequemlichkeiten versehen. Sie wurden aufgefordert, sich vorzustellen, wie sie wohl auf dieses Experiment reagieren würden. Die Reaktion von etwa 90 Prozent in jeder Gruppe bewegte sich von einem Gefühl akuter Panik bis zur Meinung, dass es ein höchst nervenaufreibendes Erlebnis wäre, über das man durch langes Schlafen, durch die Erledigung kleiner Aufgaben hinwegkommen könne, und dass man sicher ungeduldig darauf warten würde, dass man es überstanden habe. Nur eine kleine Minderheit meinte, sie würde sich dabei wohlfühlen und froh sein, einmal mit sich allein zu sein.

[7] In dieser Polarität sehe ich den eigentlichen Kern von Freuds Hypothese von der Existenz eines Lebens- und Todestriebs. Der Unterschied zu Freuds Theorie liegt darin, dass der vorwärtsdrängende und der retrogressive Impuls nicht die gleiche biologisch bedingte Stärke besitzen, sondern dass normalerweise der vorwärtsdrängende Lebenstrieb stärker ist und noch relativ an Stärke zunimmt, je mehr er wächst.

[8] [Anmerkung des Herausgebers: Diese verschiedenen Realisationsmöglichkeiten von Liebe hat Fromm in Die Kunst des Liebens (1956a, GA IX, S. 467 ff.) im einzelnen ausgeführt.]

[9] Diese Liebe empfindet das Kind gewöhnlich zuerst seinen Altersgenossen und nicht seinen Eltern gegenüber. Die angenehme Vorstellung, dass Kinder ihre Eltern „lieben“, bevor sie irgendjemanden sonst lieben, muss man unter die zahlreichen Illusionen rechnen, die dem Wunschdenken entstammen. Für ein Kind in diesem Alter sind Vater und Mutter mehr Objekte seiner Abhängigkeit und Furcht als seiner Liebe, die ihrer ganzen Natur nach sich auf Gleichheit und Unabhängigkeit gründet. Wenn wir die Liebe zu den Eltern von einer zärtlichen, aber passiven Anhänglichkeit an sie, von inzestuösen Bindungen und einer herkömmlichen oder furchtsamen Unterwerfung unterscheiden, dann entwickelt sie sich - wenn es überhaupt dazu kommt - erst in einem späteren Alter und nicht in der Kindheit, obwohl man ihre Anfänge - unter glücklichen Umständen - auch bereits in einem früheren Alter feststellen kann. (Die gleiche Ansicht vertritt in einer noch etwas schärferen Formulierung H. S. Sullivan in seinem Buch Interpersonal Theory of Psychiatry, 1953.) Viele Eltern sind jedoch nicht bereit, diese Tatsache zu akzeptieren und reagieren auf die ersten wirklichen Liebesbeziehungen ihres Kindes, indem sie sie entweder offen übelnehmen oder indem sie sich darüber lustig machen, was noch schlimmer ist. Ihre bewusste oder unbewusste Eifersucht ist eines der stärksten Hindernisse für die Entwicklung der Liebesfähigkeit des Kindes.

[10] Diese Formulierung widerspricht nicht der Feststellung, die ich in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 73) gemacht habe, dass die Destruktivität die Folge eines ungelebten Lebens sei. In der hier dargelegten Auffassung versuche ich genauer zu zeigen, welcher Aspekt des ungelebten Lebens zur Destruktivität führt. - [Anmerkung des Herausgebers: Der in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 232-239) entwickelte Begriff des „Verfallssyndroms“ führt die hier dargelegten Gedanken noch einen Schritt weiter.]

[11] [Anmerkung des Herausgebers: Die Kritik Fromms an Freuds Theorie des Ödipuskomplexes zieht sich durch sein gesamtes Werk hindurch, von dem zunächst verschollenen Aufsatz von 1937 (1992e, GA XI, S. 140-144 über den Beitrag Der Ödipuskomplex. Bemerkungen zum „Fall des kleinen Hans“ (1966k, GA VIII, S. 143-151 bis zu seinem Spätwerk Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 281-290.]

[12] Dieser Ausweg kommt zum Beispiel in Träumen zum Ausdruck, in denen der Träumende sich in einer Höhle befindet und Angst hat, darin zu ersticken, worauf er Geschlechtsverkehr mit seiner Mutter hat. Dies gibt ihm ein Gefühl der Erleichterung.

[13] Es ist interessant zu beobachten, wie diese beiden Aspekte der matriarchalischen Struktur von zwei gegensätzlichen Weltanschauungen während der letzten hundert Jahre aufgegriffen wurden. Die marxistische Schule begrüßte Bachofens Theorien mit großer Begeisterung, weil in der matriarchalischen Struktur das Element der Freiheit und Gleichheit enthalten ist. (Vgl. F. Engels, 1884.) Nachdem Bachofens Theorien viele Jahre lang kaum Beachtung gefunden hatten, griffen die Nazi-Philosophen sie mit der gleichen Begeisterung auf, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Sie fühlten sich von den irrationalen Bindungen an Blut und Boden angezogen, die den anderen Aspekt der matriarchalischen Struktur ausmachen, wie sie Bachofen darstellt.

[14] Diese negativen Aspekte sind nirgends klarer zum Ausdruck gebracht als in der Gestalt des Kreon in der Antigone des Aischylos. (Vgl. E. Fromm, Märchen, Mythen, Träume, 1951a, GA IX, S. 286-293.)

[15] In Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 93-101), habe ich den relativistischen Charakter von Freuds Konzeption des Über-Ichs erörtert und zwischen einem autoritären und einem humanistischen Gewissen unterschieden. Dabei ist letzteres die Stimme, die uns zu uns selbst zurückruft.

[16] Es ist interessant, das jeweilige Gewicht des väterlichen und des mütterlichen Prinzips in der jüdischen und der christlichen Gottesvorstellung zu verfolgen. Der Gott, der die Sintflut schickt, weil alle außer Noah böse sind, repräsentiert das väterliche Gewissen. Der Gott, der zu Jonas sagt: „Mir aber sollte es nicht leid sein um Ninive, die große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht einmal rechts und links unterscheiden können - und außerdem noch so viel Vieh?“ (Jon 4,11), spricht mit der Stimme der allverzeihenden Mutter. Die gleiche Polarität zwischen der väterlichen und der mütterlichen Funktion Gottes lässt sich auch deutlich in der weiteren Entwicklung der jüdischen wie auch der christlichen Religion, insbesondere in der Mystik feststellen.

[17] Während der Durchsicht des Manuskripts finde ich in Alfred Webers Der Dritte oder der Vierte Mensch (1943, S. 9 f.) ein Schema der historischen Entwicklung, das mit meinem eine gewisse Ähnlichkeit hat. Alfred Weber nimmt eine „chthonische Periode“ von 4 000 bis 1 200 v. Chr. an, die durch die Bindung von Ackerbau treibenden Völkern an den Boden gekennzeichnet war.

[18] Bei dieser unorthodoxen Datierung schließe ich mich L. Séjournee (1954) und ihren persönlichen Mitteilungen an.

[19] Die veränderte gesellschaftliche Rolle und Funktion des Christentums ging mit tiefgreifenden Veränderungen in seinem Geist einher: Die Kirche wurde zu einer hierarchischen Organisation. Die Betonung verschob sich immer mehr von der Erwartung der Wiederkehr Christi und der Errichtung eines neuen Reiches der Liebe und Gerechtigkeit auf die Tatsache seines historischen Auftretens und auf die apostolische Botschaft von der Erlösung des Menschen von der Erbsünde. Im Zusammenhang hiermit stand eine weitere Veränderung. Die ursprüngliche Auffassung von Christus entsprach dem adoptianischen Dogma, welches besagte, Gott habe den Menschen Jesus als seinen Sohn adoptiert, das heißt, dass ein armer, leidender Mensch ein Gott geworden war. In diesem Dogma hatten, die revolutionären Hoffnungen und Sehnsüchte der Armen und Niedergetretenen ihren religiösen Ausdruck gefunden. Ein Jahr, nachdem das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches erklärt worden war, wurde das Dogma, dass Gott und Jesus miteinander identisch, von gleichem Wesen seien und dass Gott nur im Menschen Fleisch geworden sei, offiziell anerkannt. In dieser neuen Auffassung war die revolutionäre Idee von der Erhebung des Menschen zu einem Gott ersetzt durch Gottes Akt der Liebe, zum Menschen sozusagen herabzusteigen und ihn so von seiner Verderbtheit zu erlösen (vgl. Die Entwicklung des Christusdogmas, 1930a, GA VI, S. 11-68).

[20] Der für das Frommsche Denken so zentrale sozial-psychoanalytische Ansatz, den er Anfang der Dreißiger Jahre und dann 1937 in einem (erst posthum veröffentlichten) Aufsatz (1992e, GA XI, S. 129-175) entwickelt hatte und der zum Konzept des Gesellschafts-Charakters führte (vgl. den Anhang Charakter und Gesellschaftsprozess in Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, GA I, S. 379-392, sowie den Beitrag Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur, 1949c, GA I, S. 207-214) werden in diesem Buch nochmals aufgegriffen, um schließlich in dem Buch Jenseits der Illusionen (1962a, GA IX, S. 85-95 in einem eigenen Kapitel zur Darstellung gebracht zu werden.

[21] Für die folgenden Ausführungen habe ich auf meine Abhandlung Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur (1949c, GA I, S. 207-214) zurückgegriffen. Meine Auffassung vom Gesellschafts-Charakter habe ich erstmals in Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie: Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus (1932a, GA I, S. 37-57) dargelegt. - [Anmerkung des Herausgebers: Allerdings sprach Fromm in diesem Aufsatz von 1932 noch nicht vom Gesellschafts-Charakter, sondern im Anschluss an die Freudsche Libidotheorie von der „libidinösen Struktur“ der Gesellschaft (1932a, GA I, S. 42). Erst in dem posthum veröffentlichten Aufsatz von 1937 spricht Fromm vom „sozial typischen Charakter“ (1992e, GA XI, S. 163) und schließlich im Anhang zu Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 379-392 vom „Gesellschafts-Charakter“ (social character).]

[22] In der Annahme, dass die Methoden der Kindererziehung schon an und für sich die Ursache für die Herausbildung einer Kultur seien, liegt die Schwäche der Methode, die Kardiner, Gorer und andere vertreten und deren Arbeiten sich in dieser Hinsicht auf orthodoxe Freudsche Prämissen gründen.

[23] Wir haben hier den gleichen Unterschied wie zwischen den physischen Bedürfnissen und solchen, die nicht in körperlichen Bedürfnissen wurzeln. Mein Verlangen nach Nahrung reguliert sich zum Beispiel selbst durch meine physiologische Organisation, und nur in pathologischen Fällen wird dieses Bedürfnis nicht durch einen physiologischen Sättigungspunkt reguliert. Ehrgeiz, Machtgelüste und dergleichen Begierden, die nicht in physiologischen Bedürfnissen des Organismus begründet sind, besitzen keine derartigen sich selbst regulierenden Mechanismen, weshalb sie ständig zunehmen und so gefährlich sind.

[24] Wie die Sowjetunion und Deutschland zeigen, kann die Flucht vor der Freiheit allerdings noch im zwanzigsten Jahrhundert die Form einer völligen Unterwerfung unter eine offene irrationale Autorität annehmen.

[25] Es muss hinzugefügt werden, dass diese Beschreibung hauptsächlich für den Mittelstand des Neunzehnten Jahrhunderts gilt. Der Arbeiter und der Bauer wiesen in vielen wesentlichen Aspekten Unterschiede auf. Es ist eines der für die Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert kennzeichnenden Merkmale, dass die Charakterunterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Klassen, besonders bei den Stadtbewohnern, fast völlig verschwunden sind.

[26] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Frage der Idolatrie vgl. auch die weiterführenden Gedanken in Fromms Buch Ihr werdet sein wie Gott (1966a, GA VI, S. 108-115 und das dort (S. 112] entwickelte Konzept einer „Idologie“, einer Wissenschaft von den Idolen.]

[27] Der Begriff der Entfremdung fällt nicht mehr mit dem der verschiedenen nicht-produktiven Charakter-Orientierungen (rezeptive, ausbeuterische, hortende, Marketing-Orientierung) zusammen. Entfremdung ist in jeder der genannten nicht-produktiven Orientierungen zu finden, doch hat sie eine besondere Affinität zur Marketing-Orientierung. Im gleichen Maß ist sie auch mit David Riesmans „außen-geleiteter Persönlichkeit“ verwandt, die zwar „aus der Marketing-Orientierung entwickelt“, aber in wesentlichen Punkten ein anderer Begriff ist. (Vgl. D. Riesman, 1950, S. 23.)

[28] In Freuds Vorstellung vom Lustprinzip und seinen pessimistischen Ansichten hinsichtlich des Überwiegens des Leidens über die Lust in der zivilisierten Gesellschaft ist der Einfluss der Benthamschen Kalkulationen festzustellen.

[29] Aus allen diesen Zahlen geht hervor, dass die protestantischen Länder weit höhere Selbstmordquoten aufweisen als die katholischen. Das kann auf mehrere Faktoren zurückgehen, die mit den Unterschieden zwischen der katholischen und der protestantischen Religion zusammenhängen, zum Beispiel auf den größeren Einfluss, den der Katholizismus auf das Leben seiner Anhänger hat, oder dass der Katholischen Kirche wirksamere Mittel zur Verfügung stehen, mit dem Schuldgefühl fertig zu werden usw. Aber man muss auch in Betracht ziehen, dass die protestantischen Länder diejenigen sind, in denen die kapitalistische Produktionsweise am weitesten fortgeschritten ist und daher den Charakter der Bevölkerung stärker geformt hat als in den katholischen Ländern, so dass der Unterschied zwischen den protestantischen und katholischen Ländern auch weitgehend dem Unterschied zwischen den verschiedenen Stadien in der Entwicklung des modernen Kapitalismus entspricht.

[30] [Anmerkung des Herausgebers: Die folgenden Sätze dieses Abschnitts und der nächste Abschnitt sind wörtlich in Fromms Die Kunst des Liebens (1956a, GA IX, S. 494 f.) übernommen worden.]

[31] [Anmerkung des Herausgebers: Zur gesamten Fragestellung vgl. auch Die Kunst des Liebens, besonders den Abschnitt zur Liebe zwischen Eltern und Kind (1956a, GA IX, S. 462-467.)]

[32] [Anmerkung des Herausgebers: Der Hinweis und die Ausführungen zu Albert Schweitzer sind in der ersten deutschen Fassung (1955a, Frankfurt 1960) nicht enthalten.]

[33] [Anmerkung des Herausgebers: Die wenig griffige englische Überschrift authoritarian idolatry wurde angesichts der weiteren Unterpunkte dieses Kapitels und der folgenden Ausführungen mit „Totalitarismus“ übersetzt.]

[34] [Anmerkung des Herausgebers: Zu Hitler und Stalin vgl. die ausführlichen Analysen in Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 335-393 bzw. S. 258-262).]

[35] Da der Bonus unter den Arbeitern und unter den Managern verteilt wird, möchte man gern wissen, wie viel von diesen Durchschnittszahlen sich auf die Löhne bezieht und wieviel davon den leitenden Angestellten und Managern zugute kommt, und ob außerdem die Zahlenangabe für die General Electric Co. nur für die Arbeiter oder auch für die höheren Angestellten gilt.

[36] Allerdings steht es doch in einer gewissen Beziehung dazu, denn die pro Aktie ausgezahlte Dividende stieg von zwei Dollar 1933 auf acht Dollar 1941 und ging seitdem auf einen Durchschnitt von sechs Dollar zurück.

[37] Im Council of Profit Sharing Industries (vgl. J. F. Lincoln, 1951) ist eine ganze Reihe von Unternehmen zusammengeschlossen, die ein mehr oder weniger radikales System der Gewinnbeteiligung praktizieren. Ihre Grundsätze lauten folgendermaßen:

„1. Der Rat versteht unter Gewinnbeteiligung jedes Verfahren, bei dem der Arbeitgeber an seine sämtlichen Arbeitnehmer zu ihrem regulären guten Einkommen noch laufend oder auch in Raten zusätzlich bestimmte Beträge auszahlt, deren Höhe nicht von der individuellen oder Gruppen-Leistung, sondern von der allgemeinen Geschäftslage abhängt.

2. Der Rat sieht im Menschen selbst den wesentlichen Faktor im Wirtschaftsleben. Ein freies Unternehmen muß einem jeden die Möglichkeit zu seiner größtmöglichen persönlichen Entfaltung geben.

3. Der Rat sieht in der allgemeinen Gewinnbeteiligung ein wesentliches Mittel, den Arbeitern ebenfalls Gelegenheit zu geben, auf Grund ihrer guten Zusammenarbeit mit dem Kapital und dem Management am Erfolg teilzuhaben.

4. Der Rat steht auf dem Standpunkt, dass die Gewinnbeteiligung nicht nur als Prinzip an sich völlig gerechtfertigt ist, sondern darüber hinaus eine gut geplante Gewinnbeteiligung das beste Mittel zur Förderung der Gruppenzusammenarbeit und Gruppenleistung ist.

5. Der Rat ist der Auffassung, dass eine vielen zugute kommende Gewinnbeteiligung die Wirtschaft stabilisieren hilft. Die Flexibilität sowohl in Bezug auf die finanziellen Vergütungen wie auch auf Preise und Gewinn bietet die beste Gewähr für eine rasche Anpassung an sich nach oben oder nach unten verändernde Bedingungen.

6. Der Rat vertritt die Ansicht, dass eine stabile Prosperität nur aufrecht erhalten werden kann, wenn zwischen Preisen, Löhnen und Gewinn eine faire Beziehung besteht. Er ist der Ansicht, dass - wenn unsere freie Wirtschaft am Leben erhalten werden soll - das Management als Treuhänder dafür sorgen muss, dass diese Beziehung erhalten bleibt.

7. Der Rat hält den echten Geist der Partnerschaft, der durch eine vernünftige Gewinnbeteiligung entsteht, für äußerst wichtig. Nur wenn dieser Geist sich weiter verbreitet, wird der Kampf in der Industrie aufhören. Ihre eigene Erfahrung hat die Mitglieder des Rates überzeugt, dass ein großer Teil der Arbeiterschaft diese Lösung mit erhöhter Leistung honorieren wird.

8. Der Rat hat sich zur Aufgabe gemacht, die Gewinnbeteiligung auf jede nur mögliche Weise zu erweitern. Im Übrigen sieht er darin kein Allheilmittel. Im Bereich der industriellen Beziehungen kann keine Politik und keine Planung Erfolg haben, wenn sie nicht richtig angewandt wird und wenn das Management nicht den aufrichtigen Wunsch hat, fair vorzugehen und an die Bedeutung, die Würde und Ansprechbarkeit des einzelnen glaubt.“

[38] Die sozialistische revolutionäre Partei in Russland bekannte sich zu einer Auffassung des Sozialismus, welche zahlreiche Elemente enthielt, die auch in den zuvor erwähnten sozialistischen Schulen, nicht aber im Marxismus, zu finden sind (vgl. I. N. Steinberg, 1953).

[39] Die von IBM gemachten Erfahrungen mit der Erweiterung des Arbeitsbereiches erbrachten ähnliche Ergebnisse. Wenn ein Arbeiter mehrere Handgriffe verrichtete, die zuvor unter mehreren Arbeitern verteilt gewesen waren, so dass er jetzt das Gefühl hatte, etwas zu leisten und eine Beziehung zu dem Produkt seiner Arbeit gewann, steigerte sich seine Leistung, und er ermüdete weniger rasch.

[40] Vgl. die im Public Opinion Index for Industry 1947 wiedergegebene Meinungsumfrage, zit. nach M. S. Viteles, 1953.

[41] M. S. Viteles, 1953, S. 61. - Unter der Überschrift „Der Niedergang des ‚ökonomischen’ Menschen“ kommt Viteles (M. S. Viteles, 1953, S. 58 f.) zu folgendem Schluss:

„Im allgemeinen sprechen die Resultate von Untersuchungen des oben erwähnten Typs für die Schlussfolgerungen, zu denen Mathewson bei seinen Beobachtungen in Fabriken und seinen Unterredungen mit Angehörigen der Werksleitung kam:

1. Die Leistungsbeschränkung bei der Arbeit ist eine weitverbreitete, tief eingewurzelte Gewohnheit der amerikanischen Arbeiterschaft.

2. Dem wissenschaftlichen Management ist es nicht gelungen, jenen Geist des Vertrauens zwischen den Kontrahenten von Arbeitsverträgen zu schaffen, der so viel zu der Entwicklung des guten Willens zwischen den Parteien bei Kaufverträgen beiträgt.

3. Nicht sorgfältig ausgeführte Arbeit und absichtliche Leistungsbeschränkung beim Arbeiten sind größere Probleme als Hetze bei der Arbeit und Überarbeitung. Die Bemühungen der Manager, die Arbeiter zum schnelleren Arbeiten zu veranlassen, werden durch deren Findigkeit in der Entwicklung restriktiver Praktiken vereitelt.
4. Die Manager waren mit der durchschnittlichen Stundenleistung so zufrieden, dass sie kaum darauf achteten, welchen Beitrag der einzelne Arbeiter zur erhöhten Produktion leistete oder auch nicht leistete. Bei den Versuchen zu einer Steigerung der Produktion wandte man die herkömmlichen und unwissenschaftlichen Methoden an, während die Arbeiter sich an ihre althergebrachten Praktiken des Selbstschutzes hielten, die älter sind als alle Zeitstudien, Bonuspläne und anderen Maßnahmen zur Produktionssteigerung.

5. Unabhängig von seinem vorhandenen oder nicht vorhandenen Leistungswillen hindern die täglichen Erfahrungen den Einzelnen oft daran, sich gute Arbeitsgewohnheiten zu erwerben.“

[42] In gleiche Richtung weisen die bei IBM durchgeführten Experimente mit der Erweiterung des Arbeitsbereiches, die hauptsächlich beweisen sollten, dass die Arbeiter zufriedener sind, wenn sie anstelle der extremen Arbeitsteilung und der sich daraus ergebenden Sinnentfremdung der Arbeit, mit Arbeiten beschäftigt werden, bei denen mehrere, bis dahin getrennte Handgriffe zu einer sinnvolleren Tätigkeit vereinigt werden. Außerdem haben R. Walker und R. H. Guest (1952) durch Versuche herausgefunden, dass die Automobilarbeiter eine Arbeitsmethode vorzogen, bei der sie wenigstens die Teile, die sie hergestellt hatten, zu sehen bekamen. Bei einem in der Harwood Manufactoring Co. durchgeführten Experiment führten demokratische Methoden und ein Mitbestimmungsrecht der Arbeiter in einer Versuchsgruppe zu einer vierzehnprozentigen Leistungssteigerung. (Vgl. M. S. Viteles, 1953, S. 164-167.) Eine Untersuchung von P. French jr. mit Nähmaschinenarbeitern berichtet von einer Leistungssteigerung um 18 Prozent als Folge einer verstärkten Mitbestimmung der Arbeiter an der Arbeitsplanung und an den zu treffenden Entscheidungen. (Vgl. J. R. P. French, 1950, S. 83-88.) Das gleiche Prinzip hat man während des Krieges in England angewandt, wo Piloten die Fabriken besuchten, um den Arbeitern zu erklären, wie ihre Erzeugnisse im Einsatz tatsächlich Verwendung fanden.

[43] Ich halte mich hier an die Beschreibung der Werkgemeinschaften in All Things Common von Claire Huchet-Bishop (1950). Ich halte dieses kluge und ideenreiche Werk für eines der aufschlussreichsten Bücher, die sich mit den psychologischen Problemen der industriellen Organisation und mit ihren zukünftigen Möglichkeiten befassen. - [Anmerkung des Herausgebers: Elisabeth Rotten, die The Sane Society 1960 erstmals ins Deutsche übersetzte, merkt zu dieser Stelle an: „Es sei gestattet, noch auf sehr aufschlussreiche deutschsprachige Publikationen über diese Bewegung aufmerksam zu machen: Zwei Mitarbeiter der Zeitschrift Der neue Bund, Monatsschrift für freiheitlichen Sozialismus und Organ des „Escherbund“ Zürich 45, sind 1946 auf die erste Kunde davon nach Valence gereist, um die Sache kennenzulernen. Der Bericht wurde in Heft 11/12, 1946 veröffentlicht, wurde stark verlangt und ist längst vergriffen. Auf Grund weiterer persönlicher Kontakte und Besuche gab die Schriftleitung noch zwei Sonderhefte über die Werkgemeinschaften heraus, in denen auch Eindrücke aus dem Kongress der Entente Communautaire 1952 in Lyon verwertet wurden: Zellen einer neuen Welt, 19. Jg. Nr. 1, 1953 und Was bleibt von der Communauté? 22. Jg. Nr. 4, April 1956. Um der Wichtigkeit der zu wenig bekannten Sache willen sei der Inhalt der beiden Sonderhefte hier angeführt:

-- 1953: Eugen Steinemann, Die Communauté de Travail Boimondau. Was ist eine Communauté de Travail? (Deutscher Text der 12 Grundsätze). Aus der „Morale Commune“ der Communauté Boimondau.

-- 1956: Eugen Steinemann, Communauté de Travail und Genossenschaft; Silvia Rusterholz, Stage in Boimondau; Eugen Steinemann, Literatur über die Communauté de Travail. (16 Buchtitel einschließlich der Schrift von Claire Huchet-Bishop und Zeitschriftenartikel und drei regelmäßige Publikationen, darunter die wichtigste: Communauté. Organe mensuel de l’Entente Communautaire (seit 1946 erscheinend, Paris 12e, 10, rue de Charenton)“.]

[44] Zu erwähnen sind auch die Bemühungen von A. Olivetti, auch in Italien eine kommunitäre Bewegung ins Leben zu rufen. Als Inhaber der größten Schreibmaschinenfabrik in Italien hat er nicht nur sein Werk nach den fortschrittlichsten Methoden aufgebaut, sondern er hat auch einen regelrechten Plan ausgearbeitet, wie man ein Unternehmen in einer Föderation von Gemeinschaften organisieren könnte, die sich auf christliche und sozialistische Ideen gründen. (Vgl. A. Olivetti, 1946.) Olivetti hat auch damit angefangen, in verschiedenen italienischen Städten Gemeinschaftszentren zu gründen. Der Hauptunterschied zu den oben erwähnten Gemeinschaften besteht jedoch einerseits darin, dass er sein eigenes Unternehmen nicht in eine Werkgemeinschaft umgewandelt hat, was offenbar deshalb unmöglich war, weil Olivetti nicht Alleinbesitzer ist, und außerdem darin, dass Olivetti auch spezielle Pläne entworfen hat, wie man die gesamte Gesellschaft neu organisieren könnte, dass er also mehr Wert legt auf ein spezifisches Bild der gesellschaftlichen und politischen Struktur, als dies bisher bei den Gemeinschaften der kommunitären Bewegung der Fall war.

[45] [Anmerkung des Herausgebers: Den folgenden Absatz hat Fromm in die deutsche Version eingefügt.]

[46] Vgl. hierzu die Gedanken von G. Friedmann in seiner klugen und anregenden Untersuchung Machine et humanisme (1946, bes. S. 371 ff.). Alfred Weber, einer der größten Meister der Soziologie und eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten unserer Zeit, kommt in seinem tiefgründigen Werk Der Dritte oder der Vierte Mensch (1943) zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen. Er betont die Notwendigkeit einer gemeinsamen Betriebsleitung durch die Arbeiter und Angestellten, einer Aufteilung der Großunternehmen in kleinere Einheiten von optimaler Größe unter Abschaffung des Profitprinzips sowie die Einführung einer sozialistischen Form der Wettbewerbswirtschaft. Äußere Veränderungen werden jedoch nicht ausreichen: „Wir brauchen eine neue menschliche Kristallisation“ (A. Weber, 1943, S. 91).

[47] [Anmerkung des Herausgebers: Den folgenden Absatz hat Fromm in die deutsche Version eingefügt.]

[48] [Anmerkung des Herausgebers: Zu dem hier von Fromm erstmals aufgegriffenen Vorschlag eines garantierten jährlichen Mindesteinkommens vgl. auch seine Ausführungen in Die Revolution der Hoffnung (1968a, GA IV, S. 234-236) sowie seinen Aufsatz Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle (1966c, GA V, S. 309-316).]

[49] [Anmerkung des Herausgebers: Der folgende Satz wurde erst in die deutsche Version eingefügt.]

[50] [Anmerkung des Herausgebers: Für die deutsche Übersetzung hat Erich Fromm den Schluss von hier an verändert. Die englische Originalausgabe endet mit dem Satz: Einem kleinen Stamm wurde vor Tausenden von Jahren gesagt: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben.“ (Dtn 30,19.) Vor diese Wahl sind auch wir gestellt.]

Die Kunst des Liebens

(The Art of Loving. An Inquiry into the Nature of Love)

(1956a)[1]

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Inhalt

Wer nichts weiß, liebt nichts.
Wer nichts tun kann, versteht nichts.
Wer nichts versteht, ist nichts wert.
Aber wer versteht,
der liebt, bemerkt und sieht auch...
Je mehr Erkenntnis einem Ding innewohnt,
desto größer ist die Liebe...
Wer meint, alle Früchte
würden gleichzeitig mit den Erdbeeren reif,
versteht nichts von den Trauben.
Paracelsus

Vorwort

Man darf von diesem Buch[2] keine simple Anleitung zur Kunst des Liebens erwarten; tut man es doch, wird man enttäuscht sein. Das Buch möchte ganz im Gegenteil zeigen, dass die Liebe kein Gefühl ist, dem sich jeder ohne Rücksicht auf den Grad der eigenen Reife nur einfach hinzugeben braucht. Ich möchte den Leser davon überzeugen, dass alle seine Versuche zu lieben fehlschlagen müssen, sofern er nicht aktiv[3] versucht, seine ganze Persönlichkeit zu entwickeln, und es ihm so gelingt, produktiv zu werden; ich möchte zeigen, dass es in der Liebe zu einem anderen Menschen überhaupt keine Erfüllung ohne die Liebe zum Nächsten, ohne wahre Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin geben kann. In einer Kultur, in der diese Eigenschaften rar geworden sind, wird die Fähigkeit zu lieben nur selten voll entwickelt. Jeder mag sich selbst die Frage stellen, wie viele wahrhaft liebende Menschen er kennt.

Dass die Aufgabe schwer ist, sollte uns jedoch nicht davon abhalten zu versuchen, uns die Schwierigkeiten klarzumachen und die Voraussetzungen, die man braucht, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Um die Sache nicht zu komplizieren, habe ich mich bemüht, in einer einfachen, klaren Sprache zu schreiben. Aus eben diesem Grunde habe ich auch möglichst wenig auf Fachliteratur verwiesen.

Für ein weiteres Problem habe ich allerdings keine voll befriedigende Lösung gefunden. Ich konnte es nicht immer vermeiden, Gedanken aus meinen früheren Veröffentlichungen zu wiederholen. Leser, die mit meinen Büchern, insbesondere mit Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 215-392), Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 1-157) und Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 1-254) vertraut sind, werden hier viele Gedanken wiederfinden. Trotzdem ist das vorliegende Buch keine Wiederholung. Es enthält viele neue Gedanken, und natürlich gewinnen Überlegungen, auch wenn sie bereits in anderen Zusammenhängen angestellt wurden, dadurch, dass sie sich alle auf ein einziges Thema - die Kunst des Liebens - konzentrieren, neue Perspektiven.

Erich Fromm

1. Ist Lieben eine Kunst?

Ist Lieben eine Kunst? Wenn es das ist, dann wird von dem, der diese Kunst beherrschen will, verlangt, dass er etwas weiß und dass er keine Mühe scheut. Oder ist die Liebe nur eine angenehme Empfindung, die man rein zufällig erfährt, etwas, was einem sozusagen „in den Schoß fällt“, wenn man Glück hat? Dieses kleine Buch geht davon aus, dass Lieben eine Kunst ist, obwohl die meisten Menschen heute zweifellos das Letztere annehmen.

Nicht als ob man meinte, die Liebe sei nicht wichtig. Die Menschen hungern geradezu danach; sie sehen sich unzählige Filme an, die von glücklichen oder unglücklichen Liebesgeschichten handeln, sie hören sich Hunderte von kitschigen Liebesliedern an - aber kaum einer nimmt an, dass man etwas tun muss, wenn man es lernen will zu lieben.

Diese merkwürdige Einstellung beruht auf verschiedenen Voraussetzungen, die einzeln oder auch gemeinsam dazu beitragen, dass sie sich am Leben halten kann. Die meisten Menschen sehen das Problem der Liebe in erster Linie als das Problem, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu können. Daher geht es für sie nur darum, wie man es erreicht, geliebt zu werden, wie man liebenswert wird. Um zu diesem Ziel zu gelangen, schlagen sie verschiedene Wege ein. Der eine, besonders von Männern verfolgte Weg ist der, so erfolgreich, so mächtig und reich zu sein, wie es die eigene gesellschaftliche Stellung möglich macht. Ein anderer, besonders von Frauen bevorzugter Weg ist der, durch Kosmetik, schöne Kleider und dergleichen möglichst attraktiv zu sein. Andere Mittel, die sowohl von Männern als auch von Frauen angewandt werden, sind angenehme Manieren, interessante Unterhaltung, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Gutmütigkeit. Viele dieser Mittel, sich liebenswert zu machen, sind die gleichen wie die, deren man sich bedient, um Erfolg zu haben, um „Freunde zu gewinnen“. Tatsächlich verstehen ja die meisten Menschen unseres Kulturkreises unter Liebenswürdigkeit eine Mischung aus Beliebtheit und Sex-Appeal.

Hinter der Einstellung, dass man nichts lernen müsse, um lieben zu können, steckt zweitens die Annahme, es gehe bei dem Problem der Liebe um ein Objekt und nicht um eine Fähigkeit. Viele Menschen meinen, zu lieben sei ganz einfach, schwierig sei [IX-441] es dagegen, den richtigen Partner zu finden, den man selbst lieben könne und von dem man geliebt werde. Diese Einstellung hat mehrere Ursachen, die mit der Entwicklung unserer modernen Gesellschaft zusammenhängen. Eine Ursache ist die starke Veränderung, die im zwanzigsten Jahrhundert bezüglich der Wahl des „Liebesobjektes“ eingetreten ist. Im Viktorianischen Zeitalter war die Liebe - wie in vielen traditionellen Kulturen - kein spontanes persönliches Erlebnis, das hinterher vielleicht zu einer Heirat führte. Ganz im Gegenteil: Ein Heiratsvertrag wurde entweder zwischen den beiden Familien oder von einem Heiratsvermittler oder auch ohne eine derartige Vermittlung abgeschlossen; der Abschluss erfolgte aufgrund gesellschaftlicher Erwägungen unter der Annahme, dass sich die Liebe nach der Heirat schon einstellen werde. In den letzten Generationen ist nun aber die Vorstellung von der romantischen Liebe in der westlichen Welt fast Allgemeingut geworden. Wenn in den Vereinigten Staaten auch Erwägungen herkömmlicher Art nicht völlig fehlen, so befinden sich doch die meisten auf der Suche nach der „romantischen Liebe“, nach einer persönlichen Liebeserfahrung, die dann zur Ehe führen sollte. Diese neue Auffassung von der Freiheit in der Liebe musste notwendigerweise die Bedeutung des Objektes der Liebe - im Gegensatz zu ihrer Funktion - noch verstärken.

In engem Zusammenhang hiermit steht ein weiterer charakteristischer Zug unserer heutigen Kultur. Unsere gesamte Kultur gründet sich auf die Lust am Kaufen, auf die Idee des für beide Seiten günstigen Tauschgeschäfts. Schaufenster anzusehen und sich alles, was man sich leisten kann, gegen bares Geld oder auf Raten kaufen zu können - in diesem Nervenkitzel liegt das Glück des modernen Menschen. Er (oder sie) sieht sich die Mitmenschen auf ähnliche Weise an. Der Mann ist hinter einem attraktiven jungen Mädchen und die Frau ist hinter einem attraktiven Mann her. Dabei wird unter „attraktiv“ ein Bündel netter Eigenschaften verstanden, die gerade beliebt und auf dem Personalmarkt gefragt sind. Was einen Menschen speziell attraktiv macht, hängt von der jeweiligen Mode ab - und zwar sowohl in körperlicher wie auch in geistiger Hinsicht. In den zwanziger Jahren galt ein junges Mädchen, das robust und sexy war und das zu trinken und zu rauchen wusste, als attraktiv; heute verlangt die Mode mehr Zurückhaltung und Häuslichkeit. Ende des neunzehnten und Anfang unseres Jahrhunderts musste der Mann ehrgeizig und aggressiv sein - heute muss er sozial und tolerant eingestellt sein, um als attraktiv zu gelten. Jedenfalls entwickelt sich das Gefühl der Verliebtheit gewöhnlich nur in Bezug auf solche menschlichen Werte, für die man selbst entsprechende Tauschobjekte zur Verfügung hat. Man will ein Geschäft machen; der erwünschte Gegenstand sollte vom Standpunkt seines gesellschaftlichen Wertes aus begehrenswert sein und gleichzeitig auch mich aufgrund meiner offenen und verborgenen Pluspunkte und Möglichkeiten begehrenswert finden. So verlieben sich zwei Menschen ineinander, wenn sie das Gefühl haben, das beste Objekt gefunden zu haben, das für sie in Anbetracht des eigenen Tauschwerts auf dem Markt erschwinglich ist. Genau wie beim Erwerb eines Grundstücks spielen auch bei diesem Geschäft oft noch entwicklungsfähige, verborgene Möglichkeiten eine beträchtliche Rolle. In einer Kultur, in der die Marketing-Orientierung[4] vorherrscht, in welcher der materielle Erfolg der höchste Wert ist, darf man sich kaum darüber wundern, dass sich auch die menschlichen Liebesbeziehungen nach den gleichen [IX-442] Tauschmethoden vollziehen, wie sie auf dem Waren- und Arbeitsmarkt herrschen.

Der dritte Irrtum, der zu der Annahme führt, das Lieben müsste nicht gelernt werden, beruht darauf, dass man das Anfangserlebnis, „sich zu verlieben“, mit dem permanenten Zustand „zu lieben“ verwechselt. Wenn zwei Menschen, die einander fremd waren - wie wir uns das ja alle sind -, plötzlich die trennende Wand zwischen sich zusammenbrechen lassen, wenn sie sich eng verbunden, wenn sie sich eins fühlen, so ist dieser Augenblick des Einsseins eine der freudigsten, erregendsten Erfahrungen im Leben. Besonders herrlich und wundervoll ist er für Menschen, die bisher abgesondert, isoliert und ohne Liebe gelebt haben. Dieses Wunder der plötzlichen innigen Vertrautheit wird oft dadurch erleichtert, dass es mit sexueller Anziehung und sexueller Vereinigung Hand in Hand geht oder durch sie ausgelöst wird. Freilich ist diese Art Liebe ihrem Wesen nach nicht von Dauer. Die beiden Menschen lernen einander immer besser kennen, und dabei verliert ihre Vertrautheit immer mehr den geheimnisvollen Charakter, bis ihr Streit, ihre Enttäuschungen, ihre gegenseitige Langeweile die anfängliche Begeisterung getötet haben. Anfangs freilich wissen sie das alles nicht und meinen, heftig verliebt und „verrückt“ nacheinander zu sein, sei der Beweis für die Intensität ihrer Liebe, während es vielleicht nur beweist, wie einsam sie vorher waren.

Diese Auffassung, nichts sei einfacher als zu lieben, herrscht noch immer vor, trotz der geradezu überwältigenden Gegenbeweise. Es gibt kaum eine Aktivität, kaum ein Unterfangen, das mit so ungeheuren Hoffnungen und Erwartungen begonnen wurde und das mit einer solchen Regelmäßigkeit fehlschlägt wie die Liebe. Wäre das auf irgendeinem anderen Gebiet der Fall, so würde man alles daransetzen, die Gründe für den Fehlschlag herauszufinden und in Erfahrung zu bringen, wie man es besser machen könnte - oder man würde es aufgeben. Da letzteres im Falle der Liebe unmöglich ist, scheint es doch nur einen richtigen Weg zu geben, um ein Scheitern zu vermeiden: die Ursachen für dieses Scheitern herauszufinden und außerdem zu untersuchen, was „lieben“ eigentlich bedeutet.

Der erste Schritt auf diesem Wege ist, sich klarzumachen, dass Lieben eine Kunst[5] ist, genauso wie Leben eine Kunst ist; wenn wir lernen wollen zu lieben, müssen wir genauso vorgehen, wie wir das tun würden, wenn wir irgendeine andere Kunst, zum Beispiel Musik, Malerei, das Tischlerhandwerk oder die Kunst der Medizin oder der Technik lernen wollten.

Welches sind die notwendigen Schritte, um eine Kunst zu erlernen?

Man kann den Lernprozess in zwei Teile aufteilen: Man muss einerseits die Theorie und andererseits die Praxis beherrschen. Will ich die Kunst der Medizin erlernen, so muss ich zunächst die Fakten über den menschlichen Körper und über die verschiedenen Krankheiten wissen. Wenn ich mir diese theoretischen Kenntnisse erworben habe, bin ich aber in der Kunst der Medizin noch keineswegs kompetent. Ich werde erst nach einer langen Praxis zu einem Meister in dieser Kunst, erst dann, wenn schließlich die Ergebnisse meines theoretischen Wissens und die Ergebnisse meiner praktischen Tätigkeit miteinander verschmelzen und ich zur Intuition gelange, die das Wesen der Meisterschaft in jeder Kunst ausmacht. Aber abgesehen von Theorie und [IX-443] Praxis muss noch ein dritter Faktor gegeben sein, wenn wir Meister in einer Kunst werden wollen: Die Meisterschaft in dieser Kunst muss uns mehr als alles andere am Herzen liegen; nichts auf der Welt darf uns wichtiger sein als diese Kunst. Das gilt für die Musik wie für die Medizin und die Tischlerei - und auch für die Liebe. Und hier haben wir vielleicht auch die Antwort auf unsere Frage, weshalb die Menschen unseres Kulturkreises diese Kunst nur so selten zu lernen versuchen, obwohl sie doch ganz offensichtlich daran scheitern: Trotz unserer tiefen Sehnsucht nach Liebe halten wir doch fast alles andere für wichtiger als diese: Erfolg, Prestige, Geld und Macht. Unsere gesamte Energie verwenden wir darauf zu lernen, wie wir diese Ziele erreichen, und wir bemühen uns so gut wie überhaupt nicht darum, die Kunst des Liebens zu erlernen.

Halten wir vielleicht nur das für der Mühe wert, womit wir Geld verdienen oder was unser Prestige erhöht, und ist die Liebe, die „nur“ unserer Seele nützt und die im modernen Sinne keinen Gewinn abwirft, ein Luxus, für den wir nicht viel Energie aufbringen dürfen? Wie dem auch sei, wir wollen uns im Folgenden mit der Kunst des Liebens beschäftigen und wollen dabei folgendermaßen vorgehen: Zunächst soll die Theorie der Liebe erörtert werden (was den größten Teil dieses Buches ausmachen wird), und an zweiter Stelle wollen wir uns mit der Praxis der Liebe beschäftigen - wenn sich auch hier (wie auf allen anderen Gebieten) nur wenig über die Praxis sagen lässt.

2. Die Theorie der Liebe

a) Liebe als Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz

Jede Theorie der Liebe muss mit einer Theorie des Menschen, der menschlichen Existenz beginnen. Wenn wir die Liebe - oder, besser gesagt, etwas der Liebe Ähnliches - auch bei Tieren finden, so sind doch deren Liebesbeziehungen hauptsächlich ein Bestandteil ihres Instinktapparats, während beim Menschen nur noch Überreste seiner Instinktausstattung zu beobachten sind. Das Wesentliche an der Existenz des Menschen ist ja, dass er sich über das Tierreich und seine instinktive Anpassung erhoben hat, dass er die Natur transzendiert hat, wenn er sie auch nie ganz verlässt. Er ist ein Teil von ihr und kann doch nicht in sie zurückkehren, nachdem er sich einmal von ihr losgerissen hat. Nachdem er einmal aus dem Paradies - dem Zustand des ursprünglichen Einsseins mit der Natur - vertrieben ist, verwehren ihm die Cherubim mit flammendem Schwert den Weg, wenn er je versuchen sollte, dorthin zurückzukehren. Der Mensch kann nur vorwärtsschreiten, indem er seine Vernunft entwickelt, indem er eine neue, eine menschliche Harmonie findet anstelle der vormenschlichen Harmonie, die unwiederbringlich verloren ist.

Mit der Geburt (der menschlichen Rasse wie auch des einzelnen Menschen) wird der Mensch aus einer Situation, die so unbedingt festgelegt war wie die Instinkte, in eine Situation hineingeschleudert, die nicht festgelegt, sondern ungewiss und offen ist. Nur in Bezug auf die Vergangenheit herrscht Gewissheit, und für die Zukunft ist nur der Tod gewiss.

Der Mensch ist mit Vernunft ausgestattet; er ist Leben, das sich seiner selbst bewusst ist. Er besitzt ein Bewusstsein seiner selbst, seiner Mitmenschen, seiner Vergangenheit und der Möglichkeiten seiner Zukunft. Dieses Bewusstsein seiner selbst als einer eigenständigen Größe, das Gewahrwerden dessen, dass er eine kurze Lebensspanne vor sich hat, dass er ohne seinen Willen geboren wurde und gegen seinen Willen sterben wird, dass er vor denen, die er liebt, sterben wird (oder sie vor ihm), dass er allein und abgesondert und den Kräften der Natur und der Gesellschaft hilflos ausgeliefert ist - all das macht seine abgesonderte, einsame Existenz zu einem unerträglichen Gefängnis. Er würde dem Wahnsinn verfallen, wenn er sich nicht aus diesem Gefängnis [IX-445] befreien könnte - wenn er nicht in irgendeiner Form seine Hände nach anderen Menschen ausstrecken und sich mit der Welt außerhalb seiner selbst vereinigen könnte.

Die Erfahrung dieses Abgetrenntseins erregt Angst, ja sie ist tatsächlich die Quelle aller Angst. Abgetrennt sein heißt abgeschnitten sein und ohne jede Möglichkeit, die eigenen Kräfte zu nutzen. Daher heißt abgetrennt sein hilflos sein, unfähig sein, die Welt - Dinge wie Menschen - mit eigenen Kräften zu erfassen; es heißt, dass die Welt über mich herfallen kann, ohne dass ich in der Lage bin, darauf zu reagieren. Daher ist das Abgetrenntsein eine Quelle intensiver Angst. Darüber hinaus erregt es Scham und Schuldgefühle. Diese Erfahrung von Schuld und Scham im Abgetrenntsein kommt in der biblischen Geschichte von Adam und Eva zum Ausdruck. Nachdem Adam und Eva vom „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ gegessen haben, nachdem sie ungehorsam waren (Gut und Böse gibt es nur, wenn die Freiheit zum Ungehorsam besteht), nachdem sie dadurch menschlich wurden, dass sie sich von der ursprünglichen animalischen Harmonie mit der Natur emanzipierten, also nach ihrer Geburt als menschliche Wesen, erkannten sie, „dass sie nackt waren“ (Gen 3,7) und schämten sich. Ist tatsächlich anzunehmen, dass ein so alter und elementarer Mythos wie dieser von der prüden Moral des neunzehnten Jahrhunderts erfüllt ist und dass wir darauf hingewiesen werden sollen, dass sie sich genierten, weil ihre Genitalien sichtbar waren? Das ist doch kaum denkbar, und wenn wir die Geschichte im viktorianischen Sinn verstehen, entgeht uns das, worauf es doch offenbar ankommt: Nachdem Mann und Frau sich ihrer selbst und ihres Partners bewusst geworden sind, sind sie sich auch ihrer Getrenntheit und Unterschiedlichkeit bewusst, insofern sie verschiedenen Geschlechts sind. Sie erkennen zwar ihre Getrenntheit, bleiben sich aber fremd, weil sie noch nicht gelernt haben, sich zu lieben. (Dies geht auch sehr klar daraus hervor, dass Adam sich verteidigt, indem er Eva anklagt, anstatt dass er versucht, sie zu verteidigen.) Das Bewusstsein der menschlichen Getrenntheit ohne die Wiedervereinigung durch die Liebe ist die Quelle der Scham. Und es ist gleichzeitig die Quelle von Schuldgefühl und Angst.

Das tiefste Bedürfnis des Menschen ist demnach, seine Abgetrenntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis seiner Einsamkeit herauszukommen. Ein absolutes Scheitern bei diesem Versuch führt zum Wahnsinn, weil das panische Entsetzen vor einer völligen Isolation nur dadurch zu überwinden ist, dass man sich so völlig von der Außenwelt zurückzieht, dass das Gefühl des Abgetrenntseins verschwindet, und zwar weil die Außenwelt, von der man abgetrennt ist, verschwunden ist.

Der Mensch sieht sich - zu allen Zeiten und in allen Kulturen - vor das Problem der Lösung der einen und immer gleichen Frage gestellt: wie er sein Abgetrenntsein überwinden, wie er zur Vereinigung gelangen, wie er sein eigenes einzelnes Leben transzendieren und das Einswerden[6] erreichen kann. Die Frage stellt sich dem Primitiven in seiner Höhle wie dem Nomaden, der seine Herde hütet, dem ägyptischen Bauern, dem phönizischen Händler, dem römischen Soldaten, dem mittelalterlichen Mönch, dem japanischen Samurai, dem modernen Büroangestellten und dem Fabrikarbeiter auf gleiche Weise. Es ist immer die gleiche Frage, denn sie entspringt dem gleichen Boden: der menschlichen Situation, den Bedingungen der menschlichen Existenz. Die Antwort jedoch ist nicht immer die gleiche. Die Frage kann mit der [IX-446] Verehrung von Tieren, mit Menschenopfern oder militärischen Eroberungen, mit einem üppigen Lebenswandel, mit asketischem Verzicht, mit besessenem Arbeitseifer, mit künstlerischem Schaffen, mit der Liebe zu Gott und mit der Liebe zum Menschen beantwortet werden. Es gibt zwar viele Antworten - sie machen zusammen die Geschichte der Menschheit aus -, aber ihre Zahl ist trotzdem nicht unendlich. Im Gegenteil entdeckt man, wenn man kleinere Unterschiede außer acht lässt, welche mehr an der Peripherie als im Zentrum liegen, dass nur eine begrenzte Zahl von Antworten gegeben worden sind und vom Menschen in seinen verschiedenen Kulturen auch nur gegeben werden konnten. Die Geschichte der Religion und der Philosophie ist die Geschichte dieser Antworten in ihrer Vielfalt wie auch in ihrer zahlenmäßigen Begrenzung.

Bis zu einem gewissen Grade hängen die Antworten vom Grad der Individuation ab, die der Mensch jeweils erreicht hat. Beim Kind ist das Ich noch wenig entwickelt. Es fühlt sich noch eins mit seiner Mutter und hat nicht das Gefühl des Getrenntseins, solange die Mutter in seiner Nähe ist. Sein Gefühl des Alleinseins wird durch die körperliche Gegenwart der Mutter, ihre Brust, ihre Haut aufgehoben. Nur in dem Maße, wie sich beim Kind das Gefühl des Getrenntseins und der Individualität entwickelt, genügt ihm die physische Gegenwart der Mutter nicht mehr, und es hat das Bedürfnis, sein Getrenntsein auf andere Weise zu überwinden.

Ähnlich fühlt sich auch die menschliche Rasse in ihrem Kindheitsstadium noch eins mit der Natur. Die Erde, die Tiere, die Pflanzen sind noch des Menschen Welt. Er identifiziert sich mit den Tieren, was darin zum Ausdruck kommt, dass er Tiermasken trägt und ein Totemtier oder Tiergötter verehrt. Aber je mehr sich die menschliche Rasse aus diesen primären Bindungen löst, umso mehr trennt sie sich von der Welt der Natur, umso intensiver wird ihr Bedürfnis, neue Mittel und Wege zu finden, um dem Getrenntsein zu entrinnen.

Eine Möglichkeit hierzu sind orgiastische Zustände der verschiedensten Art. Es kann sich dabei um autosuggestive Trancezustände handeln, bei denen manchmal Drogen zu Hilfe genommen werden. Viele Rituale primitiver Stämme bieten ein anschauliches Bild dieser Art, das Problem zu lösen. In einem vorübergehenden Zustand der Exaltation verschwindet die Außenwelt und damit auch das Gefühl, von ihr abgesondert zu sein. Werden diese Rituale gemeinsam praktiziert, so kommt das Erlebnis der Vereinigung mit der Gruppe hinzu, was die Wirkung noch erhöht. Eng verwandt mit dieser orgiastischen Lösung ist das sexuelle Erlebnis, das oft mit ihr Hand in Hand geht. Der sexuelle Orgasmus kann einen Zustand herbeiführen, der einem Trancezustand oder der Wirkung gewisser Drogen ähnlich ist. Zu vielen primitiven Ritualen gehören Riten gemeinsamer sexueller Orgien. Es scheint, dass der Mensch nach dem orgiastischen Erlebnis eine Zeitlang weiterleben kann, ohne allzu sehr unter seinem Abgetrenntsein zu leiden. Langsam nimmt dann die Spannung der Angst wieder zu, so dass sie durch die Wiederholung des Rituals wieder gemildert werden muss.

Solange diese orgiastischen Zustände in einem Stamm gemeinsam erlebt werden, erzeugen sie keine Angst und keine Schuldgefühle. Sich so zu verhalten ist richtig und sogar eine Tugend, weil alle es tun und weil es von den Medizinmännern und Priestern gebilligt und sogar verlangt wird; es besteht daher kein Grund für ein schlechtes [IX-447] Gewissen, kein Grund, sich zu schämen. Etwas völlig anderes ist es, wenn ein einzelner sich in einer Kultur, die diese gemeinsamen Riten aufgegeben hat, für eine solche Lösung entscheidet. Alkoholismus und Drogenabhängigkeit sind die entsprechenden Auswege für den einzelnen in einer nicht-orgiastischen Kultur. Im Gegensatz zu denen, die sich an der gesellschaftlich sanktionierten Lösungsmethode beteiligen, leiden derartige Einzelgänger an Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Sie versuchen zwar, ihrem Abgetrenntsein dadurch zu entrinnen, dass sie ihre Zuflucht zu Alkohol und Rauschgift nehmen, aber wenn das orgiastische Erlebnis vorüber ist, fühlen sie sich nur umso stärker isoliert und immer häufiger und intensiver dazu getrieben. Etwas anderes ist es, wenn jemand seine Zuflucht zum sexuellen Orgasmus nimmt. Bis zu einem gewissen Grade ist dieser eine natürliche und normale Art der Überwindung des Abgetrenntseins und eine Teillösung für das Problem der Isolation. Aber bei vielen, die es nicht fertigbringen, auf andere Weise aus ihrer Abgetrenntheit herauszufinden, übernimmt das Verlangen nach dem sexuellen Orgasmus eine Funktion, die sich nicht allzu sehr vom Alkoholismus und der Drogenabhängigkeit unterscheidet. Er wird zum verzweifelten Versuch, der durch das Abgetrenntsein erzeugten Angst zu entrinnen, und führt zu einem ständig wachsenden Gefühl des Abgetrenntseins, da der ohne Liebe vollzogene Sexualakt höchstens für den Augenblick die Kluft zwischen zwei menschlichen Wesen überbrücken kann.

Alle Formen der orgiastischen Vereinigung besitzen drei Merkmale: Sie sind intensiv, ja sogar gewalttätig; sie erfassen die Gesamtpersönlichkeit, den Geist und den Körper; und sie sind vorübergehend und müssen regelmäßig wiederholt werden.

Genau das Gegenteil gilt für jene Form der Vereinigung, welche bei weitem die häufigste Lösung ist, für die sich der Mensch in der Vergangenheit wie in der Gegenwart entschieden hat: die Vereinigung, die auf der Konformität mit der Gruppe beruht, mit ihren Sitten, Praktiken und Überzeugungen. Auch hier erkennen wir, dass eine beträchtliche Entwicklung stattgefunden hat.

In einer primitiven Gesellschaft ist die Gruppe klein; sie besteht aus jenen Menschen, mit welchen man Blut und Boden gemeinsam hat. In dem Maße, wie sich die Kultur weiterentwickelt, vergrößert sich die Gruppe; sie wird zur Bürgerschaft einer polis, zu den Bürgern eines großen Staates, zu den Mitgliedern einer Kirche. Selbst der ärmste Römer war stolz darauf, von sich sagen zu können: „civis Romanus sum“. Rom und das Römische Reich waren seine Familie, sein Zuhause, seine Welt. Auch in unserer heutigen Gesellschaft des Westens ist die Gemeinschaft mit der Gruppe der am häufigsten eingeschlagene Weg, die Abgetrenntheit zu überwinden. Es ist eine Vereinigung, in der das individuelle Selbst weitgehend aufgeht und bei der man sich zum Ziel setzt, der Herde anzugehören. Wenn ich so bin wie alle anderen, wenn ich keine Gefühle oder Gedanken habe, die mich von ihnen unterscheiden, wenn ich mich der Gruppe in meinen Gewohnheiten, meiner Kleidung und meinen Ideen anpasse, dann bin ich gerettet - gerettet vor der Angst erregenden Erfahrung des Alleinseins. Diktatorische Systeme wenden Drohungen und Terror an, um diese Konformität zu erreichen, die demokratischen Staaten bedienen sich zu diesem Zweck der Suggestion und der Propaganda. Ein großer Unterschied besteht allerdings zwischen diesen beiden Systemen: In Demokratien ist Nicht-Konformität möglich und fehlt auch keineswegs [IX-448] völlig; in den totalitären Systemen kann man höchstens von ein paar aus dem Rahmen fallenden Helden und Märtyrern erwarten, dass sie den Gehorsam verweigern. Aber trotz dieses Unterschiedes weisen auch die demokratischen Gesellschaften eine überaus starke Konformität auf. Das liegt daran, dass das Verlangen nach Vereinigung notwendig eine Antwort finden muss, und wenn sich keine andere oder bessere findet, so setzt sich die Herdenkonformität durch. Man kann die Angst, sich auch nur wenige Schritte abseits von der Herde zu befinden und anders zu sein, nur verstehen, wenn man erkennt, wie tief das Bedürfnis ist, nicht isoliert zu sein. Manchmal rationalisiert man die Furcht vor der Nicht-Konformität als Angst vor den praktischen Gefahren, die dem Nonkonformisten drohen könnten. Tatsächlich aber möchten die Leute in viel stärkerem Maß mit den anderen konform gehen, als sie - wenigstens in den westlichen Demokratien - dazu gezwungen werden.

Die meisten Menschen sind sich ihres Bedürfnisses nach Konformität nicht einmal bewusst. Sie leben in der Illusion, sie folgten nur ihren Ideen und Neigungen, sie seien Individualisten, sie seien aufgrund eigenen Denkens zu ihren Meinungen gelangt, und es sei reiner Zufall, dass sie in ihren Ideen mit der Majorität übereinstimmen. Im Konsensus aller sehen sie den Beweis für die Richtigkeit „ihrer“ Ideen. Den kleinen Rest eines Bedürfnisses nach Individualität, der ihnen geblieben ist, befriedigen sie, indem sie sich in Kleinigkeiten von den anderen zu unterscheiden suchen: die Anfangsbuchstaben ihres Namens auf dem Handkoffer oder dem Pullover, das Namensschildchen des Schalterbeamten oder die Zugehörigkeit zu verschiedenen Parteien oder Studentenverbindungen[7]. Solche Dinge dienen dazu, individuelle Unterschiede zu betonen. In dem Werbeslogan, dass etwas „anders ist als...“, kommt dieses Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden, zum Ausdruck. In Wirklichkeit gibt es kaum noch Unterschiede.

Die wachsende Neigung zum Ausmerzen von Unterschieden hängt eng zusammen mit dem Begriff der Gleichheit und der entsprechenden Erfahrung, wie er sich in den am weitesten fortgeschrittenen Industriegesellschaften entwickelt hat. Gleichheit im religiösen Sinne bedeutete, dass wir alle Gottes Kinder sind und alle an der gleichen menschlich-göttlichen Substanz teilhaben, dass wir alle eins sind. Sie bedeutete aber auch, dass gerade die Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen respektiert werden sollten: Wir sind zwar alle eins, aber jeder von uns ist zugleich ein einzigartiges Wesen, ein Kosmos für sich. Die Überzeugung von der Einzigartigkeit des Individuums drückt folgender Satz aus dem Talmud beispielhaft aus: „Wer ein einziges Leben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet; wer ein einziges Leben zerstört, hat damit gleichsam die ganze Welt zerstört.“ Auch in der westlichen Aufklärungsphilosophie galt Gleichheit als eine Bedingung für die Entwicklung von Individualität. Am klarsten hat dies Kant formuliert, als er sagte, kein Mensch dürfe einem anderen Mittel zum Zweck sein, und die Menschen seien sich daher insofern gleich, als sie alle Zweck und nur Zweck und niemals Mittel füreinander seien. Im Anschluss an die Ideen der Aufklärung haben sozialistische Denker verschiedener Schulen die Gleichheit als die Abschaffung der Ausbeutung bezeichnet, als das Ende der Verwendung des Menschen durch den Menschen ohne Rücksicht darauf, ob dies auf grausame oder „humane“ Weise geschieht. [IX-449]

In der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft hat sich die Bedeutung des Begriffs Gleichheit geändert. Man versteht heute darunter die Gleichheit von Automaten, von Menschen, die ihre Individualität verloren haben. Gleichheit bedeutet heute „Dasselbe-Sein“ und nicht mehr „Eins-Sein“. Es handelt sich um die Einförmigkeit von Abstraktionen, von Menschen, die den gleichen Job haben, die die gleichen Vergnügungen haben, die gleichen Zeitungen lesen und das Gleiche fühlen und denken. In dieser Hinsicht sollte man auch gewisse Errungenschaften, die im Allgemeinen als Zeichen unseres Fortschritts gepriesen werden, mit Skepsis betrachten, wie etwa die Gleichberechtigung der Frau. Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, dass ich nichts gegen die Gleichberechtigung habe; aber die positiven Seiten dieser Gleichheitstendenz dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier auch um die Tendenz zur Ausmerzung von Unterschieden handelt. Man erkauft sich die Gleichheit eben zu dem Preis, dass die Frauen gleichgestellt werden, weil sie sich nicht mehr von den Männern unterscheiden. Die These der Aufklärungsphilosophie, I’âme n’a pas de sexe (die Seele hat kein Geschlecht), gilt heute ganz allgemein. Die Polarität der Geschlechter ist im Verschwinden begriffen, und damit verschwindet auch die erotische Liebe, die auf dieser Polarität beruht. Männer und Frauen werden sich gleich und sind nicht mehr gleichberechtigt als entgegen gesetzte Pole. Die heutige Gesellschaft predigt das Ideal einer nicht-individualisierten Gleichheit, weil sie menschliche Atome braucht, die sich untereinander völlig gleichen, damit sie im Massenbetrieb glatt und reibungslos funktionieren, damit alle den gleichen Anweisungen folgen und jeder trotzdem überzeugt ist, das zu tun, was er will. Genauso wie die moderne Massenproduktion die Standardisierung der Erzeugnisse verlangt, so verlangt auch der gesellschaftliche Prozess die Standardisierung des Menschen, und diese Standardisierung nennt man dann „Gleichheit“.

Vereinigung durch Konformität vollzieht sich weder intensiv noch heftig; sie erfolgt ruhig, routinemäßig und bringt es eben deshalb oft nicht fertig, die Angst vor dem Abgetrenntsein zu mildern. Die Häufigkeit von Alkoholismus, Drogen, zwanghafter Sexualität und Selbstmord in der heutigen westlichen Gesellschaft sind Symptome für dieses relative Versagen der Herdenkonformität. Außerdem betrifft auch diese Lösung hauptsächlich den Geist und nicht den Körper und ist auch deshalb im Vergleich zu den orgiastischen Lösungen im Nachteil. Die Herdenkonformität besitzt nur den einen Vorteil, dass sie permanent und nicht nur kurzfristig ist. Der einzelne wird schon im Alter von drei oder vier Jahren in das Konformitätsmodell eingefügt und verliert dann niemals mehr den Kontakt mit der Herde. Selbst seine Beerdigung, die er als seine letzte große gesellschaftliche Veranstaltung vorausplant, entspricht genau dem Modell.

Aber nicht nur die Konformität dient dazu, die aus dem Abgetrenntsein entspringende Angst zu mildern, auch die Arbeits- und Vergnügungsroutine dient diesem Zweck. Der Mensch wird zu einer bloßen Nummer, zu einem Bestandteil der Arbeiterschaft oder der Bürokratie aus Verwaltungsangestellten und Managern. Er besitzt nur wenig eigene Initiative, seine Aufgaben sind ihm durch die Organisation der Arbeit vorgeschrieben; es besteht in dieser Hinsicht sogar kaum ein Unterschied zwischen denen oben auf der Leiter und denen, die unten stehen. Sie alle erledigen [IX-450] Aufgaben, die ihnen durch die Gesamtstruktur der Organisation vorgeschrieben sind, im vorgeschriebenen Tempo und in der vorgeschriebenen Weise. Selbst die Gefühle sind vorgeschrieben: Man hat fröhlich, tolerant, zuverlässig und ehrgeizig zu sein und mit jedem reibungslos auszukommen. Auch das Vergnügen ist in ähnlicher, wenn auch nicht ganz so drastischer Weise zur Routine geworden. Die Bücher werden von den Buchclubs, die Filme von den Filmverleihern und Kinobesitzern mit Hilfe der von ihnen finanzierten Werbeslogans ausgewählt und lanciert. Auch alles andere verläuft in der gleichen Weise: die sonntägliche Ausfahrt im eigenen Wagen, das Fernsehen, das Kartenspielen und die Partys. Von der Geburt bis zum Tod, von einem Montag zum anderen, von morgens bis abends ist alles, was man tut, vorgefertigte Routine. Wie sollte ein Mensch, der in diesem Routinenetz gefangen ist, nicht vergessen, dass er ein Mensch, ein einzigartiges Individuum ist, dem nur diese einzige Chance gegeben ist, dieses Leben mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen, mit seinem Kummer und seiner Angst, mit seiner Sehnsucht nach Liebe und seiner Furcht vor dem Nichts und dem Abgetrenntsein zu leben?

Eine dritte Möglichkeit, zu neuer Einheit zu gelangen, liegt in schöpferischem Tätigsein, sei es das eines Künstlers oder das eines Handwerkers. Bei jeder Art von schöpferischer Arbeit vereinigt sich der schöpferische Mensch mit seinem Material, das für ihn die Welt außerhalb seiner selbst repräsentiert. Ob ein Tischler einen Tisch oder ein Goldschmied ein Schmuckstück anfertigt, ob ein Bauer sein Kornfeld bestellt oder ein Maler ein Bild malt, bei jeder dieser schöpferischen Tätigkeiten wird der Schaffende eins mit seinem Werk, vereinigt sich der Mensch im Schaffensprozess mit der Welt. Dies gilt jedoch nur für die produktive Arbeit, für eine Arbeit also, bei der ich es bin, der plant, wirkt, und bei der ich das Resultat meiner Arbeit sehe.[8] Beim modernen Arbeitsprozess des Büroangestellten oder des Arbeiters am Fließband ist von dieser einenden Qualität der Arbeit nur noch wenig übriggeblieben. Der Arbeiter ist zu einem Anhängsel der Maschine oder der Organisation geworden. Er hat aufgehört, er selbst zu sein - daher gibt es für ihn keine Einheit mehr, sondern nur noch Konformität.

Die bei einer produktiven Arbeit erreichte Einheit ist nicht zwischenmenschlicher Art; die bei einer orgiastischen Vereinigung erreichte Einheit ist nur vorübergehend; die durch Konformität erreichte Einheit ist eine Pseudo-Einheit. Daher sind alle diese Lösungen nur Teillösungen für das Problem der Existenz. Eine voll befriedigende Antwort findet man nur in der zwischenmenschlichen Einheit, in der Vereinigung mit einem anderen Menschen, in der Liebe.

Dieser Wunsch nach einer zwischenmenschlichen Vereinigung ist das stärkste Streben im Menschen. Es ist seine fundamentalste Leidenschaft, es ist die Kraft, welche die menschliche Rasse, die Sippe, die Familie, die Gesellschaft zusammenhält. Gelingt diese Vereinigung nicht, so bedeutet das Wahnsinn oder Vernichtung - Selbstvernichtung oder Vernichtung anderer. Ohne Liebe könnte die Menschheit nicht einen Tag existieren. Wenn wir jedoch den Vollzug einer zwischenmenschlichen Einheit als „Liebe“ bezeichnen, geraten wir in ernste Schwierigkeiten. Zu einer Vereinigung kann man auf verschiedene Weise gelangen, und die Unterschiede sind nicht weniger bedeutsam als das, was die verschiedenen Formen der Liebe miteinander [IX-451] gemeinsam haben. Sollte man sie alle Liebe nennen? Oder sollte man das Wort „Liebe“ jener besonderen Art von Vereinigung vorbehalten, die von allen großen humanistischen Religionen und philosophischen Systemen der letzten viertausend Jahre der Geschichte des Westens und des Ostens als höchste Tugend angesehen wurde?

Wie bei allen semantischen Schwierigkeiten gibt es auch hier keine allgemeingültige Antwort. Wir müssen uns darüber klar werden, welche Art von Einheit wir meinen, wenn wir von Liebe sprechen. Beziehen wir uns auf jene Liebe, die ein reifer Mensch als Antwort auf das Existenzproblem gibt, oder sprechen wir von jenen unreifen Formen der Liebe, die man als symbiotische Vereinigung bezeichnen kann? Im Folgenden werde ich nur ersteres als Liebe bezeichnen; doch möchte ich zunächst über die symbiotische Verbindung sprechen.[9]

Die symbiotische Vereinigung besitzt ihr biologisches Modell in der Beziehung zwischen der schwangeren Mutter und dem Fötus. Sie sind zwei und doch eins. Sie „leben zusammen“ (Sym-biose), sie brauchen einander. Der Fötus ist ein Teil der Mutter und empfängt von ihr alles, was er braucht; die Mutter ist sozusagen seine Welt, sie füttert ihn, sie beschützt ihn, aber auch ihr eigenes Leben wird durch ihn bereichert. Bei der psychischen symbiotischen Vereinigung sind zwar die beiden Körper voneinander unabhängig, aber die gleiche Art von Bindung existiert auf der psychologischen Ebene.

Die passive Form der symbiotischen Vereinigung ist die Unterwerfung oder - wenn wir uns der klinischen Bezeichnung bedienen - der Masochismus. Der masochistische Mensch entrinnt dem unerträglichen Gefühl der Isolation und Abgetrenntheit dadurch, dass er sich zu einem untrennbaren Bestandteil einer anderen Person macht, die ihn lenkt, leitet und beschützt; sie ist sozusagen sein Leben, sie ist die Luft, die er atmet. Die Macht dessen, dem man sich unterwirft, ist aufgebläht, sei es nun ein Mensch oder ein Gott. Er ist alles, ich bin nichts, außer als ein Teil von ihm. Als ein Teil von ihm habe ich teil an seiner Größe, seiner Macht und Sicherheit. Der masochistisch Orientierte braucht selber keine Entschlüsse zu fassen, er braucht kein Risiko einzugehen. Er ist nie allein - aber er ist nicht unabhängig; er besitzt keine Integrität; er ist noch nicht ganz geboren. Im religiösen Kontext bezeichnet man den Gegenstand einer solchen Verehrung als Götzen; im weltlichen Kontext einer masochistischen Liebesbeziehung herrscht im Wesentlichen der gleiche Mechanismus, nämlich der des Götzendienstes. Die masochistische Beziehung kann mit körperlichem, sexuellem Begehren gekoppelt sein; in diesem Fall handelt es sich nicht nur um eine geistig-seelische Unterwerfung, sondern um eine, die den gesamten Körper mit betrifft. Es gibt eine masochistische Unterwerfung unter das Schicksal, unter eine Krankheit, unter rhythmische Musik, unter den durch Rauschgift oder durch Hypnose erzeugten orgiastischen Zustand - in jedem Fall verzichtet der Betreffende auf seine Integrität, macht er sich zum Instrument eines anderen Menschen oder eines Dings außerhalb seiner selbst. Er ist dann der Aufgabe enthoben, das Problem des Lebens durch produktives Tätigsein zu lösen.

Die aktive Form der symbiotischen Vereinigung ist die Beherrschung eines anderen Menschen oder - psychologisch ausgedrückt und analog zum Masochismus - Sadismus. Der sadistische Mensch möchte seiner Einsamkeit und seinem Gefühl, ein [IX-452] Gefangener zu sein, dadurch entrinnen, dass er einen anderen Menschen zu einem untrennbaren Bestandteil seiner selbst macht. Er bläht sich auf und vergrößert sich, indem er sich eine andere Person, die ihn verehrt, einverleibt.

Der Sadist ist von dem, der sich ihm unterwirft, ebenso abhängig wie dieser von ihm; keiner von beiden kann ohne den anderen leben. Der Unterschied liegt nur darin, dass der Sadist den anderen kommandiert, ausnutzt, verletzt und demütigt, während der Masochist sich kommandieren, ausnutzen, verletzen und demütigen lässt. Äußerlich gesehen ist das ein beträchtlicher Unterschied, aber in einem tieferen emotionalen Sinn ist der Unterschied nicht so groß wie das, was beide gemeinsam haben: Sie wollen Vereinigung ohne Integrität. Wer das begreift, wird sich nicht darüber wundern, dass ein und derselbe Mensch gewöhnlich sowohl auf sadistische wie auch auf masochistische Weise reagiert - meist verschiedenen Objekten gegenüber. Hitler zum Beispiel reagierte Menschen gegenüber vorwiegend auf sadistische Weise; dem Schicksal, der Geschichte, der „Vorsehung“ gegenüber benahm er sich dagegen wie ein Masochist. Sein Ende - der Selbstmord inmitten der allgemeinen Vernichtung - ist für ihn ebenso kennzeichnend wie sein Traum vom Erfolg, von der totalen Herrschaft. (Zum Problem Sadismus - Masochismus vgl. Die Furcht vor der Freiheit (1941a), GA I, S. 300-322.)

Im Gegensatz zur symbiotischen Vereinigung ist die reife Liebe eine Vereinigung, bei der die eigene Integrität und Individualität bewahrt bleibt. Liebe ist eine aktive Kraft im Menschen. Sie ist eine Kraft, welche die Wände niederreißt, die den Menschen von seinem Mitmenschen trennen, eine Kraft, die ihn mit anderen vereinigt. Die Liebe lässt ihn das Gefühl der Isolation und Abgetrenntheit überwinden und erlaubt ihm, trotzdem er selbst zu sein und seine Integrität zu behalten. In der Liebe kommt es zu dem Paradoxon, dass zwei Wesen eins werden und trotzdem zwei bleiben.

Wenn wir sagen, die Liebe sei eine Aktivität, so stehen wir einer Schwierigkeit gegenüber, die in der Mehrdeutigkeit des Wortes „Aktivität“ liegt. Unter Aktivität im modernen Sinn des Wortes versteht man gewöhnlich eine Tätigkeit, die durch Aufwand von Energie eine Änderung in einer bestehenden Situation herbeiführt. So betrachtet man jemanden als aktiv, wenn er geschäftlich tätig ist, wenn er Medizin studiert, am Fließband arbeitet, einen Tisch herstellt oder Sport treibt. Allen diesen Tätigkeiten ist gemeinsam, dass sie sich jeweils auf ein bestimmtes äußeres Ziel richten, welches man erreichen möchte. Nicht berücksichtigt wird dagegen die Motivation der Aktivität. Nehmen wir zum Beispiel einen Menschen, der sich durch ein tiefes Gefühl der Unsicherheit und Einsamkeit zu pausenlosem Arbeiten getrieben fühlt; oder einen anderen, den Ehrgeiz oder Geldgier treibt. In all diesen Fällen ist der Betreffende der Sklave einer Leidenschaft, und seine Aktivität ist in Wirklichkeit Passivität, weil er dazu getrieben wird. Er ist ein „Leidender“, er erfährt sich in der „Leideform“ (Passiv) und nicht in der „Tätigkeitsform“ (Aktiv); er ist kein „Tätiger“, er ist nicht selbst der „Akteur“. Im Gegensatz dazu hält man einen Menschen, der ruhig dasitzt, sich der Kontemplation hingibt und dabei keinen anderen Zweck und kein anderes Ziel im Auge hat, als sich selbst und sein Einssein mit der Welt zu erleben, für „passiv“, weil er nichts „tut“. In Wirklichkeit aber ist diese konzentrierte Meditation die höchste Aktivität, die es gibt, eine Aktivität der Seele, deren nur der innerlich freie, [IX-453] unabhängige Mensch fähig ist. Die eine Auffassung von Aktivität, nämlich unsere moderne, bezieht sich auf die Verwendung von Energie zur Erreichung äußerer Ziele; die andere bezieht sich auf die Verwendung der dem Menschen innewohnenden Kräfte ohne Rücksicht darauf, ob damit eine äußere Veränderung bewirkt wird oder nicht. Am klarsten hat Spinoza diese Auffassung von Aktivität formuliert. Bei den Affekten unterscheidet er zwischen aktiven und passiven Affekten, zwischen actiones und passiones. Wenn der Mensch aus einem aktiven Affekt heraus handelt, ist er frei, ist er Herr dieses Affekts; handelt er dagegen aus einem passiven Affekt heraus, so ist er ein Getriebener, das Objekt von Motivationen, deren er sich selbst nicht bewusst ist. So gelangt Spinoza zu der Feststellung, dass Tugend und Vermögen (= Macht, etwas zu bewirken) ein und dasselbe sind (Spinoza, 1966, Ethik, Teil IV, B. Begriffsbestimmung). Neid, Eifersucht, Ehrgeiz und jede Art von Gier sind passiones, die Liebe dagegen ist eine actio, die Betätigung eines menschlichen Vermögens, das nur in Freiheit und nie unter Zwang möglich ist.

Liebe ist eine Aktivität und kein passiver Affekt. Sie ist etwas, das man in sich selbst entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt. Ganz allgemein kann man den aktiven Charakter der Liebe so beschreiben, dass man sagt, sie ist in erster Linie ein Geben und nicht ein Empfangen.

Was heißt Geben? So einfach die Antwort auf diese Frage scheinen mag, ist sie doch tatsächlich doppelsinnig und ziemlich kompliziert. Das am meisten verbreitet Missverständnis besteht in der Annahme, Geben heißt etwas „aufgeben“, dessen man damit beraubt wird und das man zum Opfer bringt. Jemand, dessen Charakter sich noch nicht über das Stadium der rezeptiven, ausbeuterischen oder hortenden Orientierung hinausentwickelt hat, erfährt den Akt des Gebens auf diese Weise. Der Marketing-Charakter ist zwar bereit, etwas herzugeben, jedoch nur im Austausch für etwas anderes, das er empfängt; zu geben, ohne etwas zu empfangen, ist für ihn gleichbedeutend mit Betrogenwerden. (Zu den genannten Charakter-Orientierungen vgl. Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 44-56.) Menschen, die im Wesentlichen nicht-schöpferisch orientiert sind, empfinden das Geben als eine Verarmung. Die meisten Menschen dieses Typs weigern sich daher, etwas herzugeben. Manche machen aus dem Geben eine Tugend im Sinne eines Opfers. Sie haben das Gefühl, man sollte eben deshalb geben, weil es so schwerfällt; das Geben wird erst dadurch, dass sie bereit sind, ein Opfer zu bringen, für sie zur Tugend. Für sie bedeutet das Gebot „Geben ist seliger denn Nehmen“, dass es besser sei, Entbehrungen zu erleiden als Freude zu erfahren.

Für den produktiven Charakter hat das Geben eine ganz andere Bedeutung. Für ihn ist Geben höchster Ausdruck seines Vermögens. Gerade im Akt des Schenkens erlebe ich meine Stärke, meinen Reichtum, meine Macht. Dieses Erlebnis meiner gesteigerten Vitalität und Potenz erfüllt mich mit Freude. Ich erlebe mich selbst als überströmend, hergebend, lebendig und voll Freude. (Vgl. die Begriffsbestimmung von Freude als „Übergang des Menschen von geringerer zu größerer Vollkommenheit“ Bei Spinoza (Spinoza, 1966, Ethik, Teil III, Begriffsbestimmungen der Affekte.) Geben bereitet mehr Freude als Empfangen nicht deshalb, weil es ein Opfer ist, sondern weil im Akt des Schenkens die eigene Lebendigkeit zum Ausdruck kommt.

Es dürfte nicht schwerfallen, die Richtigkeit dieses Prinzips zu erkennen, wenn man [IX-454] verschiedene spezifische Phänomene daraufhin untersucht. Das elementarste Beispiel finden wir im Bereich der Sexualität. Der Höhepunkt der männlichen Sexualfunktion liegt im Akt des Gebens; der Mann gibt sich selbst, gibt sein Geschlechtsorgan der Frau. Im Augenblick des Orgasmus gibt er ihr seinen Samen. Er kann nicht anders, wenn er potent ist; wenn er nicht geben kann, ist er impotent. Bei der Frau handelt es sich um den gleichen Prozess, wenn er auch etwas komplexer abläuft. Auch sie gibt sich; sie öffnet die Tore zum Innersten ihrer Weiblichkeit; im Akt des Empfangens gibt sie. Wenn sie zu diesem Akt des Gebens nicht fähig ist, wenn sie nur empfangen kann, ist sie frigid. Bei ihr gibt es einen weiteren Akt des Gebens, nicht als Geliebte, sondern als Mutter. Sie gibt sich dann dem Kind, das in ihr wächst, sie gibt dem Säugling ihre Milch, sie gibt ihm ihre körperliche Wärme. Nicht zu geben, wäre schmerzlich für sie.

Im Bereich des Materiellen bedeutet geben reich zu sein. Nicht der ist reich, der viel hat, sondern der, welcher viel gibt. Der Hortende, der ständig Angst hat, etwas zu verlieren, ist psychologisch gesehen ein armer Habenichts, ganz gleich, wie viel er besitzt. Wer dagegen die Fähigkeit hat, anderen etwas von sich zu geben, ist reich. Er erfährt sich selbst als jemand, der anderen etwas von sich abgeben kann. Eigentlich hat nur der, der nichts als das Allernotwendigste zum Leben hat, keine Möglichkeit, sich damit eine Freude zu machen, dass er anderen materielle Dinge gibt. Aber die tägliche Erfahrung lehrt, dass es ebenso vom Charakter wie vom tatsächlichen Besitz abhängt, was jemand als sein Existenzminimum ansieht. Bekanntlich sind die Armen eher gewillt zu geben als die Reichen. Dennoch kann Armut, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreitet, es unmöglich machen zu geben, und sie ist dann nicht nur wegen der Entbehrungen, die sie unmittelbar verursacht, so erniedrigend, sondern auch, weil sie dem Armen die Freude des Gebens nicht erlaubt.

Der wichtigste Bereich des Gebens liegt jedoch nicht im Materiellen, sondern im zwischenmenschlichen Bereich. Was gibt ein Mensch dem anderen? Er gibt etwas von sich selbst, vom Kostbarsten, was er besitzt, er gibt etwas von seinem Leben. Das bedeutet nicht unbedingt, dass er sein Leben für den anderen opfert - sondern dass er ihm etwas von dem gibt, was in ihm lebendig ist; er gibt ihm etwas von seiner Freude, von seinem Interesse, von seinem Verständnis, von seinem Wissen, von seinem Humor, von seiner Traurigkeit - von allem, was in ihm lebendig ist. Indem er dem anderen auf diese Weise etwas von seinem Leben abgibt, bereichert er ihn, steigert er beim anderen das Gefühl des Lebendigseins und verstärkt damit dieses Gefühl des Lebendigseins auch in sich selbst. Er gibt nicht, um selbst etwas zu empfangen; das Geben ist an und für sich eine erlesene Freude. Indem er gibt, kann er nicht umhin, im anderen etwas zum Leben zu erwecken, und dieses zum Leben Erweckte strahlt zurück auf ihn; wenn jemand wahrhaft gibt, wird er ganz von selbst etwas zurück empfangen. Zum Geben gehört, dass es auch den anderen zum Geber macht, und beide haben ihre Freude an dem, was sie zum Leben erweckt haben. Im Akt des Gebens wird etwas geboren, und die beiden beteiligten Menschen sind dankbar für das Leben, das für sie beide geboren wurde. Für die Liebe insbesondere bedeutet dies: Die Liebe ist eine Macht, die Liebe erzeugt. Impotenz ist die Unfähigkeit, Liebe zu erzeugen. Marx hat diesem Gedanken sehr schönen Ausdruck verliehen, wenn er sagt:

Setze den [IX-455] Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluss auf andere Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen und zu der Natur muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, das heißt, wenn dein Lieben als Liebe nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch eine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück. (K. Marx, 1971, S. 301.)

Aber nicht nur in der Liebe bedeutet Geben Empfangen. Der Lehrer lernt von seinen Schülern, der Schauspieler wird von seinen Zuschauern angespornt, der Psychoanalytiker wird von seinen Patienten geheilt - vorausgesetzt, dass sie einander nicht wie leblose Gegenstände behandeln, sondern echt und schöpferisch zueinander in Beziehung treten.

Wir brauchen wohl nicht besonders darauf hinzuweisen, dass die Fähigkeit zur Liebe - wird Liebe als ein Akt des Gebens verstanden - von der Charakterentwicklung des Betreffenden abhängt. Sie setzt voraus, dass er bereits zu einer vorherrschend produktiven Orientierung gelangt ist; bei einer solchen Orientierung hat der Betreffende seine Abhängigkeit, sein narzisstisches Allmachtsgefühl, den Wunsch, andere auszubeuten, oder den Wunsch zu horten, überwunden; er glaubt an seine eigenen menschlichen Kräfte und hat den Mut, auf seine Kräfte zu vertrauen. In dem Maß, wie ihm diese Eigenschaften fehlen, hat er Angst sich hinzugeben - Angst zu lieben.

Die Liebe ist aber nicht nur ein Geben, ihr „aktiver“ Charakter zeigt sich auch darin, dass sie in allen ihren Formen stets folgende Grundelemente enthält: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor dem anderen und Erkenntnis.[10]

Dass zur Liebe Fürsorge gehört, zeigt sich am deutlichsten in der Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Keine Beteuerung ihrer Liebe käme uns aufrichtig vor, wenn sie es an Fürsorge für das Kind fehlen ließe, wenn sie versäumte, es zu ernähren, zu baden und für sein leibliches Wohl zu sorgen; und wir fühlen uns von ihrer Liebe beeindruckt, wenn wir sehen, wie sie für ihr Kind sorgt. Mit der Liebe zu Tieren und Blumen ist es nicht anders. Wenn eine Frau behauptet, sie liebe Blumen, und wir sehen dann, wie sie vergisst, sie zu gießen, dann glauben wir ihr ihre „Blumenliebe“ nicht. Liebe ist die tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben. Wo diese tätige Sorge fehlt, ist auch keine Liebe vorhanden. Dieses Element der Liebe ist besonders schön im Buch Jona beschrieben. Gott hat Jona aufgetragen, sich nach Ninive zu begeben und die Bewohner zu warnen, dass sie bestraft würden, wenn sie ihren schlimmen Lebenswandel nicht änderten. Jona versucht, sich dem Auftrag zu entziehen, weil er fürchtet, die Bewohner Ninives könnten bereuen und Gott würde ihnen dann vergeben. Er ist ein Mann mit einem starken Gefühl für Gesetz und Ordnung, aber ihm fehlt die Liebe. Doch bei seinem Versuch zu fliehen, findet er sich im Bauch des Walfisches wieder, was den Zustand der Isolation und Gefangenschaft symbolisiert, in den er durch seinen Mangel an Liebe und Solidarität geraten ist. Gott rettet ihn, und Jona geht nach Ninive. Er predigt den Bewohnern, was Gott ihm [IX-456] aufgetragen hat, und eben das, was er befürchtet hat, tritt ein: Die Bewohner Ninives bereuen ihre Sünden und bessern ihren Lebenswandel; Gott vergibt ihnen und beschließt, die Stadt nun doch nicht zu vernichten. Jona ist überaus ärgerlich und enttäuscht darüber. Er wollte, dass „Gerechtigkeit“ und nicht Gnade walten solle. Schließlich findet er einigen Trost im Schatten eines Baumes, den Gott für ihn wachsen ließ, um ihn vor der Sonne zu schützen. Aber als Gott den Baum verdorren lässt, ist Jona niedergeschlagen, und er beschwert sich bei Gott. „Darauf sagte der Herr: Dir ist es leid um den Rizinusstrauch, für den du nicht gearbeitet und den du nicht großgezogen hast. Über Nacht war er da, über Nacht ist er eingegangen. Mir aber sollte es nicht leid sein um Ninive, die große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht einmal rechts und links unterscheiden können - und außerdem noch so viel Vieh?“ (Jon 4,10 f.). Was Gott Jona antwortet, ist symbolisch zu verstehen. Er erklärt ihm, dass das Wesen der Liebe darin besteht, für etwas „zu arbeiten“ und „etwas aufzuziehen“, dass Liebe und Arbeit nicht voneinander zu trennen sind. Man liebt das, wofür man sich müht, und man müht sich für das, was man liebt.

Neben der Fürsorge gehört noch ein weiterer Aspekt zur Liebe: das Verantwortungsgefühl. Heute versteht man unter Verantwortungsgefühl häufig „Pflicht“, also etwas, das uns von außen auferlegt wird. Aber in seiner wahren Bedeutung ist das Verantwortungsgefühl etwas völlig Freiwilliges; es ist meine Antwort auf die ausgesprochenen oder auch unausgesprochenen Bedürfnisse eines anderen menschlichen Wesens. Sich für jemanden „verantwortlich“ zu fühlen, heißt fähig und bereit sein zu „antworten“. Jona fühlte sich für die Bewohner von Ninive nicht verantwortlich. Er hätte wie Kain fragen können: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9). Der liebende Mensch antwortet. Das Leben seines Bruders geht nicht nur diesen Bruder allein, sondern auch ihn an. Er fühlt sich für seine Mitmenschen genauso verantwortlich wie für sich selbst. Das Verantwortungsgefühl der Mutter für ihr Kind bezieht sich hauptsächlich auf ihre Fürsorge für dessen körperliche Bedürfnisse. Bei der Liebe zwischen Erwachsenen bezieht sich das Verantwortungsgefühl hauptsächlich auf die seelischen Bedürfnisse des anderen.

Das Verantwortungsgefühl könnte leicht dazu verleiten, den anderen beherrschen und ihn für sich besitzen zu wollen, wenn eine dritte Komponente der Liebe nicht hinzukommt: die Achtung vor dem anderen. Achtung hat nichts mit Furcht und nichts mit Ehrfurcht zu tun: Sie bezeichnet die Fähigkeit, jemanden so zu sehen, wie er ist, und seine einzigartige Individualität wahrzunehmen.[11] Achtung bezieht sich darauf, dass man ein echtes Interesse daran hat, dass der andere wachsen und sich entfalten kann. Daher impliziert Achtung das Fehlen von Ausbeutung. Ich will, dass der andere um seiner selbst willen und auf seine eigene Weise wächst und sich entfaltet und nicht mir zuliebe. Wenn ich den anderen wirklich liebe, fühle ich mich eins mit ihm, aber so, wie er wirklich ist, und nicht, wie ich ihn als Objekt zu meinem Gebrauch benötige. Es ist klar, - dass ich nur Achtung vor einem anderen haben kann, wenn ich selbst zur Unabhängigkeit gelangt bin, wenn ich ohne Krücken stehen und laufen kann und es daher nicht nötig habe, einen anderen auszubeuten. Achtung gibt es nur auf der Grundlage der Freiheit: L’amour est l’enfant de la liberté heißt es in einem alten [IX-457] französischen Lied. Die Liebe ist das Kind der Freiheit und niemals das der Beherrschung.

Achtung vor einem anderen ist nicht möglich ohne ein wirkliches Kennen des anderen. Fürsorge und Verantwortungsgefühl für einen anderen wären blind, wenn sie nicht von Erkenntnis[12] geleitet würden. Meine Erkenntnis wäre leer, wenn sie nicht von der Fürsorge für den anderen motiviert wäre. Es gibt viele Ebenen der Erkenntnis. Die Erkenntnis, die ein Aspekt der Liebe ist, bleibt nicht an der Oberfläche, sondern dringt zum Kern vor. Sie ist nur möglich, wenn ich mein eigenes Interesse transzendiere und den anderen so sehe, wie er wirklich ist. So kann ich zum Beispiel merken, dass jemand sich ärgert, selbst wenn er es nicht offen zeigt; aber ich kann ihn auch noch tiefer kennen, und dann weiß ich, dass er Angst hat und sich Sorgen macht, dass er sich einsam und schuldig fühlt. Dann weiß ich, dass sein Ärger nur die Manifestation von etwas ist, was tiefer liegt, und ich sehe in ihm dann den verängstigten und verwirrten, das heißt den leidenden und nicht den verärgerten Menschen.

Solche Erkenntnis steht noch in einer anderen, noch grundlegenderen Beziehung zum Problem der Liebe. Das Grundbedürfnis, sich mit einem anderen Menschen zu vereinigen, um auf diese Weise dem Kerker des eigenen Abgetrenntseins zu entrinnen, ist eng verwandt mit einem anderen spezifisch menschlichen Verlangen, nämlich dem, „das Geheimnis des Menschen“ zu ergründen. Das Leben ist nicht nur in seinen rein biologischen Aspekten ein Wunder und ein Geheimnis; der Mensch ist für sich und für seine Mitmenschen auch in seinen menschlichen Aspekten ein unergründliches Geheimnis. Wir kennen uns - und kennen uns doch auch wieder nicht, sosehr wir uns darum auch bemühen mögen. Wir kennen unseren Mitmenschen und kennen ihn doch auch wieder nicht, weil wir selbst kein Ding sind und weil unser Mitmensch ebenfalls kein Ding ist. Je weiter wir in die Tiefe unseres eigenen Seins oder das eines anderen Menschen hinabreichen, umso mehr entzieht sich uns das, was wir erkennen möchten. Trotzdem können wir den Wunsch nicht unterdrücken, in das Geheimnis der Seele des Menschen, in den innersten Kern seines wahren Wesens einzudringen.

Es gibt eine verzweifelte Möglichkeit, dies zu erreichen: Sie besteht darin, den anderen völlig in seine Gewalt zu bekommen, ihn mit Macht dazu zu bringen, das zu tun, was wir wollen, das zu fühlen, was wir wollen, das zu denken, was wir wollen, so dass er in ein Ding, in unseren Besitz verwandelt wird. Dieser äußerste Versuch, den anderen zu „erkennen“, ist bei extremen Formen des Sadismus gegeben, im Wunsch und in der Fähigkeit, ein menschliches Wesen leiden zu lassen, es zu quälen, es zu zwingen, in seinem Leiden sein Geheimnis preiszugeben. Dieses Verlangen, in das Geheimnis eines anderen Menschen und damit in das eigene Geheimnis einzudringen, ist im Wesentlichen die Motivation für die Tiefe und Intensität der Grausamkeit und Destruktivität. Isaac Babel hat diesen Gedanken prägnant zum Ausdruck gebracht. Er zitiert einen Offizierskameraden im Russischen Bürgerkrieg, der, nachdem er seinen früheren Herrn zu Tode getrampelt hatte, sagte: „Ich würde sagen, mit Schießen schafft man sich so einen Kerl nur vom Hals, (...) aber mit Schießen kommt man nicht an die Seele heran, wo die in dem Kerl ist und wie sie sich zeigt. Aber ich schon’ mich nicht und ich hab’ schon mehr als einmal auf einem Feind über eine Stunde lang [IX-458] herumgetrampelt. Weißt du, ich möchte herauskriegen, was das Leben wirklich ist, was das mit unserem Leben so auf sich hat“ (I. Babel, 1955).

Bei Kindern können wir oft beobachten, wie sie diesen Weg zur Erkenntnis ganz offen einschlagen. Das Kind nimmt etwas auseinander, es zerbricht es, um es kennenzulernen; oder es zerlegt ein Tier, es reißt grausam einem Schmetterling die Flügel aus, um ihn kennenzulernen, ihm sein Geheimnis gewaltsam zu entreißen. Die Grausamkeit selbst ist hier durch etwas Tieferes motiviert, durch den Wunsch, hinter das Geheimnis der Dinge und des Lebens zu kommen.

Der andere Weg, „das Geheimnis“ zu erkennen, ist die Liebe. Liebe ist ein aktives Eindringen in den andern, wobei das eigene Verlangen, ihn zu erkennen, durch die Vereinigung gestillt wird. Im Akt der Vereinigung erkenne ich dich, erkenne ich mich, erkenne ich alle die anderen, und ich „weiß“ doch nichts. Ich erkenne auf die einzige Weise, in welcher dem Menschen Erkenntnis des Lebendigen möglich ist: im Erleben von Einheit - und nicht aufgrund des Wissens, das mir mein Verstand vermittelt. Der Sadismus ist vom Verlangen motiviert, das Geheimnis zu durchschauen, doch bleibe ich dabei so unwissend wie zuvor. Ich habe den Anderen Glied um Glied auseinandergerissen, aber ich habe damit nur erreicht, ihn zu zerstören. Liebe ist der einzige Weg zur Erkenntnis, der im Akt der Vereinigung mein Verlangen stillt. Im Akt der Liebe, im Akt der Hingabe meiner selbst, im Akt des Eindringens in den anderen finde ich mich selbst, entdecke ich mich selbst, entdecke ich uns beide, entdecke ich den Menschen.

Das Verlangen, uns selbst und unseren Mitmenschen zu erkennen, drückt sich in der Inschrift des Apollo-Tempels in Delphi aus: „Erkenne dich selbst.“ Dieses Motto ist die treibende Kraft der gesamten Psychologie. Aber da in uns das Verlangen ist, alles über den Menschen zu wissen, sein innerstes Geheimnis zu kennen, kann dieses Verlangen durch die gewöhnliche Verstandeserkenntnis allein niemals gestillt werden. Selbst wenn wir tausendmal mehr über uns wüssten, kämen wir doch nie auf den Grund. Wir blieben uns immer ein Rätsel, wie auch unsere Mitmenschen uns immer ein Rätsel bleiben würden. Der einzige Weg zu ganzer Erkenntnis ist der Akt der Liebe: Dieser Akt transzendiert alles Denken und alle Worte. Es ist der kühne Sprung in das Erleben von Einheit. Freilich ist das gedankliche Wissen, das heißt die psychologische Erkenntnis, eine unentbehrliche Voraussetzung für die volle Erkenntnis im Akt der Liebe. Ich muss den anderen und mich selbst objektiv kennen, um sehen zu können, wie er wirklich ist - oder besser gesagt, um die Illusionen, das irrational entstellte Bild zu überwinden, das ich mir von ihm mache. Nur wenn ich einen anderen Menschen objektiv sehe, kann ich ihn im Akt der Liebe in seinem innersten Wesen erkennen. (Dies spielt bei der Bewertung der Psychologie in unserer heutigen westlichen Kultur eine wesentliche Rolle. Zwar spricht aus der großen Popularität der Psychologie zweifellos ein Interesse am Wissen um den Menschen, aber sie ist gleichzeitig ein Hinweis auf den grundsätzlichen Mangel an Liebe in den heutigen menschlichen Beziehungen. Das psychologische Erkennen wird zu einem Ersatz für das volle Erkennen im Akt der Liebe, anstatt nur ein Schritt zur Erkenntnis hin zu sein.)

Parallel zum Problem, den Menschen zu erkennen, gibt es das religiöse Problem, Gott zu erkennen. In der herkömmlichen westlichen Theologie wird versucht, Gott im [IX-459] Denken zu erkennen und Aussagen über Gott zu machen. Es wird angenommen, dass ich Gott durch Denken erkennen kann. Die Mystik, welche, wie ich später noch zeigen werde, die letzte Konsequenz des Monotheismus ist, gibt den Versuch auf, Gott gedanklich erfassen zu können. Stattdessen versucht sie zum Erlebnis der Einheit mit Gott zu gelangen, in der kein Platz mehr ist für ein Wissen über Gott und wo auch kein Bedürfnis mehr danach besteht.

Das Erlebnis der Vereinigung mit dem Menschen oder, religiös ausgedrückt, mit Gott ist keineswegs irrational. Es ist ganz im Gegenteil, wie Albert Schweitzer dargelegt hat, das Ergebnis des Rationalismus in seiner kühnsten und radikalsten Konsequenz. Es beruht auf unserem Wissen um die grundsätzlichen und nicht zufälligen Grenzen unserer Erkenntnis, auf unserem Wissen darum, dass wir das Geheimnis des Menschen und des Universums nie „begreifen“ werden, dass wir es aber trotzdem im Akt der Liebe „erkennen“ können. Die Psychologie als Wissenschaft hat ihre Grenzen, und wie die Mystik die logische Konsequenz der Theologie ist, so ist die letzte Konsequenz der Psychologie die Liebe.[13]

Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und Erkenntnis stehen miteinander in engem Zusammenhang. Sie bilden ein Syndrom von Einstellungen, die beim reifen Menschen zu finden sind, das heißt, bei einem Menschen, der seine eigenen Kräfte produktiv entwickelt hat, der nur das haben will, was er sich selbst erarbeitet hat, der seine narzisstischen Träume von Allwissenheit und Allmacht aufgegeben und die Demut erworben hat, die auf einer inneren Stärke beruht, wie sie nur echtes produktives Tätigsein geben kann.

Bisher habe ich von der Liebe nur als von der Überwindung des menschlichen Getrenntseins als der Erfüllung der Sehnsucht nach Einheit gesprochen. Aber über das universale, existentielle Bedürfnis nach Einheit hinaus gibt es noch ein spezifisch biologisches Bedürfnis: das Verlangen nach einer Vereinigung des männlichen und des weiblichen Pols. Dieser Gedanke der Vereinigung der beiden Pole kommt am eindrucksvollsten in dem Mythos zum Ausdruck, dass Mann und Frau ursprünglich eins waren, dass sie auseinandergeteilt wurden und dass seitdem jeder Mann seine verlorene weibliche Hälfte sucht, um sich aufs Neue mit ihr zu vereinigen. (Der gleiche Gedanke von der ursprünglichen Einheit der Geschlechter ist auch in der biblischen Geschichte enthalten, nach welcher Eva aus der Rippe Adams geschaffen wurde, wenn auch in dieser von einem patriarchalischen Geist erfüllten Geschichte die Frau als dem Manne untergeordnet erscheint.) Die Bedeutung des Mythos ist offensichtlich. Die sexuelle Polarisierung veranlasst den Menschen, eine Einheit spezieller Art zu suchen, nämlich die mit dem anderen Geschlecht. Die Polarität zwischen dem männlichen und dem weiblichen Prinzip besteht auch im Inneren eines jeden Mannes und im Inneren einer jeden Frau. Genauso wie im physiologischen Bereich Mann und Frau jeweils auch Hormone des anderen Geschlechts haben, sind sie auch im psychologischen Sinn bisexuell. Sie tragen beide das Prinzip des Empfangens und des Eindringens, der Materie und des Geistes in sich. Der Mann wie auch die Frau finden die Einheit in sich selbst nur in Gestalt der Vereinigung ihrer weiblichen und männlichen Polarität. Diese Polarität ist die Grundlage jeder Kreativität.

Die männlich-weibliche Polarität ist auch die Basis der zwischenmenschlichen [IX-460] Kreativität. Biologisch wird dies darin sichtbar, dass die Geburt eines Kindes auf der Vereinigung von Samen und Eizelle beruht. Aber auch im rein seelischen Bereich ist es nicht anders; in der Liebe zwischen Mann und Frau werden beide wiedergeboren. (Die homosexuelle Abweichung von der Norm entsteht dadurch, dass diese polarisierte Vereinigung nicht zustande kommt und dass der Homosexuelle hierdurch unter dem Schmerz der nicht aufgehobenen Getrenntheit leidet, wobei es sich übrigens um ein Unvermögen handelt, das er mit dem durchschnittlich heterosexuell Veranlagten, der nicht lieben kann, teilt.)

Die gleiche Polarität des männlichen und weiblichen Prinzips gibt es auch in der Natur, in der Polarität der beiden fundamentalen Funktionen des Empfangens und des Eindringens. Es ist die Polarität von Erde und Regen, von Fluss und Meer, von Nacht und Tag, von Dunkelheit und Licht, von Materie und Geist. Der moslemische Dichter und Mystiker Rumi hat dies besonders schön ausgedrückt.

Wahrlich nie sucht der Liebende, ohne von der Geliebten gesucht zu werden.
Hat der Blitz der Liebe dieses Herz getroffen, so wisse, dass auch jenes Herz voll Liebe ist.
Wächst die Liebe zu Gott in deinem Herzen, so wirst auch du ohne Zweifel von Gott geliebt.
Kein Händeklatschen ertönt nur von einer Hand ohne die andere.
Göttliche Weisheit und Gottes Ratschluss macht, dass wir einander lieben.
Durch diese Vorbestimmung ist jeder Teil der Welt mit seinem Gefährten gepaart. Nach Ansicht der Weisen ist der Himmel der Mann und die Erde die Frau: Die Erde zieht auf, was vom Himmel herabfällt.
Fehlt der Erde die Wärme, so schickt sie der Himmel; geht ihr Frische und Nässe verloren, so versorgt sie der Himmel aufs Neue.
Der Himmel geht seinen Lauf wie der Gatte, der nach Nahrung sucht für sein Weib; Und die Erde widmet sich eifrig häuslichen Pflichten: Sie hilft bei der Geburt und nährt, was sie gebiert.
Siehe, auch Erde und Himmel sind mit Verstand begabt, verrichten sie doch das Werk verständiger Wesen.
Fände der eine nicht Gefallen am andern, weshalb hingen sie dann wie Liebende aneinander?
Wie sollten Blumen und Bäume blühen ohne die Erde? Was würde ohne sie Wasser und Wärme des Himmels erzeugen?
So wie Gott in Mann und Frau das Verlangen gepflanzt hat, auf dass die Welt erhalten bliebe durch ihre Vereinigung,
so hat Er auch jedem Teil der Welt das Verlangen nach einem anderen Teil dieser Welt eingepflanzt.
Feinde sind Tag und Nacht von außen gesehen, doch dienen sie beide demselben Zweck:
Beide lieben einander, um gemeinsam ihr Werk zu vollenden.
Ohne die Nacht würde des Menschen Natur nichts empfangen, so dass der Tag nichts mehr zum Ausgeben hätte. (R. A. Nicholson, 1950, S. 122 f.)

Das Problem der männlich-weiblichen Polarität führt zu weiteren Erörterungen über das Thema Liebe und Sexualität. Ich erwähnte bereits, dass Freud sich irrte, als er in der Liebe ausschließlich den Ausdruck oder die Sublimierung des Sexualtriebs sah und nicht erkannte, dass das sexuelle Verlangen nur ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Liebe und Einheit ist. Aber Freuds Irrtum reicht noch tiefer. In Übereinstimmung mit seinem physiologischen Materialismus sieht er im Sexualtrieb das Resultat einer im Körper auf chemischem Weg erzeugten Spannung, die schmerzhaft empfunden wird und daher nach Entspannung sucht. Ziel des sexuellen Verlangens ist die Beseitigung dieser quälenden Spannung; die sexuelle Befriedigung liegt in dieser Spannungsbeseitigung. Diese Ansicht ist insoweit richtig, als das sexuelle Verlangen sich in ähnlicher Weise auswirkt wie Hunger und Durst, wenn dem Organismus zuwenig Nahrung zugeführt wird. Der Sexualtrieb ist nach dieser Auffassung eine Art Juckreiz, die sexuelle Befriedigung ist die Beseitigung dieses Juckreizes. Bei einer solchen Auffassung der Sexualität wäre die Masturbation tatsächlich die ideale sexuelle Befriedigung. Was Freud paradoxerweise dabei übersieht, ist der psychologisch-biologische Aspekt der Sexualität, die männlich-weibliche Polarität und das Verlangen, diese Polarität durch die Vereinigung zu überbrücken. Dieser merkwürdige Irrtum wurde vermutlich durch Freuds extrem patriarchalische Einstellung begünstigt, die ihn zu der Annahme verleitete, die Sexualität sei an und für sich männlich, so dass er die weibliche Sexualität außer acht ließ. Er brachte diesen Gedanken in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (S. Freud, 1905d, S. 120-122) zum Ausdruck, wo er sagt, die Libido habe regelmäßig „einen männlichen Charakter“ ungeachtet der Tatsache, ob es sich um die Libido bei einem Mann oder bei einer Frau handele. Der gleiche Gedanke kommt auch in einer rationalisierten Form in Freuds Theorie zum Ausdruck, dass nämlich der kleine Junge die Frau als kastrierten Mann erlebe und dass die Frau selbst den Verlust des männlichen Gliedes auf verschiedene Weise zu kompensieren suche. Aber die Frau ist kein kastrierter Mann, und ihre Sexualität ist spezifisch weiblich und nicht von „männlichem Charakter“.

Die sexuelle Anziehung zwischen den Geschlechtern ist nur teilweise durch das Bedürfnis nach Abfuhr der Spannung motiviert; in der Hauptsache handelt es sich dabei um das Bedürfnis nach Einheit mit dem anderen sexuellen Pol. Tatsächlich äußert sich erotische Anziehung ja auch nicht nur in der sexuellen Anziehung. Männlichkeit und Weiblichkeit zeigen sich ebenso im Charakter wie in Sexualfunktionen. Man kann den männlichen Charakter definieren, indem man ihm Eigenschaften wie Eindringungsvermögen, Führungsbefähigung, Aktivität, Disziplin und Abenteuerlust zuschreibt; den weiblichen Charakter dagegen kennzeichnen Eigenschaften wie produktive Aufnahmefähigkeit, Beschützenwollen, Realismus, Geduld und Mütterlichkeit. (Dabei sollte man sich stets vor Augen halten, dass in jedem Menschen stets beiderlei Charaktereigenschaften miteinander verquickt sind, wobei die zu „seinem“ oder die zu „ihrem“ Geschlecht gehörigen jeweils überwiegen.) Wenn die männlichen Charakterzüge eines Mannes dadurch, dass er emotional ein Kind geblieben ist, nur schwach ausgebildet sind, kommt es sehr häufig vor, dass er diesen Mangel dadurch zu kompensieren sucht, dass er in sexueller Hinsicht ausschließlich eine männliche Rolle spielt. Das Ergebnis ist dann ein Don Juan, der es nötig hat, seine [IX-462] Manneskraft im Geschlechtsverkehr zu beweisen, weil er sich seines männlichen Charakters nicht sicher ist. Ist die Lähmung der Männlichkeit noch extremer, so wird der Sadismus (die Anwendung von Gewalt) zum pervertierten Hauptersatz für die Männlichkeit. Ist die weibliche Sexualität geschwächt oder pervertiert, so verwandelt sie sich in Masochismus oder in Besitzgier.

Man hat Freud wegen seiner Überbewertung der Sexualität kritisiert. Bei dieser Kritik hat häufig auch der Wunsch eine Rolle gespielt, ein Element aus seinem System zu beseitigen, das ihm in konventionell eingestellten Kreisen Kritik und Feindschaft eintrug. Freud spürte diese Motivation genau und wehrte sich aus eben diesem Grund gegen jeden Versuch, seine Sexualtheorie zu ändern. Tatsächlich wirkte ja Freuds Theorie in seiner Zeit herausfordernd und revolutionär. Aber was für die Zeit um die Jahrhundertwende galt, hat fünfzig Jahre später seine Gültigkeit verloren. Die sexuellen Gewohnheiten haben sich so sehr geändert, dass Freuds Theorien für das Bürgertum des Westens nicht mehr anstößig sind, und es zeugt von einem weltfremden Radikalismus, wenn heute noch orthodoxe Analytiker sich für besonders mutig und radikal halten, wenn sie seine Sexualtheorie verteidigen. Tatsächlich ist ihre Art von Psychoanalyse konformistisch, macht sie doch nicht einmal den Versuch, psychologische Fragen anzuschneiden, die zu einer Kritik der heutigen Gesellschaft führen würden.

Meine Kritik an Freuds Theorie gilt nicht seiner Überbetonung der Sexualität, sondern bezieht sich darauf, dass er diese nicht tief genug verstanden hat. Er hat den ersten Schritt zur Entdeckung der Bedeutung zwischenmenschlicher Leidenschaften getan; in Übereinstimmung mit seinen philosophischen Prämissen hat er sie psychologisch erklärt. In dem Maß, wie sich die Psychoanalyse weiterentwickelt, erscheint es jedoch notwendig und richtig, Freuds Auffassung dadurch zu korrigieren und zu vertiefen, dass man seine Einsichten aus dem physiologischen Bereich in den biologischen und existentiellen Bereich hinübernimmt. (Auch hier hat Freud den ersten Schritt in dieser Richtung später selbst getan, als er den Begriff des Lebens- und Todestriebs entwickelte. Sein Verständnis des Lebenstriebs [Eros] als des Prinzips der Synthese und Vereinigung liegt auf einer völlig anderen Ebene als sein Libidobegriff. Aber wenn auch seine Theorie vom Lebens- und Todestrieb von orthodoxen Analytikern akzeptiert wurde, so kam es dennoch zu keiner grundsätzlichen Revision seiner Auffassung von der Libido, besonders nicht in der klinischen Arbeit.[14])

b) Liebe zwischen Eltern und Kind

Das Kind hätte bereits im Augenblick seiner Geburt Angst zu sterben, wenn ein gnädiges Schicksal es nicht davor bewahrte, sich der Angst bewusst zu werden, welche mit der Trennung von der Mutter und von seiner Existenz im Mutterleib verbunden ist. Selbst nach der Geburt unterscheidet sich das Kind kaum von dem, was es vor der Geburt war; es kann noch keinen Gegenstand erkennen, es ist sich seiner selbst und der Welt als etwas außerhalb von ihm Liegendes noch nicht bewusst. Es fühlt lediglich den positiven Eindruck von Wärme und Nahrung, doch es unterscheidet diese [IX-463] Wärme und Nahrung noch nicht von deren Quelle, der Mutter. Die Mutter ist Wärme, die Mutter ist Nahrung, die Mutter ist der euphorische Zustand von Befriedigung und Sicherheit. Es ist dies ein narzisstischer Zustand, um Freuds Begriff zu gebrauchen. Die äußere Realität, Personen wie Dinge, sind nur insofern von Bedeutung, als sie für den inneren Zustand des Körpers eine Befriedigung oder Versagung bedeuten. Real ist nur das, was im Inneren vorgeht; alles außerhalb Befindliche besitzt nur in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse Realität - niemals jedoch in Bezug auf die objektiven Eigenschaften oder Bedürfnisse.

In dem Maße, wie das Kind weiter wächst und sich entwickelt, erlangt es die Fähigkeit, Dinge so wahrzunehmen, wie sie sind. Es unterscheidet jetzt die Befriedigung, gefüttert zu werden, von der Brust der Mutter. Schließlich erlebt es dann seinen Hunger und dessen Stillung durch die Milch, die Brust und die Mutter als verschiedene Dinge. Es lernt auch viele andere Dinge voneinander zu unterscheiden und merkt, dass sie eine eigene Existenz besitzen. Jetzt lernt es auch, sie beim Namen zu nennen und mit ihnen umzugehen. Es lernt, dass Feuer heiß ist und weh tut, dass der Körper der Mutter warm ist und wohl tut, dass Holz hart und schwer und dass Papier leicht ist und dass man es zerreißen kann. Es lernt auch, mit Menschen umzugehen; es lernt, dass die Mutter lächelt, wenn es isst, dass sie es auf den Arm nimmt, wenn es weint, dass sie es lobt, wenn es sein Geschäft verrichtet. Alle diese Erfahrungen kristallisieren sich und gehen ein in die Erfahrung: Ich werde geliebt. Ich werde geliebt, weil ich hilflos bin, ich werde geliebt, weil ich schön und bewundernswert bin, ich werde geliebt, weil Mutter mich braucht. Allgemeiner ausgedrückt heißt das: Ich werde geliebt, weil ich das bin, was ich bin, oder vielleicht noch präziser: Ich werde geliebt, weil ich bin. Diese Erfahrung, von der Mutter geliebt zu werden, ist ihrem Wesen nach passiv. Ich brauche nichts dazu zu tun, um geliebt zu werden, Mutterliebe ist keinen Bedingungen unterworfen. Alles, was ich tun muss, ist zu sein, ihr Kind zu sein. Die Liebe der Mutter bedeutet Seligkeit, sie bedeutet Frieden, man braucht sie nicht erst zu erwerben, man braucht sie sich nicht zu verdienen. Aber diese Bedingungslosigkeit der Mutterliebe hat auch ihre negative Seite. Sie braucht nicht nur nicht verdient zu werden - sie kann auch nicht erworben, erzeugt oder unter Kontrolle gehalten werden. Ist sie vorhanden, so ist sie ein Segen; ist sie nicht vorhanden, so ist es, als ob alle Schönheit aus dem Leben verschwunden wäre, und ich kann nichts tun, um sie hervorzurufen.

Für die meisten Kinder unter achteinhalb bis zehn Jahren besteht das Problem fast ausschließlich darin, geliebt zu werden - und zwar dafür geliebt zu werden, dass man so ist, wie man ist. (Vgl. H. S. Sullivan,1953.) Bis zu diesem Alter liebt das Kind selbst noch nicht; es reagiert nur dankbar und fröhlich darauf, dass es geliebt wird. An diesem Punkt der kindlichen Entwicklung kommt ein neuer Faktor hinzu: das neue Gefühl, dass man durch die eigene Aktivität Liebe wecken kann. Zum ersten Mal kommt das Kind auf den Gedanken, dass es der Mutter (oder dem Vater) etwas geben kann, dass es etwas selbst schaffen kann - ein Gedicht, eine Zeichnung oder was immer es sein mag. Zum ersten Mal im Leben des Kindes verwandelt sich die Vorstellung von Liebe. Geliebtwerden wird zum Lieben, zum Erwecken von Liebe. Von diesem ersten Anfang bis zum Reifen der Liebe sind viele Jahre nötig. Schließlich hat das Kind, das [IX-464] inzwischen ein Jugendlicher sein mag, seine Ichbezogenheit überwunden; der Andere ist jetzt nicht mehr in erster Linie ein Mittel zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Die Bedürfnisse des Anderen werden ebenso wichtig wie die eigenen - ja tatsächlich noch wichtiger als diese. Geben ist befriedigender, freudvoller geworden als Empfangen; Lieben ist wichtiger geworden als Geliebtwerden. Dadurch, dass der junge Mensch liebt, ist er aus der Gefängniszelle seines Alleinseins und seiner Isolierung herausgelangt, die durch seinen Narzissmus und seine Ichbezogenheit bedingt waren. Er erlebt ein neues Gefühl der Einheit, des Teilens und des Einsseins. Was noch wichtiger ist, er spürt in sich das Vermögen, Liebe durch Lieben zu wecken und nicht mehr abhängig davon zu sein, geliebt zu werden und aus diesem Grund klein, hilflos und krank - oder „brav“ bleiben zu müssen. Infantile Liebe folgt dem Prinzip: „Ich liebe, weil ich geliebt werde.“ Reife Liebe folgt dem Prinzip: „Ich werde geliebt, weil ich liebe.“ Unreife Liebe sagt: „Ich liebe dich, weil ich dich brauche.“ Reife Liebe sagt: „Ich brauche dich, weil ich dich liebe.“

In engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Liebesfähigkeit steht die Entwicklung der Liebesobjekte. In den ersten Monaten und Jahren ist das Kind seiner Mutter am engsten verbunden. Diese Bindung beginnt schon vor dem Augenblick der Geburt, wo Mutter und Kind noch eins sind, wenngleich sie zwei sind. Die Geburt ändert die Situation in gewisser Hinsicht, jedoch nicht so drastisch, wie es zunächst scheinen mag. Obwohl das Kind jetzt außerhalb des Mutterleibes lebt, ist es doch von der Mutter noch völlig abhängig. Aber es wird jetzt täglich unabhängiger: Es lernt, selbständig zu laufen, zu sprechen und die Welt zu erforschen; die Beziehung zur Mutter verliert einiges von ihrer vitalen Bedeutung, und stattdessen wird die Beziehung zum Vater immer wichtiger.

Um dieses Hinüberwechseln von der Mutter zum Vater zu verstehen, müssen wir uns die wesentlichen qualitativen Unterschiede zwischen mütterlicher und väterlicher Liebe vor Augen halten. Über die Mutterliebe haben wir bereits gesprochen. Mutterliebe ist ihrem Wesen nach an keine Bedingungen geknüpft. Eine Mutter liebt ihr neugeborenes Kind, allein weil es ihr Kind ist, und nicht, weil es bestimmten Voraussetzungen entspricht oder bestimmte Erwartungen erfüllt. (Wenn ich hier von der Liebe der Mutter und des Vaters spreche, so spreche ich natürlich von „Idealtypen“ im Sinne Max Webers oder von Archetypen im Jung’schen Sinne und behaupte damit nicht, dass jede Mutter und jeder Vater auf diese Weise liebt. Ich meine damit das mütterliche und väterliche Prinzip, das sich in einer mütterlichen oder väterlichen Person zeigt.) Eine Liebe, die an keine Bedingungen geknüpft ist, entspricht einer tiefen Sehnsucht nicht nur des Kindes, sondern eines jeden menschlichen Wesens; wenn man dagegen seiner eigenen Verdienste wegen geliebt wird, so bleiben immer irgendwelche Zweifel bestehen; vielleicht habe ich es dem, der mich lieben soll, nicht recht gemacht, oder ich habe dies oder jenes falsch gemacht - immer muss ich fürchten, die Liebe könnte vergehen. Außerdem hinterlässt „verdiente“ Liebe leicht das bittere Gefühl, dass man nicht um seiner selbst willen geliebt wird, sondern dass man nur geliebt wird, weil man dem Anderen einen Gefallen tut, dass man letzten Endes gar nicht geliebt, sondern zu einem bestimmten Zweck benutzt wird. Kein Wunder also, dass wir alle - als Kinder und als Erwachsene - an unserer Sehnsucht nach der [IX-465] mütterlichen Liebe festhalten. Die meisten Kinder haben das Glück, Mutterliebe zu empfangen. (Wir werden später noch darauf zurückkommen, in welchem Ausmaß das jeweils der Fall ist.) Beim Erwachsenen ist die gleiche Sehnsucht weit schwieriger zu erfüllen. Am befriedigendsten verläuft die Entwicklung, wenn die Mutterliebe eine Komponente der normalen erotischen Liebe bleibt; oft findet sie ihren Ausdruck in religiösen, noch häufiger in neurotischen Formen.

Die Beziehung zum Vater ist ganz anderer Art.[15] Die Mutter ist die Heimat, aus der wir kommen, sie ist die Natur, die Erde, das Meer. Der Vater dagegen verkörpert keine solche natürliche Heimat. In den ersten Lebensjahren des Kindes hat er nur wenig Verbindung mit ihm, und seine Bedeutung für das Kind lässt sich in dieser frühen Periode nicht mit der der Mutter vergleichen. Aber während der Vater die natürliche Welt nicht repräsentiert, verkörpert er den anderen Pol der menschlichen Existenz: die Welt des Denkens, die Welt der vom Menschen geschaffenen Dinge, Gesetz, Ordnung und Disziplin, und die Welt der Reisen und Abenteuer. Der Vater ist derjenige, der das Kind lehrt, der ihm den Weg in die Welt weist.

Eng verbunden mit dieser Funktion ist eine andere, die mit der sozio-ökonomischen Entwicklung zusammenhängt. Als das Privateigentum aufkam und dieses Privateigentum von einem der Söhne ererbt werden konnte, fing der Vater an, sich nach dem Sohn umzusehen, dem er seinen Besitz vererben könnte. Natürlich war das derjenige, den der Vater für den geeignetsten hielt, einmal sein Nachfolger zu werden, der Sohn, der ihm am ähnlichsten war und den er deshalb am meisten liebte. Die väterliche Liebe ist an Bedingungen geknüpft. Ihr Grundsatz lautet: „Ich liebe dich, weil du meinen Erwartungen entsprichst, weil du deine Pflicht erfüllst, weil du mir ähnlich bist.“ Wir finden in der bedingten väterlichen Liebe genau wie in der unbedingten mütterlichen Liebe einen negativen und einen positiven Aspekt. Der negative Aspekt ist, dass man sich die väterliche Liebe verdienen muss, dass man sie verlieren kann, wenn man sich nicht so verhält, wie es von einem erwartet wird. Bei der väterlichen Liebe wird der Gehorsam zur höchsten Tugend und der Ungehorsam zur schwersten Sünde, die mit dem Entzug der väterlichen Liebe bestraft wird. Ihre positive Seite ist nicht weniger wichtig. Da die väterliche Liebe an Bedingungen geknüpft ist, kann ich etwas dazu tun, sie mir zu erwerben, ich kann mich um sie bemühen, sie steht nicht wie die mütterliche Liebe außerhalb meiner Macht.

Die Einstellung von Mutter und Vater zu ihrem Kind entspricht dessen Bedürfnissen. Das Kleinkind braucht sowohl körperlich wie auch seelisch die bedingungslose Liebe und Fürsorge der Mutter. Nachdem es sechs Jahre alt geworden ist, braucht es dann allmählich auch die Liebe des Vaters, seine Autorität und Lenkung. Die Mutter hat die Funktion, ihm die Sicherheit im Leben zu geben, der Vater hat die Funktion, es zu lehren und anzuleiten, damit es mit den Problemen fertig wird, mit denen die Gesellschaft, in die das Kind hineingeboren wurde, es konfrontiert. Im Idealfall versucht die Liebe der Mutter nicht, das Kind am Erwachsenwerden zu hindern und seine Hilflosigkeit auch noch zu belohnen. Die Mutter sollte Vertrauen zum Leben haben und daher nicht überängstlich sein und das Kind mit ihrer Angst anstecken. Sie sollte den Wunsch, dass das Kind unabhängig wird und sich schließlich von ihr trennt, zu einem Bestandteil ihres Lebens machen. Die väterliche Liebe sollte sich von Grundsätzen [IX-466] und Erwartungen leiten lassen. Sie sollte geduldig und tolerant und nicht bedrohlich und autoritär sein. Sie sollte dem heranwachsenden Kind in immer stärkerem Maße das Gefühl eigener Kompetenz geben und ihm schließlich erlauben, über sich selbst zu bestimmen und ohne die väterliche Autorität auszukommen.

Schließlich hat der reife Mensch den Punkt erreicht, an dem er seine eigene Mutter und sein eigener Vater ist. Er besitzt dann sozusagen ein mütterliches und ein väterliches Gewissen.[16] Das mütterliche Gewissen sagt: „Es gibt keine Missetat, kein Verbrechen, die dich meiner Liebe, meiner guten Wünsche für dein Leben und für dein Glück berauben könnten.“ Das väterliche Gewissen sagt: „Du hast unrecht getan und musst die Folgen tragen; vor allem aber musst du dein Verhalten ändern, wenn ich dir auch weiterhin gut sein soll.“ Der reife Mensch hat sich von der äußeren Mutter- und Vaterfigur freigemacht und sie in seinem Inneren aufgebaut. Im Unterschied zu Freuds Über-Ich hat er sie jedoch nicht in sich aufgebaut, indem er sich Mutter und Vater einverleibte, sondern indem er ein mütterliches Gewissen auf seiner eigenen Liebesfähigkeit und ein väterliches Gewissen auf seiner eigenen Vernunft und Urteilskraft errichtete. Im Übrigen liebt der reife Mensch sowohl entsprechend seinem mütterlichen wie auch entsprechend seinem väterlichen Gewissen, wenn sich auch beide zu widersprechen scheinen. Würde er nur sein väterliches Gewissen beibehalten, so würde er streng und unmenschlich. Wenn er nur sein mütterliches Gewissen beibehielte, könnte er leicht sein Urteilsvermögen einbüßen und sich und andere in der Entwicklung behindern.

Die Entwicklung von der Mutter- zur Vaterbindung und zu deren Synthese bildet die Grundlage für seelisch-geistige Gesundheit und Reife. Eine Fehlentwicklung ist die Hauptursache für Neurosen. Dies im Einzelnen darzulegen, ginge über den Rahmen dieses Buches hinaus, doch möchte ich immerhin noch einige klärende Bemerkungen anfügen.

Eine neurotische Entwicklung kann zum Beispiel darauf zurückgehen, dass ein Junge eine liebevolle, allzu nachsichtige oder eine in der Familie dominierende Mutter und einen schwachen oder gleichgültigen Vater hat. In diesem Fall kann er an seine Mutterbindung aus seiner frühen Kindheit fixiert bleiben und sich zu einem von der Mutter abhängigen Menschen entwickeln, der sich hilflos fühlt und der für eine rezeptive Persönlichkeit charakteristische Neigungen aufweist; er möchte von anderen empfangen, beschützt und bemuttert werden, und ihm fehlen die väterlichen Eigenschaften wie Disziplin, Unabhängigkeit und die Fähigkeit, das Leben selbst zu meistern. Er wird vermutlich versuchen, in jedem eine „Mutter“ zu finden, gelegentlich in einer Frau und gelegentlich auch in einem Mann, der Autorität und Macht hat. Ist die Mutter dagegen kalt, teilnahmslos und dominierend, so kann er entweder sein Bedürfnis nach mütterlichem Schutz auf den Vater und später auf Vaterfiguren übertragen - dann ist das Endresultat etwa das gleiche wie im ersten Fall - oder er wird sich zu einem einseitig vater-orientierten Menschen entwickeln, der sich ausschließlich an die Prinzipien von Gesetz, Ordnung und Autorität hält und dem die Fähigkeit fehlt, bedingungslose Liebe zu erwarten oder zu empfangen. Diese Entwicklung wird noch intensiviert, wenn ein autoritärer Vater gleichzeitig seinem Sohn eng verbunden ist. Kennzeichnend für alle diese neurotischen Entwicklungen ist, dass das eine Prinzip [IX-467] - das väterliche oder das mütterliche - sich nicht richtig entwickelt oder dass die Mutter- oder Vaterrolle in Bezug auf Außenstehende und in Bezug auf diese Rollen im eigenen Inneren durcheinander geraten, wie es bei schwereren Formen von Neurosen der Fall ist. Bei eingehenderen Untersuchungen wird man feststellen, dass gewisse Neurosetypen, wie zum Beispiel Zwangsneurosen, sich häufiger aus einer einseitigen Vaterbindung heraus entwickeln, während andere, wie Hysterie, Alkoholismus und die Unfähigkeit, sich durchzusetzen und sich auf realistische Weise mit dem Leben auseinanderzusetzen, sowie Depressionen Folge einer einseitigen Mutterbindung sind.

c) Objekte der Liebe

Liebe ist nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte Person. Sie ist eine Haltung, eine Charakter-Orientierung, welche die Bezogenheit eines Menschen zur Welt als Ganzem und nicht nur zu einem einzigen „Objekt“ der Liebe bestimmt. Wenn jemand nur eine einzige andere Person liebt und ihm alle übrigen Mitmenschen gleichgültig sind, dann handelt es sich bei seiner Liebe nicht um Liebe, sondern um eine symbiotische Bindung oder um einen erweiterten Egoismus. Trotzdem glauben die meisten Menschen, Liebe komme erst durch ein Objekt zustande und nicht auf Grund einer Fähigkeit. Sie bilden sich tatsächlich ein, es sei ein Beweis für die Intensität ihrer Liebe, wenn sie außer der „geliebten“ Person niemanden lieben. Es ist dies der gleiche Irrtum, den wir bereits an anderer Stelle erwähnt haben. Weil man nicht erkennt, dass die Liebe ein Tätigsein, eine Kraft der Seele ist, meint man, man brauche nur das richtige Objekt dafür zu finden, und alles andere gehe dann von selbst. Man könnte diese Einstellung mit der eines Menschen vergleichen, der gern malen möchte und der, anstatt diese Kunst zu erlernen, behauptet, er brauche nur auf das richtige Objekt zu warten, und wenn er es gefunden habe, werde er wunderbar malen können. Wenn ich einen Menschen wahrhaft liebe, so liebe ich alle Menschen, so liebe ich die Welt, so liebe ich das Leben. Wenn ich zu einem anderen sagen kann: „Ich liebe dich“, muss ich auch sagen können: „Ich liebe in dir auch alle anderen, ich liebe durch dich die ganze Welt, ich liebe in dir auch mich selbst.“

Wenn ich sage, die Liebe sei eine Orientierung, die sich auf alle und nicht nur auf einen einzigen Menschen bezieht, so heißt das jedoch nicht, dass es zwischen den verschiedenen Arten der Liebe keine Unterschiede gibt, die jeweils von der Art des geliebten Objekts abhängen.

1. Nächstenliebe

Die fundamentalste Art von Liebe, die allen anderen Formen zugrunde liegt, ist die Nächstenliebe. Damit meine ich ein Gespür für Verantwortlichkeit, Fürsorge, Achtung und „Erkenntnis“, das jedem anderen Wesen gilt, sowie den Wunsch, dessen Leben zu fördern. Es ist jene Art der Liebe, von der die Bibel spricht, wenn sie sagt: [IX-468] „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev 19,18). Nächstenliebe ist Liebe zu allen menschlichen Wesen. Es ist geradezu kennzeichnend für sie, dass sie niemals exklusiv ist. Wenn sich in mir die Fähigkeit zu lieben entwickelt hat, kann ich gar nicht umhin, meinen Nächsten zu lieben. Die Nächstenliebe enthält die Erfahrung der Einheit mit allen Menschen, der menschlichen Solidarität, des menschlichen Einswerdens. Die Nächstenliebe gründet sich auf die Erfahrung, dass wir alle eins sind. Die Unterschiede von Begabung, Intelligenz und Wissen sind nebensächlich im Vergleich zur Identität des menschlichen Kerns, der uns allen gemeinsam ist. Um diese Identität zu erleben, muss man von der Oberfläche zum Kern vordringen. Wenn ich bei einem anderen Menschen hauptsächlich das Äußere sehe, dann nehme ich nur die Unterschiede wahr, das, was uns trennt; dringe ich aber bis zum Kern vor, so nehme ich unsere Identität wahr, ich merke dann, dass wir Brüder sind. Diese Bezogenheit von einem Kern zum anderen, anstatt von Oberfläche zu Oberfläche, ist eine Bezogenheit aus der Mitte (central relatedness). Simone Weil drückt dies besonders schön aus, wenn sie bezüglich des Bekenntnisses „ich liebe dich“, das ein Mann zu seiner Frau spricht, bemerkt: „Die gleichen Worte können je nach der Art, wie sie gesprochen werden, nichtssagend sein oder etwas ganz Außergewöhnliches bedeuten. Die Art, wie sie gesagt werden, hängt von der Tiefenschicht ab, aus der sie beim Betreffenden stammen und auf die der Wille keinen Einfluss hat. Durch eine ans Wunderbare grenzende Übereinstimmung erreichen sie in dem, der sie hört, genau die gleiche Tiefenschicht. So kann der Hörer erkennen, was die Worte wert sind, sofern er hierfür überhaupt ein Unterscheidungsvermögen besitzt“ (S. Weil, 1952, S. 117).

Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen. Aber selbst die, die uns gleichen, sind nicht einfach uns „gleich“. Insofern wir Menschen sind, sind wir auf Hilfe angewiesen - heute ich, morgen du. Aber dieses Angewiesensein auf Hilfe heißt nicht, dass der eine hilflos und der andere mächtig ist. Hilflosigkeit ist ein vorübergehender Zustand; die Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen und zu laufen, ist dagegen der bleibende, allen gemeinsame Zustand.

Demnach ist die Liebe zum Hilflosen, die Liebe zum Armen und zum Fremden der Anfang der Nächstenliebe. Sein eigenes Fleisch und Blut zu lieben, ist kein besonderes Verdienst. Auch ein Tier liebt seine Jungen und sorgt für sie. Der Hilflose liebt seinen Herrn, weil sein Leben von ihm abhängt; das Kind liebt seine Eltern, weil es sie braucht. Erst in der Liebe zu denen, die für uns keinen Zweck erfüllen, beginnt die Liebe sich zu entfalten. Bezeichnenderweise bezieht sich im Alten Testament die Liebe des Menschen hauptsächlich auf Arme, Fremde, Witwen, Waisen und schließlich sogar auf die Nationalfeinde, die Ägypter und die Edomiten. Dadurch, dass der Mensch mit den Hilflosen Mitleid hat, entwickelt sich in ihm allmählich die Liebe zu seinem Nächsten; und in seiner Liebe zu sich selbst liebt er auch den Hilfsbedürftigen, den Gebrechlichen und den, dem die Sicherheit fehlt. Zum Mitleid gehören „Erkenntnis“ und die Fähigkeit, sich mit den anderen identifizieren zu können. „Wenn sich ein Fremder in eurem Land aufhält, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Er soll bei euch wie ein Einheimischer sein, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen“ (Lev 19,33; - die gleiche Vorstellung wie im Alten Testament findet sich auch bei H. Cohen, 1929, S. 167 ff.).

2. Mütterliche Liebe

Mit dem Wesen der mütterlichen Liebe haben wir uns bereits in einem früheren Kapitel beschäftigt, als wir den Unterschied zwischen der mütterlichen und der väterlichen Liebe behandelten. Die Mutterliebe ist, wie bereits gesagt, die bedingungslose Bejahung des Lebens und der Bedürfnisse des Kindes. Aber hier ist noch etwas Wichtiges hinzuzufügen. Die Bejahung des Lebens des Kindes hat zwei Aspekte: Der eine besteht in der Fürsorge und dem Verantwortungsgefühl, die zur Erhaltung und Entfaltung des Lebens des Kindes unbedingt notwendig sind; der andere Aspekt geht über die bloße Lebenserhaltung hinaus. Es ist die Haltung, die dem Kind jene Liebe zum Leben vermittelt, die ihm das Gefühl gibt: Es ist gut, zu leben, es ist gut, ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen zu sein, es ist gut, auf dieser Welt zu sein! Diese beiden Aspekte der mütterlichen Liebe kommen in der biblischen Schöpfungsgeschichte prägnant zum Ausdruck. Gott erschafft die Welt und er erschafft den Menschen. Dies entspricht der einfachen Fürsorge für das Geschaffene und seiner Bejahung. Aber Gott geht über dieses notwendige Minimum hinaus: An jedem Tag der Schöpfung sagt Gott eigens zu dem, was er geschaffen hat: „Es ist gut!“ Diese besondere Bestätigung gibt in der mütterlichen Liebe dem Kind das Gefühl: „Es ist gut, geboren worden zu sein.“ Sie vermittelt dem Kind die Liebe zum Leben und nicht nur den Willen, am Leben zu bleiben. Der gleiche Gedanke dürfte auch in einem anderen biblischen Symbol zum Ausdruck kommen. Das Gelobte Land (Land ist stets ein Muttersymbol) wird beschrieben als „ein Land, wo Milch und Honig fließen“. Die Milch ist das Symbol des ersten Aspekts der Liebe, dem der Fürsorge und Bestätigung. Der Honig symbolisiert die Süßigkeit des Lebens, die Liebe zum Leben und das Glück zu leben. Die meisten Menschen sind fähig, „Milch“ zu geben, aber nur eine Minderzahl unter ihnen kann auch „Honig“ spenden. Um Honig spenden zu können, muss die Mutter nicht nur eine „gute Mutter“ sein, sie muss auch ein glücklicher Mensch sein - ein Ziel, das nur wenige erreichen. Die Wirkung auf das Kind kann man kaum zu hoch einschätzen. Die Liebe der Mutter zum Leben ist ebenso ansteckend wie ihre Angst. Beide Einstellungen haben einen tiefen Eindruck auf die gesamte Persönlichkeit des Kindes. Tatsächlich kann man bei Kindern und bei Erwachsenen jene, welche nur „Milch“ bekommen haben, deutlich von denen unterscheiden, die „Milch und Honig“ erhielten.

Im Gegensatz zur Nächstenliebe und zur erotischen Liebe, die beide eine Liebe zwischen Gleichen sind, ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind ihrer Natur nach eine Ungleichheits-Beziehung, bei welcher der eine Teil alle Hilfe braucht und der andere sie gibt. Wegen dieses altruistischen, selbstlosen Charakters gilt die Mutterliebe als die höchste Art der Liebe und als heiligste aller emotionalen Bindungen. Mir scheint jedoch, dass die Mutterliebe nicht in der Liebe zum Säugling, sondern in der Liebe zum heranwachsenden Kind ihre eigentliche Leistung vollbringt. Tatsächlich sind ja die allermeisten Mütter nur so lange liebevolle Mütter, wie ihr Kind noch klein und völlig von ihnen abhängig ist. Die meisten Frauen wünschen sich Kinder, sie sind glücklich über das Neugeborene und widmen sich eifrig seiner Pflege. Das ist so, obwohl sie vom Kind nichts dafür „zurückbekommen“ außer einem Lächeln oder dem [IX-470] Ausdruck von Zufriedenheit auf seinem Gesicht. Es scheint, dass diese Art der Liebe, die man ebenso beim Tier wie bei der menschlichen Mutter findet, teilweise instinktbedingt ist. Aber wie stark dieser instinktive Faktor auch ins Gewicht fallen mag, es spielen daneben auch noch spezifisch menschliche, psychische Faktoren eine Rolle. Einer beruht auf dem narzisstischen Element in der mütterlichen Liebe. Insofern die Mutter noch immer das Gefühl hat, dass der Säugling ein Teil ihrer selbst ist, kann es sein, dass sie mit ihrer überschwänglichen Liebe zu ihm ihren eigenen Narzissmus befriedigt. Eine andere Motivation könnte ihr Streben nach Macht oder Besitz sein. Da das Kind hilflos und ihrem Willen unterworfen ist, ist es für eine tyrannische und besitzgierige Frau ein natürliches Objekt ihrer eigenen Befriedigung.

So häufig diese Motivierungen sind, so dürften sie doch eine weniger wichtige und universale Rolle spielen, als etwas anderes, das man als das Bedürfnis nach Transzendenz bezeichnen könnte. Dieses Bedürfnis nach Transzendenz ist eines der Grundbedürfnisse des Menschen, das seine Wurzel in der Tatsache hat, dass er sich seiner selbst bewusst ist, dass er sich mit seiner Rolle als Kreatur nicht begnügt, dass er es nicht hinnehmen kann, wie ein Würfel aus dem Becher geworfen zu sein. Er muss sich als Schöpfer fühlen, der die passive Rolle eines bloßen Geschöpfs transzendiert. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Befriedigung des Schöpferischen zu erreichen; der natürlichste und einfachste Weg ist die Liebe und Fürsorge der Mutter zu dem, was sie als Mutter hervorgebracht hat. Sie transzendiert sich selbst in ihrem Kind; ihre Liebe zu ihm verleiht ihrem Leben Bedeutung. (In der Unfähigkeit des Mannes, sein Bedürfnis nach Transzendenz durch das Gebären eines Kindes zu befriedigen, ist sein Drang begründet, sich selbst dadurch zu transzendieren, dass er selbstgeschaffene Dinge und Ideen hervorbringt.)

Aber das Kind muss wachsen. Es muss den Mutterleib verlassen, sich von der Mutterbrust lösen; es muss schließlich zu einem völlig unabhängigen menschlichen Wesen werden. Wahre Mutterliebe besteht darin, für das Wachstum des Kindes zu sorgen, und das bedeutet, dass sie selbst wünscht, dass das Kind von ihr loskommt. Hierin unterscheidet sich diese Liebe grundsätzlich von der erotischen Liebe. Bei der erotischen Liebe werden zwei Menschen, die getrennt waren, eins. Bei der Mutterliebe trennen sich zwei Menschen voneinander, die eins waren. Die Mutter muss nicht nur die Loslösung des Kindes dulden, sie muss sie sogar wünschen und fördern. Erst in diesem Stadium wird die Mutterliebe zu einer so schweren Aufgabe, die Selbstlosigkeit verlangt und die Fähigkeit fordert, alles geben zu können und nichts zu wollen als das Glück des geliebten Kindes. Auf dieser Stufe kommt es auch häufig vor, dass Mütter bei der Aufgabe, die ihnen ihre mütterliche Liebe stellt, versagen. Einer narzisstischen, herrschsüchtigen, auf Besitz bedachten Frau kann es zwar gelingen, eine „liebende“ Mutter zu sein, solange ihr Kind noch klein ist. Aber nur die wahrhaft liebende Frau, die Frau, die im Geben glücklicher ist als im Nehmen und die in ihrer eigenen Existenz fest verwurzelt ist, kann auch dann noch eine liebende Mutter sein, wenn das Kind sich im Prozess der Trennung von ihr befindet.

Die Mutterliebe zum heranwachsenden Kind, jene Liebe, die nichts für sich will, ist vielleicht die schwierigste Form der Liebe; und sie ist sehr trügerisch, weil es für eine Mutter so leicht ist, ihr kleines Kind zu lieben. Aber gerade, weil es später so schwer [IX-471] ist, kann eine Frau nur dann eine wahrhaft liebende Mutter sein, wenn sie überhaupt zu lieben versteht und wenn sie fähig ist, ihren Mann, andere Kinder, Fremde, kurz: alle menschlichen Wesen, zu lieben. Eine Frau, die nicht fähig ist, in diesem Sinne zu lieben, kann zwar, solange ihr Kind noch klein ist, eine fürsorgliche Mutter sein, aber sie ist keine wahrhaft liebende Mutter. Die Probe darauf ist ihre Bereitschaft, die Trennung zu ertragen und auch nach der Trennung noch weiter zu lieben.

3. Erotische Liebe

Nächstenliebe ist Liebe zwischen Gleichen; Mutterliebe ist Liebe zum Hilflosen. So verschieden beide voneinander sind, ihnen ist doch gemein, dass sie sich ihrem Wesen nach nicht auf eine einzige Person beschränken. Wenn ich meinen Nächsten liebe, liebe ich alle meine Nächsten; wenn ich mein Kind liebe, liebe ich alle meine Kinder, nein, ich liebe sogar darüber hinaus alle Kinder, alle, die meiner Hilfe bedürfen. Im Gegensatz zu diesen beiden Arten von Liebe steht die erotische Liebe. Hier handelt es sich um das Verlangen nach vollkommener Vereinigung, nach der Einheit mit einer anderen Person. Eben aus diesem Grund ist die erotische Liebe exklusiv und nicht universal; aber aus diesem Grund ist sie vielleicht auch die trügerischste Form der Liebe.

Zunächst einmal wird sie oft mit dem explosiven Erlebnis, „sich zu verlieben“ verwechselt, mit dem plötzlichen Fallen der Schranken, die bis zu diesem Augenblick zwischen zwei Fremden bestanden. Aber wie bereits dargelegt, ist das Erlebnis einer plötzlichen Intimität seinem Wesen nach kurzlebig. Nachdem der Fremde für mich zu einem intimen Bekannten geworden ist, sind zwischen uns keine Schranken mehr zu überwinden, und ich brauche mich nicht mehr darum zu bemühen, ihm näherzukommen. Man lernt den „Geliebten“ ebenso genau kennen wie sich selbst; oder vielleicht sollte man besser sagen, ebenso wenig wie sich selbst. Wenn es mehr Tiefe in der Erfahrung eines anderen Menschen gäbe, wenn man die Unbegrenztheit seiner Persönlichkeit erleben könnte, würde einem der andere nie so vertraut - und das Wunder der Überwindung der Schranken könnte sich jeden Tag aufs Neue ereignen. Aber für die meisten ist die eigene Person genau wie die des anderen schnell ergründet und ausgeschöpft. Sie erreichen Intimität vor allem durch sexuelle Vereinigung. Da sie das Getrenntsein von anderen in erster Linie als körperliches Getrenntsein erfahren, bedeutet die körperliche Vereinigung für sie die Überwindung des Getrenntseins.

Darüber hinaus gibt es noch andere Faktoren, die viele für die Überwindung des Abgetrenntseins halten. Man glaubt, man könne es dadurch überwinden, dass man über sein eigenes persönliches Leben, seine Hoffnungen und Ängste spricht, dass man sich dem anderen von seiner kindlichen oder kindischen Seite zeigt, oder dass man sich um ein gemeinsames Interesse an der Welt bemüht. Selbst dem anderen seinen Ärger, seinen Hass und seine völlige Hemmungslosigkeit vor Augen zu führen, wird für Intimität gehalten, was die pervertierte Anziehung erklären mag, welche Ehepartner häufig aufeinander ausüben, die offenbar nur intim sind, wenn sie zusammen im Bett [IX-472] liegen oder wenn sie ihrem gegenseitigen Hass und ihrer Wut aufeinander freien Lauf lassen. Aber alle diese Arten von „Nähe“ verschwinden mit der Zeit mehr und mehr. Die Folge ist, dass man nun bei einem anderen Menschen, bei einem neuen Fremden Liebe sucht. Wiederum verwandelt sich der Fremde in einen Menschen, mit dem man „intim“ ist, wiederum wird das Sichverlieben als ein anregendes, intensives Erlebnis empfunden, und wiederum flaut es allmählich mehr und mehr ab und endet mit dem Wunsch nach einer neuen Eroberung, nach einer neuen Liebe - immer in der Illusion, dass die neue Liebe ganz anders sein wird als die früheren Liebesbeziehungen. Zu diesen Illusionen trägt die trügerische Eigenart des sexuellen Begehrens weitgehend bei.

Die sexuelle Begierde strebt nach Vereinigung und ist keineswegs nur ein körperliches Verlangen, keineswegs nur die Lösung einer quälenden Spannung. Aber die sexuelle Begierde kann auch durch die Angst des Alleinseins, durch den Wunsch zu erobern oder sich erobern zu lassen, durch Eitelkeit, durch den Wunsch zu verletzen oder sogar zu zerstören, ebenso stimuliert werden wie durch Liebe. Es scheint so zu sein, dass die sexuelle Begierde sich leicht mit allen möglichen starken Emotionen vermischt und durch diese genauso stimuliert werden kann wie durch die Liebe. Da das sexuelle Begehren von den meisten mit der Idee der Liebe in Verbindung gebracht wird, werden sie leicht zu dem Irrtum verführt, sie liebten einander, wenn sie sich körperlich begehren. Liebe kann zu dem Wunsch führen, sich körperlich zu vereinigen; in diesem Fall ist die körperliche Beziehung ohne Gier, ohne den Wunsch zu erobern oder sich erobern zu lassen, sondern sie ist voll Zärtlichkeit. Wenn dagegen das Verlangen nach körperlicher Vereinigung nicht von Liebe stimuliert wird, wenn die erotische Liebe nicht auch Liebe zum Nächsten ist, dann führt sie niemals zu einer Einheit, die mehr wäre als eine orgiastische, vorübergehende Vereinigung. Die sexuelle Anziehung erzeugt für den Augenblick die Illusion der Einheit, aber ohne Liebe lässt diese „Vereinigung“ Fremde einander ebenso fremd bleiben, wie sie es vorher waren. Manchmal schämen sie sich dann voreinander, oder sie hassen sich sogar, weil sie, wenn die Illusion vorüber ist, ihre Fremdheit nur noch deutlicher empfinden als zuvor. Die Zärtlichkeit ist keineswegs, wie Freud annahm, eine Sublimierung des Sexualtriebes, sie ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der Nächstenliebe und kommt sowohl in körperlichen wie auch in nicht-körperlichen Formen der Liebe vor.

Die erotische Liebe kennzeichnet eine Ausschließlichkeit, die der Nächstenliebe und der Mutterliebe fehlt. Dieser exklusive Charakter der erotischen Liebe bedarf noch einer näheren Betrachtung. Häufig wird die Exklusivität der erotischen Liebe mit dem Wunsch verwechselt, vom anderen Besitz zu ergreifen. Man findet oft zwei „Verliebte“, die niemanden sonst lieben. Ihre Liebe ist dann in Wirklichkeit ein Egoismus zu zweit; es handelt sich dann um zwei Menschen, die sich miteinander identifizieren und die das Problem des Getrenntseins so lösen, dass sie das Einzelindividuum zu zwei Personen erweitern. Sie machen dann zwar die Erfahrung, ihre Einsamkeit zu überwinden, aber da sie von der übrigen Menschheit abgesondert sind, bleiben sie auch voneinander getrennt und einander fremd; ihr Erlebnis der Vereinigung ist damit eine Illusion. Erotische Liebe ist zwar exklusiv, aber sie liebt im anderen die ganze [IX-473] Menschheit, alles Lebendige. Sie ist - exklusiv nur in dem Sinn, dass ich mich mit ganzer Intensität eben nur mit einem einzigen Menschen vereinigen kann. Erotische Liebe schließt die Liebe zu anderen nur im Sinne einer erotischen Vereinigung, einer vollkommenen Bindung an den anderen in allen Lebensbereichen aus - aber nicht im Sinne einer tiefen Liebe zum Nächsten.

Damit es sich um echte Liebe handelt, muss die erotische Liebe einer Voraussetzung genügen: Ich muss aus meinem innersten Wesen heraus lieben und den anderen im innersten Wesen seines Seins erfahren. Ihrem Wesen nach sind alle Menschen gleich. Wir alle sind Teil des Einen; wir alle sind das Eine. Deshalb sollte es eigentlich keinen Unterschied machen, wen ich liebe. Die Liebe sollte im Wesentlichen ein Akt des Willens, des Entschlusses sein, mein Leben völlig an das eines anderen Menschen zu binden. Tatsächlich steht diese Vorstellung hinter der Idee von der Unauflöslichkeit der Ehe, wie auch hinter den vielen Formen der traditionellen Ehe, wo die beiden Partner sich nicht selbst wählen, sondern füreinander ausgesucht werden - und wo man trotzdem von ihnen erwartet, dass sie einander lieben. In unserer gegenwärtigen westlichen Kultur scheint uns diese Idee völlig abwegig. Wir halten die Liebe für das Resultat einer spontanen emotionalen Reaktion, in der wir plötzlich von einem unwiderstehlichen Gefühl erfasst werden. Bei dieser Auffassung berücksichtigt man nur die Besonderheiten der beiden Betroffenen und nicht die Tatsache, dass alle Männer ein Teil Adams und alle Frauen ein Teil Evas sind. Man übersieht einen wesentlichen Faktor in der erotischen Liebe - den Willen. Jemanden zu lieben, ist nicht nur ein starkes Gefühl, es ist auch eine Entscheidung, ein Urteil, ein Versprechen. Wäre die Liebe nur ein Gefühl, so könnte sie nicht die Grundlage für das Versprechen sein, sich für immer zu lieben. Ein Gefühl kommt und kann auch wieder verschwinden. Wie kann ich behaupten, die Liebe werde ewig dauern, wenn nicht mein Urteilsvermögen und meine Entschlusskraft beteiligt sind?

Von diesem Standpunkt aus könnte man die Meinung vertreten, Liebe sei ausschließlich ein Akt der willensmäßigen Bindung an einen anderen, und es komme daher im Grunde nicht darauf an, wer die beiden Personen seien. Ob die Ehe von anderen arrangiert wurde oder das Ergebnis einer individuellen Wahl war: Nachdem sie einmal geschlossen ist, sollte dieser Akt den Fortbestand der Liebe garantieren. Diese Auffassung übersieht jedoch ganz offensichtlich die paradoxe Eigenart der menschlichen Natur und der erotischen Liebe. Wir alle sind eins - und trotzdem ist jeder von uns ein einzigartiges, nicht wiederholbares Wesen. In unserer Beziehung zu anderen wiederholt sich das gleiche Paradoxon. Insofern wir alle eins sind, können wir jeden auf die gleiche Weise im Sinne der Nächstenliebe lieben. Aber insofern wir auch alle voneinander verschieden sind, setzt die erotische Liebe gewisse spezifische, höchst individuelle Elemente voraus, wie sie nur zwischen gewissen Menschen und keineswegs zwischen allen zu finden sind.

So sind beide Auffassungen richtig, die Ansicht, dass die erotische Liebe eine völlig individuelle Anziehung, etwas Einzigartiges zwischen zwei bestimmten Personen ist, wie auch die andere Meinung, dass sie nichts ist als ein reiner Willensakt. Vielleicht sollte man besser sagen, dass die Wahrheit weder in der einen noch in der anderen Auffassung zu finden ist. Daher ist auch die Idee, man könne eine Verbindung ohne [IX-474] weiteres wieder lösen, wenn sie sich als nicht erfolgreich herausstellt, ebenso irrig wie die Ansicht, dass man eine Verbindung unter keinen Umständen wieder lösen dürfe.

4. Selbstliebe[17]

Während kein Einwand dagegen erhoben wird, wenn man seine Liebe den verschiedensten Objekten zuwendet, ist die Meinung weitverbreitet, dass es zwar eine Tugend sei, andere zu lieben, sich selbst zu lieben aber, das sei Sünde. Man nimmt an, in dem Maß, wie man sich selbst liebe, liebe man andere nicht, und Selbstliebe sei deshalb das gleiche wie Selbstsucht. Diese Auffassung reicht im westlichen Denken weit zurück. Calvin spricht von der Selbstliebe als der „schädlichsten Pestilenz“ (J. Calvin, 1955, S. 446). Freud spricht von der Selbstliebe zwar in psychiatrischen Begriffen, doch bewertet er sie nicht anders als Calvin. Für ihn ist Selbstliebe gleichbedeutend mit Narzissmus, bei dem die Libido sich auf die eigene Person richtet. Narzissmus ist die erste Stufe in der menschlichen Entwicklung, und wer im späteren Leben auf diese Stufe zurückkehrt, ist unfähig zu lieben; im Extremfall ist er geisteskrank. Freud nimmt an, die Liebe sei eine Manifestation der Libido, und die Libido richte sich entweder auf andere - als Liebe; oder sie richte sich auf uns selbst - als Selbstliebe. Liebe und Selbstliebe schließen sich dabei gegenseitig aus: Je mehr von der einen, umso weniger ist von der anderen vorhanden. Ist aber die Selbstliebe etwas Schlechtes, so folgt daraus, dass Selbstlosigkeit eine Tugend ist.

Hier erheben sich folgende Fragen: Bestätigen psychologische Beobachtungen die These, dass zwischen der Liebe zu sich selbst und der Liebe zu anderen ein grundsätzlicher Widerspruch besteht? Ist Liebe zu sich selbst das gleiche Phänomen wie Selbstsucht, oder sind Selbstliebe und Selbstsucht Gegensätze? Ferner: Ist die Selbstsucht des modernen Menschen tatsächlich ein liebevolles Interesse an sich selbst als einem Individuum mit allen seinen intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten? Ist „er“, der moderne Mensch, nicht vielmehr zu einem Anhängsel an seine sozio-ökonomische Rolle geworden? Ist seine Selbstsucht wirklich dasselbe wie Selbstliebe, oder ist die Selbstsucht nicht geradezu die Folge davon, dass es ihm an Selbstliebe fehlt?

Bevor wir den psychologischen Aspekt der Selbstsucht und der Selbstliebe nun diskutieren, ist zu unterstreichen, dass die Auffassung, die Liebe zu anderen Menschen und die Liebe zu sich selbst schlössen sich gegenseitig aus, ein logischer Trugschluss ist. [IX-475] Wenn es eine Tugend ist, meinen Nächsten als ein menschliches Wesen zu lieben, dann muss es doch auch eine Tugend - und kein Laster - sein, wenn ich mich selbst liebe, da ja auch ich ein menschliches Wesen bin. Es gibt keinen Begriff vom Menschen, in den ich nicht eingeschlossen wäre. Eine These, die das behauptet, würde sich damit als in sich widersprüchlich ausweisen. Die im biblischen Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ausgedrückte Idee impliziert, dass die Achtung vor der eigenen Integrität und Einzigartigkeit, die Liebe zum eigenen Selbst und das Verständnis dafür nicht von unserer Achtung vor einem anderen Menschen, von unserer Liebe zu ihm und unserem Verständnis für ihn zu trennen sind. Liebe zu meinem Selbst ist untrennbar mit der Liebe zu allen anderen Wesen verbunden.

Damit sind wir bei den grundlegenden psychologischen Prämissen angekommen, auf denen sich unsere Argumentation aufbaut. Es handelt sich dabei ganz allgemein um folgende Voraussetzungen: Nicht nur andere, auch wir selbst sind „Objekte“ unserer Gefühle und Einstellungen; dabei stehen unsere Einstellungen zu anderen und die zu uns selbst keineswegs miteinander im Widerspruch, sondern hängen eng miteinander zusammen. In Bezug auf das hier erörterte Problem bedeutet dies: Die Liebe zu anderen und die Liebe zu uns selbst stellen keine Alternative dar; ganz im Gegenteil wird man bei allen, die fähig sind, andere zu lieben, beobachten können, dass sie auch sich selbst lieben. Liebe ist grundsätzlich unteilbar; man kann die Liebe zu anderen Liebes-“Objekten“ nicht von der Liebe zum eigenen Selbst trennen. Echte Liebe ist Ausdruck inneren Produktivseins und impliziert Fürsorge, Achtung, Verantwortungsgefühl und „Erkenntnis“. Sie ist kein „Affekt“ in dem Sinn, dass ein anderer auf uns einwirkt, sondern sie ist ein tätiges Bestreben, das Wachstum und das Glück der geliebten Person zu fördern. Dieses Streben aber wurzelt in unserer eigenen Liebesfähigkeit.

Einen anderen lieben bedeutet eine Aktualisierung und ein Konzentrieren der Liebesfähigkeit. Die grundsätzliche in der Liebe enthaltene Bejahung richtet sich auf die geliebte Person als der Verkörperung von Eigenschaften, die zum Wesen des Menschen gehören. Einen Menschen lieben heißt alle Menschen als solche lieben. Jene „Arbeitsteilung“, von der William James spricht, bei der man die eigene Familie liebt, aber kein Gefühl für den „Fremden“ hat, ist ein Zeichen dafür, dass man im Grunde zur Liebe nicht fähig ist. Liebe zum Menschen ist nicht, wie häufig angenommen, eine Abstraktion, die auf die Liebe zu einer bestimmten Person folgt, sie geht ihr vielmehr voraus. Genetisch gesehen wird die Liebe zum Menschen überhaupt dadurch erworben, dass man bestimmte Individuen liebt.

Hieraus folgt, dass mein eigenes Selbst ebenso sehr Objekt meiner Liebe sein muss wie ein anderer Mensch. Die Bejahung des eigenen Lebens, des eigenen Glücks und Wachstums und der eigenen Freiheit ist in der Liebesfähigkeit eines jeden verwurzelt, das heißt in seiner Fürsorge, seiner Achtung, seinem Verantwortungsgefühl und seiner „Erkenntnis“. Wenn ein Mensch fähig ist, produktiv zu lieben, dann liebt er auch sich selbst; wenn er nur andere lieben kann, dann kann er überhaupt nicht lieben. Wenn wir annehmen, dass die Liebe zu uns selbst und zu anderen grundsätzlich miteinander zusammenhängen, wie ist dann die Selbstsucht zu erklären, die doch offensichtlich jedes echte Interesse an anderen ausschließt? Der Selbstsüchtige interessiert [IX-476] sich nur für sich selbst, er will alles für sich, er hat keine Freude am Geben, sondern nur am Nehmen. Die Außenwelt interessiert ihn nur insofern, als er etwas für sich herausholen kann. Die Bedürfnisse anderer interessieren ihn nicht, und er hat keine Achtung vor ihrer Würde und Integrität. Er kann nur sich selbst sehen; einen jeden und alles beurteilt er nur nach dem Nutzen, den er davon hat. Er ist grundsätzlich unfähig zu lieben. Beweist das nicht, dass das Interesse an anderen und das Interesse an sich selbst unvereinbar sind? Das wäre so, wenn Selbstsucht dasselbe wäre wie Selbstliebe. Aber diese Annahme ist eben der Irrtum, der bei unserem Problem schon zu so vielen Fehlschlüssen geführt hat. Selbstsucht und Selbstliebe sind keineswegs identisch, sondern in Wirklichkeit Gegensätze. Der Selbstsüchtige liebt sich selbst nicht zu sehr, sondern zu wenig; tatsächlich hasst er sich. Dieser Mangel an Freude über sich selbst und an liebevollem Interesse an der eigenen Person, der nichts anderes ist als Ausdruck einer mangelnden Produktivität, gibt ihm ein Gefühl der Leere und Enttäuschung. Er kann deshalb nur unglücklich und eifrig darauf bedacht sein, dem Leben die Befriedigung gewaltsam zu entreißen, die er sich selbst verbaut hat. Er scheint zu sehr um sich besorgt, aber in Wirklichkeit unternimmt er nur den vergeblichen Versuch, zu vertuschen und zu kompensieren, dass es ihm nicht gelingt, sein wahres Selbst zu lieben. Freud steht auf dem Standpunkt, der Selbstsüchtige sei narzisstisch und habe seine Liebe gleichsam von anderen abgezogen und auf die eigene Person übertragen. Es stimmt zwar, dass selbstsüchtige Menschen unfähig sind, andere zu lieben, aber sie sind auch nicht fähig, sich selbst zu lieben.

Die Selbstsucht ist leichter zu verstehen, wenn man sie mit dem besitzgierigen Interesse an anderen vergleicht, wie wir es zum Beispiel bei einer übertrieben besorgten Mutter finden. Während sie bewusst glaubt, ihr Kind besonders zu lieben, hegt sie in Wirklichkeit eine tief verdrängte Feindseligkeit gegen das Objekt ihrer Fürsorge. Sie ist übertrieben besorgt, nicht weil sie ihr Kind zu sehr liebt, sondern weil sie irgendwie kompensieren muss, dass sie überhaupt unfähig ist zu lieben.

Diese Theorie des Wesens der Selbstsucht wird durch psychoanalytische Erfahrungen mit der neurotischen „Selbstlosigkeit“ bestätigt, die man bei nicht wenigen Menschen beobachten kann; diese leiden gewöhnlich an Symptomen, die damit zusammenhängen, etwa an Depressionen, Müdigkeit, an einer Unfähigkeit zu arbeiten, am Scheitern von Liebesbeziehungen usw. Nicht nur wird Selbstlosigkeit nicht als ein „Symptom“ empfunden; im Gegenteil: Sie ist oft der einzige lobenswerte Charakterzug, auf den solche Menschen stolz sind. Der solcherart Selbstlose „will nichts für sich selbst“; er „lebt nur für andere“; er ist stolz darauf, dass er sich selbst nicht wichtig nimmt. Er wundert sich darüber, dass er sich trotz seiner Selbstlosigkeit unglücklich fühlt und dass seine Beziehungen zu denen, die ihm am nächsten stehen, unbefriedigend sind. Bei der Analyse stellt sich dann heraus, dass seine Selbstlosigkeit sehr wohl etwas mit seinen anderen Symptomen zu tun hat, und dass sie selbst eines dieser Symptome und sogar oft das Wichtigste ist; der Betreffende ist nämlich überhaupt in seiner Fähigkeit, zu lieben oder sich zu freuen, gelähmt; dass er voller Feindschaft gegen das Leben ist und dass sich hinter der Fassade seiner Selbstlosigkeit eine subtile, aber deshalb nicht weniger intensive Ichbezogenheit verbirgt. Man kann einen solchen Menschen nur heilen, wenn man auch seine Selbstlosigkeit als eines seiner Symptome [IX-477] interpretiert, um auf diese Weise seinen Mangel an Produktivität, der die Ursache sowohl seiner Selbstlosigkeit als auch seiner anderen Störungen ist, korrigieren zu können.

Das Wesen der Selbstlosigkeit kommt besonders deutlich in ihrer Wirkung auf andere zum Ausdruck und in unserer Kultur speziell in der Wirkung, die eine solche „selbstlose“ Mutter auf ihre Kinder hat. Sie meint, durch ihre Selbstlosigkeit würden ihre Kinder erfahren, was es heißt, geliebt zu werden, und sie würden ihrerseits daraus lernen, was lieben bedeutet. Die Wirkung ihrer Selbstlosigkeit entspricht jedoch keineswegs ihren Erwartungen. Die Kinder machen nicht den Eindruck von glücklichen Menschen, die davon überzeugt sind, geliebt zu werden. Sie sind ängstlich, nervös und haben ständig Angst, die Mutter könnte mit ihnen nicht zufrieden sein, und sie könnten ihre Erwartungen enttäuschen. Meist werden sie von der versteckten Lebensfeindschaft ihrer Mutter angesteckt, die sie mehr spüren als klar erkennen, und schließlich werden auch sie ganz davon durchdrungen. Alles in allem wirkt eine derart selbstlose Mutter auf ihre Kinder kaum anders als eine selbstsüchtige, ja die Wirkung ist häufig noch schlimmer, weil ihre Selbstlosigkeit die Kinder daran hindert, an ihr Kritik zu üben. Sie fühlen sich verpflichtet, sie nicht zu enttäuschen; so wird ihnen unter der Maske der Tugend eine Abscheu vor dem Leben beigebracht. Hat man dagegen Gelegenheit, die Wirkung zu studieren, die eine Mutter mit einer echten Selbstliebe auf ihr Kind ausübt, dann wird man erkennen, dass es nichts gibt, was dem Kind besser die Erfahrung vermitteln könnte, was Liebe, Freude und Glück bedeuten, als von einer Mutter geliebt zu werden, die sich selbst liebt.

Man kann diese Gedanken über die Selbstliebe nicht besser zusammenfassen als mit einem Zitat Meister Eckharts:

Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft lieb gewonnen, - wenn du nicht alle Menschen so lieb hast wie dich selbst, in einem Menschen alle Menschen: und dieser Mensch ist Gott und Mensch. So steht es recht mit einem solchen Menschen, der sich selbst lieb hat und alle Menschen so lieb wie sich selbst, und mit dem ist es gar recht bestellt. (Meister Eckhart, 1977, S. 214).

5. Liebe zu Gott

Wir haben bereits festgestellt, dass unser Bedürfnis nach Liebe auf unsere Erfahrung des Getrenntseins und auf das daraus resultierende Verlangen zurückzuführen ist, die aus der Getrenntheit entspringende Angst durch die Erfahrung von Einheit zu überwinden. Die als Gottesliebe bezeichnete religiöse Form der Liebe ist psychologisch gesehen nichts anderes. Sie entspringt dem Bedürfnis, das Getrenntsein zu überwinden und Einheit zu erlangen. Tatsächlich hat ja die Liebe zu Gott ebenso viele verschiedene Qualitäten und Aspekte wie die Liebe zum Menschen - und wir finden bei ihr auch im Allgemeinen ebenso viele Unterschiede.

In allen theistischen Religionen - ob sie nun polytheistisch oder monotheistisch sind - verkörpert Gott den höchsten Wert, das erstrebenswerteste Gut. Daher hängt die [IX-478] jeweilige Bedeutung Gottes davon ab, was dem Betreffenden als wünschenswertestes Gut erscheint. Um die Gottesvorstellung eines gläubigen Menschen zu verstehen, sollte man daher mit einer Analyse seiner Charakterstruktur beginnen.

Die Entwicklung der menschlichen Rasse kann man nach allem, was wir darüber wissen, als die Loslösung des Menschen von der Natur, von der Mutter, von der Bindung an Blut und Boden charakterisieren. Am Anfang seiner Geschichte sieht sich der Mensch zwar aus seiner ursprünglichen Einheit mit der Natur ausgestoßen, doch hält er noch weiter an den ursprünglichen Bindungen fest. Er findet seine Sicherheit, indem er wieder zurückgeht oder diese ursprünglichen Bindungen beibehält. Noch immer identifiziert er sich mit der Welt der Tiere und Bäume, und er versucht dadurch zur Einheit zu gelangen, dass er eins bleibt mit der Welt der Natur. Von dieser Entwicklungsstufe zeugen viele primitive Religionen. Da wird ein Tier zu einem Totem, man trägt bei besonders feierlichen religiösen Handlungen oder auch im Krieg Tiermasken; man verehrt ein Tier als Gott. Auf einer späteren Entwicklungsstufe, wenn der Mensch sich handwerkliche und künstlerische Fähigkeiten erworben hat und nicht mehr ausschließlich auf die Gaben der Natur - die Früchte, die er findet, und die Tiere, die er jagt - angewiesen ist, verwandelt er das Erzeugnis seiner eigenen Hände in einen Gott. Es ist dies das Stadium der Verehrung von Götzen aus Lehm, Silber oder Gold. Der Mensch projiziert dabei seine eigenen Kräfte und Fertigkeiten in die Dinge, die er macht, und betet so auf entfremdete Weise sein eigenes Können, seinen eigenen Besitz an. Auf einer noch späteren Stufe verleiht der Mensch seinen Göttern menschliche Gestalt. Offenbar ist er dazu erst imstande, nachdem er sich seiner selbst stärker bewusst geworden ist und den Menschen als das höchste und ehrwürdigste „Ding“ auf der Welt entdeckt hat. In dieser Phase der anthropomorphen Gottesverehrung verläuft die Entwicklung in zwei Dimensionen. Im einen Fall ist die weibliche oder die männliche Natur der Götter ausschlaggebend; im anderen Fall hängt die Art der Götter und die Art, wie sie geliebt und verehrt werden, vom Grad der Reife ab, den die Menschen erreicht haben.

Beschäftigen wir uns zunächst mit der Entwicklung von matrizentrischen zu patrizentrischen Religionen. Die Entdeckungen von Bachofen und Morgan um die Mitte des 19. Jahrhunderts lassen trotz des Widerspruchs in den meisten akademischen Kreisen kaum Zweifel daran, dass zum mindesten in vielen Kulturen eine Phase der matriarchalischen Religion der patriarchalischen vorangegangen ist. In der matriarchalischen Phase ist das höchste Wesen die Mutter. Sie ist die Göttin, und sie ist auch in Familie und Gesellschaft die Autoritätsperson. Um das Wesen der matriarchalischen Religion zu verstehen, brauchen wir uns nur daran zu erinnern, was wir über das Wesen der mütterlichen Liebe gesagt haben. Die Mutterliebe stellt keine Bedingungen, sie ist allbeschützend und allumfassend. Da sie keine Bedingungen stellt, entzieht sie sich jeder Kontrolle, und man kann sie sich nicht erwerben. Ihr Besitz ist Seligkeit; ihr Fehlen führt zu einem Gefühl der Verlorenheit und zu äußerster Verzweiflung. Da Mütter ihre Kinder lieben, weil sie ihre Kinder sind und nicht weil sie „brav“ und gehorsam sind oder weil sie tun, was sie von ihnen wünschen oder verlangen, beruht die Mutterliebe auf Gleichheit. Alle Menschen sind gleich, weil sie alle Kinder einer Mutter sind, weil sie alle Kinder der Mutter Erde sind. [IX-479]

Das nächste Stadium der menschlichen Entwicklung, das einzige, von dem wir genaue Kenntnis haben und bei dem wir nicht auf Rückschlüsse und Rekonstruktionen angewiesen sind, ist die patriarchalische Phase. In dieser Phase wird die Mutter von ihrer alles beherrschenden Stellung entthront, und der Vater wird in der Religion wie auch in der Gesellschaft zum höchsten Wesen. Das Wesen der väterlichen Liebe besteht darin, dass er Forderungen stellt, dass er Gesetze aufstellt und dass seine Liebe zu seinem Sohn davon abhängt, ob dieser seinen Befehlen gehorcht. Er liebt denjenigen Sohn am meisten, der ihm am ähnlichsten ist, der ihm am meisten gehorcht und sich am besten zu seinem Nachfolger als Erbe seines Besitzes eignet. (Die Entwicklung der patriarchalischen Gesellschaft geht Hand in Hand mit der Entwicklung des Privateigentums.)

Die Folge ist, dass die patriarchalische Gesellschaft hierarchisch gegliedert ist; die Gleichheit der Brüder muss dem Wettbewerb und Wettstreit weichen. Ob wir an die indische, die ägyptische oder griechische Kultur oder an die jüdisch-christliche oder islamische Religion denken - immer stehen wir inmitten einer patriarchalischen Welt mit ihren männlichen Göttern, über die ein Hauptgott regiert, oder wo alle Götter außer dem Einen, dem Gott abgeschafft wurden. Da jedoch das Verlangen nach der Liebe einer Mutter aus den Herzen der Menschen nicht auszurotten ist, ist es nicht verwunderlich, dass die Figur der liebenden Mutter aus dem Pantheon nie ganz vertrieben wurde. Im Judentum wurden besonders in den verschiedenen mystischen Strömungen die mütterlichen Aspekte Gottes wieder aufgegriffen. In der katholischen Religion symbolisieren die Kirche und die Jungfrau Maria die Mutter. Selbst im Protestantismus ist die Mutterfigur nicht ganz ausgemerzt, wenn sie auch im Verborgenen bleibt. Luthers Hauptthese lautete, dass sich der Mensch Gottes Liebe nicht durch seine eigenen guten Werke verdienen kann. Gottes Liebe ist Gnade, der gläubige Mensch sollte auf diese Gnade vertrauen und sich klein und hilfsbedürftig machen. Gute Werke können Gott nicht beeinflussen; sie können ihn nicht veranlassen, uns zu lieben, wie das die katholische Kirche lehrt. Wir erkennen hier, dass die katholische Lehre von den guten Werken in das patriarchalische Bild hineingehört. Ich kann mir die Liebe des Vaters dadurch erwerben, dass ich ihm gehorche und seine Gebote erfülle. Dagegen enthält die lutherische Lehre trotz ihres manifesten patriarchalischen Charakters ein verborgenes matriarchalisches Element. Die Liebe der Mutter kann man sich nicht erwerben; man besitzt sie oder man besitzt sie nicht. Alles, was man tun kann, ist, sich in ein hilfloses, machtloses Kind zu verwandeln und Vertrauen zu haben. Wie der Psalmist sagt: „Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, mich barg an der Brust der Mutter“ (Ps 22,10). Aber es ist eine Besonderheit Luthers, dass bei ihm die Mutterfigur aus dem manifesten Bild seines Glaubens herausgenommen und durch die Vaterfigur ersetzt ist. Anstelle der Gewissheit, von der Mutter geliebt zu werden, ist ein intensiver Zweifel, die Hoffnung, entgegen aller Hoffnung von dem Vater bedingungslos geliebt zu werden, das hervorstechendste Merkmal seines Glaubens.

Ich musste auf diesen Unterschied zwischen den matriarchalischen und den patriarchalischen Elementen in der Religion eingehen, um zu zeigen, dass der Charakter der Liebe zu Gott von dem jeweiligen Gewicht der matriarchalischen und der [IX-480] patriarchalischen Aspekte der Religion abhängt. Der patriarchalische Aspekt veranlasst mich, Gott wie einen Vater zu lieben; ich nehme dann an, dass er gerecht und streng ist, dass er belohnt und bestraft und dass er mich schließlich als seinen Lieblingssohn auserwählen wird, so wie Gott Abraham auserwählte, wie Isaak Jakob und wie Gott sein Lieblingsvolk auserwählte. Der matriarchalische Aspekt der Religion erlaubt, dass ich Gott als eine allumfassende Mutter liebe. Ich vertraue darauf, dass sie mich lieben wird, ganz gleich, ob ich arm und hilflos bin und ob ich gesündigt habe, und dass sie mir keine anderen Kinder vorziehen wird. Was auch immer mit mir geschieht, sie wird mir zu Hilfe kommen; sie wird mich retten und mir vergeben. Es erübrigt sich zu sagen, dass meine Liebe zu Gott und Gottes Liebe zu mir nicht voneinander zu trennen sind. Wenn Gott ein Vater ist, liebt er mich wie einen Sohn, und ich liebe ihn wie einen Vater. Wenn Gott eine Mutter ist, so sind ihre und meine Liebe hierdurch bestimmt. Der Unterschied zwischen dem mütterlichen und dem väterlichen Aspekt der Liebe zu Gott ist jedoch nur ein Faktor bei der Wesensbestimmung dieser Liebe. Der andere Faktor ist der Reifegrad des Individuums, von dem auch der Grad der Reife seiner Gottesvorstellung und seiner Gottesliebe abhängt.[18]

Da sich die menschliche Rasse von einer Gesellschaftsstruktur und einer Religion, in deren Mittelpunkt die Mutter stand, zu einer solchen entwickelte, in deren Zentrum der Vater steht, können wir die Entwicklung einer reifer werdenden Liebe in erster Linie an der Entwicklung der patriarchalischen Religion verfolgen. (Das gilt besonders für die monotheistischen Religionen des Westens. In den indischen Religionen haben die Mutterfiguren ihren Einfluss größtenteils behalten, wie zum Beispiel die Göttin Kali. Im Buddhismus und im Taoismus war die Vorstellung von einem Gott - oder einer Göttin - ohne wesentliche Bedeutung, soweit sie nicht überhaupt völlig eliminiert wurde.) Zu Beginn der Entwicklung finden wir einen despotischen, eifersüchtigen Gott, der den Menschen, den er schuf, als seinen Besitz ansieht und mit ihm machen kann, was er will. Es ist dies die Phase der Religion, in der Gott den Menschen aus dem Paradies vertreibt, damit er nicht vom Baum der Erkenntnis isst und wie Gott selbst wird; es ist die Phase, in der Gott beschließt, die menschliche Rasse durch die Sintflut zu vernichten, weil keiner, der ihr angehört, ihm gefällt, außer seinem Lieblingssohn Noah; es ist die Phase, in der Gott von Abraham verlangt, seinen einzigen geliebten Sohn Isaak zu töten, um seine Liebe zu Gott durch einen Akt äußersten Gehorsams unter Beweis zu stellen. Aber gleichzeitig beginnt eine neue Phase; Gott schließt mit Noah einen Bund, in dem er verspricht, nie wieder die menschliche Rasse zu vernichten, einen Bund, an den er selbst gebunden ist. Er ist nicht nur durch sein Versprechen gebunden, sondern auch durch sein eigenes Prinzip der Gerechtigkeit, aufgrund dessen er Abrahams Forderung nachgeben muss, Sodom zu verschonen, sofern sich wenigstens zehn Gerechte darin fänden. Aber die Entwicklung geht noch weiter, und Gott verwandelt sich nicht nur aus der Figur eines despotischen Stammeshäuptlings in einen liebenden Vater, in einen Vater, der selbst an die von ihm geforderten Grundsätze gebunden ist, sie verläuft in der Richtung, dass Gott sich aus einer Vaterfigur in das Symbol seiner Prinzipien: Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe verwandelt. Gott ist Wahrheit, Gott ist Gerechtigkeit. Im Verlauf dieser Entwicklung hört Gott auf, eine Person zu sein; er wird zum Symbol für [IX-481] das Prinzip der Einheit hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, zum Symbol für die Vision einer Blume, die aus dem geistigen Samen im Menschen wächst. Gott kann keinen Namen haben. Ein Name bezeichnet immer ein Ding oder eine Person, etwas Bestimmtes. Wie kann Gott einen Namen haben, wenn er weder eine Person noch ein Ding ist?

Das deutlichste Beispiel für diesen Wandel ist die biblische Geschichte, in der sich Gott Moses offenbart. Gott macht Moses ein Zugeständnis, als dieser sagt, die Hebräer würden ihm nicht glauben, dass Gott ihn schickt, falls er ihnen nicht Gottes Namen nennen könne. (Wie könnten auch Götzenanbeter einen namenlosen Gott begreifen, da es ja gerade das Wesen eines Götzen ausmacht, dass er einen Namen hat.) Gott macht Moses ein Zugeständnis. Er sagt ihm, sein Name sei „Ich bin der ‘Ich-bin-da’“ (Ex 3,14).[19] Mit diesem Namen „Ich-bin-da“ sagt er, dass er nicht bestimmbar ist, keine Person und kein „Seiendes“. Die treffendste Übersetzung seiner Namensangabe würde wohl sein: „Mein Name ist Namenlos“. Das Verbot, sich irgendein Bild von Gott zu machen, seinen Namen unnütz auszusprechen und schließlich seinen Namen überhaupt auszusprechen, zielt ebenfalls darauf ab, den Menschen von der Vorstellung freizumachen, dass Gott ein Vater, dass er eine Person sei. In der späteren theologischen Entwicklung wird dieser Gedanke dahingehend weitergeführt, dass man Gott überhaupt keine positiven Eigenschaften zuschreiben soll. Sagt man, Gott sei weise, stark und gut, so setzt man voraus, dass er eine Person ist; man kann über Gott nur das aussagen, was er nicht ist; man kann lediglich seine negativen Attribute feststellen: dass er nicht endlich, nicht ohne Liebe und nicht ungerecht ist. Je mehr ich darüber weiß, was Gott nicht ist, umso mehr weiß ich von ihm. (Vgl. Maimonides’ Auffassung von den negativen Attributen - M. Maimonides, 1972.)

Wenn man die sich entfaltende Idee des Monotheismus weiterverfolgt, so kann man nur zu dem Schluss kommen, Gottes Namen überhaupt nicht mehr zu erwähnen und überhaupt nicht mehr über Gott zu sprechen. Dann wird Gott zu dem, was er potentiell in der monotheistischen Theologie ist, das namenlose Eine, ein nicht in Worte zu fassendes Gestammel, das sich auf die der Erscheinungswelt zugrunde liegende Einheit, auf den Grund allen Daseins bezieht. Gott wird Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Gott, das bin ich, insofern ich menschlich bin.

Natürlich bewirkt diese Entwicklung vom anthropomorphen zu einem rein monotheistischen Prinzip große Unterschiede in der Art der Gottesliebe. Den Gott Abrahams kann man wie einen Vater lieben oder fürchten, wobei manchmal seine Vergebung und manchmal sein Zorn dominiert. Insofern Gott Vater ist, bin ich das Kind. Ich habe mich noch nicht ganz von dem autistischen Verlangen nach Allwissenheit und Allmacht freigemacht. Ich habe noch nicht die Objektivität erlangt, mir meine Grenzen als menschliches Wesen, meine Unwissenheit, meine Hilflosigkeit klarzumachen. Wie ein Kind mache ich noch immer den Anspruch geltend, dass ein Vater da sein muss, der mir zu Hilfe kommt, der auf mich achtgibt und der mich bestraft, ein Vater, der mich liebt, wenn ich ihm gehorche, der sich geschmeichelt fühlt, wenn ich ihn lobe, und der zornig wird, wenn ich ihm nicht gehorche. Ganz offensichtlich haben die meisten Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung dieses infantile Stadium noch nicht [IX-482] überwunden, so dass für die meisten der Glaube an Gott gleichbedeutend ist mit dem Glauben an einen helfenden Vater - eine kindliche Illusion. Wenn auch einige der großen Lehrer der Menschheit und eine Minderheit unter den Menschen diese Religionsauffassung überwunden haben, so ist sie doch noch immer die dominierende Form von Religion.

Soweit dies zutrifft, hatte Freud mit seiner Kritik an der Gottesidee völlig recht. Sein Irrtum lag jedoch darin, dass er den anderen Aspekt der monotheistischen Religion, nämlich ihren eigentlichen Kern, übersah, welcher in seiner letzten Konsequenz zur Negation der Gottesvorstellung führt. Wenn ein wahrhaft religiöser Mensch sich dem Wesen der monotheistischen Idee entsprechend verhält, dann betet er nicht um etwas, dann erwartet er nichts von Gott; er liebt Gott nicht so, wie ein Kind seinen Vater oder seine Mutter liebt; er hat sich zu der Demut durchgerungen, dass er seine Grenzen fühlt und weiß, dass er über Gott nichts wissen kann. Gott wird für ihn zu dem Symbol, in dem der Mensch auf einer früheren Stufe seiner Evolution alles das zum Ausdruck brachte, was das Ziel seines Strebens war: den Bereich der geistigen Welt, Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit. Ein solcher Mensch vertraut auf die Prinzipien, die „Gott“ repräsentieren; er denkt die Wahrheit, er lebt die Liebe und Gerechtigkeit, und er hält sein Leben nur so weit für wertvoll, als es ihm die Chance gibt, zu einer immer reicheren Entfaltung seiner menschlichen Kräfte zu gelangen - als der einzigen Realität, auf die es ankommt, als des einzigen, was ihn „unbedingt angeht“.[20] Schließlich spricht er dann nicht mehr über Gott und erwähnt nicht einmal mehr seinen Namen. Wenn er sich überhaupt dieser Bezeichnung bedient, dann heißt „Gott zu lieben“ für ihn soviel wie sich danach sehnen, die volle Liebesfähigkeit zu erlangen und das in sich zu verwirklichen, was „Gott“ in einem selbst bedeutet.

Von diesem Standpunkt aus ist die Negation aller „Theologie“, allen Wissens über Gott, die logische Konsequenz monotheistischen Denkens. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen einer so radikalen nicht-theologischen Auffassung und einem nicht-theistischen System, wie wir es zum Beispiel im frühen Buddhismus oder im Taoismus finden.

Alle theistischen Systeme, selbst die nicht-theologischen, mystischen Systeme, postulieren einen spirituellen, den Menschen transzendierenden, jenseitigen Bereich, der den spirituellen Kräften des Menschen und seinem Verlangen nach Erlösung und nach einem inneren Neugeborenwerden Bedeutung und Geltung verleiht. In einem nicht-theistischen System gibt es einen solchen spirituellen, jenseits des Menschen existierenden oder ihn transzendierenden Bereich nicht. Der Bereich der Liebe, Vernunft und Gerechtigkeit existiert als Realität nur deshalb und insofern, als der Mensch es vermochte, während des gesamten Evolutionsprozesses diese Kräfte in sich zu entwickeln. Nach dieser Auffassung besitzt das Leben keinen Sinn außer dem, den der Mensch ihm gibt; die Menschen sind völlig allein und können ihre Einsamkeit nur überwinden, indem sie einander helfen.

Im Zusammenhang mit der Liebe zu Gott möchte ich klarstellen, dass meine eigene Auffassung keine theistische ist. Ich halte die Gottesvorstellung für eine historisch bedingte und bin der Ansicht, dass der Mensch in einer bestimmten historischen Periode die Erfahrung der eigenen höheren Kräfte, seine Sehnsucht nach Wahrheit und [IX-483] Einheit darin zum Ausdruck gebracht hat. Aber ich meine andererseits, dass die aus einem strengen Monotheismus zu ziehenden Konsequenzen und die, welche sich aus einem nicht-theistischen „unbedingten Interesse“ an der spirituellen Wirklichkeit ergeben, zwar verschieden sind, aber sich deshalb nicht unbedingt gegenseitig bekämpfen müssen.

Hier zeigt sich jedoch das Problem der Gottesliebe noch in einer anderen Dimension, die wir diskutieren müssen, um die ganze Komplexität des Problems zu erfassen. Ich meine den grundlegenden Unterschied zwischen der religiösen Einstellung des Ostens (Chinas und Indiens) und der des Westens. Dieser Unterschied lässt sich am Verständnis von Logik erläutern. Seit Aristoteles hat sich die westliche Welt an die logischen Prinzipien der aristotelischen Philosophie gehalten. Diese Logik gründet sich auf den Satz von der Identität (A ist gleich A), auf den Satz vom Widerspruch (A ist nicht gleich Nicht-A) sowie auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten (A kann nicht A und gleichzeitig Nicht-A sein, genauso wenig wie es gleichzeitig weder A noch Nicht-A sein kann). Aristoteles erklärt seine Auffassung sehr klar in dem Satz, „dass ein und dasselbe demselben nicht zugleich zugesprochen und abgesprochen werden könne. (...) Dies ist die sicherste Grundlage (...)“ (Aristoteles, 1951, Metaphysik, 1005b).

Dieses Axiom der aristotelischen Logik hat unsere Denkgewohnheiten so tief beeinflusst, dass wir es als natürlich und selbstverständlich empfinden, während uns die Behauptung, X sei zugleich A und Nicht-A, unsinnig vorkommt. (Natürlich bezieht sich diese Behauptung auf den Faktor X zu einem bestimmten Zeitpunkt und nicht auf X zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt oder auf einen bestimmten Aspekt von X im Gegensatz zu einem anderen Aspekt.)

Im Gegensatz zur aristotelischen Logik steht das, was man als paradoxe Logik bezeichnen könnte. Dabei wird angenommen, dass A und Nicht-A sich als Prädikat von X nicht ausschließen. Die paradoxe Logik dominierte im chinesischen und indischen Denken und in der Philosophie des Heraklit. Später tauchte sie unter der Bezeichnung Dialektik in der Philosophie von Hegel und Marx wieder auf. Das allgemeine Prinzip der paradoxen Logik hat Lao-tse sehr klar zum Ausdruck gebracht: „Wirklich wahre Worte sind paradox“ (Lao-tse, Tao-te-king, Spruch 78). Tschuang-tse sagt: „Das, was eins ist, ist eins. Das, was nicht-eins ist, ist auch eins.“ Diese Formulierungen der paradoxen Logik sind positiv: Es ist, und es ist nicht. Eine andere Formulierung ist negativ: Es ist weder dies noch das. Positive Formulierungen des Gedankens finden wir im taoistischen Denken, bei Heraklit und später wieder in Hegels Dialektik; negative Formulierungen sind in der indischen Philosophie häufig anzutreffen. Es ginge über den Rahmen dieses Buches, den Unterschied zwischen der aristotelischen und der paradoxen Logik ausführlicher darzulegen. Dennoch möchte ich zur Verdeutlichung des Prinzips einige Beispiele anführen. Im westlichen Denken kommt die paradoxe Logik zuerst in der Philosophie Heraklits zum Ausdruck. Dieser nimmt an, dass der Konflikt zwischen Gegensätzen die Grundlage jeder Existenz ist. „Sie begreifen nicht“, sagt Heraklit, „dass es (das All-Eine), auseinanderstrebend, mit sich selber übereinstimmt: widerstrebende Harmonie wie bei Bogen und Leier“ (Heraklit, 1953, S. 134). Oder noch deutlicher: „Wir steigen in denselben Fluss, und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht“ (a.a.O., S. 132). Oder: „Ein [IX-484] und dasselbe offenbart sich in den Dingen als Lebendes und Totes, Waches und Schlafendes, Junges und Altes“ (a.a.O., S. 133).

Lao-tse drückt das Gleiche in poetischerer Form in seiner Philosophie aus. Ein charakteristisches Beispiel für das taoistische Denken ist folgender Ausspruch (Spruch 26):

Das Schwere ist des Leichten Wurzelgrund;
Das Stille ist des Ungestümen Herr.

Oder (Spruch 37):

Der Weg ist ewig ohne Tun;
Aber nichts, was ungetan bliebe.

Oder (Spruch 70):

Meine Worte sind sehr leicht zu verstehen
und sehr leicht auszufahren.
Doch im ganzen Reich
Vermag niemand, sie zu verstehen,
Vermag niemand, sie auszufahren.

Genau wie im indischen und im sokratischen Denken ist auch im taoistischen die höchste Stufe, zu der das Denken führen kann, das Wissen, dass wir nichts wissen. (Spruch 71):

Um sein Nichtwissen wissen
ist das Höchste.
Um sein Wissen nicht wissen
ist krankhaft.

Für diese Philosophie ist es nur konsequent, wenn der höchste Gott keinen Namen hat. Die letzte Realität, das letzte Eine, kann nicht in Worte gefasst oder in Gedanken eingefangen werden. Lao-tse sagt (Spruch 1):

Könnten wir weisen den Weg,
Es wäre kein ewiger Weg.
Könnten wir nennen den Namen,
Es wäre kein ewiger Name.

Oder in Spruch 14:

Was du nicht siehst, so sehr du danach schaust, Des Name ist: plan.
Was du nicht hörst, so sehr du danach lauschest, Des Name ist: heimlich.
Was du nicht fängst, so sehr du danach greifst, Des Name ist: subtil.
Diese drei kannst du nicht weiter erkunden;
Wahrlich chaotisch sind sie zum Einen verbunden.

In Spruch 56 gibt er noch eine andere Formulierung des gleichen Gedankens:

Ein Wissender redet nicht (über das Tao, den Weg),
Ein Redender weiß nicht.

Die brahmanische Philosophie beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen der Mannigfaltigkeit (der Erscheinungen) und der Einheit (Brahman). Aber weder in [IX-485] Indien noch in China wird die paradoxe Philosophie mit einem dualistischen Standpunkt verwechselt. Die Harmonie (Einheit) besteht eben in der Einheit der in ihr enthaltenen Gegensätze. „Von Anbeginn an kreiste das brahmanische Denken um das Paradoxon, dass die Kräfte und Formen der Erscheinungswelt sich gleichzeitig in Antagonismus wie auch in Identität befinden“ (H. Zimmer, 1973, S. 304). Die höchste Macht im Universum wie auch im Menschen ist von ihm weder begrifflich noch mit den Sinnen zu erfassen. Sie ist deshalb „weder das noch das“. Aber wie Zimmer dazu bemerkt, „gibt es keinen Antagonismus zwischen ‘wirklich’ und ‘unwirklich’ in dieser streng undualistischen Welt“ (a.a.O., S. 309).

Auf ihrer Suche nach der Einheit hinter der Mannigfaltigkeit kamen die brahmanischen Denker zu dem Schluss, dass das von ihnen wahrgenommene Gegensatzpaar nicht das Wesen der Dinge, sondern das Wesen des wahrnehmenden Geistes widerspiegelt. Das wahrnehmende Denken muss sich selbst transzendieren, um die wahre Wirklichkeit zu erreichen. Der Widerspruch ist eine Kategorie des menschlichen Geistes und nicht an und für sich ein Element der Wirklichkeit. In dem Rigveda wird dieser Grundsatz folgendermaßen ausgedruckt: „Ich bin beides, die Lebenskraft und der Lebensstoff, die beiden zugleich.“ Die letzte Konsequenz aus dieser Idee, dass der menschliche Geist nur in Widersprüchen wahrnehmen kann, ziehen die Veden auf sehr drastische Weise: In den Veden „wurde das Denken mit all seinen feinen Unterscheidungen erkannt als eine nur weiter hinausgeschobene Grenze der Unwissenheit, ja als der allerfeinste Täuschungskniff der Maya“ (H. Zimmer, 1973, S. 409).

Die paradoxe Logik hat auf die Gottesvorstellung einen bedeutsamen Einfluss. Insofern Gott die letzte Wirklichkeit verkörpert und insofern der menschliche Geist diese Wirklichkeit in Form von Widersprüchen wahrnimmt, kann man über Gott keine positiven Aussagen machen. In dem Vedanta gilt die Idee eines allwissenden und allmächtigen Gottes als Gipfel der Unwissenheit. (Vgl. H. Zimmer, 1973, S. 381 f.) Wir sehen hier den Zusammenhang mit der Namenlosigkeit des Tao, mit dem namenlosen Gott, der sich Moses offenbart, und dem „absoluten Nichts“ bei Meister Eckhart. Der Mensch kann nur die negatio, nie aber die positio, die letzte Wirklichkeit erkennen: „So vermag denn der Mensch überhaupt nicht zu wissen, was Gott ist. Etwas weiß er wohl: was Gott nicht ist. So ruht die Vernunft nimmer als allein in der wesenhaften Wahrheit, die alle Dinge in sich beschlossen hält, damit sie sich nicht zufriedengebe mit irgendwelchen Dingen, sondern immer tiefere Sehnsucht fühle nach dem höchsten und letzten Gute!“ (Meister Eckhart, 1934, S. 76).

Für Meister Eckhart ist Gott „ein Verneinen des Verneinens und ein Verleugnen des Verleugnens. (...) Alle Kreaturen tragen eine Verneinung in sich; die eine verneint, die andere zu sein“ (Meister Eckhart, 1977, S. 252 f.; vgl. auch die negative Theologie des Maimonides). Es ist nur konsequent, dass Gott für Meister Eckhart „das absolute Nichts“ ist, genauso wie er für die Kabbala „En Sof“, das Endlose, ist.

Ich habe den Unterschied zwischen der aristotelischen und der paradoxen Logik erörtert, um die Darlegung eines wichtigen Unterschieds in der Auffassung von der Gottesliebe vorzubereiten. Die Lehrer der paradoxen Logik sagen, der Mensch könne die Wirklichkeit nur in ihren Widersprüchen wahrnehmen, und er könne die [IX-486] letzte Einheit der Wirklichkeit, das All-Eine selbst niemals verstandesmäßig erfassen. Das hatte zur Folge, dass man das letzte Ziel nicht mehr auf denkerischem Weg zu finden suchte. Das Denken kann uns nur zur Erkenntnis führen, dass es selbst uns die letzte Antwort nicht geben kann. Die Welt des Denkens bleibt in Paradoxien verfangen. Die einzige Möglichkeit, die Welt letztlich zu erfassen, liegt nicht im Denken, sondern im Akt, im Erleben von Einssein. So führt die paradoxe Logik zu dem Schluss, dass die Gottesliebe weder im verstandesmäßigen Wissen über Gott noch in der gedanklichen Vorstellung, ihn zu lieben, besteht, sondern im Akt des Erlebens des Einssein mit Gott. Dies führt dazu, dass das größte Gewicht auf die rechte Art zu leben gelegt wird. Unser gesamtes Leben, jede geringfügige und jede wichtige Handlung, dient der Erkenntnis Gottes - aber nicht einer durch richtiges Denken zu erlangenden Erkenntnis, sondern einer, die im richtigen Handeln begründet ist. Das lässt sich deutlich in den Religionen des Ostens erkennen. Sowohl im Brahmanismus wie auch im Buddhismus und Taoismus ist das letzte Ziel der Religion nicht der rechte Glaube, sondern das richtige Handeln. Das Gleiche gilt für die jüdische Religion. Es hat in der jüdischen Überlieferung kaum jemals eine größere Glaubensspaltung gegeben. (Die eine große Ausnahme, der Streit zwischen Pharisäern und Sadduzäern, war im Wesentlichen eine Auseinandersetzung zwischen zwei widerstreitenden Gesellschaftsklassen.) Die jüdische Religion hat (besonders seit dem Beginn unserer Zeitrechnung) den Hauptwert auf die rechte Art zu leben, die Halacha, gelegt (ein Begriff, der etwa die gleiche Bedeutung hat wie Tao).

In der neueren Geschichte finden wir das gleiche Prinzip im Denken von Spinoza, Marx und Freud. Spinoza legt in seiner Philosophie das Hauptgewicht nicht auf den rechten Glauben, sondern auf die richtige Lebensführung. Marx steht auf dem gleichen Standpunkt, wenn er sagt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern“ (K. Marx, 1971, S. 341). Freud wurde durch seine paradoxe Logik zum Prozess seiner psychoanalytischen Therapie, der sich immer weiter vertiefenden Erfahrung seiner selbst, hingeführt.

Vom Standpunkt der paradoxen Logik aus ist nicht das Denken, sondern das Handeln das Wichtigste im Leben. Diese Einstellung hat noch verschiedene weitere Konsequenzen. Zunächst führt sie zur Toleranz, wie wir sie in der indischen und der chinesischen religiösen Entwicklung finden. Wenn nicht das Richtige zu denken der Wahrheit letzter Schluss und der Weg zum Heil ist, besteht auch kein Anlass, mit anderen zu streiten, deren Denken zu anderen Formulierungen geführt hat. Diese Toleranz kommt besonders schön in der Geschichte von den drei Männern zum Ausdruck, die aufgefordert wurden, im Dunkeln einen Elefanten zu beschreiben. Der eine, der seinen Rüssel belastete, sagte: „Dieses Tier gleicht einem Wasserschlauch“; der andere, der das Ohr befühlte, sagte: „Dieses Tier sieht aus wie ein Fächer“, und der dritte, der ein Bein des Elefanten berührte, verglich ihn mit einer Säule.

Zweitens führte die paradoxe Auffassung dazu, stärker die Wandlung des Menschen zu betonen als das Dogma und die Wissenschaft. Vom Standpunkt der indischen und chinesischen Philosophie und Mystik aus besteht die religiöse Aufgabe des Menschen nicht darin, richtig zu denken, sondern richtig zu handeln und (bzw. oder) mit dem Einen im Akt konzentrierter Meditation eins zu werden. [IX-487]

Der Hauptstrom des westlichen Denkens verlief in entgegengesetzter Richtung. Da man erwartete, durch richtiges Denken die letzte Wahrheit erkennen zu können, legte man das Hauptgewicht auf das Denken, wenngleich auch das rechte Handeln nicht für unwichtig gehalten wurde. In der religiösen Entwicklung führte das zur Formulierung von Dogmen, zu endlosen Disputen über dogmatische Formulierungen und zu Intoleranz gegen „Ungläubige“ oder Ketzer. Außerdem führte es dazu, im „Glauben an Gott“ das Hauptziel einer religiösen Einstellung zu sehen. Natürlich bedeutete das nicht, dass nicht daneben auch die Auffassung geherrscht hätte, dass man richtig leben sollte. Trotzdem aber hielt sich jemand, der an Gott glaubte - auch dann, wenn er Gott nicht lebte -, für besser als jemand, der Gott lebte, aber nicht an ihn „glaubte“. Diese Betonung des Denkens hatte noch eine weitere, historisch höchst bedeutungsvolle Konsequenz. Die Idee, dass man die Wahrheit auf dem Weg des Denkens finden könne, führte nicht nur zum Dogma, sondern auch zur Wissenschaft. Beim wissenschaftlichen Denken kommt es allein auf das korrekte Denken an, und zwar sowohl in Bezug auf die intellektuelle Ehrlichkeit wie auch in Bezug auf die Anwendung des wissenschaftlichen Denkens auf die Praxis - das heißt auf die Technik.

Kurz, das paradoxe Denken führte zur Toleranz und zur Bemühung, sich selbst zu wandeln. Der aristotelische Standpunkt führte zum Dogma und zur Wissenschaft, zur katholischen Kirche und zur Entdeckung der Atomenergie.

Auf die Konsequenzen dieses Unterschieds zwischen den beiden Standpunkten für das Problem der Gottesliebe sind wir implizit bereits eingegangen, und wir brauchen sie daher an dieser Stelle nur noch einmal kurz zusammenzufassen.

In den vorherrschenden westlichen Religionssystemen ist die Gottesliebe im Wesentlichen gleichbedeutend mit dem Glauben an Gott, an Gottes Existenz, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Liebe. Die Gottesliebe ist im Wesentlichen ein Denkerlebnis. In den östlichen Religionen und in der Mystik ist die Gottesliebe ein intensives Gefühlserlebnis des Einsseins, das nicht davon zu trennen ist, dass diese Liebe in jeder Handlung im Leben zum Ausdruck kommt. Die radikalste Formulierung für dieses Ziel hat Meister Eckhart gefunden:

Was in ein anderes verwandelt wird, das wird eins mit ihm. Ganz so werde ich in ihn verwandelt, dass er mich als sein Sein wirkt, (und zwar) als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gott ist es wahr, dass es da keinerlei Unterschied gibt. (...) Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott (so) sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins. Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich hinein; durch die Liebe hingegen gehe ich in Gott ein. (Meister Eckhart, 1977, S. 186.)

Damit können wir auf die wichtige Parallele zwischen der Liebe zu den Eltern und der Liebe zu Gott zurückkommen. Das Kind ist zunächst an seine Mutter als den „Grund allen Seins“ gebunden. Es fühlt sich hilflos und braucht die allumfassende Liebe der Mutter. Dann wendet es sich dem Vater als dem neuen Mittelpunkt seiner Zuneigung zu, als dem Leitprinzip seines Denkens und Handelns. Auf dieser Stufe wird es von dem Bedürfnis motiviert, sich das Lob des Vaters zu erwerben und zu vermeiden, seinen Unwillen zu erregen. Auf der Stufe der vollen Reife hat es sich dann von der Person der Mutter und der des Vaters als den beschützenden und befehlenden Mächten befreit; es hat das mütterliche und das väterliche Prinzip in seinem [IX-488] Inneren errichtet. Es ist zu seinem eigenen Vater, zu seiner eigenen Mutter geworden. Es ist Vater und Mutter. In der Geschichte der menschlichen Rasse können wir - wie zu erwarten - die gleiche Entwicklung beobachten: vom Anfang der Liebe zu Gott als einer hilflosen Bindung an eine Muttergottheit, über die Gehorsamsbindung an einen Vatergott bis zu einem reifen Stadium, wo Gott aufhört, eine äußere Macht zu sein, wo der Mensch die Prinzipien der Liebe und Gerechtigkeit in sein eigenes Inneres hineingenommen hat, wo er mit Gott so eins geworden ist, dass er schließlich von ihm nur noch in einem poetischen, symbolischen Sinn spricht.

Aus diesen Erwägungen folgt, dass die Liebe zu Gott nicht von der Liebe zu den eigenen Eltern zu trennen ist. Wenn jemand sich nicht von der inzestuösen Bindung an seine Mutter, seine Sippe und seine Nation gelöst hat, wenn er seine kindliche Abhängigkeit von einem strafenden und belohnenden Vater oder irgendwelchen anderen Autoritäten beibehält, dann kann er keine reife Liebe zu Gott entwickeln; dann befindet sich seine Religion noch in jener früheren Phase, wo Gott als die allbeschützende Mutter oder als der strafende und belohnende Vater erlebt wurde,

In der heutigen Religion finden wir noch alle diese Phasen vor, von der frühesten und primitivsten bis zur höchsten Entwicklungsstufe. Das Wort „Gott“ bezeichnet ebenso den Stammeshäuptling wie das „absolute Nichts“. Freud hat gezeigt, dass im Unbewussten eines jeden Menschen seine sämtlichen Entwicklungsstufen von seiner hilflosen Kindheit an erhalten sind. Die Frage ist, bis zu welchem Punkt der Mensch in seinem Wachstum gelangt ist. Eines ist gewiss: Die Art seiner Liebe zu Gott entspricht der Art seiner Liebe zum Menschen. Außerdem ist ihm die wahre Qualität seiner Liebe zu Gott und den Menschen oft nicht bewusst - sie wird verdeckt und rationalisiert durch seine reiferen Gedanken darüber, wie seine Liebe beschaffen sei. Hinzu kommt, dass die Liebe zum Menschen zwar unmittelbar in seine Beziehungen zur Familie eingebettet ist, dass sie aber letzten Endes durch die Struktur der Gesellschaft determiniert ist, in welcher er lebt. Wenn die Gesellschaftsstruktur durch die Unterwerfung unter eine Autorität gekennzeichnet ist - unter eine offene Autorität oder unter die anonyme Autorität des Marktes und der öffentlichen Meinung -, dann kann seine Gottesvorstellung nur kindlich und weit entfernt von der reifen Auffassung sein, wie sie in der Geschichte der monotheistischen Religion im Keim zu finden ist.

3. Die Liebe und ihr Verfall in der heutigen westlichen Gesellschaft

Wenn Liebe eine Fähigkeit des reifen, produktiven Charakters ist, so folgt daraus, dass die Liebesfähigkeit eines in einer bestimmten Kultur lebenden Menschen von dem Einfluss abhängt, den diese Kultur auf den Charakter des Durchschnittsbürgers ausübt. Wenn wir jetzt von der Liebe in der westlichen Kultur sprechen, wollen wir uns daher zunächst fragen, ob die Gesellschaftsstruktur der westlichen Zivilisation und der aus ihr resultierende Geist der Entwicklung von Liebe förderlich ist. Wir müssen diese Frage verneinen. Kein objektiver Beobachter unseres westlichen Lebens kann bezweifeln, dass die Liebe - die Nächstenliebe, die Mutterliebe und die erotische Liebe - bei uns eine relativ seltene Erscheinung ist und dass einige Formen der Pseudoliebe an ihre Stelle getreten sind, bei denen es sich in Wirklichkeit um ebenso viele Formen des Verfalls der Liebe handelt.

Die kapitalistische Gesellschaft gründet sich einerseits auf das Prinzip der politischen Freiheit und andererseits auf den Markt als den Regulator aller wirtschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Beziehungen. Der Markt der Gebrauchsgüter bestimmt die Bedingungen, unter denen diese Gebrauchsgüter ausgetauscht werden, der Arbeitsmarkt reguliert den An- und Verkauf von Arbeitskraft. Nutzbringende Dinge wie auch nutzbringende menschliche Energie werden in Gebrauchsgüter verwandelt, die man ohne Anwendung von Gewalt und ohne Betrug entsprechend den Marktbedingungen austauscht. Schuhe zum Beispiel, so nützlich und notwendig sie sein mögen, haben keinen wirtschaftlichen Wert (Tauschwert), wenn auf dem Markt keine Nachfrage danach herrscht. Die menschliche Energie und Geschicklichkeit hat keinen Tauschwert, wenn sie unter den derzeitigen Marktbedingungen nicht gefragt ist. Wer über Kapital verfügt, kann Arbeitskraft kaufen und so einsetzen, dass er sein Kapital gewinnbringend anlegt. Wer nur über Arbeitskraft verfügt, muss sie zu den jeweiligen Marktbedingungen an die Kapitalisten verkaufen, wenn er nicht verhungern will. Diese wirtschaftliche Struktur spiegelt sich in der Hierarchie der Werte wider. Das Kapital dirigiert die Arbeitskraft; angesammelte, tote Dinge besitzen einen höheren Wert als das Lebendige, die menschliche Arbeitskraft und Energie.

Dies war von Anfang an die Grundstruktur des Kapitalismus. Obgleich es noch immer auch für den modernen Kapitalismus kennzeichnend ist, haben sich doch inzwischen [IX-490] eine Reihe von Faktoren geändert, die dem heutigen Kapitalismus seine spezifischen Eigenschaften verleihen und einen tiefen Einfluss auf die Charakterstruktur des modernen Menschen ausüben. Die Entwicklung des Kapitalismus hat dahin geführt, dass wir heute Zeugen eines ständig zunehmenden Prozesses der Zentralisierung und Konzentration des Kapitals sind. Die großen Unternehmen dehnen sich ständig weiter aus, und die kleineren werden von ihnen erdrückt. Die Besitzer des in Großunternehmen investierten Kapitals sind immer seltener zugleich auch die Manager. Hunderttausende von Aktionären „besitzen“ das Unternehmen; eine Bürokratie von gutbezahlten Managern, denen das Unternehmen jedoch nicht gehört, verwaltet es. Diese Bürokratie ist weniger an einem maximalen Profit als an der Ausweitung des Unternehmens und der eigenen Macht interessiert. Parallel mit der zunehmenden Konzentration des Kapitals und dem Aufkommen einer mächtigen Managerbürokratie läuft die Entwicklung der Arbeiterbewegung. Durch die Organisierung der Arbeiter in den Gewerkschaften braucht der einzelne Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr seine Sache allein auszuhandeln. Er ist in großen Gewerkschaften organisiert, die ebenfalls von einer mächtigen Bürokratie geleitet werden und die ihn gegenüber den Industriekolossen vertreten. Auf dem Gebiet des Kapitals wie auch auf dem Arbeitsmarkt ist die Initiative, mag man das nun begrüßen oder bedauern, vom einzelnen auf die Bürokratie übergegangen. Immer mehr Menschen verlieren ihre Unabhängigkeit und werden von Managern der großen Wirtschaftsimperien abhängig. Ein weiteres entscheidendes Merkmal, das auf diese Konzentration des Kapitals zurückzuführen und das für den modernen Kapitalismus charakteristisch ist, ist die spezifische Art der Arbeitsorganisation. Die weitgehend zentralisierten Unternehmen mit ihrer radikalen Arbeitsteilung führen zu einer Organisation der Arbeit, bei der der Einzelne seine Individualität einbüßt und zu einem austauschbaren Rädchen in der Maschinerie wird. Man kann das menschliche Problem des Kapitalismus folgendermaßen formulieren: Der moderne Kapitalismus braucht Menschen, die in großer Zahl reibungslos funktionieren, die immer mehr konsumieren wollen, deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausgesehen und beeinflusst werden kann. Er braucht Menschen, die sich frei und unabhängig vorkommen und meinen, für sie gebe es keine Autorität, keine Prinzipien und kein Gewissen - und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, und sich reibungslos in die Gesellschaftsmaschinerie einzufügen; Menschen, die sich führen lassen, ohne dass man Gewalt anwenden müsste, die sich ohne Führer führen lassen und die kein eigentliches Ziel haben außer dem, den Erwartungen zu entsprechen, in Bewegung zu bleiben, zu funktionieren und voranzukommen.

Was kommt dabei heraus? Der moderne Mensch ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet. (Vgl. meine ausführliche Diskussion des Problems der Entfremdung und des Einflusses der modernen Gesellschaft auf den menschlichen Charakter in Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955a, GA IV, S. 88-109.) Er hat sich in eine Gebrauchsware verwandelt und erlebt seine Lebenskräfte als Kapitalanlage, die ihm unter den jeweils gegebenen Marktbedingungen den größtmöglichen Profit einzubringen hat. Die menschlichen Beziehungen sind im Wesentlichen die von entfremdeten Automaten. Jeder glaubt sich dann in Sicherheit, wenn er möglichst dicht bei der Herde bleibt und sich [IX-491] in seinem Denken, Fühlen und Handeln nicht von den anderen unterscheidet. Während aber jeder versucht, den übrigen so nahe wie möglich zu sein, bleibt er doch völlig allein und hat ein tiefes Gefühl der Unsicherheit, Angst und Schuld, wie es immer dann entsteht, wenn der Mensch sein Getrenntsein nicht zu überwinden vermag. Unsere Zivilisation verfügt über viele Betäubungsmittel, die den Leuten helfen, sich ihres Alleinseins nicht bewusst zu werden: Da ist vor allem die strenge Routine der bürokratischen, mechanischen Arbeit, die verhindern hilft, dass sich die Menschen ihres tiefsten Bedürfnisses, des Verlangens nach Transzendenz und Einheit, bewusst werden. Da die Arbeitsroutine hierzu nicht ausreicht, überwindet der Mensch seine unbewusste Verzweiflung durch die Routine des Vergnügens, durch den passiven Konsum von Tönen und Bildern, wie sie ihm die Vergnügungsindustrie bietet; außerdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und diese bald wieder gegen andere auszuwechseln. Der moderne Mensch kommt tatsächlich dem Bild nahe, das Aldous Huxley in seinem Roman Brave New World (1946) beschreibt: Er ist gut genährt, gut gekleidet und sexuell befriedigt, aber ohne Selbst und steht nur in einem höchst oberflächlichen Kontakt mit seinen Mitmenschen. Dabei wird er von Devisen geleitet, die Huxley äußerst treffend formuliert hat: „Wenn der Einzelne fühlt, wird die Gesellschaft von Schwindel erfasst.“ Oder: „Verschiebe ein Vergnügen nie auf morgen, wenn du es heute haben kannst.“ Oder die Krone von allem: „Heutzutage ist jeder glücklich.“ Des Menschen Glück besteht heute darin, „seinen Spaß zu haben“. Und man hat seinen Spaß, wenn man konsumiert und sich Gebrauchsgüter, Bilder, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, Zeitschriften, Bücher und Filme „einverleibt“, indem man alles konsumiert, alles verschlingt. Die Welt ist nur noch da zur Befriedigung unseres Appetits, sie ist ein riesiger Apfel, eine riesige Flasche, eine riesige Brust, und wir sind die Säuglinge, die ewig auf etwas warten, ewig auf etwas hoffen und ewig enttäuscht werden. Unser Charakter ist darauf eingestellt, zu tauschen und Dinge in Empfang zu nehmen, zu handeln und zu konsumieren. Alles und jedes - geistige wie materielle Dinge - werden zu Objekten des Tausches und des Konsums.

Wie nicht anders zu erwarten, ist auch die Liebe vom Gesellschafts-Charakter des modernen Menschen geprägt. Automaten können nicht lieben, sie tauschen ihre persönlichen Vorzüge aus und hoffen auf ein faires Geschäft. Einer der signifikantesten Ausdrücke im Zusammenhang mit Liebe und besonders im Zusammenhang mit einer solchermaßen entfremdeten Ehe ist die Idee des „Teams“. In zahllosen Artikeln über die glückliche Ehe wird deren Idealform als ein reibungslos funktionierendes Team beschrieben. Diese Beschreibung unterscheidet sich kaum von der eines reibungslos funktionierenden Angestellten, der „ziemlich unabhängig“, zur Zusammenarbeit bereit, tolerant und gleichzeitig ehrgeizig und aggressiv sein sollte. Dementsprechend soll der Ehemann, wie die Eheberater uns mitteilen, seine Frau „verstehen“ und ihr eine Hilfe sein. Er soll ihr neues Kleid und ein schmackhaftes Gericht, das sie ihm vorsetzt, loben. Sie ihrerseits soll Verständnis dafür haben, wenn er müde und schlecht gelaunt heimkommt, sie soll ihm aufmerksam zuhören, wenn er über seine beruflichen Schwierigkeiten redet, und sich nicht ärgern, sondern es verständnisvoll aufnehmen, wenn er ihren Geburtstag vergisst. Beziehungen dieser Art laufen alle auf [IX-492] die gut geölte Beziehung zwischen zwei Menschen hinaus, die sich ihr ganzes Leben lang fremd bleiben, die nie zu einer Beziehung von Personmitte zu Personmitte gelangen, sondern sich lediglich höflich behandeln und versuchen, es dem anderen etwas leichter zu machen.

Bei dieser Auffassung von Liebe und Ehe kommt es in erster Linie darauf an, eine Zuflucht vor dem sonst unerträglichen Gefühl des Alleinseins zu finden. In der „Liebe“ hat man endlich einen Hafen gefunden, der einen vor der Einsamkeit schützt. Man schließt zu zweit einen Bund gegen die Welt und hält dann diesen égoisme à deux irrtümlich für Liebe und Vertrautheit.

Die Betonung des Teamgeistes, der gegenseitigem Toleranz usw. ist eine relativ neue Entwicklung. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte man eine andere Auffassung von der Liebe. Damals hielt man die gegenseitige sexuelle Befriedigung für die Grundlage einer befriedigenden Liebesbeziehung und besonders für die einer glücklichen Ehe. Man glaubte den Grund für die vielen unglücklichen Ehen darin gefunden zu haben, dass die Ehepartner es nicht verstanden, sich sexuell richtig aufeinander einzustellen und führte dies darauf zurück, dass sie sich sexuell nicht „richtig“ zu verhalten wussten, gab also der falschen sexuellen Technik des einen Partners oder beider Partner die Schuld. Um diesen Fehler zu „heilen“ und den unglücklichen Partnern, die sich nicht lieben konnten, zu helfen, enthielten viele Bücher Weisungen und erteilten Belehrungen und Ratschläge, wie das sexuelle Verhalten zu korrigieren sei, und versprachen implizit oder explizit, dass Glück und Liebe sich dann schon einstellen würden. Die zugrunde liegende Idee war, dass die Liebe das Kind der sexuellen Lust sei und dass zwei Menschen sich lieben würden, wenn sie erst gelernt hätten, sich gegenseitig sexuell zu befriedigen. Es passte in die allgemeine Illusion jener Zeit hinein, dass man annahm, durch Anwendung der richtigen Technik könne man nicht nur die technischen Probleme der industriellen Produktion, sondern auch alle menschlichen Probleme lösen. Man erkannte nicht, dass es genau umgekehrt ist.

Die Liebe ist nicht das Ergebnis einer adäquaten sexuellen Befriedigung, sondern das sexuelle Glück - ja sogar die Erlernung der sogenannten sexuellen Technik - ist das Resultat der Liebe. Wenn diese These, abgesehen von den Beobachtungen im täglichen Leben, noch eines Beweises bedürfte, so würden die Psychoanalysen reichlich Material dafür liefern. Wenn man die am häufigsten auftretenden sexuellen Probleme untersucht - die Frigidität der Frau und mehr oder weniger schwere Formen psychisch bedingter Impotenz beim Mann -, so erkennt man, dass die Ursache dafür nicht in der mangelnden Kenntnis der richtigen Technik, sondern in den Hemmungen zu suchen ist, die es unmöglich machen zu lieben. Angst oder Hass gegenüber dem anderen Geschlecht liegen diesen Schwierigkeiten zugrunde, die einen Menschen hindern, sich ganz hinzugeben und aus dem Vertrauen auf den Sexualpartner heraus beim unmittelbaren körperlichen Kontakt spontan zu reagieren. Wenn ein sexuell gehemmter Mensch es fertigbringt, sich von seiner Angst oder seinem Hass freizumachen und auf diese Weise fähig wird zu lieben, dann sind seine sexuellen Probleme gelöst. Gelingt es ihm nicht, dann werden ihm auch noch so umfassende Kenntnisse über Sexualtechniken nicht helfen.

Während jedoch das aus der psychoanalytischen Therapie gewonnene Material [IX-493] darauf hinweist, dass es ein Irrtum ist zu glauben, die Kenntnis der richtigen Sexualtechnik würde zu sexuellem Glück und zur Liebe führen, stand doch die dieser Meinung zugrunde liegende Annahme, die Liebe sei eine Begleiterscheinung der gegenseitigem sexuellen Befriedigung, stark unter dem Einfluss von Freuds Theorien. Für Freud war die Liebe im Wesentlichen ein sexuelles Phänomen. „Die Erfahrung, dass die geschlechtliche (genitale) Liebe dem Menschen die stärksten Befriedigungserlebnisse gebe, müsste es nahegelegt haben, die Glücksbefriedigung im Leben auch weiterhin auf dem Gebiet der geschlechtlichen Beziehungen zu suchen, die genitale Erotik in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen“ (S. Freud, 1930a, S. 460).

Für Freud ist die Nächstenliebe ein Produkt der sexuellen Begierde, wobei jedoch der Sexualtrieb in einen „zielgehemmten Impuls“ verwandelt ist. „Die zielgehemmte Liebe war eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewussten des Menschen noch immer“ (S. Freud, 1930a, S. 462). Was das Gefühl des völligen Einsseins, das „ozeanische Gefühl“ betrifft, das das Wesen des mystischen Erlebens ausmacht und das dem intensivsten Gefühl der Vereinigung mit einem anderen Menschen oder mit unseren Mitmenschen zugrunde liegt, so hat Freud es als pathologische Regression, als „Wiederherstellung des uneingeschränkten Narzissmus“ der frühen Kindheit interpretiert (a.a.O., S. 430).

Es heißt nur noch einen Schritt weitergehen, wenn für Freud die Liebe an sich ein irrationales Phänomen ist. Für ihn gibt es keinen Unterschied zwischen irrationaler Liebe und der Liebe als Ausdruck der reifen Persönlichkeit. In seinen Bemerkungen über die Übertragungsliebe (S. Freud, 1915a) stellt er die Behauptung auf, die Übertragungsliebe unterscheide sich im Wesentlichen nicht von dem „normalen“ Phänomen der Liebe. Sich zu verlieben grenze stets ans Abnorme, gehe immer Hand in Hand mit Blindheit gegenüber der Wirklichkeit, es habe Zwangscharakter und sei eine Übertragung von Liebesobjekten der Kindheit. Als ein rationales Phänomen und als höchster Ausdruck der Reife war die Liebe für ihn kein Forschungsobjekt, da sie keine reale Existenz für ihn besaß.

Es wäre jedoch falsch, den Einfluss zu überschätzen, den Freuds Ideen auf die Auffassung ausübten, die Liebe sei das Resultat sexueller Anziehung oder - besser gesagt - sie sei dasselbe wie die im bewussten Gefühl reflektierte sexuelle Befriedigung. In Wirklichkeit sind die Zusammenhänge genau umgekehrt. Teilweise sind Freuds Ideen selbst vom Geist des neunzehnten Jahrhunderts beeinflusst; teils wurden sie durch den nach dem Ersten Weltkrieg herrschenden Zeitgeist populär. Sowohl die damals verbreiteten Anschauungen wie auch Freuds Auffassungen waren erstens die Reaktion auf die strengen Moralbegriffe der Viktorianischen Zeit. Zweitens waren Freuds Ideen von dem damals vorherrschenden Menschenbild geprägt, das von der Struktur des Kapitalismus bestimmt war. Um zu beweisen, dass der Kapitalismus den natürlichen Bedürfnissen des Menschen entspricht, musste man nachweisen, dass der Mensch von Natur aus auf Wettbewerb eingestellt und einer des anderen Feind ist. Während die Nationalökonomen dies mit dem unersättlichen Streben nach wirtschaftlichem Gewinn „bewiesen“ und die Darwinisten es mit dem biologischen Gesetz vom Überleben des Tüchtigsten begründeten, kam Freud zum gleichen Resultat aufgrund der Annahme, dass der Mann von dem unstillbaren Verlangen erfüllt sei, [IX-494] alle Frauen sexuell zu erobern, und dass ihn nur der Druck der Gesellschaft davon abhalte. Die Folge war seiner Auffassung nach, dass die Männer aufeinander eifersüchtig sein müssten, und er nahm an, dass diese gegenseitige Eifersucht und der Konkurrenzkampf selbst dann noch fortbestehen würden, wenn alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründe dafür verschwunden wären. (Der einzige Schüler Freuds, der sich nie von seinem Meister trennte, der aber trotzdem in seinen letzten Lebensjahren seine Ansichten über die Liebe änderte, war Sándor Ferenczi. Eine ausgezeichnete Erörterung dieses Themas bietet Izette de Forest, 1954.)

Schließlich war Freud in seinem Denken auch noch weitgehend von der im neunzehnten Jahrhundert herrschenden Richtung des Materialismus beeinflusst. Man glaubte, das Substrat aller geistig-seelischen Erscheinungen sei in physiologischen Phänomenen zu suchen. Daher hat Freud Liebe, Hass, Ehrgeiz und Eifersucht sämtlich als Produkte der verschiedenen Formen des Sexualtriebs erklärt. Er erkannte nicht, dass die grundlegende Wirklichkeit die Totalität der menschlichen Existenz ist, die erstens durch die allen Menschen gemeinsame „menschliche Situation“ und zweitens durch die Lebenspraxis bestimmt ist, die ihrerseits durch die spezifische Struktur der Gesellschaft determiniert ist. (Marx hat mit seinem „historischen Materialismus“ den entscheidenden Schritt vollzogen, der über diese Art von Materialismus hinausführt. Für ihn war nicht der Körper und auch nicht ein Trieb, etwa das Bedürfnis nach Nahrung oder Besitz, der Schlüssel zum Verständnis des Menschen, sondern der gesamte Lebensprozess des Menschen, seine „Lebenspraxis“.) Nach Freud würde die volle und ungehemmte Befriedigung aller triebhaften Wünsche seelische Gesundheit und Glück verbürgen. Aber die klinischen Fakten zeigen unverkennbar, dass Männer und Frauen -, die ihr Leben der hemmungslosen sexuellen Befriedigung widmen, nicht glücklich sind und sehr häufig unter schweren neurotischen Konflikten oder Symptomen leiden. Die völlige Befriedigung aller triebhaften Bedürfnisse ist nicht nur kein Fundament des Glücks, sie garantiert nicht einmal seelische Gesundheit. Freuds Idee konnte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nur deshalb so populär werden, weil sich im Geist des Kapitalismus gewisse Veränderungen vollzogen hatten. Das Hauptgewicht wurde nicht mehr auf das Sparen, sondern auf das Geldausgeben gelegt. Anstatt sich einzuschränken, um es wirtschaftlich zu etwas zu bringen, strebte man jetzt nach möglichst großem Konsum auf einem sich ständig erweiternden Markt, wo der angsterfüllte, automatisierte Einzelmensch seine Hauptbefriedigung fand. Die Befriedigung eines Wunsches unter keinen Umständen hinauszuschieben, wurde im Bereich der Sexualität wie beim materiellen Konsum zum herrschenden Prinzip.

Es ist interessant, die Freudschen Begriffe, die dem Geist des Kapitalismus entsprechen, wie er zu Anfang unseres Jahrhunderts noch ungebrochen fortbestand, mit den theoretischen Begriffen eines bedeutenden zeitgenössischen Psychoanalytikers, des verstorbenen H. S. Sullivan, zu vergleichen. In Sullivans psychoanalytischem System finden wir im Gegensatz zu dem von Freud eine strenge Unterscheidung zwischen Sexualität und Liebe.[21]

Was versteht Sullivan unter Liebe und Intimität? „Intimität ist jene Situation zwischen zwei Menschen, welche es ermöglicht, alle Komponenten des persönlichen [IX-495] Wertes voll zur Geltung zu bringen. Dies erfordert eine Art der Beziehung, die ich als Kollaboration bezeichnen möchte, worunter ich die klar umrissene Anpassung des Verhaltens des einen Partners an die zum Ausdruck gebrachten Bedürfnisse des anderen Partners verstehe, mit dem Ziel einer immer mehr identischen, das heißt nahezu gegenseitigen Befriedigung, wobei immer ähnlichere Mittel angewandt werden, um dem anderen ein Gefühl der Sicherheit zu geben“ (H. S. Sullivan, 1953, S. 246). (Hierzu ist zu bemerken, dass Sullivans Definition sich zwar auf die Störungen von Voradoleszenten bezieht, dass er aber von diesen als integrierenden Tendenzen spricht, die während der Voradoleszenz in Erscheinung treten und „die wir, wenn sie voll entwickelt sind, Liebe nennen“, und dass er sagt, diese Liebe in der Vor-Adoleszenz stelle „den Anfang von etwas dar, was der vollentwickelten, psychiatrisch definierten Liebe sehr nahekommt“.) Mit noch etwas einfacheren Worten hat Sullivan das Wesen der Liebe als eine Situation der Kollaboration bezeichnet, in der zwei Menschen das Gefühl haben: „Wir halten uns an die Spielregeln, um unser Prestige zu wahren und uns das Gefühl zu erhalten, anderen überlegen zu sein und gewisse Verdienste zu haben“ (a.a.O.). (Eine andere Definition der Liebe, in der Sullivan sagt, die Liebe beginne damit, dass ein Mensch das Gefühl habe, dass die Bedürfnisse des anderen ebenso wichtig seien wie seine eigenen, ist weniger von der Marketing-Orientierung geprägt als die oben erwähnte Formulierung.)

Genau wie Freuds Vorstellung von der Liebe dem patriarchalischen Mann im Sinne des Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts entspricht, bezieht sich Sullivans Definition auf die Erfahrung der entfremdeten Marketing-Persönlichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelt sich um die Beschreibung eines égoisme à deux von zwei Menschen, die ihre beiderseitigen Interessen in einen Topf werfen und gegen eine feindliche und entfremdete Welt zusammenstehen. Tatsächlich gilt seine Definition der Intimität im Prinzip für das Gefühl eines jeden zusammenarbeitenden Teams, „in dem jeder sein Verhalten den zum Ausdruck gebrachten Bedürfnissen des anderen in der Verfolgung gemeinsamer Ziele anpasst“ (H. S. Sullivan, 1953, S. 246). (Bemerkenswert ist, dass Sullivan hier von zum Ausdruck gebrachten Bedürfnissen spricht, während man von der Liebe doch zum mindesten sagen müsste, dass sie eine Reaktion zweier Menschen auf ihre unausgesprochenen Bedürfnisse impliziert.)

Die Liebe als gegenseitige sexuelle Befriedigung und die Liebe als „Teamwork“ und schätzender Hafen vor der Einsamkeit sind die beiden „normalen“ Formen des Verfalls der Liebe in der modernen westlichen Gesellschaft. Sie stellen die gesellschaftlich bedingte Pathologie der Liebe dar. Es gibt viele individuelle Formen pathologischer Liebe, die dazu führen, dass die Betreffenden bewusst leiden, und die von Psychiatern und auch von einer immer größeren Zahl von Laien als neurotisch angesehen werden. Ich möchte im Folgenden kurz ein paar Beispiele für diese Formen geben.

Grundvoraussetzung für die neurotische Liebe ist, dass einer der beiden „Liebenden“ oder auch beide noch an eine Elternfigur gebunden sind und dass sie jetzt als Erwachsene die Gefühle, Erwartungen und Ängste, die sich auf den Vater oder die Mutter bezogen, auf die geliebte Person übertragen. Solche Menschen haben diese infantile Bezogenheit nie überwunden und suchen als Erwachsene nach ähnlichen effektiven [IX-496] Beziehungen. In diesen Fällen ist der Betreffende in seinem Gefühlsleben noch ein zwei- oder fünf- oder zwölfjähriges Kind, während er intellektuell und gesellschaftlich auf der Stufe seines wirklichen Alters steht. In schweren Fällen führt die emotionale Unreife zu einer Beeinträchtigung der Leistungen innerhalb der Gesellschaft; in weniger schweren Fällen bleibt der Konflikt auf die Sphäre der intimen persönlichen Beziehungen beschränkt.

Mit folgendem Beispiel kommen wir noch einmal auf unsere Diskussion der mutter- oder vaterzentrierten Persönlichkeit zurück. Bei dieser heute häufig anzutreffenden neurotischen Liebesbeziehung handelt es sich um Männer, die in Bezug auf ihre emotionale Entwicklung in ihrer infantilen Bindung an die Mutter steckengeblieben sind. Es sind Männer, die gleichsam nie von der Mutter entwöhnt wurden. Sie fühlen sich noch immer als Kinder; sie verlangen nach mütterlichem Schutz, nach mütterlicher Liebe, Wärme, Fürsorge und Bewunderung; sie brauchen die bedingungslose Liebe einer Mutter, eine Liebe, die ihnen aus keinem anderen Grund gegeben wird als dem, dass sie das Kind ihrer Mutter sind und dass sie hilflos sind. Solche Männer sind häufig recht zärtlich und charmant, wenn sie versuchen, eine Frau dazu zu bringen, sie zu lieben, und sie bleiben es sogar, nachdem sie ihr Ziel erreicht haben. Aber ihre Beziehung zu dieser Frau (wie übrigens zu allen anderen Menschen auch) bleibt oberflächlich und ohne Verantwortungsgefühl. Ihr Ziel ist, geliebt zu werden, nicht zu lieben. Solche Männer sind gewöhnlich recht eitel und haben mehr oder weniger versteckt den Kopf voll grandioser Ideen. Wenn sie die richtige Frau gefunden haben, fühlen sie sich sicher und aller Welt überlegen. Sie können dann sehr liebevoll und charmant sein, was der Grund dafür ist, dass man so oft auf sie hereinfällt. Wenn aber dann die Frau nach einiger Zeit ihren phantastischen Erwartungen nicht mehr entspricht, kommt es zu Konflikten und Verstimmungen. Wenn die Frau einen solchen Mann nicht ständig bewundert, wenn sie ihr eigenes Leben leben will, wenn sie selbst geliebt und beschützt werden möchte, und wenn sie in extremen Fällen nicht bereit ist, ihm seine Liebesaffären mit anderen Frauen zu verzeihen (oder sogar ein bewunderndes Interesse dafür zu bekunden), dann fühlt er sich zutiefst verletzt und enttäuscht und erklärt gewöhnlich dieses Gefühl damit, dass die Frau ihn nicht liebe und egoistisch und anmaßend sei. Alles, was nicht der Haltung einer liebenden Mutter gegenüber ihrem entzückenden Kind entspricht, wird ihr als mangelnde Liebe ausgelegt. Solche Männer verwechseln gewöhnlich ihr charmantes Verhalten, ihren Wunsch zu gefallen mit echter Liebe und kommen so zu dem Ergebnis, dass sie unfair behandelt werden. Sie halten sich für großartige Liebhaber und beklagen sich bitter über die Undankbarkeit ihres Liebespartners.

In seltenen Fällen kann ein solcher Mann, der von seiner Mutterbindung nicht loskommt, ohne schwere Störungen recht gut funktionieren. Wenn seine Mutter ihn tatsächlich auf eine übertrieben besorgte Weise geliebt hat (vielleicht als eine im Haus dominierende, aber nicht destruktive Frau), wenn er selbst eine Ehefrau vom gleichen mütterlichen Typ findet, wenn seine spezifischen Begabungen und Talente ihm die Möglichkeit geben, seinen Charme spielen zu lassen und bewundert zu werden (wie das gelegentlich bei erfolgreichen Politikern der Fall ist), dann ist er gesellschaftlich „gut angepasst“, ohne jedoch je ein höheres Niveau der Reife zu erreichen. Aber [IX-497] unter weniger günstigen Bedingungen - und das kommt natürlich häufiger vor - wird sein Liebesleben, wenn nicht sogar sein Leben in der Gesellschaft, zu einer schweren Enttäuschung. Wenn dieser Persönlichkeitstyp sich im Stich gelassen fühlt, kommt es zu Konflikten, und er wird häufig von intensiver Angst und von Depressionen befallen.

Es gibt eine noch schwerere Form der Erkrankung, bei der die Mutterbindung noch tiefgehender und noch irrationaler ist. Auf dieser Ebene möchte der Betreffende nicht symbolisch in Mutters schätzende Arme, nicht an ihre nährende Brust, sondern in ihren allempfangenden - und allzerstörenden - Schoß zurückkehren. Wenn es das Wesen der geistig-seelischen Gesundheit ist, aus dem Mutterschoß in die Welt hineinzuwachsen, so ist eine schwere seelische Erkrankung dadurch gekennzeichnet, dass der Betreffende sich zum Mutterschoß hingezogen fühlt, dass er davon wieder aufgesogen und aus dem Leben herausgenommen werden möchte. Zu einer derartigen Mutterbindung kommt es im Allgemeinen, wenn Mütter ihre Kinder auf diese verschlingende und destruktive Weise an sich binden. Sie möchten - manchmal im Namen der Liebe, manchmal im Namen der Pflicht - das Kind, den Adoleszenten, den Mann in sich behalten; nur durch sie soll er atmen können; er soll, außer auf einem oberflächlichen sexuellen Niveau, nicht lieben können und alle anderen Frauen damit entwürdigen; er soll nicht frei und unabhängig sein, sondern ein ewiger Krüppel oder ein Verbrecher.

Dieser Aspekt der destruktiven, verschlingenden Mutter ist der negative Aspekt der Mutterfigur. Die Mutter kann das Leben geben, und sie kann es auch nehmen. Sie kann beleben und zerstören; sie kann Wunder der Liebe bewirken, und niemand kann so verletzen wie sie. Man findet diese beiden entgegengesetzten Aspekte der Mutter häufig in religiösen Bildnissen (zum Beispiel bei der Hindugöttin Kali) wie auch in Traumsymbolen.

Eine andere Form neurotischer Erkrankung findet sich bei Menschen mit einer überstarken Vaterbindung.

Ein solcher Fall liegt bei einem Mann vor, dessen Mutter kalt und reserviert ist, während der Vater (teilweise infolge der Gefühlskälte seiner Frau) seine ganze Liebe und sein ganzes Interesse auf den Sohn konzentriert. Er ist ein „guter Vater“, aber zugleich ist er autoritär. Wenn ihm das Verhalten seines Sohnes behagt, lobt er ihn, beschenkt er ihn und behandelt er ihn liebevoll; missfällt ihm sein Sohn, so zieht er sich von ihm zurück oder tadelt ihn. Der Sohn, der keine andere Zuneigung erfährt als die seines Vaters, gerät in eine sklavische Abhängigkeit von ihm. Sein Hauptlebensziel ist dann, es dem Vater recht zu machen. Gelingt ihm das, so fühlt er sich glücklich, sicher und zufrieden. Macht er jedoch einen Fehler, misslingt ihm etwas oder gelingt es ihm nicht, dem Vater zu gefallen, so fühlt er sich klein und hässlich, ungeliebt und ausgestoßen. In seinem späteren Leben wird ein solcher Mensch eine Vaterfigur zu finden suchen, an die er sich in ähnlicher Weise anschließt. Sein ganzes Leben wird zu einer Folge von Höhe- und Tiefpunkten, je nachdem, ob es ihm gelingt, das Lob des Vaters zu bekommen. Solche Männer sind in ihrer gesellschaftlichen Laufbahn oft sehr erfolgreich. Sie sind gewissenhaft, zuverlässig, fleißig - vorausgesetzt, die Vaterfigur, die sie sich erwählt haben, versteht, sie richtig zu behandeln. In ihren [IX-498] Beziehungen zu Frauen bleiben sie jedoch zurückhaltend und distanziert. Die Frau besitzt für sie keine zentrale Bedeutung, meist verachten sie sie ein wenig, was sie oft hinter der Maske eines väterlichen Interesses für ein kleines Mädchen verbergen. Zu Anfang haben sie durch ihre Männlichkeit vielleicht Eindruck auf eine Frau gemacht, aber sie werden für die Frau, die sie heiraten, zu einer wachsenden Enttäuschung, wenn diese merkt, dass es ihr Schicksal ist, in Bezug auf die Liebe ihres Mannes hinter der Vaterfigur, die in dessen Leben stets die Hauptrolle spielt, zurückstehen zu müssen; anders ist es, wenn sie zufällig selbst eine unaufgelöste Vaterbindung hat und deshalb mit einem Mann glücklich ist, der zu ihr eine Beziehung hat wie zu einem launischen Kind.

Komplizierter ist jene Art von neurotischen Störungen in der Liebe, die ihren Grund in einer anderen Elternkonstellation hat, nämlich dann, wenn Eltern einander nicht lieben, aber zu beherrscht sind, um sich zu streiten oder nach außen hin ihre mangelnde Befriedigung merken zu lassen. Ihre distanzierte Haltung macht, dass auch ihrer Beziehung zu ihren Kindern jede Spontaneität abgeht. Ein kleines Mädchen wächst dann in einer Atmosphäre der „Korrektheit“ auf, in der es aber mit dem Vater oder der Mutter nie in engen Kontakt kommt, was es in Verwirrung und Angst versetzt. Es ist sich nie sicher, was die Eltern fühlen oder denken; immer ist ein Element des Unbekannten, Mysteriösen in der Atmosphäre. Die Folge ist, dass das kleine Mädchen sich in seine eigene Welt zurückzieht, dass es vor sich hin träumt, sich vor der Welt abschließt und später in seinen Liebesbeziehungen die gleiche Haltung einnimmt.

Überdies führt dieses Sich-Zurückziehen zu einer intensiven Angst, zu dem Gefühl, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben, und hat oft masochistische Tendenzen zur Folge, welche die einzige Möglichkeit sind, intensive Erregungen zu erleben. Oft wäre es solchen Frauen lieber, ihr Mann würde ihnen eine Szene machen und brüllen, als dass er sich immer so normal und vernünftig verhält, weil das wenigstens die Last der Spannung und Angst von ihnen nehmen würde. Nicht selten provozieren sie solche Szenen, um die quälende Spannung zu beenden, die eine affektive Gleichgültigkeit hervorruft.

Ich möchte nun im Folgenden auf andere häufige Formen irrationaler Liebe zu sprechen kommen, ohne jedoch die ihnen zugrunde liegenden spezifischen Faktoren aus der Kindheitsentwicklung zu analysieren.

Eine Form der Pseudoliebe, die nicht selten ist und oft als die „große Liebe“ erlebt wird (und die noch öfter in rührenden Filmen und Romanen dargestellt wird), ist die abgöttische Liebe. Wenn jemand noch nicht das Niveau erreicht hat, wo er ein Gefühl der Identität, des Ich-Seins hat, das sich auf die produktive Entfaltung seiner eigenen Kräfte gründet, neigt er dazu, die geliebte Person zu „vergöttern“. Er wird dann seinen eigenen Kräften entfremdet und projiziert sie auf die geliebte Person, die er als das summum bonum, als Inbegriff aller Liebe, allen Lichts und aller Seligkeit verehrt. Bei diesem Prozess beraubt er sich völlig des Gefühls von eigener Stärke und verliert sich in der Geliebten, anstatt sich in ihr zu finden. Da in der Regel niemand auf die Dauer die Erwartungen eines so abgöttisch Liebenden erfüllen kann, muss es zu Enttäuschungen kommen, und man sucht sich mit einem neuen Idol zu entschädigen, [IX-499] manchmal in einem nicht endenden Kreislauf. Kennzeichnend für diese Liebe ist die Intensität und Plötzlichkeit des Liebeserlebnisses. Oft wird diese abgöttische Liebe als die wahre große Liebe bezeichnet. Aber während sie angeblich der Inbegriff einer intensiven, tiefen Liebe ist, spricht aus ihr in Wirklichkeit nur der Hunger und die Verzweiflung des abgöttisch Liebenden. Es braucht wohl nicht besonders erwähnt zu werden, dass nicht selten zwei Menschen in einer gegenseitigen abgöttischen Liebe zusammenfinden, die in Extremfällen das Bild einer folie à deux bietet.

Eine andere Form der Pseudoliebe könnte man als sentimentale Liebe bezeichnen. Das Wesentliche dabei ist, dass die Liebe nur in der Phantasie und nicht im Hier und Jetzt in einer Beziehung mit einem realen anderen Menschen erlebt wird. Die am weitesten verbreitete Form dieser Art Liebe findet man in der Ersatzbefriedigung, die der Konsument von Liebesfilmen, von Liebesgeschichten in Zeitschriften und von Liebesliedern erlebt. Alle unerfüllten Sehnsüchte nach Liebe, Vereinigung und menschlicher Nähe finden im Konsum dieser Produkte ihre Befriedigung. Ein Mann und eine Frau, die in der Beziehung zu ihrem Ehepartner nie fähig waren, die Mauer des Getrenntseins zu überwinden, sind zu Tränen gerührt, wenn sie die glückliche oder unglückliche Liebesgeschichte eines Paares auf der Filmleinwand miterleben. Für viele Paare sind diese Vorführungen auf der Leinwand die einzige Gelegenheit, Liebe zu erleben - nicht Liebe zueinander, sondern als gemeinsame Zuschauer bei der „Liebe“ anderer Leute. Solange die Liebe ein Tagtraum ist, können sie an ihr teilhaben, sobald sie aber Wirklichkeit wird und es sich nun um die Beziehung zwischen zwei realen Menschen handelt, erstarren sie zu Eis. Ein anderer Aspekt der sentimentalen Liebe ist der, dass sie vom gegenwärtigen Zustand der Liebe absieht. Da kann es vorkommen, dass ein Paar tief gerührt den Erinnerungen an seine verflossene Liebe nachhängt, obgleich sie damals, als die Vergangenheit Gegenwart war, gar keine Liebe füreinander empfanden oder nur vom Glück zukünftiger Liebe phantasierten. Wie viele Verlobte oder Jungvermählte träumen vom künftigen Liebesglück und fangen bereits jetzt an, sich leid zu werden. Diese Tendenz passt zur allgemeinen Einstellung, die für den modernen Menschen kennzeichnend ist. Er lebt in der Vergangenheit oder in der Zukunft, aber nicht in der Gegenwart. Er erinnert sich wehmütig an seine Kindheit und an seine Mutter, oder er schmiedet glückverheißende Pläne für die Zukunft. Ob die Liebe aus zweiter Hand erfahren wird, indem man an den erfundenen Erlebnissen anderer teilnimmt, oder ob man sie aus der Gegenwart in die Vergangenheit oder Zukunft entrückt - immer dient diese abstrahierende und entfremdete Form der Liebe als Droge, die die Schmerzen der Wirklichkeit, das Alleinsein und die Abgetrenntheit des Einzelnen lindert.

Bei einer anderen Form der neurotischen Liebe werden Projektionsmechanismen angewendet, um den eigenen Problemen aus dem Weg zu gehen und sich stattdessen mit den Fehlern und Schwächen der „geliebten“ Person zu beschäftigen. Die einzelnen Menschen verhalten sich in dieser Hinsicht sehr ähnlich wie Gruppen, Nationen oder Religionen. Sie haben ein feines Gespür auch für unwesentliche Mängel des anderen und übersehen dabei mit fröhlicher Unbekümmertheit die eigenen - immer darauf bedacht, dem anderen Vorwürfe zu machen oder ihn zu erziehen. Wenn bei einem Paar das alle beide tun - wie es oft der Fall ist -, verwandelt sich ihre [IX-500] Liebesbeziehung in eine Beziehung gegenseitiger Projektionen. Wenn ich herrschsüchtig, unentschlossen oder habgierig bin, werfe ich es meinem Partner vor, um ihn - je nach meinem Charakter - entweder davon zu heilen oder dafür zu bestrafen. Der andere tut dasselbe, und auf diese Weise gelingt es beiden, die eigenen Probleme zu übersehen, und sie unternehmen daher auch keinerlei Schritte, die ihnen in ihrer eigenen Entwicklung weiterhelfen würden.

Eine weitere Form der Projektion ist die Projektion der eigenen Probleme auf die Kinder. Gar nicht selten können wir derartige Projektionen bereits bei dem Wunsch nach eigenen Kindern beobachten. In solchen Fällen entspringt der Wunsch nach Kindern in erster Linie dem Bestreben, das eigene Existenzproblem auf das Leben der Kinder zu projizieren. Wenn jemand das Gefühl hat, dass es ihm nicht gelungen ist, seinem Leben einen Sinn zu geben, versucht er, den Sinn seines Lebens im Leben seiner Kinder zu finden. Aber dieses wird zwangsläufig für einen selbst und hinsichtlich der Kinder scheitern. Für einen selbst scheitert es, weil jeder sein Existenzproblem nur für sich selbst lösen und sich dabei keines Stellvertreters bedienen kann; hinsichtlich der Kinder scheitert es, weil es einem eben an jenen Eigenschaften fehlt, die man brauchte, um die Kinder auf deren eigener Suche nach einer Antwort anleiten zu können. Kinder müssen auch für Projektionen herhalten, wenn es darum geht, eine unglückliche Ehe aufzulösen. Das Hauptargument, das die Eltern in dieser Situation zur Hand haben, lautet, dass sie sich nicht trennen könnten, weil sie die Kinder nicht der Segnungen eines intakten Elternhauses berauben wollen. Bei jeder genaueren Untersuchung würde sich jedoch herausstellen, dass die spannungsgeladene, unglückliche Atmosphäre einer solchen „intakten“ Familie den Kindern mehr schadet als ein offener Bruch, der sie wenigstens lehrt, dass der Mensch in der Lage ist, eine unerträgliche Situation durch einen mutigen Entschluss zu beenden.

Noch ein anderer häufiger Irrtum ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, nämlich die Illusion, Liebe bedeute notwendigerweise, dass es niemals zu Konflikten komme. Genauso wie Menschen gewöhnlich meinen, Schmerz und Traurigkeit müssten unter allen Umständen vermieden werden, so glauben sie auch, Liebe bedeute das Fehlen jeglicher Konflikte. Sie haben auch allen Grund zu dieser Annahme, weil die Streitigkeiten in ihrer Umgebung offenbar nichts als destruktive Auseinandersetzungen sind, die keinem der Beteiligten irgendeinen Nutzen bringen. Die Ursache hierfür ist jedoch, dass die „Konflikte“ der meisten Menschen in Wirklichkeit Versuche darstellen, den wirklichen Konflikten auszuweichen. Es sind Meinungsverschiedenheiten über geringfügige, nebensächliche Dinge, die sich ihrer Natur nach nicht dazu eignen, etwas klarzustellen oder zu einer Lösung zu kommen. Wirkliche Konflikte zwischen zwei Menschen, die nicht dazu dienen, etwas zu verdecken oder auf den anderen zu projizieren, sondern die in der Tiefenschicht der inneren Wirklichkeit, zu der sie gehören, erlebt werden, sind nicht destruktiv. Sie dienen der Klärung und führen zu einer Katharsis, aus der beide Partner wissender und gestärkt hervorgehen. Damit kommen wir wieder auf etwas zurück, das wir bereits dargelegt haben.

Liebe ist nur möglich, wenn sich zwei Menschen aus der Mitte ihrer Existenz heraus miteinander verbinden, wenn also jeder sich selbst aus der Mitte seiner Existenz heraus erlebt. Nur dieses „Leben aus der Mitte“ ist menschliche Wirklichkeit, nur hier [IX-501] ist Lebendigkeit, nur hier ist die Basis für Liebe. Die so erfahrene Liebe ist eine ständige Herausforderung; sie ist kein Ruheplatz, sondern bedeutet, sich zu bewegen, zu wachsen, zusammenzuarbeiten. Ob Harmonie waltet oder ob es Konflikte gibt, ob Freude oder Traurigkeit herrscht, ist nur von sekundärer Bedeutung gegenüber der grundlegenden Tatsache, dass zwei Menschen sich vom Wesen ihres Seins her erleben, dass sie miteinander eins sind, indem sie mit sich selbst eins sind, anstatt vor sich selber auf der Flucht zu sein. Für die Liebe gibt es nur einen Beweis: die Tiefe der Beziehung und die Lebendigkeit und Stärke in jedem der Liebenden. Das allein ist die Frucht, an der die Liebe zu erkennen ist.

Ebenso wenig wie Automaten einander lieben können, können sie Gott lieben. Der Verfall der Gottesliebe hat die gleichen Ausmaße angenommen wie der Verfall der Menschenliebe. Die Tatsache steht in schreiendem Widerspruch zu der Idee, dass wir in der gegenwärtigen Epoche eine religiöse Wiedergeburt erleben. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Von gewissen Ausnahmen abgesehen, erleben wir einen Rückfall in eine götzendienerische Gottesvorstellung und die Umwandlung der Liebe zu Gott in eine Beziehung, die zu einer entfremdeten Charakterstruktur passt. Die Regression auf eine götzenhafte Gottesvorstellung ist leicht zu erkennen. Die Menschen haben Angst, sie besitzen weder Grundsätze noch Glauben und finden sich ohne Ziel außer dem einen, immer weiter voranzukommen. Daher bleiben sie Kinder, um hoffen zu können, dass Vater oder Mutter ihnen schon zu Hilfe kommen werden, wenn sie Hilfe brauchen.

Es ist zwar wahr, dass in religiösen Kulturen wie der des Mittelalters der Durchschnittsmensch in Gott auch einen hilfreichen Vater und eine Mutter gesehen hat; gleichzeitig aber nahm er Gott ernst in dem Sinn, dass es das letzte Ziel seines Lebens ist, nach Gottes Geboten zu leben, und dass die Erlangung des „Heils“ sein höchstes Anliegen ist, dem er alle anderen Betätigungen unterordnete. Heute ist von solchem Bemühen nichts zu merken. Das tägliche Leben wird streng von allen religiösen Wertvorstellungen getrennt. Man widmet es dem Streben nach materiellem Komfort und nach Erfolg auf dem Personalmarkt. Die Grundsätze, auf die unsere weltlichen Bemühungen sich gründen, sind Gleichgültigkeit und Egoismus (wobei letzterer oft als „Individualismus“ oder als „individuelle Initiative“ bezeichnet wird). Menschen aus wahrhaft religiösen Kulturen kann man mit achtjährigen Kindern vergleichen, die zwar noch einen Vater brauchen, der ihnen hilft, die aber schon damit anfangen, sich seine Lehren und Prinzipien selbst zueigen zu machen. Der heutige Mensch ist eher wie ein dreijähriges Kind, das nach dem Vater ruft, wenn es ihn braucht, aber das sich sonst durchaus selbst genug ist, wenn es nur spielen kann.

In dieser Hinsicht befinden wir uns in einer infantilen Abhängigkeit von einem anthropomorphen Gottesbild. Wir denken dabei nicht daran, unser Leben entsprechend Gottes Geboten zu ändern, und stehen daher einem primitiven Götzendienst treibenden Stamm näher als der religiösen Kultur des Mittelalters. Andererseits weist unsere religiöse Situation Züge auf, die neu sind und die nur unsere heutige westliche kapitalistische Gesellschaft kennzeichnen. Ich kann mich hier auf Feststellungen beziehen, die ich bereits an früherer Stelle in diesem Buch gemacht habe. Der moderne Mensch hat sich in eine Ware verwandelt; er erlebt seine Lebensenergie als [IX-502] Investition, mit der er entsprechend seiner Stellung und seiner Situation auf dem Personalmarkt einen möglichst hohen Profit erzielen möchte. Er ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet. Sein Hauptziel ist, mit seinen Fertigkeiten, seinem Wissen und sich selbst, kurz mit seiner „Persönlichkeit“ ein möglichst gutes Geschäft zu machen mit anderen, die genau wie er an einem fairen und gewinnbringenden Tauschhandel interessiert sind. Sein Leben hat kein Ziel außer dem einen: voranzukommen; keinen Grundsatz außer dem einen: ein faires Tauschgeschäft zu machen; und er kennt keine Befriedigung außer der einen: zu konsumieren.

Was kann der Gottesbegriff unter diesen Umständen noch bedeuten? Seine ursprüngliche religiöse Bedeutung hat sich so gewandelt, dass er jetzt in die entfremdete Kultur des Erfolgs hineinpasst. In jüngster Zeit hat man in der religiösen „Erneuerung“ den Glauben an Gott in eine psychologische Methode umgewandelt, die einen für den Konkurrenzkampf noch besser ausrüsten soll. Die Religion verbindet sich mit der Autosuggestion und der Psychotherapie, um dem Menschen bei seinen Geschäften behilflich zu sein. In den zwanziger Jahren hatte man Gott noch nicht bemüht, um seine „Persönlichkeit“ aufzupolieren. Der Bestseller von 1938, Dale Carnegies How to Win Friends and Influence People (Wie man Freunde gewinnt und Menschen beeinflusst) blieb auf streng weltlicher Ebene. Heute hat unser berühmtester Bestseller The Power of Positive Thinking (Die Macht des positiven Denkens) von Pfarrer N. V. Peale (1952) die Funktion von Carnegies Buch übernommen. In diesem religiösen Buch wird nicht einmal gefragt, ob unser Hauptinteresse, das dem Erfolg gilt, auch dem Geist des monotheistischen Glaubens entspricht. Ganz im Gegenteil wird dieses höchste Ziel niemals angezweifelt. Der Glaube an Gott und das Gebet werden als ein Mittel empfohlen, seine Erfolgsmöglichkeiten noch zu vergrößern. Genauso wie moderne Psychiater dem Angestellten empfehlen, glücklich zu sein, um anziehender auf die Kundschaft zu wirken, gibt es Geistliche, die den Rat geben, Gott zu lieben, um erfolgreicher zu werden. „Mache Gott zu deinem Partner“ bedeutet, man solle Gott zu seinem Geschäftspartner machen, anstatt eins mit Gott zu werden in Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit. Genauso wie die biblische Nächstenliebe durch die unpersönliche Fairness ersetzt wurde, hat man Gott in einen weit entfernten Generaldirektor der Universum GmbH verwandelt. Man weiß zwar, dass es ihn gibt, er schmeißt den Laden (wenngleich der Laden vermutlich auch ohne ihn laufen würde), man bekommt ihn nie zu sehen, aber man erkennt ihn als Chef an, und man tut seine Pflicht.

4. Die Praxis der Liebe

Nachdem wir uns bisher mit dem theoretischen Aspekt der Kunst des Liebens befasst haben, stehen wir jetzt vor dem weit schwierigeren Problem, wie man die Kunst des Liebens in die Praxis umsetzen kann. Kann man überhaupt etwas über die Ausübung einer Kunst lernen, außer indem man sie selbst ausübt?

Das Problem wird dadurch noch komplizierter, dass heute die meisten Menschen - und demnach auch die Leser dieses Buches - erwarten, dass man ihnen Do-it-yourself-Rezepte gibt, was in unserem Fall heißt, dass sie eine praktische Anleitung in der Kunst des Liebens erwarten. Ich fürchte, dass jeder, der das von diesem letzten Kapitel erwartet, schwer enttäuscht sein wird. Lieben ist eine persönliche Erfahrung, die jeder nur für sich allein haben kann; tatsächlich gibt es ja auch kaum jemand, der diese Erfahrung nicht wenigstens in rudimentärer Form als Kind, als Adoleszent oder als Erwachsener gehabt hätte. Wenn wir hier die Praxis der Liebe diskutieren, so können wir nur ihre Prämissen erörtern, die Wege, die zu ihr hinführen, und wie man sich in Bezug auf diese Prämissen und Zugangswege zu verhalten hat. Die Schritte zu diesem Ziel hin kann jeder nur für sich allein tun, und die Diskussion endet, bevor der entscheidende Schritt getan ist. Dennoch glaube ich, dass die Diskussion der Zugangswege helfen könnte, die Kunst beherrschen zu lernen - wenigstens denen, die keine fertigen Rezepte erwarten.

Die Ausübung einer jeden Kunst hat gewisse allgemeine Voraussetzungen, ganz gleich ob es sich um die Tischlerkunst, die Medizin oder die Kunst der Liebe handelt. Vor allem erfordert die Ausübung einer Kunst Disziplin. Ich werde es nie zu etwas bringen, wenn ich nicht diszipliniert vorgehe. Tue ich nur dann etwas, wenn ich gerade „in Stimmung“ bin, so kann das für mich ein nettes oder unterhaltsames Hobby sein, doch niemals werde ich in dieser Kunst ein Meister werden. Aber es geht nicht nur um die Disziplin bei der Ausübung einer bestimmten Kunst (zum Beispiel darum, sich jeden Tag einige Stunden lang darin zu üben), sondern man sollte sich in seinem gesamten Leben um Disziplin bemühen. Man sollte meinen, für den modernen Menschen sei nichts leichter zu lernen als Disziplin. Verbringt er nicht täglich acht Stunden auf denkbar disziplinierte Weise bei seinem Job, den er nach einer strengen Routine erledigt? Tatsächlich jedoch zeigt der moderne Mensch außerhalb der Sphäre seiner [IX-504] Berufsarbeit nur äußerst wenig Selbstdisziplin. Wenn er nicht arbeitet, möchte er faulenzen und sich herumräkeln oder - etwas netter ausgedruckt - sich „entspannen“. Dass man faulenzen möchte, ist aber großenteils nichts anderes als eine Reaktion darauf, dass unser Leben durch und durch zur Routine geworden ist. Eben weil der Mensch sich acht Stunden am Tag gezwungen sieht, seine Energie auf Zwecke zu verwenden, die nicht seine eigenen sind, bei einer Arbeitsweise, die er sich nicht selbst aussuchen kann, sondern die ihm vom Arbeitsrhythmus vorgeschrieben wird, begehrt er auf, und sein Aufbegehren nimmt die Form eines kindlichen Sich-gehen-Lassens an. Außerdem ist er im Kampf gegen autoritäre Systeme misstrauisch geworden gegen jede Art von Disziplin, ganz gleich ob sie ihm von einer irrationalen Autorität aufgezwungen wird oder ob er sie sich vernünftigerweise selbst auferlegen sollte. Ohne diese Disziplin aber wird das Leben zersplittert und chaotisch, und es fehlt ihm an Konzentration.

Dass die Konzentration eine unumgängliche Vorbedingung für die Meisterschaft in einer Kunst ist, bedarf kaum eines Beweises. Jeder, der jemals eine Kunst zu erlernen versuchte, weiß das. Trotzdem ist aber die Konzentration in unserer Kultur sogar noch seltener als die Selbstdisziplin. Ganz im Gegenteil führt unsere Kultur zu einer unkonzentrierten, zerstreuten Lebensweise, für die es kaum eine Parallele gibt. Man tut vielerlei gleichzeitig. Zu gleicher Zeit liest man, hört man Radio, redet, raucht, isst und trinkt. Wir sind die Konsumenten mit dem stets geöffneten Mund, begierig und bereit, alles zu verschlingen - Bilder, Schnaps und Wissen. Dieser Mangel an Konzentration kommt auch darin deutlich zum Ausdruck, dass es uns schwerfällt, mit uns allein zu sein. Stillzusitzen, ohne zu reden, zu rauchen, zu lesen und zu trinken, ist den meisten Menschen unmöglich. Sie werden nervös und zappelig und müssen etwas tun - mit dem Mund oder den Händen. Das Rauchen ist eines der Symptome dieses Mangels an Konzentrationsfähigkeit; es beschäftigt Hände, Mund, Augen und Nase zugleich.

Eine dritte Voraussetzung ist die Geduld. Wiederum weiß jeder, der jemals eine Kunst zu meistern versuchte, dass man Geduld haben muss, wenn man etwas erreichen will. Wenn man auf rasche Erfolge aus ist, lernt man eine Kunst nie. Aber für den modernen Menschen ist es ebenso schwer, Geduld zu haben wie Disziplin und Konzentration aufzubringen. Unser gesamtes Industriesystem ist genau dem Gegenteil förderlich: der Geschwindigkeit. Alle unsere Maschinen sind auf Geschwindigkeit hin konstruiert; Auto und Flugzeug bringen uns schnell zu unserem Bestimmungsort, je schneller, umso besser. Die Maschine, die die gleiche Quantität in der halben Zeit produziert, ist doppelt so gut wie die ältere, langsamere. Natürlich hat das wichtige wirtschaftliche Gründe. Aber wie auf so vielen anderen Gebieten werden auch hier menschliche Werte von wirtschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt. Was für die Maschine gut ist, muss auch für den Menschen gut sein - so lautet der logische Schluss. Der moderne Mensch meint, er würde etwas verlieren - nämlich Zeit -, wenn er nicht alles schnell erledigt; und dann weiß er nicht, was er mit der gewonnenen Zeit anfangen soll - und er schlägt sie tot.

Schließlich gehört auch noch zu den Vorbedingungen für die Erlernung einer Kunst, dass es einem sehr wichtig ist, darin Meister zu werden. Wenn die Kunst dem Lehrling [IX-505] nicht von großer Wichtigkeit ist, wird er sie nie erlernen. Er wird bestenfalls ein guter Dilettant, aber niemals ein Meister darin werden. Es ist dies auch für die Kunst der Liebe eine ebenso wichtige Vorbedingung wie für jede andere Kunst. Es sieht aber so aus, als ob in der Kunst des Liebens noch mehr als in anderen Künsten die Dilettanten gegenüber den Meistern in der Überzahl wären.

Im Hinblick auf die allgemeinen Voraussetzungen für die Erlernung einer Kunst ist noch ein weiterer Punkt zu erwähnen. Man lernt anfangs eine Kunst nicht direkt, sondern sozusagen auf indirekte Weise. Man muss oft zuerst eine große Anzahl anderer Dinge lernen, die scheinbar nur wenig damit zu tun haben, bevor man mit der eigentlichen Kunst anfängt. Ein Tischlerlehrling lernt zunächst einmal hobeln; ein angehender Pianist übt zunächst Tonleitern; ein Lehrling in der Zen-Kunst des Bogenschießens fängt mit Atemübungen an. (Um ein Bild von der Konzentration, Disziplin, Geduld und Hingabe zu gewinnen, die zur Erlernung einer Kunst erforderlich sind, möchte ich den Leser auf Herrigels Zen in der Kunst des Bogenschießens (E. Herrigel, 1960) hinweisen.) Wenn man in irgendeiner Kunst zur Meisterschaft gelangen will, muss man ihr sein ganzes Leben widmen oder es doch wenigstens darauf ausrichten. Unsere gesamte Persönlichkeit muss zu einem Instrument zur Ausübung der Kunst werden und muss je nach den speziellen Funktionen, die es zu erfüllen gilt, in Form gehalten werden. Bezüglich der Kunst des Liebens bedeutet das, dass jeder, der ein Meister in dieser Kunst werden möchte, in jeder Phase seines Lebens Disziplin, Konzentration und Geduld praktisch üben muss.

Wie übt man sich in Disziplin? Unsere Großväter wären weit besser in der Lage gewesen, diese Frage zu beantworten. Sie hätten uns empfohlen, morgens früh aufzustehen, keinen unnötigen Luxus zu treiben und hart zu arbeiten. Diese Art von Disziplin hatte jedoch auch ihre offensichtlichen Nachteile. Sie war starr und autoritär, sie stellte die Tugenden der Genügsamkeit und Sparsamkeit in den Mittelpunkt und war in vieler Hinsicht lebensfeindlich. Aber als Reaktion auf diese Art von Disziplin besteht heute in zunehmendem Maß die Tendenz, jeder Art von Disziplin mit Argwohn zu begegnen und in einem undisziplinierten, trägen Sich-gehen-Lassen einen Ausgleich für die Routine zu suchen, die uns während unseres achtstündigen Arbeitstages aufgezwungen wird. Morgens regelmäßig zur gleichen Zeit aufstehen, sich täglich eine bestimmte Zeit mit Tätigkeiten wie Meditieren, Lesen, Musikhören und Spazierengehen beschäftigen; nicht über ein gewisses Mindestmaß hinaus Ablenkung durch Kriminalromane und Filme suchen und nicht zuviel essen und trinken, das wären einige auf der Hand liegende Grundregeln. Wesentlich ist jedoch, dass man Disziplin nicht wie etwas übt, das einem von außen aufgezwungen wird, sondern dass sie zum Ausdruck des eigenen Wollens wird, dass man sie als angenehm empfindet und dass man sich allmählich ein Verhalten angewöhnt, das man schließlich vermissen würde, wenn man es wieder aufgeben sollte. Es gehört zu den bedauerlichen Aspekten unserer westlichen Auffassung von Disziplin (wie übrigens von jeder Tugend), dass man sie für recht mühsam hält und dass man meint, sie könne nur etwas „Gutes“ sein, wenn sie einem schwerfällt. Der Osten hat schon vor langer Zeit erkannt, dass das, was dem Menschen gut tut - seinem Körper und seiner Seele -, ihm auch angenehm sein muss, auch wenn zu Anfang einige Widerstände zu überwinden sind. [IX-506]

Sich zu konzentrieren ist in unserer Kultur noch weit schwieriger, wo alles der Konzentrationsfähigkeit entgegenzuwirken scheint. Der wichtigste Schritt dazu ist zu lernen, mit sich selbst allein zu sein, ohne zu lesen, Radio zu hören, zu rauchen oder zu trinken. Tatsächlich bedeutet sich konzentrieren zu können dasselbe, wie mit sich allein sein zu können - und eben diese Fähigkeit ist eine Vorbedingung für die Fähigkeit zu lieben. Wenn ich an einem anderen Menschen hänge, weil ich nicht auf eigenen Füßen stehen kann, kann er vielleicht mein Lebensretter sein, aber unsere Beziehung ist keine Liebe. Paradoxerweise ist die Fähigkeit, allein sein zu können, die Vorbedingung für die Fähigkeit zu lieben. Jeder, der versucht, mit sich allein zu sein, wird entdecken, wie schwer das ist. Er wird eine innere Unruhe verspüren, wird zappelig werden und sogar Angst bekommen. Er wird bald keine Lust mehr haben, mit dieser Übung fortzufahren, und wird die Unlust damit rationalisieren, dass es ja doch keinen Wert habe, dass es dummes Zeug sei, dass es zuviel Zeit in Anspruch nehme und dergleichen Gründe mehr. Außerdem wird er beobachten, dass ihm allerlei Gedanken durch den Kopf gehen und von ihm Besitz ergreifen. Er wird merken, dass er Pläne für den restlichen Teil des Tages macht, dass er über irgendwelche beruflichen Schwierigkeiten nachdenkt oder darüber, wo er den Abend verbringen könnte. Er wird sich den Kopf mit vielen Dingen füllen, statt sich einmal davon zu befreien. Dabei können ein paar sehr einfache Übungen helfen, wie zum Beispiel in entspannter Haltung (ohne sich zu räkeln, aber auch nicht verkrampft) dasitzen, die Augen schließen, versuchen, sich eine weiße Fläche vorzustellen und dabei alle störenden Bilder und Gedanken auszuschalten. Dann sollte man das eigene Atmen verfolgen; man sollte nicht darüber nachdenken und es auch nicht gewaltsam beeinflussen, sondern es einfach verfolgen - und es auf diese Weise „spüren“. Ferner sollte man versuchen, sein „Ich“ zu erfühlen: Ich = mein Selbst als Zentrum all meiner Kräfte, als Schöpfer meiner Welt. Solche Konzentrationsübungen sollte man jeden Morgen wenigstens zwanzig Minuten lang machen (wenn möglich noch länger) sowie allabendlich vor dem Schlafengehen. (Während dies in den östlichen Kulturen, vor allem in der indischen, in Theorie und Praxis schon immer eine beträchtliche Rolle spielt, verfolgt man in den letzten Jahren auch im Westen ähnliche Ziele. Die wichtigste Schule ist meiner Ansicht nach die von Gindler, deren Ziel es ist, ein Gefühl für den eigenen Körper zu erwerben. Zur Gindler-Methode vgl. auch Charlotte Selvers Beitrag in ihren Vorlesungen und Kursen an der New Yorker New School for Social Research.)

Neben solchen Übungen sollte man lernen, sich bei allem, was man tut, zu konzentrieren: wenn man Musik hört, ein Buch liest, sich mit jemand unterhält oder eine Aussicht bewundert. Nur das, was wir in diesem Augenblick tun, darf uns interessieren, und wir müssen uns ihm ganz hingeben. Wenn man sich so auf etwas konzentriert, spielt es kaum eine Rolle, was man tut. Dann nehmen alle Dinge, die wichtigen wie die unwichtigen, eine neue Dimension in der Wirklichkeit an, weil wir ihnen unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Wenn man lernen will, sich zu konzentrieren, sollte man triviale Unterhaltungen, das heißt solche, die nicht echt sind, möglichst meiden. Wenn zwei Menschen miteinander über das Wachstum eines Baumes, den sie beide kennen, oder über den Geschmack des Brotes, das sie gerade gegessen haben, oder über ein gemeinsames berufliches Erlebnis reden, so kann eine solche Unterhaltung [IX-507] durchaus relevant sein, vorausgesetzt, dass sie das, worüber sie reden, wirklich erlebt haben und sich nicht auf abstrakte Weise damit befassen; andererseits kann sich eine Unterhaltung um Politik oder um religiöse Fragen drehen und trotzdem trivial sein. Dies ist der Fall, wenn beide Gesprächspartner in Gemeinplätzen miteinander reden und bei dem, was sie sagen, mit dem Herzen nicht dabei sind. Hinzuzufügen wäre noch, dass man nicht nur keine trivialen Unterhaltungen führen, sondern dass man auch schlechte Gesellschaft möglichst meiden sollte. Unter schlechter Gesellschaft verstehe ich nicht nur lasterhafte und destruktive Menschen; ihnen sollte man aus dem Weg gehen, weil sie eine vergiftete und deprimierende Atmosphäre um sich verbreiten. Ich meine auch die Gesellschaft von Menschen, die innerlich abgestorben sind, deren Seele tot ist, obgleich ihr Körper noch lebt, von Menschen, deren Gedanken und deren Unterhaltung trivial sind, die schwätzen anstatt zu reden, und die Gemeinplätze statt eigene Gedanken vorbringen. Freilich ist es nicht immer möglich, die Gesellschaft solcher Leute zu meiden, und es ist auch gar nicht notwendig. Wenn man ihnen nicht in der erwarteten Weise mit Gemeinplätzen und Belanglosigkeiten antwortet, sondern unmittelbar und menschlich reagiert, wird man oft erleben, dass auch sie ihr Verhalten ändern, und das oft aufgrund des Überraschungseffekts, den der Schock des Unerwarteten bei ihnen auslöst.

Auf andere konzentriert zu sein, heißt vor allem zuhören zu können. Die meisten hören sich an, was andere sagen, oder erteilen ihnen sogar Ratschläge, ohne ihnen wirklich zuzuhören. Sie nehmen das, was der andere sagt, nicht ernst, und genauso wenig ernst nehmen sie ihre eigenen Antworten. Die Folge ist, dass das Gespräch sie ermüdet. Sie bilden sich ein, es würde sie noch mehr ermüden, wenn sie konzentriert zuhörten, aber das Gegenteil trifft zu. Jede konzentriert ausgeführte Tätigkeit macht einen wach (wenn auch hinterher eine natürliche und wohltuende Müdigkeit einsetzt), während jede unkonzentrierte Tätigkeit schläfrig macht und andererseits zur Folge hat, dass man abends dann schlecht einschläft.

Konzentriert sein heißt, ganz in der Gegenwart, im Hier und Jetzt leben und nicht, während man das eine tut, bereits an das nächste denken, das anschließend zu tun ist. Es versteht sich von selbst, dass Konzentration vor allem von Menschen geübt werden muss, die sich lieben. Sie müssen lernen, einander nahe zu sein, ohne gleich irgendwie wieder voneinander wegzulaufen, wie das gewöhnlich geschieht. Zu Anfang wird es schwerfallen, sich in der Konzentration zu üben; man wird das Gefühl haben, es werde einem nie gelingen. Dass Geduld dazu nötig ist, braucht man kaum zu betonen. Wenn man nicht weiß, dass alles seine Zeit hat, und die Dinge erzwingen will, wird man freilich die Konzentration nie erlernen - auch nicht in der Kunst des Liebens. Wenn man sich eine Vorstellung davon machen will, was Geduld ist, braucht man nur ein Kind beim Lernen des Laufens zu beobachten. Es fällt hin und fällt immer und immer wieder hin und versucht es doch von neuem; es gelingt ihm immer besser, bis es eines Tages laufen kann, ohne hinzufallen. Was könnte der Erwachsene alles fertigbringen, wenn er bei Dingen, die ihm wichtig sind, die Geduld und Konzentration eines Kindes hätte!

Man kann Konzentration nicht erlernen, wenn man sich kein Gespür für sich selbst erwirbt. Was heißt das? Sollte man die ganze Zeit über sich selbst nachdenken, sollte [IX-508] man sich selbst analysieren oder was sonst? Wenn wir sagen wollten, dass man für eine Maschine ein Gespür haben müsse, dürfte es uns kaum schwerfallen zu erklären, was wir damit meinen. So hat zum Beispiel jeder, der einen Wagen fährt, ein Gespür für ihn. Er spürt auch das geringste ungewohnte Geräusch und die geringste Änderung im Beschleunigungsvermögen des Motors. Ebenso spürt der Fahrer jede Veränderung in der Fahrbahnoberfläche und er spürt, was die Autos vor und hinter ihm machen. Über all das denkt er nicht nach; er befindet sich in einem Zustand entspannter Aufmerksamkeit, in dem er aufgeschlossen ist für alle relevanten Veränderungen der Situation, auf die er sich konzentriert - nämlich seinen Wagen sicher zu fahren. Wenn wir uns nach einer Situation umsehen, wo ein Mensch ein Gespür für den anderen hat, so finden wir das deutlichste Beispiel im Verhältnis der Mutter zu ihrem Baby. Sie bemerkt gewisse körperliche Veränderungen, Wünsche und Nöte ihres Kindes bereits, bevor es diese offen äußert. Sie wacht auf, wenn das Kind schreit, während andere, viel lautere Geräusche sie nicht wecken würden. All das bedeutet, dass sie ein Gespür für die Lebensäußerungen ihres Kindes hat; sie ist nicht ängstlich oder besorgt, sondern befindet sich in einem wachen Ruhezustand, in dem sie für jede bedeutsame Mitteilung, die von ihrem Kind kommt, aufnahmebereit ist. Auf gleiche Weise kann man auch für sich selbst ein Gespür haben. Man merkt zum Beispiel, dass man müde oder deprimiert ist, und anstatt diesem Gefühl nachzugeben und es durch trübe Gedanken, die stets zur Hand sind, noch zu verstärken, fragt man sich: „Was ist mit mir los? Warum bin ich so deprimiert?“ Dasselbe geschieht, wenn man merkt, dass man irritiert oder ärgerlich ist, oder dass man vor sich hin träumt und sonst wie vor etwas auf der Flucht ist. In allen diesen Fällen kommt es darauf an, die wahre Ursache zu spüren und nicht auf tausenderlei Weise seine Zuflucht zu Rationalisierungen zu nehmen. Wir sollten auf unsere innere Stimme hören, die uns - oft recht schnell - sagt, weshalb wir so unruhig, deprimiert oder irritiert sind.

Der Durchschnittsmensch hat ein gewisses Gespür für die Prozesse, die sich in seinem Körper abspielen; er bemerkt Veränderungen, selbst einen geringfügigen Schmerz. Zu dieser Art von körperlichem Gespür kommt es relativ leicht, da die meisten Menschen eine Vorstellung davon haben, wie man sich fühlt, wenn es einem gut geht. Das gleiche Gespür in Bezug auf geistige Prozesse ist weit seltener, da die meisten Menschen niemals jemand kennengelernt haben, der optimal funktioniert. Sie nehmen die Art, wie ihre Eltern und Verwandten oder die gesellschaftliche Gruppe, in die sie hineingeboren wurden, seelisch funktionieren, für die Norm, und solange sie selbst nicht davon abweichen, haben sie das Gefühl, normal zu sein, und haben kein Interesse daran zu beobachten. So gibt es zum Beispiel viele, die noch nie einen liebenden Menschen oder einen Menschen gesehen haben, der Integrität, Mut oder Konzentrationsfähigkeit besitzt. Es liegt auf der Hand, dass man, um für sich selbst ein Gespür zu bekommen, eine Vorstellung davon haben muss, was unter dem vollkommen gesunden Funktionieren eines Menschen zu verstehen ist - und wie soll man zu dieser Erfahrung gelangen, wenn man sie in seiner Kindheit oder im späteren Leben nie gemacht hat? Diese Frage ist gewiss nicht einfach zu beantworten, aber sie weist auf einen sehr kritischen Punkt in unserem Erziehungssystem hin. Über der Vermittlung von Wissen geht uns jene Art zu lehren verloren, die für die [IX-509] menschliche Entwicklung am allerwichtigsten ist: die einfache Gegenwart eines reifen, liebenden Menschen. In früheren Epochen unserer Kultur oder in China und Indien schätzte man einen Menschen mit hervorragenden seelischen und geistigen Eigenschaften am höchsten. Auch der Lehrer hatte nicht in erster Linie die Aufgabe, Wissen zu vermitteln, sondern er sollte bestimmte menschliche Haltungen lehren. In der heutigen kapitalistischen Gesellschaft - und dasselbe gilt auch für den russischen Kommunismus - werden keineswegs Menschen mit hervorragenden geistigen und seelischen Qualitäten als Gegenstand unserer Bewunderung und als Vorbild hingestellt. Im Licht der Öffentlichkeit stehen im Wesentlichen Leute, die dem Durchschnittsbürger stellvertretend ein Gefühl der Befriedigung geben. Filmstars, Showmaster, Kolumnisten, einflussreiche Geschäftsleute oder Spitzenpolitiker - das sind die Vorbilder, denen wir nacheifern, Ihre Hauptqualifikation besteht oft darin, dass es ihnen gelungen ist, in der Öffentlichkeit von sich reden zu machen. Aber die Lage erscheint trotzdem nicht ganz hoffnungslos. Wenn man bedenkt, dass ein Mann wie Albert Schweitzer in den Vereinigten Staaten berühmt werden konnte, wenn man sich klarmacht, wie viele Möglichkeiten wir haben, unsere Jugend mit lebenden und historischen Persönlichkeiten bekanntzumachen, die zeigen, was menschliche Wesen als menschliche Wesen und nicht als Entertainer im weitesten Sinn vollbringen können, wenn man an die großen Werke von Literatur und Kunst aller Zeiten denkt, so scheint es doch noch eine Chance zu geben, dass wir uns die Vision einer guten Zukunft des Menschen erhalten, und dass wir sensibel dafür bleiben, wenn der Mensch zu misslingen droht. Falls es uns nicht gelingen sollte, die Vision eines reifen Lebens lebendig zu halten, so besteht allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass unsere gesamte kulturelle Tradition zusammenbricht. Diese Tradition gründet sich nicht in erster Linie auf die Übermittlung bestimmter Arten von Wissen, sondern auf die Weitergabe bestimmter menschlicher Wesenszüge. Wenn die kommenden Generationen diese Wesenszüge nicht mehr vor Augen haben, wird eine fünftausendjährige Kultur zusammenbrechen, selbst dann, wenn ihr Wissen auch weiterhin gelehrt und weiter entwickelt wird.

Bisher haben wir uns mit dem beschäftigt, was zur Ausübung einer jeden Kunst notwendig ist. Jetzt möchte ich mich der Erörterung jener Eigenschaften zuwenden, die für die Fähigkeit zu lieben von spezifischer Bedeutung sind. Nach allem, was ich über das Wesen der Liebe gesagt habe, ist die Hauptvoraussetzung für die Fähigkeit, lieben zu können, dass man seinen Narzissmus überwindet. Der narzisstisch Orientierte erlebt nur das als real, was in seinem eigenen Inneren existiert, während die Erscheinungen in der Außenwelt für ihn an sich keine Realität besitzen, sondern nur daraufhin erfahren werden, ob sie für ihn selbst von Nutzen oder gefährlich sind. Das Gegenteil von Narzissmus ist Objektivität; damit ist die Fähigkeit gemeint, Menschen und Dinge so zu sehen, wie sie sind, also objektiv, und in der Lage zu sein, dieses objektive Bild von einem Bild zu trennen, das durch die eigenen Wünsche und Ängste zustande kommt. Sämtliche Formen von Psychosen weisen die Unfähigkeit zur Objektivität in einem extremen Maß auf. Für den Geisteskranken gibt es nur eine Realität, die in seinem eigenen Inneren existiert, die seiner Ängste und Wünsche. Er sieht die Außenwelt als Symbol seiner eigenen Innenwelt, als seine Schöpfung. Genau das trifft [IX-510] für uns alle zu, wenn wir träumen. Im Traum produzieren wir Ereignisse, wir inszenieren Dramen, die Ausdruck unserer Wünsche und Ängste sind (freilich gelegentlich auch unserer Einsichten und Beurteilungen), und wir sind, solange wir schlafen, überzeugt, dass das Erzeugnis unserer Träume ebenso real ist wie die Wirklichkeit, die wir im wachen Zustand wahrnehmen.

Dem Geisteskranken wie dem Träumenden fehlt ein objektives Bild von der Außenwelt vollständig; aber wir alle sind mehr oder weniger geisteskrank, wir alle schlafen mehr oder weniger, wir alle machen uns ein nicht-objektives Bild von der Welt, das durch unsere narzisstische Orientierung entstellt ist. Muss ich dafür noch Beispiele anführen? Jeder wird sie leicht entdecken, wenn er sich selbst oder seine Nachbarn beobachtet, oder wenn er die Zeitung liest. Der Grad der narzisstischen Entstellung der Wirklichkeit ist dabei unterschiedlich. So ruft zum Beispiel eine Frau den Arzt an und sagt, sie wolle am Nachmittag zu ihm in die Sprechstunde kommen. Der Arzt erwidert, er habe an diesem Tag keine Zeit für sie, aber sie könne gern am nächsten Tag zu ihm kommen. Sie sagt darauf: „Aber Herr Doktor, ich wohne doch nur fünf Minuten von Ihrer Praxis entfernt!“ Sie begreift nicht, dass es für ihn ja keine Zeitersparnis bedeutet, wenn sie nur einen so kurzen Weg hat. Sie erlebt die Situation auf narzisstische Weise: Weil sie Zeit spart, spart auch er Zeit; die einzige Realität, die es für sie gibt, ist sie selbst.

Weniger extrem - oder vielleicht auch nur weniger offensichtlich - sind die Entstellungen, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen an der Tagesordnung sind. Wie viele Eltern erleben die Reaktion ihres Kindes nur unter dem Gesichtspunkt, ob es ihnen gehorcht, ob es ihnen Freude macht, ob es ihnen zur Ehre gereicht usw., anstatt zu merken oder sich auch nur dafür zu interessieren, wie dem Kind selbst dabei zumute ist. Wie viele Männer meinen, ihre Frau sei herrschsüchtig, nur weil sie aufgrund ihrer eigenen Mutterbindung jede Forderung ihrer Frau als Einschränkung der eigenen Freiheit empfinden. Wie viele Frauen halten ihren Mann für untüchtig oder dumm, weil er ihrem Phantasiebild eines strahlenden Ritters nicht entspricht, das sie sich vielleicht als Kind gemacht haben.

Notorisch ist auch der Mangel an Objektivität in Bezug auf andere Völker. Von einem Tag zum anderen wird ein anderes Volk als höchst gemein und bösartig empfunden, während das eigene Volk alles, was nur gut und edel ist, verkörpert. Alles, was der Feind tut, wird mit dem einen - alles, was man selbst tut, wird mit dem anderen Maßstab gemessen. Gute Taten des Feindes werden als besonders heimtückisch betrachtet, weil sie uns und die Welt angeblich hinters Licht führen sollen, während unsere eigenen Übeltaten notwendig und durch die edlen Ziele gerechtfertigt sind, denen sie angeblich dienen. Wenn man die Beziehungen zwischen den Völkern wie auch die zwischen einzelnen Individuen betrachtet, kommt man tatsächlich zu der Überzeugung, dass Objektivität die Ausnahme und eine mehr oder weniger stark ausgeprägte narzisstische Entstellung die Regel ist.

Vernunft ist die Fähigkeit, objektiv zu denken. Die ihr zugrunde liegende emotionale Haltung ist die Demut. Man kann nur objektiv sein und sich seiner Vernunft bedienen, wenn man demütig geworden ist und seine Kindheitsträume von Allwissenheit und Allmacht überwunden hat. [IX-511]

Auf die Praxis der Kunst des Liebens bezogen bedeutet dies: Da die Fähigkeit zu lieben davon abhängt, dass unser Narzissmus relativ gering ist, verlangt diese Kunst die Entwicklung von Demut, Objektivität und Vernunft. Wir müssen unser ganzes Leben darauf ausrichten. Demut und Objektivität sind ebenso unteilbar wie die Liebe. Ich kann meiner Familie gegenüber nicht wirklich objektiv sein, wenn ich es dem Fremden gegenüber nicht sein kann, und umgekehrt. Wenn ich die Kunst des Liebens lernen will, muss ich mich in jeder Situation um Objektivität bemühen und ein Gespür für solche Situationen bekommen, in denen ich nicht objektiv bin. Ich muss versuchen, den Unterschied zu erkennen zwischen dem narzisstisch entstellten Bild, das ich mir von einem Menschen und seinem Verhalten mache, und dem wirklichen Menschen, wie er unabhängig von meinen Interessen, Bedürfnissen und Ängsten existiert. Wenn man sich die Fähigkeit zu Objektivität und Vernunft erworben hat, hat man den Weg zur Kunst des Liebens schon halb zurückgelegt, aber man muss diese Fähigkeit gegenüber allen Menschen besitzen, mit denen man in Kontakt kommt. Wenn jemand seine Objektivität nur für den geliebten Menschen reservieren wollte und meint, er könne in seinen Beziehungen zur übrigen Welt darauf verzichten, dann wird er bald merken, dass er hier wie dort versagt.

Die Fähigkeit zur Liebe hängt davon ab, ob es uns gelingt, unseren Narzissmus und die inzestuöse Bindung an die Mutter und die Sippe zu überwinden. Sie hängt von unserer Fähigkeit ab, zu wachsen und eine produktive Orientierung in unserer Beziehung zur Welt und zu uns selbst zu entwickeln.[22] Dieser Prozess des Sich-Lösens, des Geborenwerdens, des Erwachens hat als unumgängliche Voraussetzung den Glauben. Die Praxis der Kunst des Liebens erfordert die Praxis des Glaubens.

Was ist Glauben? Muss es sich dabei unbedingt um den Glauben an Gott oder an religiöse Doktrinen handeln? Steht Glaube notwendigerweise im Gegensatz oder ist er geschieden von Vernunft und rationalem Denken? Wenn man das Problem des Glaubens auch nur ansatzweise verstehen will, muss man zwischen dem rationalen und dem irrationalen Glauben unterscheiden.[23] Unter einem irrationalen Glauben verstehe ich einen Glauben (an eine Person oder eine Idee), bei dem man sich einer irrationalen Autorität unterwirft. Im Gegensatz dazu handelt es sich beim rationalen Glauben um eine Überzeugung, die im eigenen Denken oder Fühlen wurzelt. Rationaler Glaube meint jene Qualität von Gewissheit und Unerschütterlichkeit, die unseren Überzeugungen eigen ist. Glaube ist ein Charakterzug, der die Gesamtpersönlichkeit beherrscht, und nicht ein Glaube an etwas ganz Bestimmtes.

Rationaler Glaube ist im produktiven, intellektuellen und emotionalen Tätigsein verwurzelt. Der rationale Glaube ist eine wichtige Komponente des rationalen Denkens, in dem er angeblich keinen Platz hat. Wie kommt beispielsweise der Wissenschaftler zu einer neuen Entdeckung? Macht er zunächst ein Experiment nach dem anderen, trägt er Tatsache um Tatsache zusammen, ohne eine Vision davon zu haben, was er zu finden erwartet? Nur selten ist auf irgendeinem Gebiet eine wichtige Entdeckung auf solche Weise gemacht worden, genauso wenig wie man zu wichtigen Schlussfolgerungen kommt, wenn man lediglich seinen Phantasien nachjagt. Der Prozess kreativen Denkens beginnt in allen Bereichen menschlichen Bemühens oft mit etwas, das man als eine „rationale Vision“ bezeichnen könnte, welche selbst das [IX-512] Ergebnis beträchtlicher vorausgegangener Studien, reflektierenden Denkens und vieler Beobachtungen ist. Wenn es einem Wissenschaftler gelingt, genügend Daten zusammenzutragen oder eine mathematische Formel aufzustellen, die seine ursprüngliche Vision in hohem Maß plausibel macht, dann kann man von ihm sagen, es sei ihm gelungen, eine vorläufige Hypothese aufzustellen. Eine sorgfältige Analyse der Hypothese und ihrer Implikationen sowie die Sammlung neuer Daten, welche sie unterbauen, führt dann zu einer adäquaten Hypothese und schließlich vielleicht zur Einordnung dieser Hypothese in eine umfassende Theorie.

Die Geschichte der Wissenschaft ist voller Beispiele für den Glauben an die Vernunft und für solche Visionen der Wahrheit. Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton waren alle erfüllt von einem unerschütterlichen Glauben an die Vernunft. Für diesen Glauben starb Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen, und seinetwegen wurde Spinoza exkommuniziert. Bei jedem Schritt von der Konzeption einer rationalen Vision bis zur Formulierung einer Theorie braucht man Glauben: Glauben an die Vision als einem vernünftigen Ziel, das sich anzustreben lohnt, Glauben an die Hypothese als einer wahrscheinlichen und einleuchtenden Behauptung und Glauben an die schließlich formulierte Theorie - wenigstens so lange, bis ein allgemeiner Konsensus bezüglich ihrer Validität erreicht ist. Dieser Glaube wurzelt in der eigenen Erfahrung, im Vertrauen auf das eigene Denk-, Beobachtungs- und Urteilsvermögen. Während der irrationale Glaube etwas nur deshalb für wahr hinnimmt, weil eine Autorität oder die Mehrheit es sagt, ist der rationale Glaube in einer unabhängigen Überzeugung verwurzelt, die sich auf das eigene produktive Beobachten und Denken gründet - der Meinung der Mehrheit zum Trotz.

Denken und Urteilen sind nicht die einzigen Bereiche, in denen der rationale Glaube eine Rolle spielt. In der Sphäre der menschlichen Beziehungen ist Glaube ein unentbehrlicher Bestandteil jeder echten Freundschaft oder Liebe. „An einen anderen glauben“ heißt so viel wie sich sicher sein, dass der andere in seiner Grundhaltung, im Kern seiner Persönlichkeit, in seiner Liebe zuverlässig und unwandelbar ist. Damit soll nicht gesagt sein, dass jemand nicht auch einmal seine Meinung ändern dürfte, doch sollte seine Grundhaltung sich gleichbleiben. So sollte zum Beispiel seine Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen ein Bestandteil seiner selbst und keiner Veränderung unterworfen sein.

Im gleichen Sinn glauben wir auch an uns selbst. Wir sind uns der Existenz eines Selbst, eines Kerns unserer Persönlichkeit bewusst, der unveränderlich ist und unser ganzes Leben lang fortbesteht, wenn sich auch die äußeren Umstände ändern mögen und wenn auch in unseren Meinungen und Gefühlen gewisse Änderungen eintreten. Dieser Kern ist die Realität hinter dem Wort „Ich“, auf der unsere Überzeugung von unserer Identität beruht. Wenn wir nicht an die Beständigkeit unseres Selbst glauben, gerät unser Identitätsgefühl in Gefahr, und wir werden von anderen Menschen abhängig, deren Zustimmung dann zur Grundlage unseres Identitätsgefühls wird. Nur wer an sich selbst glaubt, kann Anderen treu sein, weil nur ein solcher Mensch sicher sein kann, dass er auch in Zukunft noch derselbe sein wird wie heute und dass er deshalb genauso fühlen und handeln wird, wie er das jetzt von sich erwartet. Der Glaube an uns selbst ist eine Voraussetzung dafür, dass wir etwas versprechen können, und [IX-513] da der Mensch - wie F. Nietzsche, 1910, S. 341) sagt - durch seine Fähigkeit, etwas versprechen zu können, definiert werden kann, ist der Glaube eine der Voraussetzungen der menschlichen Existenz. Worauf es in Liebesbeziehungen ankommt, ist der Glaube an die eigene Liebe, der Glaube an die Fähigkeit der eigenen Liebe, bei Anderen Liebe hervorzurufen, und der Glaube an ihre Verlässlichkeit.

Ein weiterer Aspekt des Glaubens an einen anderen Menschen bezieht sich darauf, dass wir an dessen Möglichkeiten glauben. Die rudimentärste Form, in der dieser Glaube existiert, ist der Glaube der Mutter an ihr Neugeborenes - dass es leben, wachsen, laufen lernen und sprechen lernen wird. Freilich erfolgt die Entwicklung des Kindes in dieser Hinsicht mit einer solchen Regelmäßigkeit, dass man wohl für die diesbezüglichen Erwartungen keinen besonderen Glauben braucht. Anders ist es mit den Fähigkeiten, die sich unter Umständen nicht entwickeln werden, wie etwa die Fähigkeit des Kindes zu lieben, glücklich zu sein und seine Vernunft zu gebrauchen, wie auch spezielle künstlerische Begabungen. Sie sind die Saat, die wächst und die zum Vorschein kommt, wenn die richtigen Voraussetzungen für ihre Entwicklung gegeben sind, die aber auch im Keim erstickt werden kann, wenn solche Voraussetzungen fehlen.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, dass die Bezugsperson im Leben des Kindes an diese Entwicklungsmöglichkeiten glaubt. Ob dieser Glaube vorhanden ist oder nicht, macht den Unterschied aus zwischen Erziehung und Manipulation. Erziehen bedeutet, dem Kind zu helfen, seine Möglichkeiten zu realisieren. (Das englische Wort education = Erziehung kommt vom lateinischen e-ducere, was wörtlich soviel bedeutet wie „herausführen“ oder „etwas herausbringen, was potentiell bereits vorhanden ist“.) Das Gegenteil von Erziehung ist Manipulation, bei welcher der Erwachsene nicht an die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes glaubt und überzeugt ist, dass das Kind nur dann zu einem ordentlichen Menschen wird, wenn er ihm das, was er für wünschenswert hält, einprägt und alles unterdrückt, was ihm nicht wünschenswert scheint. An einen Roboter braucht man nicht zu glauben, weil in ihm kein Leben ist, das sich entfalten könnte.

Der Höhepunkt des Glaubens an andere wird im Glauben an die Menschheit erreicht. In der westlichen Welt kam dieser Glaube in der jüdisch-christlichen Religion zum Ausdruck, und in weltlicher Sprache fand er seinen stärksten Ausdruck in den humanistisch orientierten politischen und gesellschaftlichen Ideen der letzten hundertfünfzig Jahre. Genau wie der Glaube an ein Kind gründet auch er sich auf die Idee, dass die dem Menschen gegebenen Möglichkeiten derart sind, dass er unter entsprechenden Bedingungen die Fähigkeit besitzt, eine von den Grundsätzen der Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe getragene Gesellschaftsordnung zu errichten. Noch ist dem Menschen der Aufbau einer solchen Gesellschaftsordnung nicht gelungen, und deshalb erfordert die Überzeugung, dass er dazu in der Lage sein wird, Glauben. Aber genau wie bei jeder Art von rationalem Glauben handelt es sich auch hier um kein Wunschdenken, sondern dieser Glauben gründet sich auf die unleugbaren Leistungen der Menschheit in der Vergangenheit und auf die Erfahrungen, die jeder einzelne in seinem eigenen Inneren mit seiner Fähigkeit zu Vernunft und Liebe macht.

Während der irrationale Glaube in der Unterwerfung unter eine Macht, die als [IX-514] überwältigend stark, als allwissend und allmächtig empfunden wird, und im Verzicht auf die eigene Kraft und Stärke wurzelt, gründet sich der rationale Glaube auf die entgegengesetzte Erfahrung. Wir besitzen diese Art von Glauben an eine Idee, weil sie das Ergebnis unserer eigenen Beobachtungen und unseres eigenen Denkens ist. Wir glauben an die Möglichkeiten anderer, unserer selbst und der Menschheit nur deshalb, weil wir das Wachstum unserer eigenen Möglichkeiten, die Realität des Wachsens und die Stärke unserer eigenen Vernunft und unserer Liebesfähigkeit in uns erfahren haben; und wir glauben nur insoweit daran, wie wir diese Erfahrung in uns selbst gemacht haben. Die Grundlage des rationalen Glaubens ist die Produktivität. Aus dem Glauben heraus leben heißt produktiv leben. Hieraus folgt, dass der Glaube an die Macht (im Sinne von Herrschaft) und an die Ausübung von Macht das Gegenteil des Glaubens ist. An eine bereits existierende Macht glauben ist gleichbedeutend mit der Verleugnung der Wachstums-Chancen noch nicht realisierter Möglichkeiten. Bei der Macht handelt es sich um eine Voraussage auf die Zukunft, die sich lediglich auf die handgreifliche Gegenwart gründet und die sich als schwere Fehlkalkulation herausstellt. Sie ist deshalb völlig irrational, weil sie die menschlichen Möglichkeiten und das menschliche Wachstum nicht berücksichtigt. Es gibt keinen rationalen Glauben an die Macht. Es gibt nur eine Unterwerfung unter die Macht oder - von Seiten derer, die sie besitzen - den Wunsch, sie zu behaupten. Während Macht für viele das Allerrealste auf der Welt zu sein scheint, hat die Geschichte der Menschheit bewiesen, dass Macht die instabilste aller menschlichen Errungenschaften ist. Da aber Glaube und Macht sich gegenseitig ausschließen, werden alle Religionen und alle politischen Systeme, die ursprünglich auf einen rationalen Glauben gründeten, schließlich korrupt und verlieren ihre Stärke, wenn sie sich auf ihre Macht verlassen oder sich mit der Macht verbünden.

Glauben erfordert Mut. Damit ist die Fähigkeit gemeint, ein Risiko einzugehen, und auch die Bereitschaft, Schmerz und Enttäuschung hinzunehmen. Wer Gefahrlosigkeit und Sicherheit als das Wichtigste im Leben ansieht, kann keinen Glauben haben. Wer sich in einem Verteidigungssystem verschanzt und darin seine Sicherheit durch Distanz und Besitz zu erhalten sucht, macht sich selbst zum Gefangenen. Geliebtwerden und Lieben brauchen Mut, den Mut, bestimmte Werte als das anzusehen, was „uns unbedingt angeht“, den Sprung zu wagen und für diese Werte alles aufs Spiel zu setzen.

Dieser Mut ist etwas völlig anderes als der Mut, von dem der Angeber Mussolini sprach, wenn er sich des Schlagworts „Lebe gefährlich!“ bediente. Sein Mut war der Mut des Nihilismus. Er wurzelte in einer destruktiven Einstellung zum Leben, in der Bereitschaft, sein Leben wegzuwerfen, weil man nicht fähig ist, es zu lieben. Der Mut der Verzweiflung ist das genaue Gegenteil des Muts der Liebe, genauso wie der Glaube an die Macht das Gegenteil des Glaubens an das Leben ist.

Kann man Glauben und Mut irgendwie üben? Glauben kann man tatsächlich jeden Augenblick üben. Man braucht Glauben, um ein Kind zu erziehen; man braucht Glauben, um einschlafen zu können; man braucht Glauben, um mit irgendeiner Arbeit anzufangen. Aber wir alle pflegen ja diese Art von Glauben zu besitzen. Wer ihn nicht hat, leidet an einer Überängstlichkeit in Bezug auf sein Kind, oder er leidet [IX-515] an Schlaflosigkeit oder an der Unfähigkeit, eine produktive Arbeit zu leisten; oder er ist misstrauisch, hat Hemmungen, mit anderen in Kontakt zu kommen, ist hypochondrisch oder unfähig, etwas auf längere Zeit hinaus zu planen. Zu seinem Urteil über einen Menschen auch dann zu stehen, wenn die öffentliche Meinung oder irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse den Anschein erwecken, dass man sich irrte, an seinen Überzeugungen festzuhalten, auch wenn sie unpopulär sind - zu all dem sind Glauben und Mut nötig. Die Schwierigkeiten, Rückschläge und Kümmernisse des Lebens als Herausforderung anzusehen, deren Überwindung uns stärkt, anstatt sie als ungerechte Strafe zu betrachten, die wir nicht verdient haben: Das erfordert Glauben und Mut.

Das praktische Üben von Glauben und Mut fängt bei den kleinen Dingen des täglichen Lebens an. Die ersten Schritte hierzu sind: Darauf zu achten, wo und wann man den Glauben verliert; die Rationalisierungen zu durchschauen, deren man sich bedient, um diesen Glaubensverlust zu verdecken; zu erkennen, wo man sich feige verhält und welche Rationalisierung man hierbei anwendet; zu merken, wie jeder Verrat am Glauben uns schwächt und wie jede neue Schwächung zu einem neuen Verrat führt, und dass dies ein Teufelskreis ist. Dann werden wir auch erkennen, dass wir bewusst zwar Angst haben, nicht geliebt zu werden, dass wir uns aber in Wirklichkeit - wenngleich meist unbewusst - davor fürchten zu lieben. Lieben heißt, dass wir uns dem anderen ohne Garantie ausliefern, dass wir uns der geliebten Person ganz hingeben in der Hoffnung, dass unsere Liebe auch in ihr Liebe erwecken wird. Liebe ist ein Akt des Glaubens, und wer nur wenig Glauben hat, der hat auch nur wenig Liebe. Kann man noch mehr über die Praxis des Glaubens sagen? Vielleicht kann ein anderer es. Wenn ich ein Dichter oder ein Prediger wäre, könnte ich es vielleicht versuchen. Aber da ich beides nicht bin, kann ich nicht einmal den Versuch machen, wenn ich auch meine, dass jeder, dem es wirklich am Herzen liegt, glauben zu lernen, es auch lernen kann, so wie ein Kind das Laufen lernt.

Eine Haltung jedoch, die für die Ausübung der Kunst des Liebens unentbehrlich ist und die wir bisher nur nebenbei erwähnt haben, sollte an dieser Stelle ausdrücklich diskutiert werden, da sie die Grundlage für die Praxis des Liebens ist: die Aktivität im Sinne des Aus-sich-heraus-Tätigseins. Ich erwähnte bereits, dass Aktivität nicht so zu verstehen ist, dass man „sich irgendwie beschäftigt“, sondern als inneres Tätigsein, als produktiver Gebrauch der eigenen Kräfte. Liebe ist ein solches Tätigsein, eine solche Aktivität. Wenn ich liebe, beschäftige ich mich ständig auf aktive Weise mit der geliebten Person, aber nicht nur mit ihr allein. Denn ich würde die Fähigkeit verlieren, aktiv mit ihr in Beziehung zu treten, wenn ich träge wäre, wenn ich mich nicht beständig im Zustand der Aufnahmebereitschaft, der Wachsamkeit und Aktivität befände. Der Schlaf allein ist ein legitimer Zustand der Inaktivität; im wachen Zustand sollte man der Trägheit keinen Platz einräumen. Sehr viele befinden sich heute in der paradoxen Situation, dass sie halb schlafen, wenn sie wach sind, und halb wachen, wenn sie schlafen oder schlafen möchten. Ganz wach zu sein, ist die Voraussetzung dafür, dass man sich selbst und andere nicht langweilt - und tatsächlich gehört es ja zu den wichtigsten Vorbedingungen für die Liebe, dass man sich weder gelangweilt fühlt noch den anderen langweilt. Den ganzen Tag lang im Denken und Fühlen, mit Augen und [IX-516] Ohren tätig zu sein, um nicht innerlich träge zu werden, indem man sich rein rezeptiv verhält, Dinge hortet oder einfach seine Zeit totschlägt, das ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Praxis der Kunst des Liebens. Es ist eine Illusion zu glauben, man könne sein Leben so einteilen, dass man im Bereich der Liebe produktiv und in allen anderen nicht-produktiv sein könne. Produktivität lässt eine derartige Arbeitsteilung nicht zu. Die Fähigkeit zu lieben erfordert einen Zustand intensiver Wachheit und gesteigerter Vitalität, der nur das Ergebnis einer produktiven und tätigen Orientierung in vielen anderen Lebensbereichen sein kann. Ist man auf anderen Gebieten nicht produktiv, so ist man es auch nicht in der Liebe.

Eine Diskussion der Kunst des Liebens darf sich nicht auf den persönlichen Bereich beschränken, wo jene Merkmale und Haltungen erworben und weiterentwickelt werden, die wir in diesem Kapitel beschrieben haben. Sie hängt untrennbar mit dem gesellschaftlichen Bereich zusammen. Wenn Lieben soviel heißt wie gegenüber einem jeden eine liebevolle Haltung einnehmen, wenn Liebe ein Charakterzug ist, dann muss sie notwendigerweise nicht nur in unseren Beziehungen zu unserer Familie und zu unseren Freunden, sondern auch in den Beziehungen zu all jenen zu finden sein, mit denen wir durch unsere Arbeit, unser Geschäft oder unseren Beruf in Kontakt kommen. Es gibt keine „Arbeitsteilung“ zwischen der Liebe zu den eigenen Angehörigen und der Liebe zu Fremden. Ganz im Gegenteil ist letztere die Vorbedingung für erstere. Würde man diese Einsicht ernst nehmen, so würde das in der Tat eine recht drastische Veränderung in unseren gewohnten sozialen Beziehungen bedeuten. Während wir viel vom religiösen Ideal der Nächstenliebe reden, werden unsere Beziehungen in Wirklichkeit bestenfalls vom Grundsatz der Fairness geleitet. Fairness bedeutet soviel wie auf Betrug und Tricks beim Austausch von Gebrauchsgütern und Dienstleistungen wie auch beim Austausch von Gefühlen zu verzichten. „Ich gebe dir ebenso viel, wie du mir gibst“ - materielle Güter oder Liebe -: So lautet die oberste Maxime der kapitalistischen Moral. Man könnte sagen, dass die Entwicklung der Fairness-Ethik der besondere ethische Beitrag der kapitalistischen Gesellschaft ist.

Die Gründe hierfür sind im Wesen des Kapitalismus zu suchen. In den vorkapitalistischen Gesellschaften bestimmten nackte Gewalt, Tradition oder persönliche Bande der Liebe und Freundschaft den Güteraustausch. Im Kapitalismus ist der alles bestimmende Faktor der Austausch auf dem Markt. Ob es sich um den Warenmarkt, um den Arbeitsmarkt oder den Dienstleistungsmarkt handelt - jeder tauscht das, was er zu verkaufen hat, zu den jeweiligen Marktbedingungen ohne Anwendung von Gewalt und ohne Betrug gegen das, was er zu erwerben wünscht.

Die Fairness-Ethik ist leicht mit der Ethik der Goldenen Regel zu verwechseln. Die Maxime: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“, kann man so auslegen, als bedeute sie: „Sei fair in deinem Tauschgeschäft mit anderen.“ Tatsächlich jedoch handelte es sich dabei ursprünglich um eine volkstümliche Formulierung des biblischen Gebots: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ In Wirklichkeit ist dieses jüdisch-christliche Gebot der Nächstenliebe etwas völlig anderes als die Fairness-Ethik. „Seinen Nächsten lieben“ heißt, sich für ihn verantwortlich und sich eins mit ihm zu fühlen, während die Fairness-Ethik das Ziel verfolgt, sich [IX-517] nicht verantwortlich für ihn und eins mit ihm zu fühlen, sondern von ihm getrennt und distanziert zu sein; sie bedeutet, dass man zwar die Rechte seines Nächsten respektiert, nicht aber, dass man ihn liebt. Es ist kein Zufall, dass die Goldene Regel heute zur populärsten religiösen Maxime geworden ist. Weil man sie nämlich im Sinn der Fairness-Ethik interpretieren kann, ist es die einzige religiöse Maxime, die ein jeder versteht und die ein jeder zu praktizieren bereit ist. Aber wenn man Liebe praktizieren will, muss man erst einmal den Unterschied zwischen Fairness und Liebe begriffen haben.

Hier stellt sich jedoch eine wichtige Frage. Wenn unsere gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Organisation darauf basiert, dass jeder den eigenen Vorteil sucht, wenn sie von dem lediglich durch den Grundsatz der Fairness gemilderten Prinzip des Egoismus beherrscht wird, wie kann man dann im Rahmen unserer bestehenden Gesellschaftsordnung leben und wirken und gleichzeitig Liebe üben? Bedeutet denn letzteres nicht, dass man alle weltlichen Interessen aufgeben und in völliger Armut leben sollte? Christliche Mönche und Menschen wie Leo Tolstoi, Albert Schweitzer und Simone Weil haben diese Frage gestellt und auf radikale Weise beantwortet. Es gibt andere, die die Meinung teilen, dass Liebe und normales weltliches Leben in unserer Gesellschaft miteinander unvereinbar sind. (Vgl. H. Marcuse, 1955a.) Sie kommen zu dem Ergebnis, dass, wer heute von der Liebe rede, sich nur am allgemeinen Schwindel beteilige; sie behaupten, nur ein Märtyrer oder ein Verrückter könne in der heutigen Welt lieben, und deshalb seien alle Diskussionen über die Liebe nichts als gutgemeinte Predigt. Dieser sehr respektable Standpunkt kann aber leicht zur Rationalisierung des eigenen Zynismus dienen. Tatsächlich steckt er hinter der Auffassung des Durchschnittsbürgers, der das Gefühl hat: „Ich wäre ja recht gern ein guter Christ - aber wenn ich damit ernst machte, müsste ich verhungern.“ Dieser „Radikalismus“ läuft auf einen moralischen Nihilismus hinaus. Ein solcher „radikaler Denker“ ist genau wie der Durchschnittsbürger ein liebesunfähiger Automat, und der einzige Unterschied zwischen beiden ist der, dass letzterer es nicht merkt, während ersterer es weiß und darin eine „historische Notwendigkeit“ sieht. Ich bin der Überzeugung, dass die absolute Unvereinbarkeit von Liebe und „normalem“ Leben nur in einem abstrakten Sinn richtig ist. Unvereinbar miteinander sind das der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zugrunde liegende Prinzip und das Prinzip der Liebe. Aber konkret gesehen ist die moderne Gesellschaft ein komplexes Phänomen. Der Verkäufer einer unbrauchbaren Ware kann zum Beispiel wirtschaftlich nicht existieren, wenn er nicht lügt; ein geschickter Arbeiter, ein Chemiker oder Physiker aber kann das durchaus. In ähnlicher Weise können Bauern, Arbeiter, Lehrer und Geschäftsleute vieler Art durchaus versuchen, Liebe zu praktizieren, ohne hierdurch in wirtschaftliche Schwierigkeiten zu geraten. Selbst wenn man erkannt hat, dass das Prinzip des Kapitalismus mit dem Prinzip der Liebe an sich unvereinbar ist, muss man doch einräumen, dass der „Kapitalismus“ selbst eine komplexe, sich ständig verändernde Struktur hat, in der immer noch recht viel Nicht-Konformität und persönlicher Spielraum möglich sind.

Damit möchte ich allerdings nicht den Eindruck erwecken, als ob wir damit rechnen könnten, dass unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem in alle Ewigkeit fortdauern [IX-518] wird und dass wir gleichzeitig auf die Verwirklichung des Ideals der Nächstenliebe hoffen können. Menschen, die unter unserem gegenwärtigen System zur Liebe fähig sind, bilden zwangsweise die Ausnahme. Liebe ist zwangsweise eine Randerscheinung in der heutigen westlichen Gesellschaft, und das nicht sosehr, weil viele Tätigkeiten eine liebevolle Einstellung ausschließen, sondern weil in unserer hauptsächlich auf Produktion eingestellten, nach Gebrauchsgütern gierenden Gesellschaft nur der Nonkonformist sich erfolgreich gegen diesen Geist zur Wehr setzen kann. Wem also die Liebe als einzig vernünftige Lösung des Problems der menschlichen Existenz am Herzen liegt, der muss zu dem Schluss kommen, dass in unserer Gesellschaftsstruktur wichtige und radikale Veränderungen vorgenommen werden müssen, wenn die Liebe zu einem gesellschaftlichen Phänomen werden und nicht eine höchst individuelle Randerscheinung bleiben soll. In welcher Richtung derartige Veränderungen vorgenommen werden könnten, kann hier nur angedeutet werden. (In Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955a, GA IV, S. 189-254, habe ich mich mit diesem Problem ausführlicher befasst.) Unsere Gesellschaft wird von einer Manager-Bürokratie und von Berufspolitikern geleitet; die Menschen werden durch Massensuggestion motiviert; ihr Ziel ist, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren, und zwar als Selbstzweck. Sämtliche Aktivitäten werden diesen wirtschaftlichen Zielen untergeordnet; die Mittel sind zum Zweck geworden; der Mensch ist ein gut ernährter, gut gekleideter Automat, den es überhaupt nicht mehr interessiert, welche menschlichen Qualitäten und Aufgaben ihm eignen. Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muss der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschaftsapparat muss dem Menschen dienen, und nicht der Mensch dem Wirtschaftsapparat. Er muss am Arbeitsprozess aktiven Anteil nehmen, anstatt bestenfalls nur am Profit beteiligt zu sein. Die Gesellschaft muss so organisiert werden, dass die soziale, liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird. Wenn das, was ich zu zeigen versuchte, zutrifft - dass nämlich die Liebe die einzig vernünftige und befriedigende Lösung des Problems der menschlichen Existenz darstellt, dann muss jede Gesellschaft, welche die Entwicklung der Liebe so gut wie unmöglich macht, auf die Dauer an ihrem Widerspruch zu den grundlegenden Bedürfnissen der menschlichen Natur zugrunde gehen. Wenn man von der Liebe spricht, ist das keine „Predigt“, denn es geht dabei um das tiefste, realste Bedürfnis eines jeden menschlichen Wesens. Dass dieses Bedürfnis so völlig in den Schatten gerückt ist, heißt nicht, dass es nicht existiert. Das Wesen der Liebe zu analysieren, heißt, ihr heute allgemeines Fehlen aufzuzeigen und an den gesellschaftlichen Bedingungen Kritik zu üben, die dafür verantwortlich sind. Der Glaube an die Möglichkeit der Liebe als einem gesellschaftlichen Phänomen und nicht nur als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet.

[1] [Anmerkung des Herausgebers: Erstveröffentlichung unter dem Titel The Art of Loving. An Inquiry into the Nature of Love im Jahr 1956 bei Harper and Row, New York, als Band 9 der World Perspectives, geplant und herausgegeben von Ruth Nanda Anshen. Herausgeberkomitee: Niels Bohr, Richard Courant, Hu Shih, Ernest Jackh, Robert M. MacIver, Jacques Maritain, J. Robert Oppenheimer, I. I. Rabi, Sarvepalli Radhakrishnan und Alexander Sachs. - Eine erste deutsche Ausgabe erschien in der Übersetzung von Günter Eichel unter dem Titel Die Kunst des Liebens als Taschenbuch im Ullstein Verlag, Frankfurt-Berlin-Wien 1959. Im Zusammenhang mit der Erich Fromm Gesamtausgabe in 10 Bänden (Band IX, S. 437-518) wurde das Buch von Liselotte und Ernst Mickel neu übersetzt. Diese neue Übersetzung liegt allen weiteren Ausgaben zugrunde: der Ausgabe 1980 bei der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart, und beim Ullstein Verlag, Berlin; ab 1993 auch der Ausgabe im Manesse Verlag, Zürich, sowie ab 1995 der beim Deutschen Taschenbuch Verlag, München. - Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IX, S. 437-518. Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

© 1956 by Erich Fromm; © 1981 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © E-Book Erich Fromm Gesamtausgabe 2016 by Rainer Funk.]

[2] [Anmerkung des Herausgebers: Die Kunst des Liebens ist das bekannteste Buch Erich Fromms. Allein im deutschen Sprachraum wurden inzwischen mindestens sieben Millionen Exemplare verkauft, weltweit schätzungsweise 25 Millionen Exemplare. Derzeit gibt es 155 verschiedene Ausgaben in 32 Sprachen. Das Buch entstand mehr zufällig und nicht aus eigenem Antrieb. Es war Ruth Nanda Anshen, mit der Fromm seit den Vierziger Jahren bekannt war, die ihn zu diesem Buch motivierte. Anfang der Fünfziger Jahre hatte Anshen die Idee, eine Buchreihe herauszugeben, in der „verantwortliche, zeitgenössische Denker verschiedener Gebiete (...) grundlegende neue Richtungen in der modernen Zivilisation“ aufzeigen konnten. Die World Perspectives genannte Reihe sollte „die Weltgemeinschaft der Ideen in einem universalen Gespräch repräsentieren, wobei sie das Prinzip der Einheit der Menschheit, der Beständigkeit in der Wandlung“ besonders betont (R. N. Anshen, 1956, S. IX).

Wie Anshen im Vorwort der amerikanischen Originalausgabe ausführt, verfolgt sie mit den World Perspectives Ziele, die sämtlich als Kennzeichen des Frommschen Humanismus angesehen werden können: Gegen alle Atomisierung der Wissenschaften soll eine die Disziplinen übergreifende „Wissenschaft vom Menschen“ gefördert werden; der Glaube an den Menschen und an seine Befähigung, seine Geschichte selbst zu bestimmen, aus eigenen Kräften und unter Berücksichtigung der conditio humana soll gestärkt, die Ideen einer humanen Gesellschaft und einer universalen Menschheit zur Entfaltung gebracht werden. Der Einfluss des Frommschen Humanismus auf Anshens publizistische Zielvorstellungen ist unverkennbar. So wundert es nicht, dass Fromm in den folgenden Jahren immer wieder seine Schriften in von Anshen geplanten und herausgegebenen Reihen veröffentlichte: Sigmund Freud’s Mission (1959a) wurde Band 21, The Revolution of Hope (1968a) Band 38 und To Have Or to Be? (1976a) Band 50 der World Perspectives; Beyond the Chains of Illusion (1962a) erschien als Band der Credo Series und The Heart of Man (1964a) ist Band 12 der Religious Perspectives.

The Art of Loving - Die Kunst des Liebens erschien als Band 9 der World Perspectives und ist der Versuch Fromms, auf der Basis seines humanistischen Credos und mit Hilfe der psychoanalytischen Einsichten in einem sehr umfassenden Sinn von Liebe zu schreiben. Fromm griff bei der Ausarbeitung immer wieder auf zentrale Gedanken früherer Schriften zurück: Über Selbstliebe schrieb er bereits in einem 1939 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel Selfishness and Self-Love (1939b, GA X, S. 99-123); von masochistische Liebe handelte Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GAI, S. 257) oderr S. 285, über Selbst- und Nächstenliebe lassen sich in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 78-91) sehr prinzipielle Aussagen nachlesen und die ganze Frage religiöser Liebe (Liebe Gottes und Liebe zu Gott) wurde in Psychoanalyse und Religion (1950a, GA VI, S. 227-292) erörtert. Auch wenn es Vorarbeiten bei Fromm gab, so war doch das Buch Die Kunst des Liebens die erste Buchpublikation eines Psychologen zum Thema „Liebe“ und betrachtete der Psychoanalytiker Fromm das Thema „Liebe“ nicht als ein Epiphänomen gelungener Triebsublimation, sondern als ein Urphänomen und eine Urfähigkeit des Menschen - lange bevor die Spiegelneuronen entdeckt wurden und sich die Empathiefähigkeit des „archaischen“ Menschen wissenschaftlich begründen ließ. Zweifellos sind die zentralen Aussagen und Einsichten Fromms zu einem solchen Menschenbild attraktiv, zumal wenn sie in einer einfachen und anschaulichen Sprache dargestellt werden und existenzielle Fragen ansprechen, die jeden Leser und jede Leserin betreffen.

Die weltweite Resonanz, die Die Kunst des Liebens gefunden hat, hat sicher ihren tiefsten Grund im Autor selbst: Fromm erkannte nicht nur - neben der Vernunft - in der Liebe die entscheidende Kraft, die dem Menschen zu eigen ist und die in dem Maße wächst, als sie praktiziert wird. Für ihn war die Entwicklung der eigenen Liebesfähigkeit auch Ziel und Inhalt seines eigenen Lebens geworden. Humanistisches Credo lebt nicht nur vom Bekenntnis zur Liebe, sondern von der Praxis der Liebe. Darum hat Die Kunst des Liebens auch einen biographischen Hintergrund: Nach dem schmerzlichen Abschied von seiner Frau Henny heiratete er am 18. Dezember 1953 die Amerikanerin Annis, mit der er bis zu seinem Tod am 18. März 1980 sehr glücklich zusammen lebte. - Zur Frage der Liebesfähigkeit des Autors von Die Kunst des Liebens vgl. R. Funk, 2006; sowie: L. J. Friedman, 2013.

[3] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Bedeutung des Wortes „aktiv“ vgl. die Hinweise zur Übersetzung von active.]

[4][Anmerkung des Herausgebers: Zur Marketing-Orientierung des Gesellschafts-Charakters vgl. vor allem die Ausführungen in Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 47-53.]

[5] [Anmerkung des Herausgebers: Zum Begriff „Kunst“ (griechisch techne) vgl. auch folgende Aussage in Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 16: „Nicht nur Medizin, Technik und Malerei sind Künste; das Leben selbst ist eine Kunst - in Wirklichkeit die wichtigste und zugleich schwierigste und vielfältigste Kunst, die der Mensch ausüben kann. (Dieser Gebrauch von „Kunst“ ist freilich anders als der Begriffsgebrauch des Aristoteles, der zwischen „Herstellen“ - poiesis und „Tun“ - praxis unterscheidet.) Ihr Gegenstand ist nicht diese oder jene spezielle Verrichtung, sondern die „Verrichtung“ des Lebens selbst, der Entwicklungsprozess auf das hin, was der Mensch potenziell ist. Bei der Kunst des Lebens ist der Mensch sowohl der Künstler als auch der Gegenstand seiner Kunst. Er ist der Bildhauer und der Stein, der Arzt und der Patient.“]

[6] [Anmerkung des Herausgebers: Fromm gebraucht immer wieder das Wort atonement („Buße“, „Versöhnung“) im wörtlichen Sinn: at-one-ment, was soviel heißt wie „Zu-Einem-Werden“, „Einswerdung“.]

[7] [Anmerkung des Herausgebers: Im amerikanischen Original spricht Fromm direkt von den Demokraten und den Republikanern bzw. von den Studentenverbindungen der elks und der shriners.]

[8] [Anmerkung des Herausgebers: Zu Fromms besonderem Verständnis von Produktivität vgl. die Hinweise zur Übersetzung zu activity und productivity.]

[9] [Anmerkung des Herausgebers: Die Gedanken zur Symbiose wurden von Fromm erstmals in Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil (1936a), GA I, S. 139-187 entwickelt; in Die Furcht vor der Freiheit (1941a), GA I, S. 300-322 wurden sie weiterentwickelt.]

[10] [Anmerkung des Herausgebers: Zum Folgenden vgl. auch die Ausführungen zur „produktiven Liebe“ in E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 66 f.]

[11] [Anmerkung des Herausgebers: Das englische Wort für Achtung ist respect, das wegen der autoritären Konnotation von „Respekt“ im Deutschen mit Achtung wiedergegeben wird. Die deutsche Wiedergabe mit Achtung (im Sinne von „Achtsamkeit“) legt sich auch deshalb nahe, weil „Respekt“ heute zunehmend im Sinne einer schön geredeten Angst gebraucht wird. Fromm weist an dieser Stelle auf die Etymologie von respect hin: respect komme von re-spicere, was soviel heiße wie „blicken auf“, „Rück-sicht nehmen“.]

[12] [Anmerkung des Herausgebers: Das im Deutschen vieldeutige Wort „Erkenntnis“ gibt das englische knowledge wieder, das Fromm bevorzugt dort gebraucht, wo es um eine Wesenserkenntnis oder um eine eindringende Erkenntnis geht, wie sie das hebräische Wort jadoa ausdrückt. Vgl. Gen 4,1: „Adam erkannte Eva seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain.“]

[13] [Anmerkung des Herausgebers: Die hier geäußerten Gedanken hat Fromm ein Jahr später in einem Aufsatz noch weiter ausgeführt. Vgl. E. Fromm, Der Mensch ist kein Ding (1957a), GA VIII, S. 21-26.]

[14] [Anmerkung des Herausgebers: Fromm hat sich später noch sehr detailliert mit den Freudschen Annahmen zur Triebtheorie auseinandergesetzt. Seine tiefgründigste Analyse erschien erstmals als Anhang: Freuds Aggressions- und Destruktionstheorie in der monografischen Ausgabe seines Buches Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a). In der Erich Fromm Gesamtausgabe ist dieser Anhang als Kapitel 4 Die Freudsche Triebtheorie und ihre Kritik in Fromms Buch Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a), GA VIII, S. 337-358, zugänglich.]

[15] [Anmerkung des Herausgebers: Die Beschreibungen der väterlichen und der mütterlichen Liebe orientieren sich sehr stark an den Beschreibungen der mutterrechtlichen im Gegensatz zur vaterrechtlichen Gesellschaftsstruktur bei Johann Jakob Bachofen. Vgl. zur Rezeption Bachofens durch Fromm besonders E. Fromm, Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht (1933a, GA I, S. 79-84); Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934a, GA I, S. 85-109) sowie Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie (1935a, GA I, S. 115-138).]

[16] [Anmerkung des Herausgebers: Zur Frommschen Gewissenslehre vgl. insbesondere E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 91-109.]

[17] In seiner Besprechung meines Buches Wege aus einer kranken Gesellschaft (The Sane Society, 1955a) hat Paul Tillich (1955) vorgeschlagen, den mehrdeutigen Ausdruck „Selbstliebe“ durch „natürliche Selbstbestätigung“ oder durch „paradoxe Selbstannahme“ zu ersetzen. Obwohl viel für seinen Vorschlag spricht, bin ich in diesem Fall doch nicht seiner Meinung. Im Begriff „Selbstliebe“ kommt das in der Selbstliebe enthaltene paradoxe Element klarer zum Ausdruck. Es ist darin zum Ausdruck gebracht, dass die Liebe eine Einstellung ist, die gegenüber allen ihren Objekten, einschließlich des eigenen Selbst, die gleiche ist. Auch ist nicht zu vergessen, dass der Begriff „Selbstliebe“ in der hier gebrauchten Bedeutung eine Geschichte hat. Die Bibel spricht von Selbstliebe, wenn es in dem betreffenden Gebot heißt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“; und auch Meister Eckhart spricht im gleichen Sinn von Selbstliebe. - [Anmerkung des Herausgebers: Zur Selbstliebe vgl. auch die weitergreifenden Ausführungen in Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 78-91; zu Freuds Einschätzung der Liebe im Zusammenhang mit seiner Narzissmustheorie vgl. auch Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a), GA VIII, S. 294-302.]

[18] [Anmerkung des Herausgebers: Zur folgenden Skizze der Entwicklung der Gottesvorstellung vgl. auch die späteren Ausführungen in Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition (1966a), GA VI, S. 93-121.]

[19] [Anmerkung des Herausgebers: Fromm gibt das Hebräische im Englischen etwas anders wieder, als es die offizielle deutsche Übersetzung der Bibel tut. Er übersetzt: I am becoming that which I am becoming, um das hebräische „Imperfekt“ auszudrücken. Gott ist, aber sein Sein ist ein lebendiger Prozess, ein Werden (becoming). Vgl. im einzelnen Fromms Überlegungen in E. Fromm, Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition (1966a), GA VI, S. 100 f.]

[20] [Anmerkung des Herausgebers: Die Wendung „was unbedingt angeht“ geht auf Paul Tillich zurück und gibt das englische ultimate concern wieder; auch die etwas später gebrauchte Wendung „unbedingtes Interesse“ versucht ultimate concern zu übersetzen.]

[21] [Anmerkung des Herausgebers: Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch die wörtliche Parallele in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a), GA IV, S. 198-200.]

[22] [Anmerkung des Herausgebers: In seinem Buch Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen (1964a), GA II, S. 224-239, hat Fromm diesen Gedanke weiterverfolgt und ein Wachstumssyndrom skizziert, das dem durch Narzissmus, inzestuöse Fixierung und Nekrophilie bestimmten Verfallssyndrom gegenübersteht.]

[23] [Anmerkung des Herausgebers: Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Glaube als Charakterzug (1942b, GA X, S. 125-142), sowie Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA II, S. 125-133.]

Sigmund Freud.
Seine Persönlichkeit und seine Wirkung

(Sigmund Freud’s Mission
An Analysis of His Personality and Influence)

(1959a)[1]

Aus dem Amerikanischen von Renate Oetker-Funk und Christiane von Wahlert auf der Basis der Übersetzung von A. R. L. Gurland

Inhalt

1. Freuds leidenschaftliche Suche nach Wahrheit und sein Mut

Die Psychoanalyse war, wie Freud selbst gern betonte, seine Schöpfung. Ihre großen Errungenschaften, aber auch ihre Mängel tragen den Stempel der Persönlichkeit ihres Begründers. Zweifellos ist daher der Ursprung der Psychoanalyse in Freuds Persönlichkeit zu suchen.[2]

Was für ein Mensch war Sigmund Freud? Was waren die treibenden Kräfte, die ihn in seiner besonderen Art handeln, denken und fühlen ließen? War er, wie ihn seine Gegner sahen, ein dekadenter Wiener, verwurzelt in der sinnlichen und disziplinlosen Atmosphäre, die gemeinhin als typisch wienerisch gilt - oder war er, wie seine getreuesten Anhänger behaupten, der große Meister, ohne persönliche Schwächen, furchtlos und unnachgiebig in seiner Suche nach Wahrheit, liebevoll der Familie zugetan, gütig zu seinen Schülern und gerecht allen Feinden gegenüber, ohne Eitelkeit und Selbstsucht? Will man Freuds komplexe Persönlichkeit und die Wirkung dieser Persönlichkeit auf die Struktur der Psychoanalyse erfassen, so kommt man weder mit Verunglimpfung noch mit Heldenverehrung ans Ziel. Dieselbe Objektivität, die Freud als eine entscheidende Voraussetzung für die Analyse seiner Patienten entdeckte, ist notwendig, wenn wir uns ein Bild zu machen versuchen, wer er war und was ihn motivierte.

Die auffallendste und wahrscheinlich stärkste emotionale Kraft in Freud war seine Leidenschaft für Wahrheit und sein kompromissloser Glaube an die Vernunft. Für ihn war die Vernunft die einzige menschliche Fähigkeit, die dazu beitragen kann, das Problem der Existenz zu lösen oder zumindest das dem menschlichen Leben innewohnende Leid zu lindern.

Freud sah in der Vernunft das alleinige Werkzeug - oder die einzige Waffe -, die wir besitzen, um das Leben sinnvoll zu machen, uns von Illusionen zu befreien (zu ihnen zählen nach Freud auch die religiösen Glaubensvorstellungen), unabhängig von fesselnden Autoritäten zu werden und so unsere eigene Autorität aufzurichten. Immer wenn er in der Komplexität und Vielfalt der wahrnehmbaren Erscheinungen eine theoretische Wahrheit erkannte, dann war dieser Glaube an die Vernunft die Grundlage seiner unermüdlichen Suche nach der Wahrheit. Es störte Freud nicht, wenn seine Ergebnisse vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus gesehen [VIII-156] absurd erschienen. Im Gegenteil - das Lachen der Menge, deren Denken vom Wunsch nach Bequemlichkeit und nach ungestörtem Schlaf bestimmt war, umriss für ihn nur noch schärfer den Unterschied zwischen Überzeugung und bloßer Meinung, Vernunft und gesundem Menschenverstand, Wahrheit und Rationalisierung.

Mit seinem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Vernunft war Freud ein Kind des Zeitalters der Aufklärung. Ihre Devise Sapere aude! - „Wage zu wissen!“ - prägte Freuds Persönlichkeit und sein gesamtes Werk. Entstanden war dieser Glaube in der Emanzipation des westlichen Bürgertums von den Fesseln und dem Aberglauben der feudalen Gesellschaft. Spinoza und Kant, Rousseau und Voltaire hatten, so verschieden ihre philosophischen Lehren auch sein mochten, diesen leidenschaftlichen Glauben an die Vernunft geteilt; sie alle waren im Kampf für eine neue, wahrhaft aufgeklärte, freie und humane Welt verbunden. Dieser Geist lebte weiter im west- und mitteleuropäischen Bürgertum des Neunzehnten Jahrhunderts, vor allem unter den Studenten, die sich dem Fortschritt der Naturwissenschaften hingaben. Erst recht verstärkte Freuds jüdische Herkunft seine Verbundenheit mit dem Geist der Aufklärung.[3] Die jüdische Tradition selbst war eine Tradition der Vernunft und der intellektuellen Disziplin; überdies hatte eine in gewissem Sinn missachtete Minderheit ein starkes emotionales Interesse daran, die Mächte der Finsternis, der Irrationalität und des Aberglaubens zu bekämpfen, die ihr den Weg zu ihrer Emanzipation und zum Fortschritt versperrten.

Neben diesem allgemeinen Trend in der europäischen Intelligenz des späten Neunzehnten Jahrhunderts gab es besondere Umstände in Freuds Leben, die seine Neigung verstärkten, auf die Vernunft und nicht auf die öffentliche Meinung zu bauen.

Ganz im Gegensatz zu allen westlichen Großmächten war die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie zu Freuds Lebzeiten ein zerfallendes Gebilde. Sie hatte keine Zukunft vor sich. Mehr als alles andere hielt die Macht der Trägheit die einzelnen Teile der Monarchie zusammen, trotz der Tatsache, dass ihre nationalen Minderheiten verzweifelt um ihre Unabhängigkeit kämpften. Dieser Zustand eines politischen Verfalls und politischer Auflösungserscheinungen war dazu geeignet, in einem intelligenten Jungen Verdacht zu erwecken und seinen fragenden Verstand zu schärfen. Die Diskrepanz zwischen der offiziellen Ideologie und den Tatsachen der politischen Realität musste das Vertrauen in die Gültigkeit von Worten, Parolen und autoritativen Erklärungen schwächen und kritisches Denkvermögen fördern. In Freuds speziellem Fall muss noch ein weiterer Unsicherheitsfaktor diese Entwicklung gefördert haben: Freuds Vater, ein wohlhabender kleiner Fabrikant in Freiberg (Pribor) im nördlichen Mähren, musste seinen Betrieb wegen der Veränderungen in der ganzen österreichischen Wirtschaft, die auch Freiberg trafen und verarmen ließen, aufgeben. [VIII-157]

Der Knabe Freud lernte in jungen Jahren durch drastische Erfahrungen, dass nicht nur auf die politische, sondern auch auf die soziale Stabilität kein Verlass war, dass weder Tradition noch hergebrachte Ordnung Sicherheit boten und Vertrauen verdienten. Zu welchem anderen Ergebnis konnten solche Erlebnisse einen ungewöhnlich begabten Jungen bringen als dazu, sich nur noch auf sich selbst und auf die Vernunft zu verlassen? Anderen Waffen war nicht zu trauen.

Gewiss gab es viele andere Jungen, die unter denselben Umständen aufwuchsen, und die keine Freuds wurden und keine derartige Leidenschaft für Wahrheit entwickelten. Es muss in Freuds Persönlichkeit besondere, nur ihm eigene Elemente gegeben haben, die für die außerordentliche Intensität dieser Qualität verantwortlich waren. Welches waren diese Elemente?

Zweifellos müssen wir zunächst die überdurchschnittliche intellektuelle Begabung und Vitalität erwähnen, die zu Freuds Konstitution gehörte. Diese außerordentliche intellektuelle Begabung, verbunden mit dem Klima der Aufklärungsphilosophie, die Zerrüttung des herkömmlichen Zutrauens zu Worten und Ideologien: Dies alles mag schon hinreichend erklären, warum sich Freud an die Vernunft hielt. Es mag andere, rein persönliche Faktoren geben; so zum Beispiel Freuds Wunsch nach Prominenz, die zu seinem Vertrauen auf die Vernunft geführt haben können, da ihm keine andere Macht, sei es Geld, soziales Prestige oder physische Kraft zur Verfügung stand. Suchen wir aber nach noch persönlicheren Elementen in Freuds Charakter, die seine leidenschaftliche Suche nach Wahrheit erklären können, so stoßen wir auf ein negatives Element in seinem Charakter: seinen Mangel an emotionaler Wärme und menschlicher Nähe, an Liebe und darüber hinaus an Lebensfreude. Das mag, wenn vom Entdecker des „Lustprinzips“ und vom vermeintlichen Protagonisten sexueller Lust die Rede ist, erstaunlich klingen; indes sprechen die Tatsachen eine zu laute Sprache, als dass sie Zweifel hinterlassen könnten. Später werde ich zur Bekräftigung dieser Aussage Beweise anführen; hier sei vorerst nur festgestellt: Ein Knabe, den es so sehr nach Ruhm und Anerkennung verlangte wie Sigmund Freud und der eine so geringe Lebensfreude besaß, hatte bei seiner Begabung, in seinem kulturellen Klima, und angesichts der besonderen europäischen, österreichischen und jüdischen Faktoren in seiner Umgebung keine andere Möglichkeit, seine Wünsche zu erfüllen, als indem er sich dem Abenteuer des Erkennens verschrieb. Andere Persönlichkeitselemente mögen dazu beigetragen haben: Freud war ein sehr unsicherer Mensch, er fühlte sich leicht bedroht, verfolgt, verraten und hatte daher, wie nicht anders zu erwarten, ein großes Verlangen nach Gewissheit. In Anbetracht seiner ganzen Persönlichkeit konnte es für ihn keine Gewissheit in der Liebe geben - Gewissheit gab es nur in der Erkenntnis, und er musste die Welt intellektuell erobern, um vom Zweifel und vom Gefühl des Versagens loszukommen.

Ernest Jones, der Freuds leidenschaftliches Streben nach Wahrheit als „das tiefste und stärkste Motiv seines Wesens (...) und eben das, welches ihn zu seinen Pionierleistungen vorwärtstrieb“, begreift (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 506), bemüht sich um eine Erklärung im Rahmen der orthodoxen psychoanalytischen Theorie. Danach hat die Wissensbegierde des Kindes „ihren letzten Beweggrund in der infantilen Neugierde, die sich auf die primären Tatsachen des Lebens richtet: die Bedeutung der [VIII-158] Geburt und dessen, was zu ihr geführt hat“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 506). Mir scheint, dass hier eine bedauerliche Verwechslung vorliegt; Neugierde ist nicht dasselbe wie Glaube an die Vernunft. Bei sehr neugierigen Menschen mag sich eine frühzeitige und besonders intensive Sexualneugier nachweisen lassen, doch lässt sich schwerlich sagen, dass damit leidenschaftlicher Durst nach Wahrheit Hand in Hand gehe. Nicht sehr viel überzeugender ist ein anderes Argument, das Jones geltend macht: Freuds Halbbruder Philipp war ein Mann, der gerne scherzte, und in dem Freud den Ehepartner der Mutter vermutete und „den er weinend gebeten hatte, die Mutter nicht wieder zu schwängern“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 508).

Konnte man sicher sein, dass ein solcher Mensch, der offensichtlich alle Geheimnisse kannte, darüber die Wahrheit sagen würde? Es wäre eine seltsame Laune des Schicksals, wenn sich erwiese, dass dieser unbedeutende kleine Mann - er soll als Hausierer geendet haben - durch seine bloße Existenz das ausgelöst hätte, was den späteren Freud bewog, nur sich selbst zu trauen, jedem Impuls, anderen mehr als sich selbst zu glauben, Widerstand zu leisten, und somit den Namen Freuds unsterblich gemacht hätte. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 508.)

Hätte Jones recht, so wäre es in der Tat eine „seltsame Laune des Schicksals“. Ist es aber nicht zu einfach, Freuds Ideen mit der Existenz eines Halbbruders und seiner sexuellen Scherze, denen Freud nicht traute, zu „erklären“?

Wenn wir über Freuds leidenschaftliche Suche nach Wahrheit und Vernunft sprechen, müssen wir schon hier etwas vorwegnehmen, was erst ausgeführt werden kann, wenn wir ein vollständigeres Bild von Freuds Charakter erhalten haben: Für Freud erschöpfte sich Vernunft im Denken; Gefühle und Emotionen galten ihm per se als irrational und deshalb dem Denken gegenüber als minderwertig. Diese Verachtung von Gefühl und Affekt teilte Freud mit den Philosophen der Aufklärung. Ihnen galt das Denken als der einzige Träger des Fortschritts, und nur im Denken gab es für sie Vernunft. Sie sahen nicht, was Spinoza gesehen hatte: Wie das Denken, so können auch Affekte sowohl rational als auch irrational sein, und die volle Entwicklung des Menschen erfordert die rationale Weiterentwicklung beider, des Denkens und der Affekte. Sie sahen nicht, dass die Abspaltung des Denkens vom Fühlen sowohl das Denken als auch das Fühlen entstellt, und dass ein Menschenbild, das auf der Annahme dieser Spaltung [von Denken und Fühlen] basiert, ebenso entstellt ist.

Diese rationalistischen Denker waren überzeugt, dass der Mensch nur die Ursachen seines Elends intellektuell zu verstehen braucht, um aus diesem intellektuellen Wissen auch die Macht zu schöpfen, die Umstände zu verändern, die sein Leiden verursachen. Von dieser Haltung war Freud stark beeinflusst, und er hat Jahre gebraucht, um von der Annahme loszukommen, dass das bloß intellektuelle Wissen der Ursachen neurotischer Symptome auch schon deren Heilung mit sich bringt.

Solange nur von Freuds leidenschaftlicher Suche nach Wahrheit die Rede ist, bleibt das Bild unvollständig. Um es zu vervollständigen, müssen wir gleichzeitig eine seiner hervorragenden Qualitäten erwähnen: seinen Mut. Viele Menschen haben potenziell ein leidenschaftliches Streben nach Vernunft und nach Wahrheit. Dieses Potenzial in die Wirklichkeit umzusetzen, ist aber deswegen so schwer, weil dazu Mut gehört, und dieser Mut ist selten, weil es ein Mut besonderer Art ist. Es geht hier nicht in erster Linie um den Mut, sein Leben, Freiheit und Besitz aufs Spiel zu setzen, [VIII-159] obwohl auch dieser Mut selten ist. Wer den Mut hat, ganz der Vernunft zu trauen, nimmt die Gefahr der Isolierung und des Alleinseins auf sich, und für viele ist diese Gefahr unerträglicher als eine Bedrohung des Lebens. Gerade die Suche nach Wahrheit setzt den Suchenden notwendig dieser Gefahr der Isolation aus. Wahrheit und Vernunft stehen im Gegensatz zum gesunden Menschenverstand und zur öffentlichen Meinung. Die Mehrheit klammert sich an bequeme Rationalisierungen und an Ansichten, die sich aus der oberflächlichen Betrachtung der Dinge herleiten lassen. Die Vernunft dagegen hat die Aufgabe, die Oberfläche zu durchstoßen und bis zum Wesentlichen vorzudringen, das sich unter ihr verbirgt; sie hat die Aufgabe, objektiv, das heißt ohne von den eigenen Wünschen und Ängsten bestimmt zu werden, zu erkennen, welche Kräfte die Welt und die Menschen bewegen. Dazu braucht der Mensch Mut, die Isolierung auszuhalten und den Spott und Hohn derer, die von der Wahrheit gestört werden und den Störenfried hassen. Freud besaß diese Fähigkeit in einem bemerkenswerten Maß. Er lehnte sich gegen seine Isolierung auf, er litt unter ihr, aber er war nie willens oder auch nur geneigt, sich auf den geringsten Kompromiss einzulassen, der die Isolierung möglicherweise erleichtert hätte. Dieser Mut war auch sein größter Stolz. Er bildete sich nicht ein, ein Genie zu sein, aber er schätzte seinen Mut als die hervorstechendste Qualität in seiner Persönlichkeit. Dieser Stolz mag zuweilen einen negativen Einfluss auf seine theoretischen Aussagen gehabt haben. Freud misstraute jeder theoretischen Formulierung, die als versöhnlich hätte aufgefasst werden können, und es gab ihm - wie Marx - eine gewisse Befriedigung, manche Dinge zu sagen, um den Bürger vor den Kopf zu stoßen - pour épater le bourgeois. Es ist nicht einfach, die Quellen des Mutes auszumachen. War er eine Gabe, mit der Freud zur Welt gekommen war? Inwieweit ist er das Ergebnis seines Gefühls für seine historische Sendung? Inwieweit ist er eine innere Stärke, die mit seiner Position als unanfechtbarer Lieblingssohn seiner Mutter zusammenhängt? Aller Wahrscheinlichkeit nach haben alle drei Quellen zu Freuds ungewöhnlichem Mut beigetragen. Darüber werden wir mehr erfahren, wenn wir in seinen Charakter einen tieferen Einblick gewonnen haben.

2. Freuds Verhältnis zu seiner Mutter - sein Selbstvertrauen und seine Unsicherheit

Will man die nicht-konstitutionellen Faktoren verstehen, die die charakterliche Entwicklung eines Menschen bestimmen, so muss man mit der Beziehung zur Mutter beginnen. Über diese Beziehung wissen wir bei Freud verhältnismäßig wenig. Aber die Tatsache, dass Freuds Mitteilungen über seine Mutter in seinen autobiographischen Versuchen sehr spärlich sind, ist in sich selbst bedeutsam. Nur zwei von über 30 eigenen Träumen, die er in der Traumdeutung wiedergibt, handeln von der Mutter. Da Freud viel und ausgiebig träumte, darf man annehmen, dass er nicht wenige Träume über seine Mutter für sich behalten hat. Die beiden veröffentlichten Träume drücken eine intensive Bindung an sie aus. Einen davon, den Traum „von den drei Parzen“, schildert Freud folgendermaßen:

Ich gehe in eine Küche, um mir Mehlspeise geben zu lassen. Dort stehen drei Frauen, von denen eine die Wirtin ist und etwas in der Hand dreht, als ob sie Knödel machen würde. Sie antwortet, dass ich warten soll, bis sie fertig ist (nicht deutlich als Rede). Ich werde ungeduldig und gehe beleidigt weg. Ich ziehe einen Überrock an; der erste, den ich versuche, ist mir aber zu lang. Ich ziehe ihn wieder aus, etwas überrascht, dass er Pelzbesatz hat. Ein zweiter, den ich anziehe, hat einen langen Streifen mit türkischer Zeichnung eingesetzt. Ein Fremder mit langem Gesicht und kurzem Spitzbart kommt hinzu und hindert mich am Anziehen, indem er ihn für den seinen erklärt. Ich zeige ihm nun, dass er über und über türkisch gestickt ist. Er fragt: Was gehen Sie die türkischen (Zeichnungen, Streifen...) an? Wir sind aber dann ganz freundlich miteinander. (S. Freud, 1900a, S. 210.)

Deutlich ist in diesem Traum der Wunsch, von der Mutter gefüttert zu werden. (Dass die „Wirtin“ - wie wahrscheinlich alle drei Frauen des Traums - die Mutter darstellt, ergibt sich eindeutig aus Freuds eigenen Assoziationen zu diesem Traum.) Was besonders auffällt, ist die Ungeduld des Träumenden. Da ihm bedeutet wird, er müsse warten, geht er „beleidigt“ von dannen. Der Traum jedoch bricht nicht ab: Er zieht einen Mantel mit Pelzbesatz an, der ihm zu lang ist, dann einen, der jemand anderem gehört. Wir sehen in diesem Traum die typische Reaktion eines Jungen, der von seiner Mutter vorgezogen wird: Er besteht darauf, von der Mutter gefüttert zu werden (was symbolisch ausdrückt, dass er versorgt, geliebt, geschützt, bewundert werden [VIII-161] will); er ist ungeduldig und wütend darüber, dass er nicht sofort „gefüttert“ wird, denn er fühlt sich berechtigt, sofortige Beachtung und ungeteilte Aufmerksamkeit zu verlangen. Seine Wut lässt ihn weggehen, aber dabei maßt er sich sogleich die Rolle des großen Mannes, des Vaters, an: Der Mantel ist zu lang und gehört einem Fremden.

Der zweite Traum, der mit der Mutter zu tun hat, stammt aus Freuds siebentem oder achtem Lebensjahr. Noch 30 Jahre später erinnert er sich daran: Der Traum „war sehr lebhaft und zeigte mir die geliebte Mutter mit eigentümlich ruhigem, schlafendem Gesichtsausdruck, die von zwei (oder drei) Personen mit Vogelschnäbeln ins Zimmer getragen und aufs Bett gelegt wird“ (S. Freud, 1900a, S. 589). Freuds Erinnerung sagt, er sei „weinend und schreiend“ aufgewacht - ein verständlicher Angstausbruch, da er ja vom Tode der Mutter geträumt hatte. Dass der Traum nach drei Jahrzehnten nicht verblasst war, unterstreicht seine Bedeutung.

Nimmt man beide Träume zusammen, so sieht man ein Kind, das von der Mutter mit Bestimmtheit die Erfüllung all seiner Wünsche erwartet und bei dem Gedanken, dass sie sterben könnte, zutiefst erschrocken ist. Dass Freud nur diese zwei Träume von der Mutter mitgeteilt hat, ist psychoanalytisch aufschlussreich und bestätigt Jones’ Annahme, „dass es in Freuds frühester Kindheit außerordentlich starke Beweggründe gegeben hat, eine wichtige Phase seiner Entwicklung zu verbergen - vielleicht vor ihm selbst. Ich möchte die Hypothese wagen, es handle sich um die tiefe Liebe zu seiner Mutter“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 479). In dieselbe Richtung weisen andere Tatsachen, die wir aus Freuds Leben kennen. Dass er auf den elf Monate jüngeren Bruder Julius maßlos eifersüchtig war und die zweieinhalb Jahre jüngere Schwester Anna nie gemocht hat, braucht allein noch nicht viel zu besagen. Es gibt aber genauere und stichhaltigere Fakten. Am deutlichsten zeigt sich seine Stellung als Lieblingssohn an einem Vorfall, der sich ereignete, als seine Schwester etwa acht Jahre alt war.

Ihre sehr musikalische Mutter begann, ihr Klavierunterricht zu erteilen; aber das Klavierspiel störte den jungen Schüler, obgleich sein „Kabinett“ etwas abseits lag, so sehr, dass er verlangte, das Instrument müsse fort; es wurde tatsächlich weggeschafft. So kam es, dass sowohl Freuds Geschwister wie später seine Kinder ohne jede musikalische Ausbildung aufwuchsen. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 37).

Es ist nicht schwierig, sich die Position vorzustellen, die der zehn Jahre alte Junge bei seiner Mutter erreicht hatte, wenn er die musikalische Erziehung seiner Familie verhindern konnte, nur weil er das „Geräusch“ der Musik nicht leiden konnte.[4]

Die tiefe Zuneigung zur Mutter hat ihre Spuren auch in Freuds späterem Leben hinterlassen. Der vielbeschäftigte Arzt, der sich außer für seine Tarockrunde und seine Kollegen kaum für jemanden - auch nicht für seine Frau - Zeit nahm, besuchte die Mutter sein Leben lang, auch noch als alter Mann, jeden Sonntagmorgen, und jeden Sonntagabend war die Mutter bei Freuds zu Tisch.

Diese Bindung an die Mutter und die Rolle des bewunderten Lieblingssohnes hat eine [VIII-162] wichtige Bedeutung für die Entwicklung seines Charakters, die Freud selbst sah und in einem wahrscheinlich autobiographischen Sinne formulierte: „Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht.“ (S. Freud, 1917b, S. 26.)

Mutterliebe ist ihrem Wesen nach bedingungslos. Anders als der Vater liebt die Mutter das Kind, nicht weil es das verdient oder weil es etwas Liebenswertes tut, sondern weil es ihr Kind ist. Ebenso bedingungslos ist die Bewunderung der Mutter für ihren Sohn. Sie betet den Sohn an, nicht weil er dieses oder jenes tut, sondern weil er da ist und weil er ihr gehört. Noch intensiver tritt das zutage, wenn es sich um das Lieblingskind der Mutter handelt und wenn sie selbst an Vitalität und Vorstellungsvermögen dem Vater überlegen ist und in der Familie den Ton angibt: So war es offenbar in Freuds Elternhaus. (Vgl. E. Simon, 1957, S. 272.) Wer als Kind von der Mutter bewundert wird, bekommt leicht die Erfolgs- und Siegeszuversicht, von der Freud spricht, und braucht sie nicht erst zu erwerben; sie ist von vornherein da und über jeden Zweifel erhaben. Ein solches Selbstvertrauen versteht sich gleichsam von selbst; es fordert Achtung und Bewunderung von anderen und vermittelt den Eindruck, überlegen zu sein und nicht zum Durchschnitt zu gehören. Natürlich kommt dies von der Mutter geprägte souveräne Selbstvertrauen ebenso bei überdurchschnittlich begabten wie bei weniger begabten Menschen vor. Bei wenig Begabten folgt aus ihm häufig ein tragikomisches Missverhältnis zwischen Ansprüchen und Gaben; bei überdurchschnittlich Begabten ist es ein Ansporn, die natürlichen Talente und Begabungen zu entwickeln. Dass Freud mit diesem besonderen Selbstvertrauen gesegnet war, und dass es aus seiner Bindung an die Mutter herrührte, ist auch Jones’ Meinung:

Dieses Selbstvertrauen, das eines seiner Hauptmerkmale war, wurde nur selten erschüttert; er führt es zweifellos mit Recht auf das Gefühl der Sicherheit zurück, das die Liebe seiner Mutter ihm schenkte. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 22).

Die außergewöhnliche Intensität seiner Mutterbindung hat Freud nicht nur vor anderen verborgen, sondern allem Anschein nach auch vor sich selbst. Sie ist aber der Schlüssel nicht nur zu seinem Charakter, sondern auch zur Beurteilung einer seiner grundlegenden Entdeckungen: dessen, was er den Ödipuskomplex genannt hat. Die Wurzel der Bindung des Sohnes an die Mutter sah Freud - durchaus rationalistisch - in der sexuellen Anziehung der Frau, mit der der kleine Junge den meisten und intimsten Umgang hat. Denkt man daran, wie stark Freud selbst an seine Mutter gebunden war und wie sehr er dazu neigte, diese Bindung zu verdrängen, so kann man verstehen, warum er eine der mächtigsten menschlichen Strebungen, die Sehnsucht nach der Fürsorge, dem Schutz, der allumfassenden Liebe der Mutter und nach Bestätigung durch sie, in einem äußerst eingeengten Sinn deutete: als das eher begrenzte Verlangen des kleinen Jungen danach, dass die Mutter seine triebhaften Bedürfnisse befriedige. Freud hat eine der entscheidenden menschlichen Strebungen entdeckt: den Wunsch, an die Mutter - also an den Mutterschoß, die Natur, das vorindividuelle, vorbewusste Sein - gebunden zu bleiben; aber indem er den Geltungsbereich dieser Entdeckung auf den kleinen Sektor der triebhaften Wünsche reduzierte, hat er sie selbst negiert. Die Basis der Entdeckung war seine eigene intensive Mutterbindung, [VIII-163] und sein Widerstand, diese Bindung zu sehen, war der Grund für die Einschränkung und Entstellung dieser Entdeckung.[5]

Gewiss gehen von jeder Mutterbindung, auch von der glücklichsten, die unerschütterliches Vertrauen zur mütterlichen Liebe mit sich bringt, nicht nur positive Wirkungen aus: Das große Selbstvertrauen des bevorzugten Kindes ist nicht ihr einziges Werk; ihre negativen Wirkungen zeigen sich in einem Gefühl von Abhängigkeit und in Depressionen, wenn die beflügelnde Erfahrung bedingungsloser Liebe nicht fortdauert. In Freuds Charakterstruktur - und in der Struktur seiner Neurose - scheinen diese Abhängigkeit und Unsicherheit eine zentrale Stellung einzunehmen.

Einen sichtbaren Ausdruck fand Freuds Unsicherheit in der für den oral-rezeptiven Menschen charakteristischen Angst vor Hunger und Armut.[6] Da die Sicherheit des rezeptiven Menschen auf der Überzeugung beruht, dass er von der Mutter ernährt, gehegt, geliebt und bewundert wird, kreisen seine Ängste um die Gefahr des Ausbleibens dieser Liebe.

In einem Brief an Wilhelm Fließ vom 21. Dezember 1899 schreibt Freud: „Meine Phobie (...) war eine Verarmungsphantasie oder besser eine Hungerphobie, von meiner infantilen Gefräßigkeit abhängig und durch die Mitgiftlosigkeit meiner Frau (auf die ich stolz bin) hervorgerufen“ (S. Freud, 1950, S. 327). Von neuem klingt das Thema in einem Brief an Fließ vom 7. Mai 1900 an: „Ich bin (...) im allgemeinen - bis auf einen schwachen Punkt: der Angst vor der Not - zu verständig zu klagen und befinde mich auch sonst zu wohl dafür (...).“ (A.a.O., S. 340.)

Explosiv kam die Verarmungsangst in einem der dramatischsten Augenblicke in Freuds Leben zum Durchbruch. Als Freud 1910 seine Wiener Kollegen - hauptsächlich Juden - davon zu überzeugen versuchte, die Führung durch die Züricher - meist nicht-jüdische - Analytiker zu akzeptieren, und die Wiener seinem Vorschlag nicht zustimmen wollten, erklärte er: „Meine Feinde wären froh, mich verhungern zu sehen; sie würden mir am liebsten den Rock vom Leibe reißen“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 91). Natürlich war dies eine rhetorische Floskel, dazu bestimmt, die zögernden Wiener mitzureißen; aber die Wahl dieser Floskel, die mit den Tatsachen wenig zu tun hatte, lässt sich nur als Symptom der Hunger- und Verarmungsangst verstehen, von der in den Briefen an Fließ die Rede ist.

Freuds Unsicherheit äußerte sich auch noch anders. Am auffälligsten waren die Ängste, die sich auf Eisenbahnreisen bezogen. Freud wollte unbedingt immer, um sicherzugehen, eine Stunde vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof sein. Was solche Symptome besagen, kann man nur erkennen, wenn man ihren symbolischen Sinn versteht. Oft ist Reisen ein Symbol dafür, die Sicherheit der Mutter und des elterlichen Heims zu verlassen, selbständig zu sein und sich von seinen Wurzeln loszureißen. Menschen, die stark an die Mutter gebunden sind, geht es häufig so, dass sie Reisen oft als gefährlich erleben, als ein Unternehmen, das besondere Sicherheitsvorkehrungen erfordert. [VIII-164] Aus demselben Grund vermied es Freud, allein zu reisen. Auf seinen großen Reisen in den Sommerferien hatte er immer eine Begleitung bei sich, auf die er sich verlassen konnte: meistens einen seiner vertrautesten Schüler, manchmal die Schwester seiner Frau. Zum gleichen Muster der Angst vor Entwurzelung passt es ebenfalls, dass Freud seit den Anfängen seiner Ehe bis zum Tag seiner erzwungenen Emigration aus Osterreich in derselben Wohnung in der Wiener Berggasse wohnte. Wir werden später noch sehen, wie sich diese Abhängigkeit von seiner Mutter in der Beziehung zu seiner Frau, zu älteren und gleichaltrigen Männern und zu Schülern manifestierte; auf sie übertrug er das gleiche Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe, Bestätigung, Bewunderung und Schutz.

3. Freuds Beziehung zu Frauen: Freud und die Liebe

Dass Freuds Abhängigkeit von einer Mutterfigur auch seine Beziehungen zu seiner Frau beherrschte, ist nicht verwunderlich. Sehr bezeichnend für diese Beziehung ist der auffallende Unterschied in Freuds Verhalten vor der Heirat und danach. Während der Jahre der Verlobungszeit war Freud ein glühender, leidenschaftlicher und überaus eifersüchtiger Liebhaber. Ein Zitat aus einem Brief an Martha vom 2. Juni 1884 ist ein charakteristischer Ausdruck für die Glut seiner Liebe:

Wehe, Prinzesschen, wenn ich komme. Ich küsse Dich ganz rot und füttere Dich ganz dick, und wenn Du unartig bist, wirst Du sehen, wer stärker ist, ein kleines sanftes Mädchen, das nicht isst, oder ein großer wilder Mann, der Kokain im Leibe hat. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 109.)

Die scherzhafte Kraftprobe - „wer stärker ist“ - hatte eine sehr ernste Bedeutung. In den Jahren der Verlobungszeit war Freud von dem leidenschaftlichen Wunsch besessen, Martha völlig zu beherrschen, und selbstverständlich verband sich dieser Wunsch mit einer maßlosen Eifersucht auf alle, denen sie außer ihm Interesse oder Zuneigung entgegenbringen mochte. Ein Cousin, Max Mayer, war ihr erster Schwarm gewesen, aber nun „kam eine Zeit, da Martha von ihm nur noch als Herr Mayer und nicht mehr als Max sprechen durfte“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S.138). In Bezug auf einen anderen jungen Mann, der in Martha verliebt gewesen war, schrieb Freud 1882:

(...) wenn mir diese Erinnerungen kommen, in denen Du doch eigentlich so wenig belastet erscheinst, verliere ich die Herrschaft über mich, und wenn ich die Macht besäße, die ganze Welt, uns einbegriffen, zu zertrümmern, um sie von neuem spielen zu lassen, auf die Gefahr hin, dass sie nicht wieder mich und Martha hervorbringt, ich täte es unbedenklich. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 143.)

Freuds Eifersucht galt nicht nur jungen Männern, sie bezog sich auf Marthas zärtliche Gefühle für ihre Familie, wobei er auch keine Rücksicht darauf zu nehmen schien, dass seine Gebote und Verbote Martha verletzten.

Am meisten kränkte sie seine Zumutung, dass sie nicht nur ihre Mutter und ihren Bruder objektiv kritisieren und alle lächerlichen Rücksichten und jedes solche Vorurteil aufgeben solle, was sie alles tat, sondern dass sie nicht mehr liebhaben dürfe - mit der Begründung, sie seien seine Feinde und sie müsse seinen Hass gegen sie teilen. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 152.) [VIII-166]

Die gleiche Einstellung findet man in Freuds Verhalten gegen Marthas älteren Bruder Eli. Martha hatte Eli die Verwaltung eines Geldbetrages überlassen, der zu gegebener Zeit die Ausstattung der ersten Wohnung des Ehepaares Freud finanzieren sollte. Eli hatte dieses Geld anscheinend investiert und zögerte, den ganzen Betrag sofort zurückzugeben. Er schlug vor, dass die Möbel auf Abzahlung gekauft werden sollten. Als Reaktion darauf stellte Freud Martha ein Ultimatum: Seine erste Forderung besagte, Martha habe dem Bruder einen wütenden Brief zu schreiben und ihn einen „Schurken“ zu nennen. Auch nachdem Eli das Geld beschafft hatte, war Freud nicht zufriedengestellt. Er forderte, „sie dürfe ihm erst wieder schreiben, wenn sie verspreche, alle Beziehungen zu Eli abzubrechen“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 169).

Die Vorstellung, dass es das natürliche Recht des Mannes sei, das Leben seiner Frau zu beherrschen, gehörte zu den Ansichten Freuds von der Überlegenheit des Mannes. Ein typisches Beispiel für diese Haltung ist seine Kritik an John Stuart Mill. Freud lobte Mill: „Er war vielleicht der Mann des Jahrhunderts, der es am besten zustande gebracht hat, sich von der Herrschaft der gewöhnlichen Vorurteile frei zu machen. Dafür - das geht ja immer zusammen - fehlte ihm der Sinn für das Absurde in manchen Punkten (...).“ (S. Freud, 1960, S. 73). Was Freud so besonders „absurd“ anmutete, war Mills Standpunkt „in der Frage der Frauenemanzipation und in der Frauenfrage überhaupt“ (S. Freud, 1960, S. 73). Mill war der Überzeugung, „dass die Frau in der Ehe so viel erwerben könne wie der Mann“ (S. Freud, 1960, S. 73). Freud sagte daraufhin:

Das ist im ganzen ein Punkt bei Mill, in dem man ihn einfach nicht menschlich finden kann. (...) Es ist auch ein gar zu lebensunfähiger Gedanke, die Frauen genauso in den Kampf ums Dasein zu schicken wie die Männer. Soll ich mir mein zartes liebes Mädchen z.B. als Konkurrenten denken? Das Zusammentreffen würde doch nur damit enden, dass ich ihr, wie vor siebzehn Monaten, sage, dass ich sie liebhabe und dass ich alles aufbiete, sie aus der Konkurrenz in die unbeeinträchtigte stille Tätigkeit meines Hauses zu ziehen (...); ich glaube, alle reformatorische Tätigkeit der Gesetzgebung und Erziehung wird an der Tatsache scheitern, dass die Natur lange vor dem Alter, in dem man in unserer Gesellschaft Stellung erworben haben kann, [die Frau] durch Schönheit, Liebreiz und Güte zu etwas [anderem] bestimmt. (...) Gesetzgebung und Brauch haben den Frauen viel vorenthaltene Rechte zu geben, aber die Stellung der Frau wird keine andere sein können, als sie ist: in jungen Jahren ein angebetetes Liebchen und in reiferen ein geliebtes Weib. (S. Freud, 1960, S. 73-75.)

Freuds Ansichten über die Frauenemanzipation unterschieden sich gewiss in keiner Weise von denen, die unter europäischen Männern in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verbreitet waren. Nur war Freud eben kein Durchschnittsmann des Neunzehnten Jahrhunderts: Er rebellierte unnachsichtig gegen einige der tief verwurzelten Vorurteile seiner Zeit. Was jedoch die Frauenfrage anging, fielen ihm nur die abgedroschensten Redensarten ein, ein Mill war ihm „absurd“ und „unmenschlich“, weil er eine Auffassung vertrat, die 50 Jahre später fast selbstverständlich werden sollte. Etwas sehr Zwingendes muss Freud dazu gedrängt haben, der Frau eine Position minderen Ranges zuzuweisen. Auch in seinen späteren theoretischen Ansichten spiegelt sich diese Haltung wider. In Frauen nur kastrierte Männer zu sehen, ohne echte [VIII-167] eigene Sexualität, stets voller Neid auf den Mann, mit einem schwach entwickelten Über-Ich, eitel und wenig verlässlich: Was ist das anderes als eine leicht rationalisierte Variante der patriarchalischen Vorurteile seiner Zeit? Ein Mann wie Freud, der eine große Fähigkeit besaß, konventionelle Vorurteile zu durchschauen und zu kritisieren, muss von starken Kräften bestimmt gewesen sein, um nicht den rationalisierenden Charakter solcher vorgeblich wissenschaftlicher Aussagen zu sehen. (Vgl. hierzu E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 491°f.)

Auch noch ein halbes Jahrhundert später hielt Freud an solchen Ansichten fest. So berichtet einer seiner amerikanischen Schüler, Dr. J. Worthis, über ein Gespräch aus den dreißiger Jahren, in dem Freud den, wie er meinte, „matriarchalischen“ Charakter der amerikanischen Kultur kritisierte. Worthis wandte ein: „Aber meinen Sie nicht, dass es am besten wäre, wenn beide Partner gleichberechtigt wären?“ Worauf Freud erwiderte: „Das ist praktisch eine Unmöglichkeit. Ungleichheit muss es geben, und die Überlegenheit des Mannes ist das kleinere Übel.“ (J. Worthis, 1954, S. 98; Hervorhebung E. F.)

Während die Jahre der Verlobung, wie schon gesagt, im Zeichen feuriger Umwerbung und eifersüchtiger Umschmeichelung der Braut gestanden hatten, scheint es in Freuds Eheleben an aktiver Liebe und Leidenschaft erheblich gemangelt zu haben. Die Eroberung war - wie in so vielen konventionellen Ehen - das eigentlich Erregende gewesen; war sie geglückt, so blieb für ein leidenschaftliches Gefühl von Liebe keine starke Quelle übrig. Im Liebeswerben steht der männliche Stolz auf dem Spiel; worin soll er nach der Heirat neue Befriedigung finden? In dieser Art Ehe verbleibt der Frau nur noch eine Funktion: Mutter zu sein. Sie muss dem Mann vorbehaltlos ergeben sein, für sein materielles Wohlergehen sorgen, sich stets seinen Bedürfnissen und Wünschen unterordnen, immer die Frau sein, die nichts für sich beansprucht, die Frau, die wartet, kurzum: die Mutter. So hatte sich Freud vor der Heirat als feuriger Liebhaber gezeigt: Mit der Eroberung des Mädchens, das er erwählt hatte, musste er seine Männlichkeit beweisen; dann hatte die Ehe die Eroberung besiegelt, und damit war das „angebetete Liebchen“ zur liebenden Mutter geworden, auf deren Fürsorge und Liebe man sich verlassen konnte, auch ohne seinerseits aktive, leidenschaftliche Liebe aufzubringen.

Wie rezeptiv und arm an erotischer Leidenschaft Freuds Liebe zu seiner Frau war, zeigt sich an vielen bemerkenswerten Einzelheiten. Besonders lehrreich sind in dieser Hinsicht seine Briefe an Fließ. In ihnen erwähnt er so gut wie nie seine Frau - außer in rein konventionellen Zusammenhängen. Das ist an sich schon bedeutsam genug, denn in diesen sehr intimen Briefen hat sich Freud sehr ausführlich über seine Gedanken, seine Patienten, seine beruflichen Erfolge und Enttäuschungen verbreitet; noch bedeutsamer ist, dass sich Freud in diesen Briefen häufig in deprimierter Stimmung über die Leere seines Lebens beklagt, das sich ihm nur dann als erfüllt und befriedigend darstellt, wenn seine Arbeit mit Erfolg vonstattengeht. Nicht ein einziges Mal erwähnt er die Beziehung zu seiner Frau als wichtige Quelle von Glück. Das gleiche Bild zeigt sich, wenn man sich vor Augen hält, wie Freud seine Zeit zu Hause und in den Ferien verbrachte: Der Werktag war genau eingeteilt: Sprechstunde von acht Uhr früh bis ein Uhr nachmittags, Mittagessen, Spaziergang allein, erneut Arbeit im [VIII-168] Konsultationszimmer von drei bis neun oder zehn Uhr abends, Spaziergang mit Frau, Schwägerin oder einer der Töchter, dann, wenn es keine abendliche Sitzung gab, Briefeschreiben und Arbeit an Manuskripten bis ein Uhr nachts. Besonders gesellig scheinen auch die Mahlzeiten nicht gewesen zu sein: Einiges lässt sich daraus schließen, dass Freud die Gepflogenheit hatte, „jede antike Neuanschaffung, gewöhnlich eine kleine Statuette, an den Mittagstisch zu bringen, wo sie während des Essens vor seinem Teller aufgestellt blieb. Nachher kam sie wieder auf seinen Schreibtisch und wurde noch ein- oder zweimal zurückgebracht.“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 461.) Mit einer gewissen Regelmäßigkeit lief auch das Sonntagsprogramm ab: Am Vormittag besuchte Freud seine Mutter, den Nachmittag verbrachte er mit Freunden oder Kollegen aus dem psychoanalytischen Bereich, abends waren Mutter und Schwestern zu Tisch, danach arbeitete er wieder an seinen Manuskripten (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 451). Am Sonntagnachmittag hatte Frau Freud Freunde zu Gast, und Freuds aktive Anteilnahme am Leben seiner Frau äußerte sich darin, dass er, wie Jones berichtet, „für einige Minuten ins Wohnzimmer hineinzuschauen“ pflegte, sofern sich unter den Gästen jemand befand, „der Freud interessierte“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 451).

Viel Zeit nahm sich Freud für sommerliche Ferienreisen. Die Ferienzeit war die sehnlichst erwartete Erholungspause nach den langen Monaten ununterbrochener Arbeit, die sich vom Herbstbeginn bis zum Hochsommer hinzog. Freud war gern auf Reisen, und er reiste, wie bereits erwähnt, höchst ungern ohne Begleitung: Dennoch entschädigte auch die Ferienzeit seine Frau nur in geringem Maße dafür, dass Freud zu Hause für sie die wenigste Zeit erübrigte. Auf große Auslandsreisen nahm Freud psychoanalytische Freunde mit - oder auch seine Schwägerin, nie seine Frau. Dafür gibt es zweierlei Erklärungen, eine von Freud selbst und eine von Jones. Jones schreibt:

Seine Frau hatte immer alle Hände voll zu tun und war selten beweglich genug für weitere Reisen, zumal sie mit Freuds ruhelosem Weiterstürmen und seiner unersättlichen Leidenschaft für Besichtigungen nicht Schritt halten konnte. (...) Doch fast jeden Tag sandte er ihr eine Postkarte oder ein Telegramm und alle paar Tage einen langen Brief. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 29°f.)

Wiederum ist es bemerkenswert, auf wie konventionelle und unanalytische Weise Jones denkt, wenn es sich um seinen Helden handelt: Er kommt gar nicht auf die Idee, dass ein Ehemann, der sich freut, seine Freizeit mit seiner Frau zu verbringen, seine Leidenschaft für Besichtigungen bezähmen könnte, um der weniger reisegewandten Frau das Mitreisen zu ermöglichen. Dass solch entschuldigende Erklärungen lediglich Rationalisierungen sind, wird aus einem anderen Entschuldigungsgrund deutlich. Am 15. September 1910 schreibt er seiner Frau aus Palermo, wo er sich mit Sándor Ferenczi aufhält:

Palermo war eine unerhörte Schwelgerei, die man sich eigentlich allein nicht gönnen darf. (...) Es tut mir schrecklich leid, dass ich Euch das nicht verschaffen kann. Um das alles zu sieben, zu neun oder auch zu dreien (...) zu genießen, hätte ich nicht Psychiater und angeblich Gründer einer neuen Richtung in der Psychologie, sondern Fabrikant von irgendetwas allgemein Brauchbarem - wie Klosettpapier, Zündhölzchen, Schuhknöpfen - werden müssen. Zum Umlernen ist jetzt lang zu spät, und so genieße ich [es] weiter egoistisch, aber unter prinzipiellem Bedauern, allein. (S. Freud, 1960, S. 280.) [VIII-169]

Welch typische Rationalisierungen! Und wie ähnlich den Rationalisierungen anderer Ehemänner, die ihre Ferien lieber mit Freunden verleben als mit der eigenen Frau! Erstaunlich ist wieder nur, wie blind Freud trotz aller Selbstanalyse dem Problem der eigenen Ehe gegenüberstand und wie ausgiebig er, ohne es zu merken, sein Verhalten rationalisierte. Da werden die Komplikationen ausgemalt, die sich bei neun oder sieben oder auch nur drei Mitreisenden ergeben, wo es doch nur um die Frau geht, um eine Reise zu zweit; und da muss man sich - bloß um zu erklären, warum man die Frau nicht mitnimmt - in Positur werfen: Ein armer, aber bedeutender Gelehrter ist darüber erhaben, mit der Fabrikation von Klosettpapier Reichtümer zu erwerben.

Wie problematisch Freuds Liebe war, zeigt einer der bekanntesten seiner Träume, in der Traumdeutung mitgeteilt und ausführlich besprochen.[7] So lautet der Traum in Freuds eigenen Worten:

Ich habe eine Monographie über eine bestimmte Pflanze geschrieben. Das Buch liegt vor mir, ich blättere eben eine eingeschlagene farbige Tafel um. Jedem Exemplar ist ein getrocknetes Spezimen der Pflanze beigebunden, ähnlich wie in einem Herbarium. (S. Freud, 1900a, S.175.)

Dazu der Anfang der Freudschen Analyse des Traums:

Ich habe am Vormittage im Schaufenster einer Buchhandlung ein neues Buch gesehen, welches sich betitelt: Die Gattung Zyklamen - offenbar eine Monographie über diese Pflanze. Zyklamen ist die Lieblingsblume meiner Frau. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich so selten daran denke, ihr Blumen mitzubringen, wie sie sich’s wünscht. (S. Freud, 1900a, S.175.)

Eine besondere Assoziationskette führt Freud von der Blume zu einem wesentlich anderen Thema: seinem Ehrgeiz. Er notiert:

Ich habe wirklich einmal etwas Ähnliches geschrieben wie eine Monographie über eine Pflanze, nämlich einen Aufsatz über die Cocapflanze, welcher die Aufmerksamkeit von K. Koller auf die anästhesierende Eigenschaft des Kokains gelenkt hat. (S. Freud, 1900a, S. 175°f.)

Freud denkt dann an eine Festschrift zu Ehren von Koller, deren Mitherausgeber er am Abend vorher getroffen hatte. Diese Assoziation bezüglich des Kokains bezieht sich auf Freuds Ehrgeiz. In einem anderen Zusammenhang äußert er, wie er es bedauert habe, seine Arbeit auf dem Gebiet der Kokainforschung abgebrochen zu haben und damit die Chance einer großen Entdeckung verloren zu haben. Er bringt dies in Verbindung mit der Tatsache, dass er seine Forschung aufgeben musste, um heiraten zu können. Der Sinn des Traumes liegt auf der Hand, auch wenn ihn Freud in seiner eigenen Deutung nicht gesehen hat. Die getrockneten Spezimina der Blumen sind der Mittelpunkt des Traumes, der Freuds inneren Konflikt verrät. Eine Blume ist Sinnbild der Liebe und Freude, erst recht die Lieblingsblume seiner Frau, der Blumen mitzubringen Freud doch wohl zu oft vergisst. Dagegen zeigt die Cocapflanze seine wissenschaftlichen Interessen und seinen Ehrgeiz an. Was macht Freud mit Blumen und - mit der Liebe? Er trocknet und presst sie und tut sie in ein Herbarium. Das heißt: Er lässt die Liebe verdorren und macht sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. So stellt es sich im Traum dar, und so hat sich in der Tat Freud verhalten. Er hat die Liebe zum Objekt der Wissenschaft gemacht, aber in seinem Leben blieb sie trocken und leblos. Seine wissenschaftlichen und intellektuellen Interessen waren mächtiger als sein Eros: Sie haben den Eros erdrückt und sind Freud zum Ersatz für die Erfahrung von Liebe geworden. [VIII-170]

Das Verdorren der Liebe, wie es der Traum zeichnet, trifft auch auf Freuds erotische und sexuelle Wünsche und Fähigkeiten zu. Freud hatte, so paradox es scheinen mag, relativ wenig Interesse an Frauen und wenig sexuelle Triebkraft. Jones sagt mit Recht: „Bestimmt war seine Frau in seinem Liebesleben die einzige Frau überhaupt, und immer kam sie für ihn vor allen anderen Sterblichen“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 453). Jones weist aber auch darauf hin, dass „die leidenschaftlichere Seite des Ehelebens bei ihm wahrscheinlich früher nachließ als bei vielen anderen Männern“ (a.a.O.). Diese Vermutung wird durch verschiedene Tatsachen erhärtet. In einem sehr aufschlussreichen Brief an Fließ vom 31. Oktober 1897 klagt der einundvierzigjährige Freud über seine Stimmungen und fügt dann hinzu: „Auch die sexuelle Erregung ist für einen wie ich nicht mehr zu brauchen.“ (S. Freud, 1950, S. 242.) Offensichtlich war zu diesem Zeitpunkt Freuds Sexualleben mehr oder weniger beendet. Ein anderes Ereignis zeigt in die gleiche Richtung: Freud schreibt in der Traumdeutung, dass er sich, als er in den Vierzigern war, einmal physisch zu einer jungen Frau hingezogen gefühlt habe und sie halb absichtlich leicht berührt habe. Er drückt sein Erstaunen darüber aus zu fühlen, dass die Möglichkeit einer solchen Anziehung „immer noch“ in ihm ist. Im Alter von 56 Jahren schrieb er Ludwig Binswanger: „Heute erschöpft sich die Libido des alten Mannes natürlich im Geldverteilen.“ (L. Binswanger, 1956, S. 58°f.) Selbst in diesem Alter kann nur ein Mann, dessen sexuelles Leben sehr wenig intensiv war, es als selbstverständlich annehmen, seine Libido habe sexuelle Ziele aufgegeben.

Sofern Mutmaßungen statthaft sind, möchte ich meinen, dass auch einige der Theorien Freuds den Beweis für seine gehemmte Sexualität erbringen. Er hat wiederholt betont, dass der Kulturmensch im Geschlechtsverkehr nur beschränkt Befriedigung finde, dass „das Sexualleben des Kulturmenschen (...) schwer geschädigt“ sei; man habe, heißt es bei ihm, „wahrscheinlich ein Recht, anzunehmen, dass seine Bedeutung als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfüllung unseres Lebenszwecks, empfindlich nachgelassen hat“, was er darauf zurückführt, dass volle sexuelle Befriedigung nur möglich sei, wenn die prägenitalen sexuellen Bedürfnisse, die mit Geruchsreizen und anderen „perversen“ Strebungen zusammenhingen, noch nicht der durch den Kulturprozess bedingten Verdrängung zum Opfer gefallen seien. Mehr noch: „manchmal“ glaubt er sogar „zu erkennen, es sei nicht allein der Druck der Kultur, sondern etwas am Wesen der [sexuellen] Funktion selbst versage uns die völlige Befriedigung und dränge uns auf andere Wege“ (S. Freud, 1930a, S. 465).

Für Freud gibt es

befriedigenden Sexualverkehr in der Ehe nur durch einige Jahre, natürlich noch mit Abzug der zur Schonung der Frau aus hygienischen Gründen erforderten Zeiten. Nach diesen drei, vier oder fünf Jahren versagt die Ehe, insofern sie die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse versprochen hat; denn alle Mittel, die sich bis jetzt zur Verhütung der Konzeption ergeben haben, verkümmern den sexuellen Genuss, stören die feinere Empfindlichkeit beider Teile oder wirken selbst direkt krank machend (...). (S. Freud, 1908d, S. 157.)

Bedenkt man, was Freud über sein eigenes Sexualleben äußerte, so kann man nicht umhin, in diesen theoretischen Betrachtungen den rationalisierten Ausdruck seiner eigenen gehemmten Sexualität zu sehen. Zweifellos hat es genug Männer seiner [VIII-171] Generation, seiner Gesellschaftsschicht und seines kulturellen Milieus gegeben, die nicht schon als Vierziger meinten, die Zeit des aus geschlechtlichen Beziehungen stammenden Glücks sei für sie vorbei, und die keineswegs die Ansicht teilten, dass sexueller Genuss - auch bei Benutzung von Mitteln zur Empfängnisverhütung - nach einigen Jahren Ehe notwendigerweise aufhören müsse.

Geht man einen Schritt weiter, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass noch eine andere Freudsche Theorie lediglich Rationalisierungszwecken diente: die These, dass Kultur und Zivilisation auf der Unterdrückung der Triebe beruhen. Was Freud mit dieser Theorie auszusagen vermeinte, enthielt im Grunde nur die persönliche Feststellung: Da ich, Freud, mich so sehr mit Denken und Wahrheit beschäftige, habe ich notwendigerweise nur wenig Interesse an geschlechtlichen Dingen. Wie so oft, verallgemeinert Freud hier eine höchst persönliche Erfahrung. In Wirklichkeit litt er an sexuellen Hemmungen, und zwar aus anderen Gründen, nicht weil er sich so tief in schöpferisches Denken versenkt hatte. Äußerlich mag Freuds sexuelles Gehemmtsein im Widerspruch dazu stehen, dass er in seinen Theorien dem Geschlechtstrieb die zentrale Stelle einräumte. Aber der Widerspruch ist nur scheinbar, nicht echt. Viele Denker schreiben vornehmlich über das, was ihnen abgeht und was sie für sich selbst - oder für andere - zu erreichen suchen. Außerdem hätte Freud mit seiner puritanischen Haltung nie und nimmer so offen über Sexualität schreiben können, wie er es getan hat, wäre er nicht von seiner eigenen „Artigkeit“ in dieser Beziehung überzeugt gewesen.

Dass Freud Frauen gefühlsmäßig nicht nahekam, hatte zur Folge, dass er von Frauen sehr wenig verstand. Seine Theorien über die Frau waren naive Rationalisierungen männlicher Vorurteile, namentlich der Vorurteile des Mannes, dem es ein Bedürfnis ist, Frauen zu beherrschen, damit seine Angst vor Frauen verborgen bleibt. Allerdings braucht man noch nicht einmal Freuds Theorien heranzuziehen, um zu beweisen, dass er Frauen verständnislos gegenüberstand. In einem Gespräch gestand er einmal mit einer bemerkenswerten Offenheit: „Die große Frage, die nie beantwortet worden ist und die ich trotz dreißig Jahre langem Forschen in der weiblichen Seele nicht habe beantworten können, ist: ‘Was will das Weib?’“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 493.)

Wenn wir von Freuds Liebesfähigkeit sprechen, dürfen wir uns übrigens nicht auf die erotische Liebe beschränken. Freud hatte überhaupt wenig Liebe für Menschen übrig - auch wo keine erotische Komponente im Spiel war. Seiner Frau gegenüber war er, nachdem das Feuer der ersten Eroberung verglüht war, ein treuer, aber distanzierter Gatte. Auch in seiner Beziehung zu männlichen Freunden - wie Josef Breuer, Wilhelm Fließ oder Carl Gustav Jung - ebenso wie zu seinen getreuen Schülern wahrte er Distanz. Liest man Freuds Briefe an Fließ und vergegenwärtigt man sich sein Verhalten gegenüber Jung oder gar gegenüber Ferenczi, so kann man sich trotz aller idealisierenden Darstellung bei Ernest Jones und Hanns Sachs der Einsicht nicht verschließen, dass es Freud nicht gegeben war, Liebe intensiv zu erleben. Das bestätigen auch seine theoretischen Überlegungen. Über die Möglichkeit von Nächstenliebe sagt er:

Eine der sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaft kann uns hier die [VIII-172] Spur zeigen. Sie lautet: Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst; sie ist weltberühmt, gewiss älter als das Christentum, das sie als seinen stolzesten Anspruch vorweist, aber sicherlich nicht sehr alt; in historischen Zeiten war sie den Menschen noch fremd. Wir wollen uns naiv zu ihr einstellen, als hörten wir von ihr zum ersten Male. Dann können wir ein Gefühl von Überraschung und Befremden nicht unterdrücken. Warum sollen wir das? Was soll uns das helfen? Vor allem aber, wie bringen wir das zustande? Wie wird es uns möglich? Meine Liebe ist etwas mir Wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllen bereit sein muss. Wenn ich einen anderen liebe, muss er es auf irgendeine Art verdienen. (Ich sehe von dem Nutzen, den er mir bringen kann, sowie von seiner möglichen Bedeutung als Sexualobjekt für mich ab; diese beiden Arten der Beziehung kommen für die Vorschrift der Nächstenliebe nicht in Betracht.) Er verdient es, wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, dass ich in ihm mich selbst lieben kann; er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, dass ich mein Ideal von meiner eigenen Person in ihm lieben kann; ich muss ihn lieben, wenn er der Sohn meines Freundes ist, denn der Schmerz des Freundes, wenn ihm ein Leid zustößt, wäre auch mein Schmerz, ich müsste ihn teilen. Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zu lieben. Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist ein Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle. Wenn ich ihn aber lieben soll mit jener Weltliebe, bloß weil er auch ein Wesen dieser Erde ist wie das Insekt, der Regenwurm, die Ringelnatter, dann wird, fürchte ich, ein geringer Betrag Liebe auf ihn entfallen, unmöglich so viel, als ich nach dem Urteil der Vernunft berechtigt bin, für mich selbst zurückzuhalten. Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann? (S. Freud, 1930a, S. 468°f.)

Freud, der große Fürsprecher für Sexualität, war in Wirklichkeit ein typischer Puritaner. Als das Lebensziel des Kulturmenschen erschien ihm die Unterdrückung aller Gefühls- und Sexualantriebe, denn nur dank ihrer Unterdrückung sei zivilisiertes Leben möglich. Die kulturlose Menge sei eines solchen Opfers unfähig. Die geistige Elite aber bildeten die, die im Unterschied zum „Gesindel“ die Fähigkeit aufbrächten, ihre triebhaften Impulse nicht zu befriedigen, und sie somit um höherer Zwecke willen zu sublimieren vermöchten. Die Kultur als Ganzes stellt sich Freud als Ergebnis einer solchen Nichtbefriedigung triebhafter Impulse dar.

Es ist bemerkenswert, in welchem Maße diese Ideen, die in Freuds späten Theorien ihren präzisen Ausdruck finden sollten, in ihm bereits in jungen Jahren lebendig waren, zu einer Zeit nämlich, als ihm Probleme der Geschichte und der Triebsublimierung noch fernlagen. Schon am 29. August 1883 entwickelte er in einem Brief an die Braut inhaltsschwere Gedanken, die ihm bei einer Carmen-Aufführung gekommen waren:

Das Gesindel lebt sich aus, und wir entbehren. Wir entbehren, um unsere Integrität zu erhalten, wir sparen mit unserer Gesundheit, unserer Genussfähigkeit, unseren Erregungen, wir heben uns für etwas auf, wissen selbst nicht, für was, - und [VIII-173] diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung. Wir empfinden auch tiefer und dürfen uns darum nur wenig zumuten. Warum betrinken wir uns nicht? Weil uns die Unbehaglichkeit und Schande des Katzenjammers mehr Unlust als das Betrinken Lust schafft. Warum verlieben wir uns [nicht] jeden Monat aufs Neue? Weil bei jeder Trennung ein Stück unseres Herzens abgerissen werden würde. Warum machen wir nicht jeden zum Freund? Weil uns sein Verlust oder sein Unglück bitter betreffen würde. So geht unser Bestreben mehr dahin, Leid von uns abzuhalten, als uns Genuss zu verschaffen, und in der höchsten Potenz sind wir Menschen wie wir beide, die sich mit den Banden von Tod und Leben aneinanderketten, die jahrelang entbehren und sich sehnen, um einander nicht untreu zu werden, die gewiss einen schweren Schicksalsschlag, der uns des Teuersten beraubt, nicht überstehen würden. Menschen, die wie jener Asra nur einmal lieben können. Unsere ganze Lebensführung hat zur Voraussetzung, dass wir vor dem groben Elend geschützt seien, dass uns die Möglichkeit offenstehe, uns immer mehr von den gesellschaftlichen Übeln frei zu erhalten. Die Armen, das Volk, sie könnten nicht bestehen ohne ihre dicke Haut und ihren leichten Sinn; wozu sollten sie Neigungen so intensiv nehmen, wenn sich Unglück, das die Natur und die Gesellschaft im Vorrat hat, gegen ihre Lieben richtet, wozu das augenblickliche Vergnügen verschmähen, wenn sie auf kein anderes warten können? Die Armen sind zu ohnmächtig, zu exponiert, um es uns gleichzutun. Wenn ich das Volk sich gütlich tun sehe mit Hintansetzung aller Besonnenheit, denke ich immer: Das ist ihre Abfindung dafür, dass alle Steuern, Epidemien, Krankheiten, Übelstände der sozialen Einrichtungen sie so schutzlos treffen. Ich will diese Gedanken nicht weiterverfolgen, aber man könnte darlegen, wie „das Volk“ ganz anders urteilt, glaubt, hofft und arbeitet als wir. Es gibt eine Psychologie des gemeinen Mannes, die von der unsrigen ziemlich unterschieden ist. Sie haben auch mehr Gemeingefühl als wir; es ist nur in ihnen lebhaft, dass sie einer das Leben des andern fortsetzen, während jedem von uns mit seinem Tod die Welt erlischt. (S. Freud, 1960, S. 48°f.)

Dieser Brief, den Freud mit 27 Jahren schrieb, ist in mancher Beziehung interessant. Seinen späteren Theorien vorgreifend, legt hier Freud die soeben besprochene puritanisch-aristokratische Auffassung nieder: Zu entbehren, mit seiner Genussfähigkeit zu sparen, ist die Voraussetzung der Sublimierung, das Fundament, auf dem eine Elite entsteht. Darüber hinaus trägt Freud hier eine Ansicht vor, die zur Grundlage einer seiner wichtigsten, erst viele Jahre später entwickelten Theorien werden sollte. Er beschreibt die Angst, emotional verletzt zu werden: Wir lieben nicht jeden, weil die Trennung so schmerzhaft wäre; wir machen nicht jeden zum Freund, weil der Verlust uns Trauer brächte. Das Leben ist auf Vermeiden von Schmerz und Leid, nicht auf Erleben von Freude ausgerichtet: „So geht unser Bestreben mehr dahin, Leid von uns abzuhalten, als uns Genuss zu verschaffen.“ Hier ist das formuliert, was Freud später das „Lustprinzip“ nannte: In späteren Jahren erschien ihm die Vorstellung, dass Lust die Befreiung von Unlust, von schmerzhafter Spannung, nicht das positive Erleben des Genusses sei, als allgemeingültiges, ja als das universalste und fundamentalste Prinzip menschlicher Motivationen. Hier zeigt sich also, dass Freud diesen [VIII-174] Gedanken schon viele Jahre vor der theoretischen Fragestellung konzipiert hatte; in Wirklichkeit war er ein Ausfluss seiner im Viktorianischen Zeitalter wurzelnden Persönlichkeit, seiner Angst vor dem Verlust von Besitz (in diesem Fall Besitz an Liebesobjekt und Liebesgefühl) und in gewissem Sinne vor dem Verlust des Lebens. Diese Haltung war charakteristisch für das Bürgertum des Neunzehnten Jahrhunderts, das sich mehr um das Haben als um das Sein sorgte. Freuds Psychologie war zutiefst durchtränkt von dieser Orientierung am Haben, und deswegen galten seine tiefsten Ängste immer dem Verlust von etwas, was man „hat“, möge es ein Liebesobjekt sein, ein Gefühl oder das Geschlechtsorgan. (In dieser Beziehung teilte er nicht die Auflehnung gegen die bürgerliche Besitzgier, der man etwa in der Philosophie Goethes begegnet.)

Noch ein anderer Gedankengang dieses Briefes verdient hervorgehoben zu werden. Der „gemeine Mann“, sagt Freud, habe mehr Gemeinschaftssinn „als wir“; nur im „Volk“ sei die Vorstellung lebendig, „dass sie einer das Leben des anderen fortsetzen, während jedem von uns mit seinem Tod die Welt erlischt“. Historisch ist Freuds Beobachtung, dass das Bürgertum weniger Solidaritätsgefühl hervorgebracht habe als die Arbeiterklasse, zweifellos richtig; aber auch in den Mittel- und Oberschichten gab es nicht wenige Menschen mit tiefem Gefühl für menschliche Solidarität, ob sie Sozialisten, Anarchisten oder wahrhaft religiöse Menschen waren. Von diesem Gefühl für menschliche Solidarität hatte Freud sehr wenig oder fast nichts. Ganz dem Bürgertum entsprechend, war er vollauf mit seiner Person, seiner Familie, seinen Ideen beschäftigt. In denselben Bahnen verlaufen 17 Jahre später die Neujahrsbetrachtungen, die er am 8. Januar 1900 in einem Brief an Fließ niederschreibt: „Das neue Jahrhundert, von dem uns am interessantesten sein dürfte, dass es unsere Todesdaten in sich schließt, hat mir nichts gebracht als ein blödes Referat in der Zeit.“ (S. Freud, 1950, S. 328; Hervorhebung E. F.) Auch hier wieder dieselbe egozentrische Beschäftigung mit dem eigenen Tod, kein Gefühl für Universalität und Solidarität, wie er es den unteren Gesellschaftsklassen zuschreibt.

4. Freuds Abhängigkeit von Männern

Freuds Abhängigkeit von einer Mutterfigur war nicht auf seine Frau und seine Mutter beschränkt. Sie wurde auf Männer übertragen - auf ältere Männer wie Josef Breuer, auf Altersgenossen wie Wilhelm Fließ und auf Schüler wie Carl Gustav Jung. Dabei war Freud stolz auf seine Unabhängigkeit und wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, die Rolle des protégé zu spielen. Dieser Stolz ließ ihn das Bewusstsein seiner Abhängigkeit verdrängen und sie dadurch demonstrativ negieren, dass er Freundschaften abrupt abbrach, sobald er spürte, dass der Freund in der totalen Erfüllung der mütterlichen Rolle versagte. Alle seine großen Freundschaften nahmen denselben Verlauf: einige Jahre hindurch enge freundschaftliche Beziehungen, darauf vollständiger Bruch, der sich meistens zu Hass steigerte. Dies Schicksal ereilte seine Freundschaft mit Breuer, Fließ, Jung, Alfred Adler, Otto Rank und sogar mit Ferenczi, seinem loyalen Schüler, der nie auch nur im Traum daran gedacht hatte, sich von Freud und seiner Bewegung zu trennen.

Breuer, ein älterer und erfolgreicher Kollege, hatte Freud die ersten Keime der Idee vermittelt, aus der sich die Psychoanalyse entwickeln sollte. Er hatte längere Zeit eine Patientin, die unter dem Decknamen „Anna O.“ in die Literatur eingegangen ist, behandelt und dabei beobachtet, dass die Krankheitssymptome (Depression und geistige Verwirrung) verschwanden, sobald es ihm gelang, die Kranke unter Hypnose erzählen zu lassen, was sie beschäftigte und quälte; so konnte er feststellen, dass die Erkrankung auf eine schwere seelische Erschütterung zurückging, die die Patientin als Pflegerin ihres schwerkranken Vaters durchgemacht hatte. Breuer erkannte, dass irrationalen Symptomen ein Sinn innewohnt, der sich erschließt, sobald man ihrem Ursprung auf die Spur kommt. Diese Entdeckungen besprach Breuer mit Freud und gab ihm damit die bedeutendste Anregung, die ihm je zuteilgeworden ist. Aus Breuers Beobachtungen hat Freud die zentrale Idee der Psychoanalyse abgeleitet. Unabhängig davon hatte Breuer den jungen Kollegen jahrelang als väterlicher Freund betreut und beraten und es auch an beträchtlicher materieller Unterstützung nicht fehlen lassen.

Wie endete diese Beziehung? Natürlich gab es theoretische Meinungsverschiedenheiten, die sich mit der Zeit vertieften: Nicht alle neuen Theorien über die Sexualität, [VIII-176] die Freud entwickelte, wurden von Breuer akzeptiert. Normalerweise hätten jedoch solche Differenzen kaum zu einem persönlichen Bruch führen können - und schon gar nicht zu dem Hass auf den früheren Freund und Helfer. Jones formuliert es folgendermaßen: „Die wissenschaftlichen Meinungsverschiedenheiten können nicht der einzige Grund für die Bitterkeit gewesen sein, mit der sich Freud in den neunziger Jahren in seinen (unveröffentlichten) Briefen an Fließ über Breuer äußert. Wenn man bedenkt, was Breuer in den achtziger Jahren für ihn bedeutete, wie er ihn großzügig unterstützte, an seiner Arbeit warmen Anteil nahm, ihn aufheiterte und ihm intellektuelle Anregung gewährte, so muss diese Veränderung in der Tat befremden“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 301).

Jones lagen die Briefstellen vor, die in die hier mehrfach zitierte Sammlung der Freud-Briefe an Fließ (S. Freud, 1950) nicht aufgenommen worden sind. Nach seiner Darstellung hatte Freud am 6. Februar 1896 geschrieben, „es sei mit Breuer nicht mehr auszukommen“, und ein Jahr später, am 29. März 1897, „war er froh, dass er ihn [Breuer] nie mehr sah; sein bloßer Anblick würde genügen, ihn zur Auswanderung zu treiben“ (a.a.O.). „Das waren“, meint Jones, „scharfe Worte, und es fielen noch schärfere, die hier nicht wiederholt werden sollen“ (a.a.O.). Breuer zahlte Freud durchaus nicht in gleichem Geiste heim: Als Freud seine Schulden an ihn zurückzahlen wollte, schlug Breuer vor, den Betrag als Arzthonorar für die Behandlung einer Verwandten Breuers, das Freud nicht hatte liquidieren können, gelten zu lassen.

Wie kann man das Umschlagen der Liebe in Hass erklären? Nach Freuds eigener Version, der sich Jones in der orthodox-psychoanalytischen Deutung anschließt, wiederholte sich in Freuds ambivalenter Haltung zu Breuer die Haltung, die er in seiner frühesten Kindheit seinem ein Jahr älteren Neffen gegenüber eingenommen hatte. Wie so oft, wenn die Freudsche Interpretation spätere Entwicklungen als bloße Wiederholung infantiler Muster begreifen will, wird hier die wirkliche Bedeutung der Ambivalenz ignoriert. Für Freud war es, wie zu Beginn des Kapitels schon kurz angedeutet, kennzeichnend, von Menschen abhängig zu sein, sich jedoch gleichzeitig dieser Abhängigkeit zu schämen und sie zu verabscheuen. Nachdem er Hilfe und Zuneigung eines anderen Menschen angenommen hatte, verneinte er die Abhängigkeit, indem er die Beziehung zu diesem Menschen abbrach, ihn aus seinem Leben entfernte und ihn hasste. Jones hat sehr wohl Freuds brennenden Wunsch nach Unabhängigkeit gesehen und betont; die andere Komponente in Freuds Charakter, seine Abhängigkeit, und den Konflikt zwischen dem stolzen Wunsch nach Unabhängigkeit und der rezeptiven Abhängigkeit übersieht er dagegen - teils weil er seinen Helden idolisiert, teils wegen der Unzulänglichkeit der orthodoxen Theorie.

Ähnliche Züge wie das Verhältnis zu Breuer weist auch Freuds Freundschaft mit Fließ auf. Was hier am meisten auffällt, ist wiederum die Abhängigkeit Freuds von Fließ. Als die freundschaftliche Beziehung, die 1887 begann, auf ihrem Höhepunkt war, breitete Freud vor Fließ all seine Gedanken, Hoffnungen und Sorgen aus, immer in der Erwartung, in Fließ einen betroffenen und interessierten Zuhörer zu finden. Es folgen einige charakteristische Beispiele dieser Haltung zu Fließ: Am 3. Januar 1899 schreibt Freud:

Ich lebe da verdrossen und in Dunkelheit, bis Du kommst; ich schimpf mich aus, entzünde mein flackerndes Licht an Deinem ruhigen, fühle mich [VIII-177] wieder wohl, und nach Deiner Abreise habe ich wieder Augen bekommen zu sehen, und was ich sehe, ist schön und gut. (S. Freud, 1950, S. 290.)

In einem anderen Brief vom 30. Juni 1896 heißt es:

Ich bin ziemlich verdüstert und kann nur sagen, ich freue mich auf den Kongress [Freuds Bezeichnung für Zusammenkünfte mit Fließ] wie auf die Befriedigung von Hunger und Durst. Ich bringe nichts als zwei offene Ohren und einen zur Aufnahme gescheuerten Schläfelappen. Mir ahnt Wichtiges - ich bin so eigennützig - auch für meine Zwecke. Mit der Verdrängungstheorie bin ich auf Zweifel gestoßen, die so ein Wort von Dir wie das von der männlichen und weiblichen Menstruation bei demselben Individuum etwa lösen kann. Angst, Chemismus u. dgl. - vielleicht finde ich bei Dir den Boden, auf dem ich aufhören kann, psychologisch zu erklären, und beginnen, physiologisch zu stützen! (S. Freud, 1950, S. 180.)

Beachtlich sind in unserem Zusammenhang schon die Formulierungen des Briefes: dass Fließ Freuds „Hunger und Durst“ stillen soll, ist ein typischer Ausdruck unbewusster oral-rezeptiver Abhängigkeit. Interessant ist aber auch, dass Freud der Hoffnung Ausdruck gibt, in der Physiologie statt in der Psychologie eine Grundlage der Erklärung der Neurosen zu finden. Diese Hoffnung drückt in gewisser Hinsicht Freuds alte Liebe zur Physiologie aus, aber sie darf auch nicht zu ernst genommen werden. In Wirklichkeit war Freud auf Anregungen und Ideen von Fließ nicht angewiesen, obwohl es in seinem Brief so scheint. Freud besaß eine so außerordentlich schöpferische Begabung, dass wir die in seinem Brief ausgedrückten bewussten Gedankengänge wesentlich als die Befriedigung einer rein emotionalen Abhängigkeit verstehen müssen. Freud brauchte einen Menschen, der ihn bestätigte, tröstete und aufmunterte, der ihm zuhörte, der ihn sogar fütterte, und jahrelang war Fließ derjenige, dem diese Aufgabe zufiel.

Zu diesem Bild der Beziehung passt die Einseitigkeit des Interesses. Man kann schwerlich übersehen, dass in all den langen Jahren, in denen der Briefwechsel geführt wurde, Freud fast nur von sich und seinen Ideen schrieb und so gut wie niemals auf die Dinge einging, die Fließ betrafen. Erkundigungen nach Fließ’ privatem Leben gingen selten über Höflichkeitsfloskeln hinaus. Gelegentlich fiel das sogar Freud selbst auf, so schrieb er zu seiner Entschuldigung am 12. Februar 1900: „Beinahe mache ich mir Vorwürfe, Dir nur von mir schreiben zu sollen. Vieles, was sich sagen ließe, ergibt sich nicht beim Schreiben.“ (S. Freud, 1950, S. 331.) Hin und wieder scheint sich Fließ darüber beschwert zu haben, dass Dinge, die ihn interessierten, unbeantwortet blieben, und so suchte sich Freud in einem Brief vom 3. Oktober 1897 zu rechtfertigen:

Mein Besuch hat den Vorteil gebracht, dass Du mir wieder Einzelheiten mitteilen kannst, seitdem ich den Rahmen des gegenwärtigen Ganzen kenne. Nicht auf alles darfst Du Antwort erwarten, und bei manchen Antworten wirst Du, hoffe ich, meine eigene Fremdheit und Urteilsschwäche in Deinen Dingen außer acht lassen. (S. Freud, 1950, S. 232.)

Wie im Fall Breuer kam der Bruch nach einigen Jahren überaus intimer Freundschaft. Was ihn herbeiführte, waren Dinge, die in das Gesamtbild der oral-rezeptiven Ambivalenz hineinpassen. „Der unmittelbare Anlass des Zerwürfnisses“, sagt Jones, „ist uns nicht genau bekannt. Fließ veröffentlichte in der Folge eine Version, nach welcher [VIII-178] Freud ihn plötzlich heftig angegriffen hätte, was sehr unwahrscheinlich klingt“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 366°f.). (Bedenkt man die Ambivalenz dieser Freundschaft, die von Freud und sogar von Jones zugegeben wird, so erscheint dies jedoch nicht so unwahrscheinlich zu sein.) Was immer der Angriff gewesen sein mag - in der Korrespondenz können wir zwei offensichtliche Gründe für den Zusammenstoß finden. Zum einen hatte Fließ an Freuds Verfahren herbe Kritik geübt und geäußert, Freud lese seine eigenen Gedanken in seine Patienten hinein. Freud, der Kritik nie sehr freundlich aufnahm, konnte diese Art Einwand am wenigsten von einem Freund akzeptieren, dessen eigentliche Funktion darin bestand, ihn zu bestätigen, zu ermutigen und zu bewundern. Der andere Grund für den Bruch zwischen Freud und Fließ liegt in einem Vorfall, der uns einen weiteren Einblick in Freuds rezeptive Strebungen gibt.

Am Weihnachts-“kongress“ in Breslau im Jahre 1897 hatte Fließ sich Freud gegenüber geäußert, seiner Meinung nach seien alle Menschen bisexuell veranlagt. (...) Bei ihrem letzten Zusammentreffen in Achensee (1900) teilte Freud dies seinem Freund als eine neue Idee mit, worauf der erstaunte Fließ antwortete: „Aber das hab’ ich Dir doch auf unserm Abendspaziergang in Breslau gesagt, und da hast Du die Idee nicht angenommen.“ Freud hatte dieses Gespräch ganz vergessen und leugnete alles Wissen darum. Erst eine Woche später kehrte ihm die Erinnerung daran zurück. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 367.)

Dazu bemerkt Jones in einer Fußnote:

Ein schwerwiegender Fall von Amnesie! Nur ein Jahr zuvor, am 1. August 1899, hatte er geschrieben: „Nun die Bisexualität! Mit der hast Du sicherlich recht. Ich gewöhne mich auch, jeden sexuellen Akt als einen Vorgang zwischen vier Individuen aufzufassen.“ Und im vorhergehenden Jahr (4. Januar 1898) hatte er seinem Enthusiasmus folgendermaßen Ausdruck gegeben: „(...) ich bin auf die Betonung der Bisexualität förmlich geflogen und halte diesen Deinen Einfall für den bedeutsamsten in meinen Themen seit der ‚Abwehr’.“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 367°f., Anm. 22.)

Jones macht nicht den Versuch, diesen „Gedächtnisschwund“ psychoanalytisch zu erklären. Die Erklärung indes liegt nahe bei der Hand. Freud hatte allgemein die Tendenz, alles, was ihm dargeboten wurde, aufzunehmen und zu verschlingen, und deswegen neigte er - namentlich bei den intimsten Freunden - dazu, an einer Idee, von der er nur zu genau wusste, dass sie von einem Freunde stammte, zu glauben, dass sie seine sei. Zusätzliches Licht wirft auf diesen Mechanismus ein Brief, den Freud am 7. August 1901, also über ein Jahr nach dem unglückseligen Zusammentreffen von Achensee, an Fließ schrieb. In ihm stellt Freud zunächst fest:

Es ist gar nicht zu verhehlen, dass wir beide ein Stück weit auseinandergeraten sind. An dem und jenem merke ich die Distanz. (...) Du bist hier an die Grenze Deiner Scharfsichtigkeit gekommen, nimmst Partei gegen mich und sagst mir, was alle meine Bemühungen entwertet: „Der Gedankenleser liest bei den anderen nur seine eigenen Gedanken.“ (S. Freud, 1950, S. 357°f.)

Nachdem er so seine Erbitterung über Fließ’ Einwände zu erkennen gegeben hat, kündigt Freud überraschend an:

Nun die Hauptsache! Soweit ich erkenne, wird meine nächste Arbeit lauten „Die menschliche Bisexualität“, wird das Problem an der Wurzel fassen und das letzte Wort sagen, das mir zu sagen vergönnt sein dürfte. Das letzte und tiefste. (...) Die Idee selbst ist Deine. Du erinnerst Dich, ich habe Dir vor Jahren gesagt, die Lösung [VIII-179] liegt in der Sexualität, - als Du noch Nasenarzt und Chirurg warst, - und Du hast Jahre später korrigiert: in der Bisexualität; und ich sehe, Du hast recht. Vielleicht muss ich also noch mehr von Dir entlehnen, vielleicht nötigt mich mein Ehrlichkeitsgefühl, Dich zu bitten, die Arbeit mit mir zu zeichnen, wobei der bei mir kärgliche anatomisch-biologische Teil eine Ausbreitung für sich gewinnen würde. Den psychischen Aspekt der Bisexualität und die Erklärung der Neurotik würde ich zum Ziel nehmen. Das ist also das nächste Zukunftsprojekt, das uns hoffentlich wieder recht ordentlich auch in wissenschaftlichen Dingen einigen wird. (S. Freud, 1950, S. 358°f.)

Dieser Brief verdient, genauer analysiert zu werden. Warum kündigt Freud sein nächstes Buch mit einem Titel an, der nicht in den engeren Zusammenhang seiner Neurosenstudien gehört, dafür aber im Mittelpunkt der Forschungen und theoretischen Überlegungen von Fließ steht? Warum spricht der stets bescheidene Freud plötzlich großspurig von seinem „letzten und tiefsten Wort“? Darauf gibt es nur eine Antwort: dieselbe, die uns sagt, warum er seine Lehre 1896 mit Fließ’ Hilfe „physiologisch stützen“ wollte und warum ihm 1900 entfallen war, dass nicht er, sondern Fließ die Bisexualität entdeckt hatte. Unbewusst drängte es ihn, von der Entdeckung des Freundes Besitz zu ergreifen, nicht weil er sie für seine eigene Arbeit benötigte, sondern weil es ihm ein tief verwurzeltes Bedürfnis war, gehegt, gepflegt und genährt zu werden. Dass der Konflikt mit Fließ, vor allem in der Frage der Urheberschaft, dem Briefschreiber gegenwärtig war, ist unverkennbar. Das hinderte ihn nicht, seinen eigenen Anspruch in subtiler Art zu rationalisieren. Nachdem er zugegeben hat, „die Idee selbst ist Deine“, erinnert er Fließ daran, dass er bereits, als Fließ „noch“ Nasenarzt und Chirurg war, entdeckt hatte, dass die Lösung in der Sexualität liegt, und so Fließ’ Entdeckung als eine bloße „Korrektur“ erscheint. Allerdings überzeugte diese Rationalisierung offensichtlich Freud selbst so wenig, dass er den Nachsatz anhängte, sein „Ehrlichkeitsgefühl“ werde ihn „vielleicht“ dazu bringen, Fließ zu bitten, als Mitverfasser zu fungieren. Er formuliert dies nicht als Frage, sondern es ist das „nächste Zukunftsprojekt“, das sie „auch in wissenschaftlichen Dingen (wieder) recht ordentlich (...) einigen wird“. In Wirklichkeit wurde dieses Buch niemals geschrieben; es lag Freuds Gedankenrichtung auch ziemlich fern. Diese ganze Idee war ein letzter Versuch, Fließ in die Rolle der stillenden Mutter zu zwingen. Zugleich bereitete sie, für den Fall, dass Fließ den ihm zugedachten Auftrag zurückweisen sollte, den endgültigen Bruch vor.

Nach diesem Brief gab es nur noch wenige Briefe. Anscheinend hatte Fließ gegen ein Freud-Buch über Bisexualität unmissverständlich Einspruch erhoben. Am 19. September 1901 schrieb ihm Freud:

Deine Antwort auf das Thema der Bisexualität habe ich nicht verstanden. Es ist offenbar sehr schwer, einander zu verstehen. Gewiss wollte ich nichts anderes, als meine Zugabe zu der Theorie der Bisexualität bearbeiten, den Satz ausführen, dass die Verdrängung und die Neurosen, die Selbständigkeit des Unbewussten also, die Bisexualität zur Voraussetzung hat. (S. Freud, 1950, S. 361.)

Diesem Brief folgten nur noch einige unpersönlich gehaltene Mitteilungen, hauptsächlich über Patienten, die Fließ zu Freud geschickt hatte, und schließlich noch zwei [VIII-180] Briefe, mit denen der Briefwechsel sein Ende fand. Darin verbreitete sich Freud mit vielen Einzelheiten über seine Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Universität Wien. Das war der Ausklang einer intimen achtjährigen Freundschaft.

Eine dritte Freundschaftsbeziehung, die allerdings viel weniger intim und persönlich war als die mit Breuer oder Fließ, verband Freud mit Jung. Auch hier vollzog sich die Entwicklung in denselben Etappen: große Hoffnungen, große Begeisterung, dann der Bruch. Natürlich gab es im Verhältnis Freuds zu Breuer, Fließ und Jung sichtbare Unterschiede. Breuer war Freuds Mentor und hatte ihm eine entscheidende neue Idee eingegeben; Fließ war ein Gleichgestellter; Jung war Freuds Schüler. Widerlegt das nicht die Behauptung, dass Freuds Anlehnungsbedürfnis seine Beziehungen zu den drei Männern gleichermaßen beeinflusst habe? Das könnte wohl im Fall Breuer und zur Not auch noch im Fall Fließ zutreffen, aber wie kann man von der Abhängigkeit eines Lehrers von einem seiner Schüler sprechen? Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man die Dinge dynamisch betrachtet. Die Abhängigkeit von einer Vaterfigur, von einem „magischen Helfer“, von einem Überlegenen ist meistens offensichtlich und bewusst. Aber es gibt auch noch ein unbewusstes Abhängigkeitsverhältnis, in dem die dominierende Person selbst von denen abhängt, die von ihr abhängen. In einem symbiotischen Verhältnis dieser Art sind beide Teile aufeinander angewiesen, nur dass bei dem einen diese Abhängigkeit bewusst ist, während sie beim anderen, dem äußerlich Überlegenen, unbewusst ist.

Wie es um eine solche Abhängigkeit bestellt ist, kann man erkennen, wenn man sich die Anfänge der Beziehung Freuds zu Jung vor Augen führt. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hatte in der Schweiz eine Gruppe von Psychiatern, darunter der Leiter der Nervenheilanstalt Burghölzli, Eugen Bleuler, und sein Chefassistent Jung, ein immer aktiveres Interesse an der Psychoanalyse entwickelt. Für Freud war das eine große Genugtuung. Überdies war er, wie Jones berichtet,

nicht nur dankbar für die Unterstützung, die ihm von so weit her zuteilwurde, sondern fühlte sich von Jungs Persönlichkeit sehr angezogen. Bald fasste er den Beschluss, Jung zu seinem Nachfolger zu erklären, und nannte ihn manchmal den „Kronprinzen“. Er gab der Meinung Ausdruck, unter seinen Anhängern seien nur Jung und Otto Groß wirklich originelle Denker. Jung sollte der Josua sein, dazu bestimmt, das Gelobte Land der Psychiatrie zu erforschen, das er selbst, wie Moses, nur von weitem erblicken dürfe. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 50.)

Eine wichtige Rolle in Freuds Verhältnis zu Jung spielte aber noch etwas anderes. Bis dahin hatte sich Freuds Gefolgschaft hauptsächlich aus Wienern und Juden zusammengesetzt. Einen wirklichen Erfolg der psychoanalytischen Bewegung in der Welt hielt Freud jedoch nur für möglich, wenn die Führung an die „Arier“ überginge. Schon 1908 hatte Freud diesen Gedanken in einem Brief an den Berliner Psychoanalytiker Karl Abraham entwickelt. Er machte Abraham Vorwürfe wegen eines nach seiner Meinung unnötigen Streites mit Jung und schloss mit der mahnenden Feststellung, schließlich seien die „arischen“ Kollegen „für uns“ völlig unentbehrlich, denn ohne sie würde die Psychoanalyse dem Antisemitismus zum Opfer fallen. (Vgl. E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 70.)

Während der folgenden zwei Jahre gewann diese Überzeugung für Freud immer mehr an Bedeutung. Was sich in dieser Beziehung auf dem Nürnberger [VIII-181] Psychoanalytikerkongress von 1910 zugetragen hat, habe ich bereits oben in einem anderen Zusammenhang kurz angedeutet. Hier Jones’ Bericht:

Freud sah einen Vorteil darin, für seine weitere Arbeit eine breitere Basis zu haben als die, welche die Wiener Judenschaft bieten konnte, und fand es notwendig, seine Wiener Kollegen davon zu überzeugen. Als er erfuhr, dass mehrere von ihnen in Stekels Hotelzimmer eine Protestsitzung abhielten, ging er zu ihnen hinauf und richtete an sie einen leidenschaftlichen Appell, ihm ihre Zustimmung zu geben. Er betonte, wieviel heftige Feindseligkeit sie umgäbe, und dass es notwendig sei, sich auf Außenstehende stützen zu können, um ihr zu begegnen. Dann erklärte er, dramatisch seinen Rock zurückwerfend: „Meine Feinde wären froh, mich verhungern zu sehen; sie würden mir am liebsten den Rock vom Leibe reißen.“ (Vgl. E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 50.)

Was in Freuds Kopf vorging, ist leicht zu erraten. Nicht nur seine Angst vor dem persönlichen Verhungern, sondern vor allem auch vor dem Verhungern seiner Bewegung führte ihn dazu, in Jung den Retter vor einem solchen Untergang zu sehen.

Freud wollte Jung ganz und gar gewinnen, ihn zu seinem Nachfolger und zum Führer der Bewegung machen. Kennzeichnend dafür ist eine kleine Episode, die sich im August 1909 vor der gemeinsamen Abreise Freuds, Jungs und Ferenczis nach den Vereinigten Staaten ereignete. Die drei Reisenden nahmen gemeinsam eine Mahlzeit ein, und Freud und Ferenczi bemühten sich eifrig, Jung von seiner Alkoholgegnerschaft abzubringen; schließlich ließ sich Jung überreden, mit ihnen ein Glas Wein zu trinken. Nun war aber das Abstinenzprinzip gleichsam das Symbol der Gemeinschaft, die Jung mit seinem Lehrer Bleuler und manchen schweizerischen Kollegen verband. Tatsächlich sollte Jungs Änderung seiner Haltung erhebliche Rückwirkungen auf sein Verhältnis zu Bleuler haben. Dass auch Freud von der symbolischen Tragweite des Trinkrituals im Innersten berührt war, zeigte sich sogleich nach dem „Sieg“: Er fiel in Ohnmacht. (Vgl. E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 75.)

Jeder Zweifel am rein psychischen Ursprung des Ohnmachtsanfalles wird dadurch zerstreut, dass sich derselbe Vorgang bei einer ähnlichen Gelegenheit im November 1912 wiederholte. Im Laufe des Jahres hatten sich die Beziehungen zwischen Freud und Jung verschlechtert. Berichte über Jungs Vorträge in New York ließen erkennen, dass er sich über Freuds Theorien und über Freud selbst widersprechend geäußert hatte. Jung hatte bereits Freud persönlich gesagt, er könne die im Rahmen der Freudschen Auffassung überaus wichtigen Inzestwünsche nicht wörtlich nehmen, sondern sehe sie als Symbol anderer Tendenzen. Im November kamen dann Freud und Jung in München zusammen. Freud hielt Jung seinen Mangel an Loyalität vor, worauf sich Jung „ganz zerknirscht“ zeigte, die Berechtigung der Kritik anerkannte und sich zu bessern versprach. (Vgl. E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S.179.) Beim gemeinsamen Mittagessen, das sich anschloss, begann Freud,

den beiden Schweizern, Jung und Riklin, Vorwürfe zu machen, weil sie in Schweizer Zeitschriften Artikel über Psychoanalyse veröffentlichten, ohne seinen Namen zu erwähnen. Jung erwiderte, sie hätten es für unnötig gehalten, da dieser so bekannt sei. (...) Er beharrte auf seinem Standpunkt und nahm die Sache persönlich. Plötzlich stürzte er zum Schrecken der Freunde ohnmächtig zu Boden. Der kräftige Jung trug ihn schnell zu einer Couch in der Halle, wo er bald wieder zu sich kam. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 370.) [VIII-182]

Freud hat seine Ohnmächtigkeitsreaktionen selbst analysiert und gemeint, solche Anfälle könnten auf den tiefen Eindruck zurückgeführt werden, den auf ihn im Alter von 19 Monaten der Tod des jüngeren Bruders gemacht habe. Dazu bemerkt Jones:

Demnach könnte es scheinen, Freud sei ein leichter Fall jenes Typus gewesen, den er selbst als „Die am Erfolg scheitern“ beschrieben hat; in diesem Fall an dem Erfolg, einen Gegner zu besiegen - wobei der erfolgreiche Todeswunsch gegen seinen kleinen Bruder Julius als das früheste Beispiel anzusehen wäre. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 179°f.)

Diese Deutung könnte richtig sein; immerhin sollte aber bedacht werden, dass die Ohnmachtsanfälle auch anders gedeutet werden können: Möglicherweise waren sie der symbolische Ausdruck der Hilflosigkeit des kleinen Kindes, das auf die Mutterfigur angewiesen ist. Dafür spricht die Tatsache, dass Freud Ohnmachtsanfälle schon Jahre vorher in derselben Stadt und im selben Hotel, wo er sich mit seinem Freund Fließ aufhielt, erlitten hatte. Nach dem Zwischenfall mit Jung schrieb er darüber am 8. Dezember 1912 an Jones:

Ich kann es nicht vergessen, dass ich vor sechs und vor vier Jahren von sehr ähnlichen, obzwar nicht so intensiven Symptomen in demselben Zimmer im Park-Hotel litt. (...) Am Grunde steckt ein Stück eines unbeherrschten homosexuellen Gefühls dahinter. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 370.)

Viel wahrscheinlicher ist, dass die Ohnmachtsanfälle bei den Auseinandersetzungen mit Jung und Fließ auf eine andere Wurzel zurückgingen: eine tiefe, allerdings unbewusste Abhängigkeit, die im psychosomatischen Symptom ihren drastischen Ausdruck fand.

Hier muss allerdings angemerkt werden, dass Freud seine Neigung zu Abhängigkeitsgefühlen nicht ganz entgangen war: Jedenfalls war er sich ihrer bewusst, als er von seinen „Schnorrerphantasien“ sprach. So berichtet er aus seiner Pariser Zeit (1885), das Zusammentreffen mit Dr. Ricchetti und dessen Frau habe ihn davon phantasieren lassen, dass er das wohlhabende kinderlose Ehepaar beerben könnte. Eine andere Phantasie dieser Art hat Freud, woran Jones erinnert, 15 Jahre später in Zur Psychopathologie des Alltagslebens (S. Freud, 1901b, S. 165°f.) erzählt: Er bringt ein Pferd, das durchgegangen war, zum Halten, und der vor dem Unfall bewahrten Kutsche entsteigt eine hochgestellte Persönlichkeit, die zu ihm sagt: „Sie sind mein Retter - ich verdanke Ihnen mein Leben. Was kann ich für Sie tun?“ Freuds Reaktion auf diese Phantasie ist enthüllend. Jones schreibt:

Damals verdrängte er diese Gedanken sofort; aber viele Jahre später kamen sie ihm auf einem seltsamen Umweg wieder in den Sinn. Er entdeckte, dass er irrtümlicherweise gemeint hatte, es handle sich um eine Geschichte von Alphonse Daudet. Die Erinnerung ärgerte ihn, denn er hatte jetzt keine Protektion mehr nötig und würde sich eine solche energisch verbitten. „Das Ärgerliche an der Sache ist nur, dass ich kaum irgendeinem anderen Vorstellungskreise so feindselig gegenüber stehe wie dem des Protegiertwerdens. Was man in unserem Vaterlande davon sieht, verdirbt einem alle Lust daran, und meinem Charakter sagt die Situation des Protektionskindes überhaupt wenig zu. Ich habe immer ungewöhnlich viel Neigung dazu verspürt, selbst der brave Mann zu sein.“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 226.)

Dies ist eine der vielen wundersam naiven Erklärungen Freuds, die so deutlich ein Zeichen für den Widerstand sind und die er dennoch sehr ernst nahm. Gerade das [VIII-183] war der Konflikt, in den er verstrickt war: Er wollte unabhängig sein, er hasste es, ein „Protektionskind“ zu sein, sehnte sich aber ständig danach, beschützt, bewundert und umsorgt zu werden. Es ist ihm nie gelungen, diesen Konflikt zu lösen.

Kehren wir nun noch einmal zu Freuds Freundschaft mit Jung zurück. Auch diese Beziehung nahm denselben Verlauf wie die zu Breuer und zu Fließ. Trotz Jungs wiederholten Loyalitätsbeteuerungen trat eine immer größere Entfremdung sowohl in den persönlichen Beziehungen als auch in den wissenschaftlichen Standpunkten der beiden ein. 1914 kam der endgültige und unwiderrufliche Bruch. Das war für Freud zweifellos ein empfindlicher Schlag; wieder einmal hatte er auf einen Mann gebaut, dem er sein Herz ausgeschüttet und all seine Sorgen und Hoffnungen offenbart und in dem er den Garanten der Zukunft der Psychoanalyse gesehen hatte, und wieder musste er die Beziehung abbrechen. In einem Punkt freilich unterscheidet sich der Bruch mit Jung von denen mit Breuer, Fließ, Adler, Stekel, Rank, Ferenczi: Die wissenschaftlichen Differenzen mit Jung waren viel fundamentaler als mit den anderen einstigen Freunden. Freud war Rationalist, und seine Bemühungen, das Unbewusste zu verstehen, gingen von dem Bedürfnis aus, es zu beherrschen und zu unterwerfen. Jung dagegen war der romantischen, anti-rationalistischen Tradition verhaftet. Vernunft und Intellekt waren ihm verdächtig, während er im Unbewussten - als Repräsentanz des Nicht-Rationalen - den eigentlichen Quell der Weisheit sah; die analytische Therapie sollte dem Patienten helfen, eine unmittelbare Beziehung zu dieser Quelle nicht-rationaler Weisheit herzustellen und von dieser Berührung zu profitieren. Jungs Interesse am Unbewussten war das bewundernde Interesse des Romantikers, Freuds Interesse das kritische eines Rationalisten. Sie hatten sich für eine Wegstrecke getroffen, aber dann gingen sie in verschiedene Richtungen. Der Bruch war unvermeidbar.

Freuds Beziehungen zu jenen, auf die er sich gern gestützt hätte, vor allem seine Beziehungen zu Adler, Rank und Ferenczi, folgten demselben Muster wie die Beziehungen zu Breuer, Fließ und Jung: glühende Freundschaft, absolutes Vertrauen, Abhängigkeit, die früher oder später in Misstrauen, Feindschaft und Hass umschlug. In einem anderen Zusammenhang wird darüber noch einiges zu sagen sein.

5. Freuds Beziehung zu seinem Vater

Freuds Beziehung zu seinem Vater war das Gegenteil der Beziehung zu seiner Mutter. Die Mutter bewunderte und verwöhnte ihn, ließ ihn gerne König unter den Geschwistern sein; der Vater war weniger parteiisch und ein unaggressiver Mann. Das unterschiedliche Verhalten zeigt sich daran, dass nicht die Mutter, sondern der Vater den zweijährigen Sigmund zurechtwies, als er noch ins Bett machte. Und was antwortete der kleine Junge?

Ich soll (...), als ich dafür Vorwürfe zu hören bekam, den Vater durch das Versprechen getröstet haben, dass ich ihm in N. (der nächsten größeren Stadt) ein neues, schönes rotes Bett kaufen werde. (S. Freud, 1900a, S. 221.)

Schon hier macht sich bemerkbar, was für Freud in seinem späteren Leben charakteristisch werden sollte: Es fällt ihm schwer, Kritik zu akzeptieren, er besitzt eine ausgeprägte Selbstsicherheit, er ist rebellisch gegen seinen Vater und, so könnte man sagen, gegen väterliche Autorität überhaupt. Die väterliche Rüge schüchtert den Zweijährigen nicht ein, ja er versetzt sich selbst in die Rolle des Vaters (man denke an den zu langen Mantel in dem im 2. Kapitel wiedergegebenen Traum): Er wird dem Vater später ein Bett schenken!

Noch drastischer kommt die Rebellion gegen den Vater in einer anderen von Freud berichteten Kindheitsgeschichte zum Vorschein: Der Sieben- oder Achtjährige urinierte absichtlich im Schlafzimmer seiner Eltern. Dies war ein symbolischer Akt, vom Schlafraum der Eltern Besitz zu ergreifen, und zeigte eine offensichtlich aggressive Tendenz gegen den Vater. Sein Vater reagierte verständlicherweise ärgerlich und rief: „Aus dem Buben wird nichts werden.“ - „Es muss“, schreibt Freud darüber dreieinhalb Jahrzehnte später,

eine furchtbare Kränkung für meinen Ehrgeiz gewesen sein, denn Anspielungen auf diese Szene kehren immer in meinen Träumen wieder und sind regelmäßig mit Aufzählung meiner Leistungen und Erfolge verknüpft, als wollte ich sagen: Siehst du, ich bin doch etwas geworden. (S. Freud, 1900a, S. 221°f.)

Diese Erklärung, in der Freud seinen Ehrgeiz auf die väterliche Ermahnung zurückführt, ist jedoch eine Fehldeutung, wie sie häufig in orthodoxen analytischen Deutungen vorkommt. Dass frühe Erfahrungen zu den wichtigsten Ursachen späterer Entwicklungen gehören, ist gewiss richtig; aber auch das Kind hat erworbene oder ererbte [VIII-185] Dispositionen, und es kann durchaus vorkommen, dass sie elterliche Reaktionen hervorrufen, von denen es dann irrigerweise heißt, sie hätten die Entwicklung eben dieser Dispositionen im späteren Leben des Kindes verursacht.

Es ist deutlich zu sehen, dass schon der zweijährige Freud von seiner Wichtigkeit überzeugt war und sich dem Vater überlegen fühlte. Ganz gleich, ob wir es hier mit einem konstitutionellen Faktor zu tun haben oder ob sich hier die Tatsache auswirkte, dass die Mutter in der Familie die stärkere Persönlichkeit war: Das herausfordernde Benehmen des Siebenjährigen ist nur eine weitere Bestätigung des ungewöhnlichen Selbstvertrauens, das ihn sein Leben lang begleiten sollte; die väterliche Zurechtweisung erscheint demgegenüber als milde Reaktion eines höchst unaggressiven Menschen, der, wie Jones versichert, auf seinen Sohn stolz war und nicht die Gepflogenheit hatte, ihn zu kritisieren oder herabzusetzen. Eine einzelne Unmutsäußerung -ein offensichtlich seltenes Vorkommnis - kann unmöglich die Ursache für Freuds Ehrgeiz gewesen sein.

Einen mächtigen Auftrieb muss der überlegenen Haltung gegenüber dem Vater eine Geschichte gegeben haben, die Freud mit zwölf Jahren zu hören bekam. Als jungem Menschen hieb dem Vater ein nichtjüdischer Passant seine Pelzmütze vom Kopf und brüllte ihn an: „Jud, herunter vom Trottoir!“ Natürlich wollte der Zwölfjährige wissen, wie der Vater auf die Pöbelei reagiert habe. „Ich bin“, antwortete der Vater, „auf den Fahrweg gegangen und habe die Mütze aufgehoben.“ 30 Jahre später lautet Freuds Kommentar:

Das schien mir nicht heldenhaft von dem großen starken Mann, der mich Kleinen an der Hand führte. Ich stellte dieser Situation, die mich nicht befriedigte, eine andere gegenüber, die meinem Empfinden besser entsprach, die Szene, in welcher Hannibals Vater, Hamilkar Barkas, seinen Knaben vor dem Hausaltar schwören lässt, an den Römern Rache zu nehmen. Seitdem hatte Hannibal einen Platz in meinen Phantasien. (S. Freud, 1900a, S. 203.)

Vermutlich hätte die Geschichte von des Vaters unheldischem Verhalten bei Freud einen weniger bitteren Nachgeschmack hinterlassen, wenn er sich nicht von Kindheit an mit dem Helden Hannibal identifiziert hätte; sein Vater sollte seiner würdig sein. Wir sollten aber nicht vergessen, dass Freuds Ehrgeiz, wie das so häufig vorkommt, aufs engste mit seinen großen Vorzügen zusammenhing: mit seinem unbezähmbaren Mut und seinem Stolz. Dieser Mut hatte schon dem kleinen Jungen die Qualität - und das Ideal - des Helden verliehen. Kein Wunder, dass sich der heroische Junge seines unheldischen Vaters schämte.

Freud konnte es nicht verwinden, dass er nicht einen bedeutenderen Vater hatte. Eine Anspielung darauf findet sich später in der Analyse eines eigenen Traumes:

Dass ich (...) in dieser Szene des Traumes Meynert [Psychiatrieprofessor in Wien, Lehrer Freuds] durch meinen Vater verdecken kann, hat seinen Grund nicht in einer zwischen beiden Personen aufgefundenen Analogie, sondern ist die knappe, aber völlig zutreffende Darstellung eines Konditionalsatzes in den Traumgedanken, der ausführlich lautet: Ja, wenn ich zweite Generation, der Sohn eines Professors oder Hofrats, wäre, dann wäre ich freilich rascher vorwärtsgekommen. Im Traum mache ich nun meinen Vater zum Hofrat und Professor. (S. Freud, 1900a, S. 439°f.) [VIII-186]

Die Ambivalenz gegenüber der Vaterfigur spiegelt sich auch in Freuds theoretischem Werk wider. Seiner Auffassung von den Anfängen der menschlichen Geschichte nach, die er in Totem und Tabu (S. Freud, 1912-13) konstruiert, wird der Urvater von den eifersüchtigen Söhnen erschlagen. Und in seiner allerletzten Arbeit, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (S. Freud, 1939a), vertritt er die These, Moses sei kein Jude, sondern der Sohn eines vornehmen ägyptischen Edelmannes gewesen. Es ist, als wollte er unbewusst sagen, auch er sei gleich Moses nicht der Sohn jüdischer Eltern von niederem gesellschaftlichem Rang, sondern ein Mann von königlicher Abkunft. (Vgl. H. W. Puner, 1943, S. 180.) Wohl am deutlichsten äußert sich Freuds ambivalente Haltung gegenüber dem Vater in der zentralen Kategorie seines theoretischen Systems, dem Ödipuskomplex: Der Sohn hasst den Vater als Nebenbuhler im Wettstreit um die Liebe der Mutter. Aber auch hier, ebenso wie in der Problematik der Mutterbindung, verdunkelt die sexuelle Deutung der Rivalität ihre realen, grundlegenden Ursachen. Das Verlangen, von der Mutter geliebt und bewundert zu werden, verbindet sich mit dem Wunsch, der heldenhafte Eroberer zu sein, zum Anspruch auf eine Überlegenheit gegenüber dem Vater und den Geschwistern. (Höchst einprägsam ist diese Konstellation in der biblischen Erzählung von Josef und seinen Brüdern gezeichnet; man ist versucht, hier von einem „Josef-Komplex“ zu sprechen.) Oft findet diese Haltung einen Ansporn darin, dass die Mutter den Sohn anbetet, während sie seinem Vater gegenüber ambivalent ist oder ihn gar von oben herab behandelt.

Wir kommen zu folgendem Schluss: Stark an die Mutter gebunden und von ihrer Liebe und Bewunderung überzeugt, hatte Freud allen Anlass, sich für eine überragende, einzigartige, bewundernswürdige Persönlichkeit zu halten; unter den Geschwistern war er König. Das hatte zur Folge, dass er auf mütterliche Hilfe und Anbetung angewiesen blieb. Fehlte es ihm an Liebe und Bewunderung, so stellten sich Ängste und Depressionen ein. Die Mutter behielt ihre überragende Rolle bis zu ihrem Tod bei (sie starb mit 95 Jahren); seine Frau bewunderte und umhegte ihn und sorgte für sein Wohlbefinden. Das genügte nicht: Freud brauchte mehr Bewunderung und Bestätigung und suchte sie bei anderen, bei Männern, und nicht bei Frauen. Menschen wie Breuer, Fließ, Jung, später seine getreuen Schüler, gaben ihm die Art von Bewunderung und Bestätigung, die Freud brauchte, um sich sicher zu fühlen. Wie es Männern mit einer starken Mutterbindung oft widerfährt, empfand er den Vater als Rivalen; er, der Sohn, wollte selbst der Vater, der Held sein. Vielleicht hätte sich Freud dem Vater untergeordnet, vielleicht hätte er gegen den Vater weniger rebelliert, wäre sein Vater „der große Mann“ gewesen. Gegen einen Vater, der nur für einen durchschnittlichen Sohn gut genug gewesen wäre, musste sich Freud, der sich mit den Helden seiner Phantasie identifizierte, fast notwendigerweise auflehnen.

Die Rebellion gegen den Vater wirft ein bezeichnendes Licht auf einen entscheidenden Aspekt in Freuds Persönlichkeit und Werk. Weit verbreitet ist die Ansicht, Freud sei ein Revolutionär gewesen. Tatsächlich trotzte er der öffentlichen Meinung und den medizinischen Autoritäten, und man kann vermuten, dass er seine umwälzenden Auffassungen vom Unbewussten, von der infantilen Sexualität und von manchen [VIII-187] anderen Dingen ohne die Fähigkeit zu solcher Widerspenstigkeit nie hätte aussprechen und vertreten können. Er war jedoch ein Rebell, kein Revolutionär.

Wenn ich vom Rebellen spreche, meine ich einen Menschen, der gegen die bestehenden Autoritäten kämpft, aber selbst eine Autorität (der sich andere beugen) sein will und von der Anerkennung der Autorität als solcher nie loskommt, seine Abhängigkeit von ihr nicht abschütteln kann. Seine Auflehnung richtet sich in der Hauptsache gegen Autoritäten, die ihn nicht gelten lassen, und er verhält sich freundlich gegenüber Autoritäten, die er sich aussuchen kann, vor allem, nachdem er selbst eine Autorität geworden war. Oft ist der Typ des „Rebellen“ in diesem psychologischen Sinn unter radikalen Politikern zu finden: Sie sind Rebellen, solange sie keine Macht haben; sie werden zu Konservativen, sobald sie für sich selbst Macht errungen haben. Umgekehrt ist ein „Revolutionär“ im psychologischen Sinne der Mensch, der seine Ambivalenz gegenüber der Autorität überwindet und sich damit von jeder Bindung an Autoritäten und von dem Verlangen, andere zu beherrschen, freimacht; er erlangt wirkliche Unabhängigkeit, und die Unterwerfung anderer Menschen ist ihm kein Bedürfnis. Eben in diesem psychologischen Sinne war Freud Rebell, nicht Revolutionär. Bei all seiner herausfordernden Haltung gegenüber Autoritäten und bei all seiner Freude daran war er von der bestehenden Gesellschaftsordnung und ihren Autoritäten aufs Tiefste beeindruckt. Den Professortitel zu ergattern und von den geltenden Autoritäten anerkannt zu werden, war ihm, sosehr er in merkwürdiger Verkennung der eigenen Wünsche dies verleugnen mochte, enorm wichtig. (Vgl. z.B. S. Freud, 1900a, S. 198.) Im Ersten Weltkrieg war er ein feuriger Patriot - stolz zunächst über die österreichische, dann über die deutsche Angriffslust. Fast vier Jahre lang kam es ihm gar nicht in den Sinn, die Kriegsideologien und Kriegsziele der Mittelmächte kritisch in Frage zu stellen.

6. Freuds autoritäre Einstellung

Über Freuds autoritäre Einstellung hat es schon viele Diskussionen gegeben. Oft wurde geäußert, Freud sei sehr autoritär gewesen, er habe andere Meinungen nicht geduldet und sei gegenüber jedem Versuch der Revision seiner Lehren intolerant gewesen. Das umfangreiche Beweismaterial, auf das sich solche Ansichten stützen, lässt sich schwerlich ignorieren. Dass Freud wesentliche Korrekturen an seinen theoretischen Konzeptionen nie akzeptiert hat, ist unbestreitbar. Entweder war man für seine Theorie - und das bedeutete: für ihn - oder man war gegen ihn. Sogar Hanns Sachs, der Freud in seiner Biographie offen vergöttert, gibt das zu: „Ich weiß“, sagt er, „dass es ihm, nachdem er in einem langen und beschwerlichen Prozess seine eigenen Meinungen herausgearbeitet hatte, immer sehr schwer fiel, die Meinungen anderer zustimmend zu verarbeiten“ (H. Sachs, 1946, S. 14). Gelegentlich hatte auch Sachs Meinungen, die denen des Meisters zuwiderliefen; das nutzte ihm, wie er selbst sagt, wenig:

Wenn meine Meinung der seinigen widersprach, äußerte ich das ganz offen. Er gab mir immer Gelegenheit, meine Ansichten darzustellen, und hörte sich bereitwillig meine Argumente an, ließ sich aber kaum jemals von ihnen beeinflussen. (H. Sachs, 1946, S. 13).

Wohl am unerbittlichsten hat sich Freuds Unduldsamkeit und autoritäre Haltung in seiner Beziehung zu Sándor Ferenczi ausgewirkt. Viele Jahre hatte sich Ferenczi als Freuds loyalster und anspruchslosester Schüler und Freund bewährt. Aber am Ende seines Lebensweges waren ihm Zweifel gekommen: Er fand, dass dem Patienten in der psychoanalytischen Behandlung die Liebe zuteilwerden müsse, die er als Kind entbehrt habe. Daraus ergaben sich bestimmte Abwandlungen in der Technik der psychoanalytischen Therapie. Ferenczi war von der unpersönlichen Haltung des Analytikers, der nach Freuds Vorstellungen wie ein Spiegel zu sein hat, abgekommen und hatte sich für eine menschliche und liebevolle Einstellung zum Patienten entschieden. (Dass Ferenczi dabei mütterliche oder mütterlich-väterliche Wärme, nicht erotische oder sexuelle Liebe meinte, versteht sich von selbst.) Ferenczi berichtet von der Unterredung mit Freud in einem Gespräch mit einem ihm vertrauten Menschen, einer seiner Schülerinnen: [VIII-189]

Als ich den Professor [= Freud] besuchte, erzählte ich ihm von meinen neuesten Ideen zur Technik. Sie stützen sich empirisch auf meine Arbeit mit meinen Patienten. Aus der Geschichte meiner Patienten, wie sie sie darstellen, aus ihren Gedankenassoziationen, aus der Art ihres Verhaltens - sogar in Einzelheiten und vor allem mir gegenüber -, aus den Versagungen, die bei ihnen Zorn oder Depressionen hervorrufen, und insbesondere aus dem sowohl bewussten als auch unbewussten Inhalt ihrer Wünsche und Sehnsüchte versuche ich zu erfahren, auf welche Weise sie die ablehnende Haltung der Mutter, der Eltern oder der entsprechenden Ersatzpersonen zu spüren bekommen hatten. Ebenso bemühe ich mich, mir bis in die konkreten Verhaltungsdetails mitfühlend klarzumachen, welche Art liebevoller Sorge der Patient in jungen Jahren nötig hatte, welches die liebevolle Pflege und Umsorgung hätte sein müssen, die eine gesunde Entwicklung seines Selbstvertrauens und seiner Fähigkeit, mit sich selbst zufrieden zu sein, ermöglicht hätte. Jeder Patient braucht Pflege, Hilfe und Wärme auf seine besondere Art. Auf welche besondere Art er sie erleben muss, ist nicht einfach zu erkennen, denn meistens ist das Besondere, das er braucht, nicht das, was er sich darunter vorstellt, oft etwas ganz anderes. Wann ich auf der richtigen Fährte bin, kann ich erfühlen, denn unbewusst signalisiert das der Patient sofort mit einer Anzahl fast unmerklicher Veränderungen in seinem Verhalten und seiner Stimmung. Der neue Einblick des Analytikers in das, was der Patient braucht, die sich daraus ergebende Veränderung der Beziehung zum Patienten, die Ausdrucksformen dieser veränderten Beziehung und die sichtbare eigene Reaktion des Patienten: das alles sollte dem Patienten klargemacht werden. Hat der Analytiker einen Fehler begangen, so wird ihm auch das signalisiert: Der Patient wird ärgerlich oder lässt erkennen, dass er sich enttäuscht oder verstoßen vorkommt. Und seine Träume zeigen, wo der Fehler des Analytikers steckt. Man kann das vom Patienten erfahren, und man kann es ihm erklären.

Der Analytiker muss dann nach einer anderen Behandlung suchen, die dem Patienten wohltut, denn der Patient bedarf ihrer dringend. Das ist ein Prozess, in dem man etwas versucht, und wenn man fehlgeht, von neuem versucht, bis man Erfolg hat; der Analytiker muss sich mit all seinem Geschick und Takt, mit Liebe und Güte und ohne Furcht darum bemühen. Alles, was er tut, muss er offen und in absoluter Ehrlichkeit tun.

Der Professor hörte sich meine Darstellung mit wachsender Ungeduld an und erklärte mir schließlich warnend, dass ich mich auf eine schiefe Ebene begeben hätte und in entscheidenden Dingen von den herkömmlichen Gebräuchen und Techniken der Psychoanalyse abwiche. Ein solches Nachgeben gegenüber den Sehnsüchten und Wünschen des Patienten, so echt sie sein mögen, müsse den Patienten in viel größere Abhängigkeit vom Analytiker bringen. Der Analytiker könne diese Abhängigkeit nur zunichte machen, wenn er sich gefühlsmäßig völlig abschalte. Von unerfahrenen Analytikern gehandhabt, werde meine Methode, meinte der Professor, nicht der Ausdruck der elterlichen Hingabe sein, sondern leicht zu sexuellen Entgleisungen führen.

Diese Warnung beendete das Gespräch. Ich streckte meine Hand zu einem [VIII-190] herzlichen Abschiedsgruß aus. Der Professor kehrte mir den Rücken und ging aus dem Zimmer.[8]

Auf ähnliche Weise färbte Freuds Unduldsamkeit sein Verhalten gegenüber Mitgliedern der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die sich nicht streng an die offizielle Linie hielten. Kennzeichnend dafür ist eine Bemerkung in einem englisch geschriebenen Brief Freuds an Jones vom 18. Februar 1919. Dort heißt es: „Ihre Absicht, die Londoner Vereinigung von den Jung’schen Mitgliedern zu reinigen, ist ausgezeichnet.“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 303.)

Freuds unversöhnliche Haltung gegenüber widersprechenden Freunden zeigt sich auch in seiner Reaktion auf Alfred Adlers Tod. In einem Antwortbrief an Arnold Zweig, der sich von Adlers Tod im schottischen Exil tief betroffen zeigte, schrieb er am 22. Juni 1937:

Aber Ihr Mitleid für Adler begreife ich nicht! Für einen Juden aus einem Wiener Vorort ist ein Tod in Aberdeen, Schottland, eine unerhörte Karriere und ein Beweis, wie weit er es gebracht hat. Wirklich hat ihn die Mitwelt für das Verdienst, der Analyse widersprochen zu haben, reichlich belohnt. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 3, S. 255.)

Trotz solch eklatanter Beweise vertreten Freuds gläubige Verehrer unbeirrt die Auffassung, dass ihm jede autoritäre Tendenz fremd gewesen sei. Immer wieder besteht z.B. Ernest Jones auf diesem Standpunkt; mit besonderem Nachdruck weist er die Meinung zurück, dass

Freud ein Tyrann gewesen sei und alle Anhänger dogmatisch genau seine eigenen Ansichten hätten annehmen müssen. Dass solche Vorwürfe lächerlich und unbegründet sind, lässt sich aus seinen Briefen, seinen Schriften und vor allem aus den Erinnerungen derer, die mit ihm gearbeitet haben, beweisen. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 157.)

Jones erklärt: „Ich könnte mir schwerlich jemanden vorstellen, der in seiner ganzen Art dem Bild des Diktators, das man manchmal von ihm gegeben hat, weniger gliche als er“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 159).

Jones ist von einer psychologischen Naivität, die einem Psychoanalytiker übel ansteht. Er übersieht, dass Freud denen gegenüber unduldsam war, die seine Meinungen auch nur im geringsten anzweifelten oder kritisierten. Damit soll in keiner Weise bestritten werden, dass er Menschen, die ihn über alles verehrten und nie gegenteilige Meinungen äußerten, gütig und tolerant behandelte. Gerade weil er, wie ich oben hervorgehoben habe, auf bedingungslose Zustimmung und Übereinstimmung so sehr angewiesen war, war er den gefügigen Söhnen ein liebender Vater, der sich jedoch in einen strengen, autoritären Vater verwandelte, wenn jemand zu widersprechen wagte. [VIII-191]

Sachs ist da freimütiger als Jones. Wo Jones der Objektivitätspflicht des Biographen zu genügen glaubt, bekundet Sachs einen „radikalen Mangel an Objektivität, zu dem ich mich frei und freudig bekenne“; ja, er meint sogar: „Im ganzen dürfte Vergottung, wenn sie echt ist, der Wahrheitsliebe nicht im Wege stehen, sondern sie fördern.“ (H. Sachs, 1946, S. 8°f.) Er unterstreicht geradezu seine symbiotische, fast religiöse Bindung an Freud: Mit der Lektüre der Freudschen Traumdeutung, sagt er, „hatte ich die eine Sache gefunden, mit der das Leben lebenswert wurde; viele Jahre später ging mir auf, dass es auch die einzige Sache war, nach deren Grundsätzen sich leben ließ“ (H. Sachs, 1946, S. 3°f.). Nun ist es nicht schwer, sich Menschen vorzustellen, die das Leben nur nach den Lehren der Bibel, der Bhagavad-Gita, ja auch noch nach denen der Philosophie Spinozas oder Kants glauben bewältigen zu können; aber wer ein Buch über die Deutung von Träumen zum Leitstern seines Lebens erklärt, muss den Verfasser des Buches mindestens zum Moses und seine Wissenschaft zu einer neuen Religion gemacht haben. Unter diesem Aspekt lässt sich sehr gut verstehen, warum Sachs nie ernsthaft gegen Freud rebellierte und noch nicht einmal Kritik an ihm übte. Einmal allerdings hatte Sachs „willentlich und beharrlich“ etwas getan, was Freud missbilligte.

Er sprach mit mir darüber, als es schon fast vorbei war, sagte nur drei, vier Worte, ganz leise, beinahe wie zur Seite gesprochen. Diese Worte, die einzigen unfreundlichen, die ich je von ihm gehört habe, haben sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt. Doch nachdem dieser Zwischenfall vorbei war, war er vergeben, wenn auch nicht vergessen, und hatte keinen dauernden Einfluss auf seine Haltung mir gegenüber. Wenn ich heute nicht daran denken kann, ohne ein bisschen Scham zu empfinden, tröstet mich der Gedanke: nur ein einziges Mal im ganzen Leben, nur einmal in fünfunddreißig Jahren. Eine gar zu schlechte Leistung ist das nicht. (H. Sachs, 1946, S. 16°f.)

 

7. Freud als Weltverbesserer

Als Kind hatte Freud mit besonderer Hingabe große Feldherren bewundert, und seine frühesten Helden waren der große Punier Hannibal und Andre Masséna, Napoleons angeblich jüdischer General. (Vgl. E. Jones, 1960-1962, S. 25 und 43.) Er interessierte sich leidenschaftlich für die Napoleonischen Kriege und klebte seinen Zinnsoldaten Zettel mit den Namen der Marschälle Napoleons auf den Rücken. Als Vierzehnjähriger ereiferte er sich für den Deutsch-Französischen Krieg: In seinem Zimmer hingen Landkarten, auf denen der Verlauf des Feldzugs mit Fähnchen markiert wurde, und seinen Schwestern hielt er strategische Vorträge. (Vgl. E. Jones, 1960-1962, S. 43.) An diesen Neigungen und Interessen des begeisterungsfähigen Knaben ist zweierlei bemerkenswert: Vorliebe für Geschichte und Politik und Ehrfurcht vor dem großen Führer, der Geschichte macht und die Geschicke der Menschheit zu beeinflussen vermag. Dass die Hannibal und Masséna gezollte Heldenverehrung und die Beschäftigung mit dem Krieg von 1870/71 nicht einer knabenhaften Freude an Schlachten und Uniformen, sondern einem tieferen Interesse an Geschichte und politischem Fortschritt entsprangen, bezeugt die weitere Entwicklung des politischen Interesses von Freud.

Als Freud etwa 17 Jahre alt war, hatte er ernsthaft vor, Jura zu studieren. Freud berichtet:

Es war die Zeit des Bürgerministeriums, der Vater hatte kurz vorher die Bilder der bürgerlichen Doktoren Herbst, Giskra, Unger, Berger u. a. nach Hause gebracht, und wir hatten diesen Herren zur Ehre illuminiert. Es waren sogar Juden unter ihnen; jeder fleißige Judenknabe trug also das Ministerportefeuille in seiner Schultasche. Es muss mit den Eindrücken jener Zeit zusammenhängen, dass ich bis kurz vor der Inskription an der Universität willens war, Jura zu studieren, und erst im letzten Moment umsattelte. (S. Freud, 1900a, S. 198°f.)

Die Idee des 17jährigen Freud, ein politischer Führer zu werden, wird durch die Schulfreundschaft mit seinem Klassenkameraden Heinrich Braun bestätigt, der später einer der führenden deutschen Sozialisten werden sollte. Über diese Jugendfreundschaft schrieb Freud am 30. Oktober 1927 an Heinrich Brauns Witwe:

Ich weiß, dass ich Heinrich Brauns Bekanntschaft im ersten Gymnasialjahr (...) [VIII-193] machte und dass wir bald unzertrennliche Freunde waren. Ich verbrachte alle von der Schule freigelassenen Tagesstunden mit ihm, meist bei ihm zuhause (...) wir vertrugen uns (...) ausgezeichnet. (...) Weder die Ziele noch die Wege unseres Strebens waren uns sehr klar. Ich bin seither zur Vermutung gekommen, dass seine Ziele wesentlich negative waren. Aber es stand fest, ich würde mit ihm arbeiten und seine ‘Partei’ nie verlassen. Unter seinem Einfluss war ich auch damals entschlossen, an der Universität Jus zu studieren. (S. Freud, 1960, S. 374°f.)

Angesichts des offensichtlichen Interesses am Sozialismus, das Freud als Heranwachsender bewiesen hatte, ist es nicht verwunderlich, dass sich im Leben des Erwachsenen etwas ereignete, was seiner unbewussten Identifizierung mit dem bewunderten österreichischen Sozialistenführer Viktor Adler einen bezeichnenden Ausdruck verlieh. Dem von Freud selbst in dem zitierten Brief gegebenen Hinweis ist in ihren Nachforschungen über die Umstände, die Freud zu seiner fast lebenslänglichen Wohnstätte in der Berggasse geführt hatten, Suzanne Bernfeld nachgegangen. Seit der Heirat hatten die Freuds am Schottenring gewohnt; als nun 1891 ein weiteres Kind erwartet wurde, beschloss das Ehepaar, nach einer neuen Wohnung Umschau zu halten. Frau Bernfeld berichtet:

Der Umzug wurde von Professor Freud und seiner Frau sorgfältig geplant. Sie setzten ein Verzeichnis ihrer wichtigsten Anforderungen auf. Sie verwandten viel Zeit darauf, ihr neues Heim zu planen. (...) Eines Nachmittags unternahm er [Freud], nachdem er mit seinen Besuchen fertig war (...) einen Spaziergang. Er freute sich über die vielen Gärten, an denen er vorbeikam, und dann stand er plötzlich vor einem Haus mit dem Schild „Zu vermieten“. Unversehens zog ihn das Haus mächtig an. Er ging hinein, ließ sich die Wohnung zeigen, fand, dass sie allen seinen Ansprüchen entsprach, und unterzeichnete auf der Stelle den Mietsvertrag. Das war Berggasse Nr. 19. Er ging nach Hause, erzählte seiner Frau, er habe die für sie ideale Wohnung gefunden, und nahm sie am selben Abend zur Besichtigung mit. Frau Freud sah sofort, dass das Haus in einer sehr ärmlichen Gegend lag: in der Nähe waren die Porzellangasse und der Tandelmarkt, und kein angesehener Arzt praktizierte in der Gegend; um die Kinder und die Praxis unterzubringen, hätte man in dem Haus zwei Wohnungen haben müssen; das Treppenhaus war dunkel und die kahle Steintreppe steil. Aber die Frau Freud eigene Intuition sagte ihr, dass Freud unbedingt diese Wohnung haben musste, dass eine andere für ihn nicht in Frage kam. Sie sagte also, die Wohnung gefalle ihr, sie würden schon zurechtkommen. Sie sind tatsächlich zurechtgekommen und haben in dieser düsteren und unpraktischen Wohnung siebenundvierzig Jahre gewohnt. (M. Grotjahn, 1956, S. 650°f.)

Suzanne Bernfeld fragte (a.a.O.):

Was konnte einen so umsichtigen und überlegten Menschen wie Freud zu einer so impulsiven und unüberlegten Handlung bringen, und was konnte ihn so lange Jahre in diesem Haus halten?

Die Antwort, die Frau Bernfeld auf diese berechtigte Frage gibt, weist auf die Tatsache hin, dass Viktor Adler, der glühende Sozialist und spätere unangefochtene Führer des österreichischen Sozialismus in der gleichen Wohnung gelebt hatte und dass Freud dort die Familie Adler besucht und einen unauslöschlichen Eindruck mitgenommen hatte.

In einigen Versprechern, die Freud bei Mitteilungen über die Wohnung in der [VIII-194] Berggasse unterlaufen sind, sieht Frau Bernfeld ebenfalls Indizien dafür, dass die Verbindung mit Adler für Freud eine besondere Bedeutung gehabt haben muss. Frau Bernfelds Vermutung kommt mir überaus plausibel vor, aber mir scheint, dass sie einen entscheidenden Gesichtspunkt nicht genügend beachtet: Freuds humanistisches Ideal und seinen eigenen Ehrgeiz, ein großer politischer Führer zu werden.

Die Vermutung liegt nahe, dass sich Freud noch mit einem anderen sozialistischen Führer identifizierte. Darauf deutet die Tatsache hin, dass Freud der Traumdeutung das Motto aus Vergils Äneis (VII, 42) vorangesetzt hat, das vor ihm schon Ferdinand Lassalles Schrift Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens zierte. Dass Freud bei der Wahl dieses Mottos Lassalles Vorbild folgte, lässt sich aus einer Bemerkung in einem Brief an Fließ schließen. Am 17. Juli 1899 schrieb Freud:

Den Lassalle und einige Schriften über das Unbewusste nehme ich nach Berchtesgaden nebst meinem Manuskript mit (...) Motto für den Traum hat sich nicht ergeben, seitdem Du das Goethesche sentimentale umgebracht. Es wird beim Hinweis auf die Verdrängung bleiben: Flectere si nequeo superos Acheronta movebo. (Kann ich die Götter nicht beugen, so werd’ ich den Orkus bewegen).[9]

Den Titel der Lassalle’schen Schrift, die er in die Ferien mitnahm, nannte Freud nicht, aber wenn man den Zusammenhang berücksichtigt, kann man kaum glauben, dass etwas anderes gemeint sein sollte als eben Der italienische Krieg mit dem Vergil-Zitat. Dass Freud nicht ausdrücklich sagt, er verwende das Motto der Schrift Lassalles, deutet auf den unbewussten Charakter seiner Identifikation mit dem sozialistischen Führer.

Bevor ich auf weitere Identifizierungen eingehe, möchte ich noch einige Tatsachen anführen, die zeigen, wie sehr sich Freud nicht zur Medizin, sondern zur Philosophie, zur Politik und zur Ethik hingezogen fühlte. Jones erinnert sich, dass ihm Freud 1910 seufzend gestanden hatte,

er wünschte, er könne seine medizinische Praxis an den Nagel hängen und sich ganz dem Studium kultureller und historischer Probleme widmen - letztlich der großen Frage, wie der Mensch zu dem wurde, was er ist. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 47.)

Oder, wie es Freud einmal, auf seine Frühphase zurückblickend, sagt:

In den Jugendjahren wurde das Bedürfnis, etwas von den Rätseln dieser Welt zu verstehen und vielleicht selbst etwas zu ihrer Lösung beizutragen, übermächtig. (S. Freud, 1927a, S. 290.)

Diesem politischen und humanitären Interesse entsprach es, dass Freud 1910 ein erhebliches Interesse an der vom Apotheker Knapp begründeten „Internationalen Brüderschaft für Ethik und Kultur“ bekundete, an deren Spitze damals der Psychiater und Naturforscher Auguste Forel stand. Freud empfahl Knapp, die Frage mit Jung zu besprechen, und holte seinerseits Jungs Ansicht über die Zweckmäßigkeit des Beitritts ein. Am 13. Januar 1910 schrieb er an Jung:

Angezogen hat mich der praktische, aggressive wie protektive Zug des Programms, die Verpflichtung, die Autorität des Staates und der Kirche in einzelnen Fällen, wo sie greifbares Unrecht tun, direkt zu bekämpfen.“ Jones fügt hinzu: „Aus diesem Plan wurde nichts, und statt [VIII-195] dessen kam es bald zu der Bildung einer rein psychoanalytischen Vereinigung. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 88°f.)

Die Überlegungen über den Anschluss an die Internationale Brüderschaft für Ethik und Kultur lassen indes erkennen, wie stark die alten Ideale einer Weltverbesserung im fortschrittlichen Sinn Freud nach 1910 beschäftigten; erst als die psychoanalytische Bewegung organisiert war, macht sich sein Interesse an ethischer Kultur etc. nicht mehr ausdrücklich bemerkbar. Solche Gedankengänge gingen jedoch, wie ich noch zu zeigen versuche, in die Zielsetzungen der psychoanalytischen Bewegung ein. Freud betrachtete sich als den Führer der Bewegung und identifizierte sich in dieser Rolle unbewusst mit seinem Jugendhelden Hannibal und nicht zuletzt auch mit Moses, dem großen Führer seiner Vorfahren. Er selbst hatte schon früher notiert:

Hannibal (...) war (...) der Lieblingsheld meiner Gymnasialjahre gewesen; wie so viele in jenem Alter, hatte ich meine Sympathien während der Punischen Kriege nicht den Römern, sondern dem Karthager zugewendet. Als dann im Obergymnasium das erste Verständnis für die Konsequenzen der Abstammung aus landesfremder Rasse erwuchs und die antisemitischen Regungen unter den Kameraden mahnten, Stellung zu nehmen, da hob sich die Gestalt des semitischen Feldherrn noch höher in meinen Augen. Hannibal und Rom symbolisierten dem Jüngling den Gegensatz zwischen der Zähigkeit des Judentums und der Organisation der katholischen Kirche. (...) So ist der Wunsch, nach Rom zu kommen, für das Traumleben zum Deckmantel und Symbol für mehrere andere heißersehnte Wünsche geworden, an deren Verwirklichung man mit der Ausdauer und Ausschließlichkeit des Puniers arbeiten möchte und deren Erfüllung zeitweilig vom Schicksal ebenso wenig begünstigt scheint wie der Lebenswunsch Hannibals, in Rom einzuziehen. (S. Freud, 1900a, S. 202.)

Die Identifizierung mit Hannibal hielt lange Zeit vor. Noch als Vierzigjähriger empfand Freud eine tiefe Sehnsucht, deren irrationale Wurzeln ihm nicht verborgen blieben, in Rom einzuziehen. Am 3. Dezember 1897 schrieb er an Fließ:

Meine Romsehnsucht ist übrigens tief neurotisch. Sie knüpft an die Gymnasialschwärmerei für den semitischen Heros Hannibal an, und ich bin wirklich heuer so wenig wie er vom Trasimener See nach Rom gekommen. (S. Freud, 1950, S. 251.)

Tatsächlich wurde Rom von Freud, wenn er in Italien reiste, jahrelang gemieden. Im Jahre 1899 war er schließlich auf einer seiner Italienreisen bis zum Trasimener See vorgestoßen, hatte den Tiber gesehen und „war schmerzlich bewegt achtzig Kilometer weit von Rom umgekehrt“ (S. Freud, 1900a, S. 201°f.). Er nahm sich vor, nächstes Jahr von neuem nach Italien zu reisen, führte den Vorsatz aus, ließ aber Rom wieder abseits liegen. Erst 1901 gestattete er sich endlich, wirklich bis nach Rom vorzudringen.

Was war der Grund dieses eigenartigen Zögerns? Warum versagte sich Freud die Erfüllung des so lange gehegten Wunsches? Er selbst gab an, „der Aufenthalt in Rom“ sei um die Jahreszeit, zu der er reisen könne, „aus Rücksichten der Gesundheit zu meiden“ (S. Freud, 1900a, S. 199). Dass diese Begründung fadenscheinig war, ging ihm erst später auf: „Ich habe seither“, fügte er 1909 hinzu, „längst erfahren, dass auch zur Erfüllung solcher lange für unerreichbar gehaltenen Wünsche nur etwas Mut erfordert wird, und bin dann ein eifriger Rompilger geworden“ (S. Freud, 1900a, S. 199). Unverkennbar [VIII-196] hatte Roms schlechtes Sommerklima nur als Rationalisierung herhalten müssen, weil der wirkliche Grund, der Freud immer wieder umkehren ließ, unbewusster Natur war. Der Einzug in Rom war für ihn offenbar gleichbedeutend mit der Eroberung der feindlichen Stadt, mit der Eroberung der Welt. Rom war Hannibals, war Napoleons Ziel gewesen; Rom war die Hauptstadt der katholischen Kirche, gegen die Freud eine tiefe Abneigung empfand. Da er sich mit Hannibal identifizierte, konnte er nicht weiter gelangen als sein Heros; erst Jahre später nahm er den letzten Anlauf und betrat Rom. Das war ein symbolischer Sieg und eine Selbstbestätigung, denn im Jahr zuvor war Die Traumdeutung, Freuds Meisterwerk, im Druck erschienen.

Daran, dass ihm Rom so lange Zeit unerreichbar geblieben war, hatte eine weitere Identifizierung ihren Anteil; die Identifizierung mit Moses. So stellte es sich Freud im Traum dar:

Ein andermal führt mich jemand auf einen Hügel und zeigt mir Rom vom Nebel halb verschleiert und noch so ferne, dass ich mich über die Deutlichkeit der Aussicht wundere. Der Inhalt dieses Traumes ist reicher, als ich hier ausführen möchte. Das Motiv, „das gelobte Land von ferne zu sehen“, ist darin leicht zu erkennen. (S. Freud, 1900a, S. 200.)

Freud fühlte die Identifizierung - teils bewusst, teils unbewusst. Die bewussten Gedanken hatte er, wie Jones berichtet, in Briefen an Jung vom 28. Februar und 17. Januar 1909 zum Ausdruck gebracht. Das waren die Briefe, in denen er, wie bereits erwähnt, Jung und Otto Groß als die einzigen selbständigen Denker unter seinen Anhängern bezeichnete und Jung als den Josua pries, der das ihm selbst verschlossene „gelobte Land“ der Psychiatrie betreten werde. In dieser biblischen Anspielung sieht Jones einen bemerkenswerten Hinweis auf „Freuds Identifizierung mit Moses (...), die in späteren Jahren sehr deutlich wurde“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 50).

Freuds unbewusste Identifizierung mit Moses bezeugen zwei seiner Arbeiten: der 1914 veröffentlichte Aufsatz Der Moses des Michelangelo (1914b) und seine letzte große Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939a). Der Aufsatz von 1914 nimmt unter Freuds Schriften eine besondere Stellung ein: Es ist die einzige Arbeit, die er je hat anonym erscheinen lassen. Der Veröffentlichung schickte die Redaktion der Imago die folgende Vorbemerkung voraus:

Die Redaktion hat diesem, strenge genommen nicht programmgerechten Beitrage die Aufnahme nicht versagt, weil der ihr bekannte Verfasser analytischen Kreisen nahesteht und weil seine Denkweise immerhin eine gewisse Ähnlichkeit mit der Methodik der Psychoanalyse zeigt. (Imago, Wien 3, 1916, S. 15, Anm.)

Man fragt sich, was Freud veranlasst haben mag, diesen Aufsatz, in dem er sich nicht der psychoanalytischen Methode bediente, überhaupt zu schreiben und ihn dann in Anonymität zu hüllen. Bestimmt hätte es Freud keine Schwierigkeiten bereitet, die kleine Arbeit unter seinem Namen zu publizieren, notfalls mit der Feststellung der Redaktion, dass sie die nicht in einem strikten Sinne psychoanalytische Abhandlung bringe, weil sie aus der Feder Freuds stamme. Dass Freud auf der Geheimhaltung seiner Verfasserschaft bestand, konnte nur den Grund haben, dass die Moses-Gestalt für ihn eine besondere gefühlsmäßige Bedeutung hatte, die er nicht klar erkannte und deren Aufhellung bei ihm auf beträchtlichen inneren Widerstand stieß.

Was ist denn das wesentliche Ergebnis, zu dem Freud bei seinem minuziösen Studium [VIII-197] der Moses-Statue des Michelangelo gelangt? Er bestreitet die übliche Deutung, wonach die Statue Moses in dem Augenblick darstellt, da er sich zornbebend anschickt, die Gesetzestafeln zu zerschlagen. Ganz im Gegenteil bemüht sich Freud mit großem Scharfsinn und liebevoller Mühe um den Nachweis, dass Michelangelo in dieser Skulptur den Charakter des Moses anders darstellt:

Der Mann Moses war nach den Zeugnissen der Tradition jähzornig und Aufwallungen von Leidenschaft unterworfen. (...) Aber Michelangelo hat an das Grabmal des Papstes einen anderen Moses hingesetzt, welcher dem historischen oder traditionellen Moses überlegen ist. Er hat das Motiv der zerbrochenen Gesetzestafeln umgearbeitet, er lässt sie nicht durch den Zorn Moses’ zerbrechen, sondern diesen Zorn durch die Drohung, dass sie zerbrechen könnten, beschwichtigen oder wenigstens auf dem Wege zur Handlung hemmen. Damit hat er etwas Neues, übermenschliches in die Figur des Moses gelegt, und die gewaltige Körpermasse und kraftstrotzende Muskulatur der Gestalt wird nun zum leiblichen Ausdruckmittel für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat. (S. Freud, 1914b, S. 197°f.)

Erinnert man sich daran, dass das ungefähr zu der Zeit von Jungs Abfall geschrieben wurde und dass Freud sich für einen Angehörigen der Elite hielt, der er die Fähigkeit zuschrieb, ihre Leidenschaften zu bezwingen, so erahnt man den Grund des leidenschaftlichen Interesses, das Freud der Moses-Skulptur entgegenbrachte: Er sah sich selbst als den Moses, der vom Volk nicht verstanden wird und der es trotzdem fertigbringt, seinen Zorn zu unterdrücken und sein Werk fortzusetzen. Dass es sich tatsächlich so verhielt, bestätigt Freuds Reaktion auf die Anstrengungen von Jones und Ferenczi, die ihn zu überreden suchten, den Moses-Aufsatz doch zu zeichnen. Jones schreibt: „Die Gründe, die er für seinen Beschluss angab, waren ziemlich fadenscheinig: ‘Warum Moses durch Hinzusetzen meines Namens degradieren?’“ - so lautet Freuds Begründung in einem Brief an Jones (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 431). Und an Abraham schrieb er: „‘1. ist es nur ein Scherz’“ (a.a.O.). Es ist in der Tat eine merkwürdige Vorstellung, dass Moses degradiert worden wäre, wenn Freud als Autor einer Abhandlung über ihn gezeichnet hätte. Einen Sinn bekommt dieser Ausspruch nur als Verlegenheitsreaktion Freuds auf seine unbewusste Selbstidentifizierung mit Moses, aus der der Aufsatz entstanden sein muss.

Wie wichtig das Moses-Thema für Freud war, zeigt sich auch daran, dass er der Persönlichkeit Moses’ seine letzte Schaffenskraft gewidmet hat. Er schrieb das Buch über Moses und den Monotheismus in den Jahren des Hitler-Regimes: Der erste und zweite Teil erschienen 1937, der dritte 1939 (S. Freud, 1939a). Und in diesem Buch ging es ihm darum, zu beweisen, dass Moses nicht Jude, sondern Ägypter gewesen sei! Was konnte Freud dazu getrieben haben, den Juden ihren größten Heros gerade zu der Zeit zu nehmen, da ein übermächtiger Barbar versuchte, sie zu vernichten? Was konnte Freud bewogen haben, ein Buch zu schreiben, das von seinem eigentlichen Arbeitsgebiet recht weit entfernt war und dessen Thesen er nur mit Analogieschlüssen und schwachen Argumenten zu erhärten wusste? Ein Motiv liegt auf der Hand: Ohne Zweifel war hier dieselbe Faszination am Werk, die die Gestalt Moses’ [VIII-198] auf Freud vorher schon ausübte, derselbe Drang zur Identifizierung mit Moses, der fast ein Vierteljahrhundert früher den Anstoß zum Michelangelo-Essay gegeben hatte (S. Freud, 1914b). Diesmal war es offenbar kein „Scherz“ mehr, diesmal scheute Freud nicht mehr davor zurück, Moses durch Anfügung seines Namens in schlechtem Licht erscheinen zu lassen. Und er tat etwas, was sich zwar nicht gegen Moses, dafür jedoch gegen die Juden auswirken musste: Er beraubte sie nicht nur ihres Helden, sondern auch des Anspruchs darauf, den Monotheismus hervorgebracht zu haben.[10] Über die Motive der Veröffentlichung brauchte man keine psychologischen Rätsel zu raten, wenn es sich um Freuds Spezialgebiet gehandelt hätte oder wenn der von ihm angebotene Beweis überwältigend gewesen wäre. Weder das eine noch das andere ist der Fall, und man ist infolgedessen auf Vermutungen angewiesen. Dann kann man aber nicht umhin, Freuds Beschäftigung mit Moses darauf zurückzuführen, dass er sich in den Tiefen seines Unbewussten mit Moses identifizierte. Gleich dem großen Führer der Juden hatte Freud das Volk bis an die Grenze des Gelobten Landes geführt, das zu betreten ihm versagt blieb; gleich Moses hatte er den Undank und den Hohn des Volkes geerntet und sich dennoch von seiner Mission nicht abbringen lassen.

Neben der Identifikation mit Hannibal und Moses sollte noch eine andere mehr oder weniger wichtige Identifikation erwähnt werden: die mit Kolumbus. Nachdem Jung die Bewegung verlassen hatte, bemerkte Freud: „Weiß man heutzutage, mit wem Kolumbus segelte, als er Amerika entdeckte?“ (E. Jones, 1957, Band 2, S. 127). Gegen Ende seines Lebens zeigt schließlich noch einmal ein Traum, wie tief verwurzelt Freuds Identifikation mit einem siegreichen Helden war. Als Freud aus Wien fliehen musste, träumte er auf der Überfahrt von Paris nach London im Zug, er sei dabei, in Pevensey zu landen, wo Wilhelm der Eroberer im Jahre 1066 an Land gegangen war. (Vgl. E. Jones, 1960-1962, Bd. 3, S. 270.) Ein schwerkranker Greis auf der Flucht aus der Heimat, im Unbewussten von der Vorstellung erfüllt, er betrete das Land seines letzten Asyls als Held und Eroberer: welch ergreifender Ausdruck von Stolz und sicherer Zuversicht eines Menschen, den nichts zerbrechen konnte.

Angesichts der Kette von Identifizierungen mit großen Führern - von Napoleons Marschällen über Hannibal bis Moses - ist Jones’ Meinung, diese Identifizierungen hätten mit Freuds Jugendjahren ein Ende gefunden, erstaunlich:

Auffallend ist die Veränderung, die ungefähr in seinem sechzehnten oder siebzehnten Jahr mit ihm vorgegangen sein muss. Verschwunden ist der kleine Kampfhahn, der mit seinen Spielgefährten ‘raufte’, der Knabe, der sich fürs Militär begeisterte, der Jüngling, der davon träumte, Minister zu werden und das Land zu regieren! Sollte vielleicht doch die kurze Begegnung mit einem Landmädchen schicksalhaft gewesen sein? (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 76.)

Schicksalhaft war weder diese Begegnung - Freud hatte sich für kurze Zeit in ein Mädchen verliebt - noch etwas anderes, denn die Phantasien und [VIII-199] Wunschvorstellungen der Kindheits- und Jugendjahre waren gar nicht verflogen. Sie hatten nur andere Formen angenommen und waren zum Teil weniger bewusst geworden. Aus dem Halbwüchsigen, der Minister werden wollte, war ein Erwachsener geworden, der darauf ausging, Moses zu gleichen, der Menschheit eine neue Erkenntnis zu bringen, ihr die tiefste Selbst- und Welterkenntnis zu vermitteln. Weder Nationalismus noch Sozialismus noch Religion erweckten Vertrauen als Wegweiser zu einem vollkommeneren Leben; das Irrationale solcher Antworten auf die Probleme des menschlichen Daseins musste sich erweisen, sobald die Tiefen des menschlichen Geistes ergründet waren. War das aber geschehen, so konnten die Menschen zu dem Ziel gelangen, das ihnen gesetzt ist: zum nüchternen, skeptischen, rationalen Begreifen der Vergangenheit und der Gegenwart und zur Bejahung der wesenhaft tragischen Natur ihrer Existenz.

Dazu bedurfte es einer intellektuellen Revolution, und das musste gleichsam die letzte Etappe sein, die der Rationalismus noch bewältigen konnte. Freud sah sich als den Führer dieser Revolution. Nur wenn man Freuds inneren Drang, der Menschheit eine neue, eher wirklichkeitsnahe als frohe Botschaft zu bringen, begreift, kann man seine Schöpfung verstehen: die psychoanalytische Bewegung.

Welch merkwürdiges Phänomen! Die Psychoanalyse ist eine Therapie, die sich mit der Heilung von Neurosen beschäftigt, und sie ist zugleich eine psychologische Theorie: eine allgemeine Theorie vom Wesen des Menschen und insbesondere von der Existenz des Unbewussten und von seinen Manifestationen in Träumen, in Krankheitssymptomen, im Charakter und in Symbolbildungen. Wo aber gibt es das sonst, dass sich eine Therapie oder eine wissenschaftliche Theorie in eine Bewegung verwandelt, die von einem geheimen Komitee zentral gesteuert wird, abweichende Mitglieder hinaussäubert, über lokale Organisationen im Rahmen einer internationalen Gesamtorganisation verfügt? Keine medizinische Therapie ist je zu einer Bewegung geworden. Als Theorie ließe sich die Psychoanalyse am ehesten noch mit dem Darwinismus vergleichen: Der Darwinismus ist eine revolutionäre Theorie, die die Geschichte der menschlichen Gattung erhellen will und die gründlicher als irgendeine andere Lehre des Neunzehnten Jahrhunderts dazu beigetragen hat, das Weltbild der Menschen umzuwälzen. Und dennoch gibt es keine darwinistische „Bewegung“, kein Direktorium, das eine solche Bewegung leitet, und keine Säuberungen, die darüber entscheiden, wer befugt ist, sich Darwinist zu nennen, und wer dieses Vorrecht eingebüßt hat.

Woher dieser einzigartige Charakter der psychoanalytischen Bewegung? Eine Teilantwort liegt in der Persönlichkeit Freuds. Ohne Zweifel war Freud ein großer Gelehrter; aber gleich Marx, der auch ein großer Gelehrter - Soziologe und Nationalökonom - war, verfolgte Freud außer dem Fortschritt der Wissenschaft noch ein anderes Ziel, das Darwin fernlag: Er wollte die Welt verändern. Im Gewand des Therapeuten und Wissenschaftlers war er einer der großen Weltverbesserer des angehenden Zwanzigsten Jahrhunderts.

8. Der quasi-politische Charakter der psychoanalytischen Bewegung

Auf den folgenden Seiten möchte ich versuchen, den eigenartigen Charakter der psychoanalytischen Bewegung deutlicher hervortreten zu lassen. Als Einführung könnte ich kaum etwas Besseres finden als die Kapitelüberschriften aus dem jeweils ersten Teil des zweiten und dritten Bandes der Freud-Biographie von Jones, welcher bei Jones „Leben“ betitelt ist. Die Kapitelüberschriften in Band 2 lauten: Heraustreten aus der Isolierung (1901-1906); Anfänge internationaler Anerkennung (1906-1909); Die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (1910-1914); Opposition; Uneinigkeiten und Abfall (1911-1914); Das Komitee; Die Kriegsjahre (1914-1919). Die Überschriften des 1. Teiles von Band 3 lauten: Wiedervereinigung (1919-1920); Uneinigkeit (1921-1926); Weiterentwicklung und Schicksalsschläge (1921-1925); Ruhm und Leiden (1926-1933); Die letzten Jahre in Wien (1934-1938); London - das Ende.

Wer diese Überschriften liest, ohne zu wissen, worum es sich handelt, muss vermuten, er habe die Geschichte einer politischen oder religiösen Bewegung, ihres Wachsens und ihrer Spaltungen vor sich. Dass es sich um die Geschichte einer Therapie oder einer psychologischen Theorie handelt, wäre sicher eine Überraschung. Der Geist einer die Welt erobernden Bewegung existierte allerdings schon in der Frühzeit der Psychoanalyse. Seine grundlegenden Entdeckungen hatte Freud bereits vor 1910 gemacht und in Büchern und Zeitschriftenartikeln sowie in Vorträgen vor einer kleinen Gruppe Wiener Ärzte und Psychologen dargestellt. Bis dahin hatte sich seine Arbeit von der jedes anderen schöpferisch tätigen Wissenschaftlers in nichts unterschieden. Für Freud war diese Art von Tätigkeit jedoch unbefriedigend. Zwischen 1910 und 1914, schreibt Jones, „nahm das seinen Anfang, was man die ‚psychoanalytische Bewegung’ genannt hat - ein nicht sehr glücklicher Ausdruck, der aber in gleicher Weise von Freund und Feind gebraucht wurde“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 88). Freuds

Freude über zunehmende Beweise des Erfolgs und der Anerkennung wurde sehr durch die unheilvollen Anzeichen der wachsenden Uneinigkeit zwischen von ihm geschätzten Anhängern getrübt - ein Thema, dessen Behandlung eines besonderen Kapitels bedarf. Die unlösbaren Probleme und Schwierigkeiten, mit ihnen fertig zu werden, hatten für Freud viel Ärger, Unruhe, ja Verwirrung zur Folge. Hier wollen [VIII-201] wir uns jedoch auf die lichteren Seiten der Geschichte beschränken, der allmählichen Ausbreitung der neuen Ideen, die Freud so viel bedeuteten. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 88.)

Wie oben erwähnt, hatte Freud 1910 an Jung geschrieben, er überlege sich, ob er nicht seine Anhänger dazu anregen solle, „sich ‘irgendeiner größeren Gruppe zur Arbeit für ein praktisches Ideal’ zusammenzuschließen“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 88). Der Plan, die „Internationale Brüderschaft für Ethik und Kultur“ zum organisatorischen Rahmen für seine Anhänger zu machen, wurde jedoch bald fallengelassen. An seine Stelle trat eine internationale Brüderschaft für Psychoanalyse, genannt „Internationale Psychoanalytische Vereinigung“.

Schon die Gründung der Vereinigung erfolgte in einem Geist, der sich von der sonst in wissenschaftlichen Gesellschaften üblichen Haltung radikal unterschied. Von vornherein wurde ein weitgehend diktatorischer Organisationsaufbau in Aussicht genommen. Vor dem Gründungskongress hatte Ferenczi am 5. Februar 1910 an Freud geschrieben: „Die psychoanalytische Auffassung führt nicht zu demokratischer Gleichmacherei; es sollte vielmehr eine ‘Elite’ geben nach Art der platonischen Herrschaft der Philosophen.“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 90.) Bereits drei Tage später antwortete Freud, er habe ähnliche Überlegungen angestellt. Darauf ging Ferenczi in der Anwendung dieses Prinzips ein Stück weiter. Er schlug die Gründung einer internationalen Vereinigung mit Zweigorganisationen in den verschiedenen Ländern vor und proklamierte dann, wie Jones berichtet, die Notwendigkeit des Grundsatzes, „alle Artikel oder Vorträge von Psychoanalytikern seien zuerst dem Präsidenten der Vereinigung zur Genehmigung vorzulegen“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 90). Dieser extreme Vorschlag fand zwar keinen Anklang, aber er ist dennoch symptomatisch für den Geist der Bewegung, die Freud von Anfang an zusammen mit Ferenczi zu organisieren suchte.

Der zweite psychoanalytische Kongress hatte alle Merkmale eines Parteitages. „Die Diskussion, die nach Ferenczis Rede einsetzte, nahm solche Schärfe an, dass man sie auf den nächsten Tag verschieben musste.“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 90°f.) Die Auseinandersetzungen wurden noch schärfer, als man vorschlug, die Posten des Präsidenten und des Sekretärs mit Schweizern zu besetzen, womit ja die treuen Dienste der „Wiener“ ignoriert wurden.[11]

Wie Freud den Aufstand der Wiener mit dem Hinweis auf die Feinde, die ihn aushungern wollten, beizulegen versuchte, habe ich bereits geschildert. (Vgl. oben S. 181.) Freud als politischer Führer benutzte hier seinen „Hungerkomplex“ als dramatisches, ja geradezu hysterisches Kampfmittel, um seinen Anhängern den Verzicht auf die organisatorische Führung abzuringen; nunmehr sollte die Psychoanalyse endlich zur weltumspannenden Bewegung werden, und ihre Repräsentanten durften also - nach Freud - nicht Wiener Juden, sondern sollten nichtjüdische Schweizer sein. Jung sollte gleichsam der Paulus der neuen Religion werden. Aber zunächst musste Freud die nötigen politischen Schritte ergreifen, um die beiden Führer der Revolte zu beschwichtigen:

Er kündigte an, dass er sich von der Präsidentschaft der Wiener Vereinigung zurückziehen und durch Adler ersetzen lassen werde. Auch war er der Meinung, dass eine Zeitschrift gegründet werden sollte, teilweise zum Ausgleich für das von Jung redigierte „Jahrbuch“. Diese Zeitschrift sollte monatlich unter dem Titel [VIII-202] „Zentralblatt für Psychoanalyse“ erscheinen und von Adler und Stekel redigiert werden. Damit beruhigten sie sich, und sie erklärten sich einverstanden, dass er Herausgeber der neuen Zeitschrift und Jung Präsident der Vereinigung werden solle. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 91.)

Aus dieser Beschreibung lässt sich unschwer entnehmen, dass Freud, Ferenczi und die anderen eher von dem Enthusiasmus von Männern motiviert wurden, welche eine quasi-religiöse Bewegung anführen, Sitzungen und Konklaven abhalten und sich attackieren und wieder versöhnen, als von der Haltung von Wissenschaftlern, die sich gemeinsam um die Klärung von Fachproblemen bemühen. Ein ähnlicher politischer Geist wurde wenig später in Freuds Verhandlungen mit dem großen Psychiater Bleuler sichtbar. Am 6. 11. desselben Jahres schrieb Freud an Pfister:

Mit Bleuler habe ich mir große Mühe gegeben. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn um jeden Preis halten wollte, da steht mir Jung doch etwas näher, aber ich will gerne für Bleuler opfern, was ohne Schaden für die Sache geschehen kann. Leider habe ich wenig Hoffnung. (Zit. nach E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 94°f.)

Nach den ersten Jahren des Sich-Zusammenfindens begannen heftige Gegensätze die Einheit der Bewegung zu untergraben. Auf den ersten Blick schienen sich die Auseinandersetzungen um theoretische Meinungsverschiedenheiten zu drehen. Hätte es sich aber nur darum gehandelt, so wäre es kaum zu der Bitterkeit gekommen, die die Zwistigkeiten fast regelmäßig begleiteten. Zweifellos sind die Gegensätze selbst und auch die Atmosphäre, in der sie ausgetragen wurden, in hohem Grade daraus zu erklären, dass die jeweiligen Dissidenten den Ehrgeiz hatten, selbst zu Führern neuer Sekten zu werden; nicht minder hat dazu aber auch der echt politische Fanatismus Freuds und seiner Gefolgschaft beigetragen. Freilich ergaben sich diese Gegensätze und Spaltungen nicht nur aus dem persönlichen Charakter Freuds und seiner Widersacher, sondern auch aus der Grundstruktur der „Bewegung“. In einer hierarchisch organisierten Bewegung, die im Namen ihrer Ideale die Welt erobern will, sind solche Kampfformen logisch. In anderen aggressiven religiösen oder politischen Bewegungen, die auf ein Dogma eingeschworen sind und einen Führer zum Idol machen, ist es nicht anders.

Der Bruch mit Jung, der politisch gefährlicher war und Freud persönlich mehr geschadet hat als die anderen Konflikte und Abspaltungen, führte zu einer noch strafferen Zusammenfassung der Bewegung: Sie wurde einem geheimen Komitee aus sieben Mitgliedern (einschließlich Freud) unterstellt, das ihre Richtung zu überwachen und zu steuern hatte. Schon die absonderliche Idee eines solchen Komitees unterstreicht den politischen Charakter, den die Bewegung angenommen hatte. Der Plan kam von Jones und Ferenczi. Nach dem Abfall Adlers und Stekels war im Sommer 1912 zu sehen, dass auch Freuds Beziehungen zu Jung nicht mehr lange ungetrübt bleiben würden. Im Juli machte Freud seine engsten Mitarbeiter auf die bevorstehende Auseinandersetzung aufmerksam. Jones berichtet (1960-1962, Band 2, S. 186):

In jenem Monat war ich in Wien, während Freud in Karlsbad weilte, und besprach die Situation mit Ferenczi. Er bemerkte ganz richtig: der ideale Plan wäre, wenn man in verschiedenen Zentren oder Ländern Männer sitzen hätte, die von Freud [VIII-203] sehr gründlich analysiert worden wären. Doch dafür schien keine Aussicht zu bestehen, und ich schlug vor, wir sollten inzwischen eine kleine Gruppe zuverlässiger Analytiker als eine Art „alte Garde“ um Freud herum bilden. Sie würden ihm eine Sicherheit geben, wie sie nur ein fester Stamm treuer Freunde geben kann; im Falle weiterer Abtrünnigkeiten würde sie ihm ein Trost sein.

Rank und Abraham stimmten dem Vorschlag freudig zu. Für den Charakter der Bewegung ist es wiederum bezeichnend, dass genau zu der Zeit, da über den Vorschlag diskutiert wurde, Ferenczi bei Rank anfragte, ob er der Bewegung Treue zu bewahren gedenke, und gleichzeitig in einem Brief an Freud vom 6. August 1912 Jones’ Verlässlichkeit in Zweifel zog, indem er schrieb: „(...) Jones müssen Sie stets im Auge behalten und ihm die Rückzugslinie abschneiden“ (zit. nach E. Jones, 1960-1962, Band 2, S. 187).

Freud selbst war über die Idee von Jones Feuer und Flamme und antwortete unverzüglich am 1. 8. 1912 in einem Brief:

Was meine Phantasie sofort in Beschlag nahm, war Ihre Idee eines geheimen Konzils, das sich aus den besten und zuverlässigsten unserer Leute zusammensetzen solle, deren Aufgabe es sei, für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse zu sorgen und die Sache gegen Persönlichkeiten und Zwischenfälle zu verteidigen, wenn ich nicht mehr da bin. (...) Ich möchte sagen, es würde mir das Leben und das Sterben leichter machen, wenn ich wüsste, dass eine solche Gemeinschaft zum Schutz meiner Schöpfung existiert. Vor allem aber ist dies zu beachten: Das Komitee müsste in seiner Existenz und in seinem Wirken streng geheim bleiben. (...) Was die nächste Zeit auch immer bringen mag, der zukünftige Obmann der psychoanalytischen Bewegung könnte aus diesem kleinen Kreis Männer herauswachsen, in die ich trotz meiner letzten Enttäuschungen über Menschen noch immer alles Vertrauen setze. (E. Jones, 1960-1962, Band 2, S. 187°f.)

Ein Jahr später trat das Komitee erstmalig in voller Besetzung zusammen: Außer Freud gehörten ihm Ernest Jones, Sándor Ferenczi, Karl Abraham, Otto Rank und Hanns Sachs an. Zur Feier des Ereignisses schenkte Freud jedem der Mitglieder eine griechische Gemme aus seiner Antiquitätensammlung; sie ließen dann diese Gemme in goldene Ringe einfassen. Freud selbst hatte schon lange einen solchen Ring getragen, und als einige Jahre später Max Eitingon ebenfalls einen bekam, waren die „Sieben Ringe“ beisammen, von denen Sachs in seinem Buch spricht.

In ihrer weiteren Entwicklung folgte die Bewegung dem Weg, den ihr die Ereignisse schon vor der Bildung des Komitees vorgezeichnet hatten. Freuds eigene Darstellung Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung (S. Freud, 1914d) liefert genug Beweise für den quasi-politischen Charakter der Bewegung. Er zählt die in den einzelnen Ländern eroberten Positionen auf, verzeichnet mit Befriedigung die Fortschritte der Bewegung in Amerika und stellt dann fest: „(...) gerade darum ist klar, dass der Kampf um die Analyse dort seine Entscheidung finden muss, wo sich die größere Resistenz ergeben hat, auf dem Boden der alten Kulturzentren“ (S. Freud, 1914d, S. 71). Oder er schreibt über den Kampf mit seinen Gegnern:

Die Geschichte dieser Widerstände zu schreiben, halte ich gegenwärtig für unfruchtbar und unzeitgemäß. Sie ist nicht sehr ruhmvoll für die Männer der Wissenschaft unserer Tage. Ich will aber gleich hinzusetzen, es ist mir nie eingefallen, die Gegner der Psychoanalyse bloß [VIII-204] darum, weil sie Gegner waren, in Bausch und Bogen verächtlich zu schimpfen; von wenigen unwürdigen Individuen abgesehen, Glücksrittern und Beutehaschern, wie sie sich in Zeiten des Kampfes auf beiden Seiten einzufinden pflegen. (S. Freud, 1914d, S. 79.)

Freud spricht dann (S. Freud, 1914d, S. 79) von der Notwendigkeit eines Führers:

Ein Oberhaupt, meinte ich (...), müsse es geben. Ich wusste zu genau, welche Irrtümer auf jeden lauerten, der die Beschäftigung mit der Analyse unternahm, und hoffte, man könnte viele derselben ersparen, wenn man eine Autorität aufrichtete, die zur Unterweisung und Abmahnung bereit sei.

Noch deutlicher:

Es sollte dann eine Stelle geben, welcher die Erklärung zustände: Mit all dem Unsinn hat die Analyse nichts zu tun, das ist nicht die Psychoanalyse. (S. Freud, 1914d, S. 84°f.)

Genau in diesem Sinne wurde die internationale Organisation aufgebaut: mit Unterorganisationen in vielen Ländern und mit genauen Vorschriften darüber, wer sich als Psychoanalytiker betrachten dürfe und wer nicht. Daraus ergab sich etwas, was auf anderen Wissensgebieten selten vorkommt: Die Entwicklung der wissenschaftlichen Theorie wurde auf Jahrzehnte hinaus an die Entdeckungen ihres Begründers gekettet, und niemand durfte das Recht beanspruchen, grundlegende Thesen des Meisters einer Revision zu unterziehen.

Sogar die Sprache, deren sich Freud bediente, hatte diesen quasi-politischen Charakter. Den mehrmals erwähnten Kongress von 1910, mit dem für ihn die „Kindheit unserer Bewegung“ endete, nannte er in seinem Brief an Ferenczi vom 3. April 1910 den „Nürnberger Reichstag“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 93). Und als sich Jung nach seiner Meinung zu sehr für die Deutung von Mythen zu interessieren begann, warnte er ihn und schrieb am 29. Dezember 1910 an Ferenczi:

Ich bin mehr als je überzeugt, dass er der Mann der Zukunft ist. Seine eigenen Arbeiten sind tief in die Mythologie gegangen, die er mit dem Schlüssel der Libidotheorie eröffnen will. So erfreulich das alles war, bat ich ihn doch rechtzeitig zu den Neurosen zurückzukehren. Dort ist das Mutterland, in dem wir unsere Herrschaft zuerst gegen alles und alle sicherstellen müssen. (Zit. nach E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 172.)

Im Unterschied zum „ Mutterland“ wurden die anderen Bereiche von Freud oft als „Kolonien“ der Psychoanalyse bezeichnet. (Vgl. Brief an Jones vom 22. Januar 1911 in: E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 173.) So sprechen Reichsgründer oder politische Führer. Der Mann, der als Kind Marschall Masséna bewundert, als Jüngling von der Karriere eines liberalen oder sozialistischen politischen Führers geträumt hatte und als Erwachsener sich mit Hannibal und Moses identifizierte, sah in der von ihm geschaffenen psychoanalytischen Bewegung ein Werkzeug zur Errettung und Eroberung der Welt für ein Ideal.

Was das Ideal war, dem zuliebe all diese Dinge zu geschehen hatten, lässt sich nicht ohne weiteres sagen. Freud und seine Anhänger verdrängten das Bewusstsein von ihrer Mission, denn ihre Grundidee war für solche quasi-religiösen Missionszwecke schlecht zu gebrauchen. Sie fand ihren Ausdruck in einer therapeutischen Methode und in der psychologischen Theorie des Unbewussten, der Verdrängung, des Widerstandes, der Übertragung, der Traumdeutung. Nichts war in alledem explizit enthalten, was den Kern eines Glaubens hätte bilden können; der Inhalt des Glaubens blieb immer implizit. Explizit bestritt Freud sehr entschieden, dass die Psychoanalyse eine Weltanschauung, eine Lebensphilosophie sein könne:

Die Psychoanalyse (...) ist [VIII-205] unfähig, eine ihr besondere Weltanschauung zu erschaffen. Sie braucht es nicht, sie ist ein Stück Wissenschaft und kann sich der wissenschaftlichen Weltanschauung anschließen. Diese verdient aber kaum den groß tönenden Namen, denn sie schaut nicht alles an, sie ist zu unvollendet, erhebt keinen Anspruch auf Geschlossenheit und Systembildung. (S. Freud, 1933a, S. 197.)

So streitet Freud, folgt man seinen eigenen Worten, die Existenz einer besonderen Philosophie, die hinter der Psychoanalyse steht, ab. Wenn ich all dies in Betracht ziehe, so kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass Freud dies zwar bewusst glaubte und glauben wollte, dass er jedoch seinen Wunsch, eine neue philosophisch-wissenschaftliche Religion begründet zu haben, verdrängte und dieser unbewusst blieb.

So schrieb derselbe Freud am 8. Mai 1913 in einem bewegenden Brief an Ferenczi:

Es ist ganz gut möglich, dass man uns diesmal wirklich begräbt, nachdem man uns so oft vergeblich das Grablied gesungen hat. An unserem Schicksal wird es viel ändern, an dem der Wissenschaft nichts. Wir sind im Besitz der Wahrheit; ich bin so sicher wie vor 15 Jahren. (Zit. nach E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 182; Hervorhebung E. F.)

Was aber war die Wahrheit? Was war der Kern dieser psychoanalytischen Religion, das Dogma, aus dem genug Energie floß zur Erschaffung und Ausbreitung der Bewegung?

Die klarste Formulierung dieses Hauptdogmas scheint mir in Das Ich und das Es (1923b) enthalten zu sein. Da sagt Freud:

Das Ich entwickelt sich von der Triebwahrnehmung zur Triebbeherrschung, vom Triebgehorsam zur Triebhemmung. An dieser Leistung hat das Ich-Ideal, das ja zum Teil eine Reaktionsbildung gegen die Triebvorgänge des Es ist, seinen starken Anteil. Die Psychoanalyse ist ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll. (S. Freud, 1923b, S. 286.)

Dies ist ein religiös-ethisches Ziel, die Eroberung der Leidenschaft durch die Vernunft. Diese Zielsetzung, deren Wurzeln im Protestantismus, in der Aufklärungsphilosophie, in der Philosophie Spinozas und in der Religion der Vernunft zu finden sind, hatte in der Lehre Freuds eine eigene, neue Gestalt angenommen. Vor Freud hatte man versucht, die irrationalen Affekte der Menschen durch die Vernunft zu beherrschen, ohne sie wirklich zu kennen oder - genauer - ohne ihre tieferen Quellen zu erkennen. Freud aber glaubte, diese Quellen bloßgelegt zu haben: in den libidinösen Strebungen und den ihnen zugeordneten komplizierten Mechanismen der Verdrängung, Sublimierung, Symptombildung usw. Und darum musste er auch glauben, dass nunmehr zum ersten Mal der uralte Traum von der Herrschaft des Menschen über sich selbst, vom Primat der Rationalität verwirklicht werden könne. Eine Analogie zu Marx drängt sich auf: Ebenso wie Marx überzeugt war, im Gegensatz zu dem, was er den utopischen Sozialismus nannte, den Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt zu haben, war Freud überzeugt, die wissenschaftliche Basis einer alten moralischen Forderung entdeckt zu haben und damit über die utopische Morallehre der Religionen und Philosophien hinausgeschritten zu sein. Da er dem Durchschnittsmenschen zutiefst misstraute, konnte das Ziel dieser neuen wissenschaftlich fundierten Sittlichkeit nur von einer Elite erreicht werden; die psychoanalytische Bewegung erschien ihm als die kleine, dafür aber straff organisierte aktive Avantgarde, der es oblag, den Sieg des moralischen Ideals zu erkämpfen. [VIII-206]

Vielleicht hätte Freud ein sozialistischer Führer oder der Führer einer Bewegung für ethische Kultur oder - aus anderen Motiven heraus - ein Führer der zionistischen Bewegung werden können; vielleicht hätte er es werden können, in Wirklichkeit aber konnte er es nicht, weil ihm außer dem Verlangen, das Rätsel der menschlichen Existenz zu lösen, auch noch ein allumfassendes wissenschaftliches Interesse am menschlichen Geist eigen war, weil er seinen Lebensweg als Physiologe und Mediziner angetreten hatte und weil er für einen politischen Führer viel zu sensibel und viel zu skeptisch war. In der Rolle des Begründers einer wissenschaftlichen Schule konnte er seinen alten Traum in die Wirklichkeit umsetzen: Er konnte als neuer Moses der Menschheit das Gelobte Land zeigen, in dem das Es vom Ich bezwungen ist, und ihr den Weg zu dieser Eroberung zeigen.

9. Freuds religiöse und politische Überzeugungen

Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Frage nach Freuds eigenen politischen und religiösen Überzeugungen gestellt werden muss. Seine religiöse Überzeugung hat Freud in verschiedenen Schriften, vor allem in Die Zukunft einer Illusion (1927c) ausdrücklich und unmissverständlich dargestellt. Hier ist die Antwort leicht zu geben: Im Gottesglauben sah Freud eine Fixierung der Sehnsucht nach einer alles schützenden Vaterfigur, den Ausdruck des Verlangens nach Hilfe und Rettung; in Wirklichkeit aber kann der Mensch - wenn auch nicht sich selbst retten, so doch wenigstens - sich selbst helfen, indem er aus kindlichen Illusionen erwacht und von seiner Stärke, seiner Vernunft und seinen Fähigkeiten Gebrauch macht.

Schwieriger wiederzugeben ist die politische Haltung Freuds, denn er hat sie nie systematisch dargelegt. Sie ist vielschichtiger und widerspruchsvoller als seine Einstellung zur Religion. Klar erkennbar sind Freuds radikale Neigungen. Auf dem Gymnasium war er - darauf bin ich im Zusammenhang mit seiner Freundschaft mit Heinrich Braun eingegangen - von sozialistischen Ideen beeindruckt. Als er sich dann mit der Absicht trug, Jura zu studieren, um eine politische Laufbahn einschlagen zu können, stand für ihn offenbar der Enthusiasmus für die Ideen eines radikalen Liberalismus im Vordergrund. Derselben Sympathie entsprang vermutlich sein Interesse an John Stuart MilI, dessen Schriften er übersetzt hat. Liberale Gedankengänge waren für Freud auch noch 1910, als er die Ratsamkeit des Anschlusses an die „Internationale Brüderschaft für Ethik und Kultur“ erwog, von erheblicher Bedeutung.

Trotz Freuds frühen liberalen oder sogar sozialistischen Neigungen ging jedoch sein Menschenbild nicht über den Vorstellungskreis hinaus, der für das Bürgertum des Neunzehnten Jahrhunderts typisch war. Und man kann sein ganzes psychologisches System nicht richtig beurteilen, wenn man die sozialphilosophischen Anschauungen nicht berücksichtigt, auf deren Grundlage es errichtet wurde.

Betrachten wir zunächst den für Freud so wichtigen Sublimierungsbegriff. Durch Nichtbefriedigung der Triebwünsche, durch Selbstversagung „spare“, meinte Freud, die Elite im Gegensatz zum „Gesindel“ psychisches Kapital, das dann in kulturelle Leistungen eingehe. Das Geheimnis der Sublimierung, das Freud nie zureichend erklärt hat, enthüllt sich somit als das Geheimnis der Kapitalbildung, wie es sich im [VIII-208] bürgerlichen Mythos des Neunzehnten Jahrhunderts darstellte. So wie der Reichtum das Produkt des Sparens ist, ist die Kultur das Produkt von Triebfrustration.

Noch ein anderes Element des Menschenbildes des Neunzehnten Jahrhunderts hatte Freud übernommen und in seine psychologische Theorie eingebaut: die Vorstellung, dass der Mensch von Grund auf aggressiv und auf Wettbewerb eingestellt sei. Freud drückt diese Vorstellung in seiner Analyse der Kultur, in Das Unbehagen in der Kultur (1930a, S. 471) aus:

Homo homini lupus: wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten? Diese grausame Aggression wartet in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht, deren Ziel auch mit milderen Mitteln zu erreichen wäre. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, weggefallen sind, äußert sie sich auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist.

Aus der natürlichen Aggressivität leitet sich im Rahmen dieses Menschenbildes ein anderes vermeintliches Wesensmerkmal des Menschen her, dem zentrale Bedeutung beigemessen wird: sein angeborenes Wettbewerbsstreben. „Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander“, sagt Freud, „ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht“ (S. Freud, 1930a, S. 471). Nur dem Anschein nach sei die „primäre Feindseligkeit“ durch wirtschaftliche Ungleichheit bedingt. „Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust [nur] eines ihrer Werkzeuge, gewiss ein starkes und gewiss nicht das stärkste“ (S. Freud, 1930a, S. 473). Was ist dann aber der wirkliche Ursprung des menschlichen - oder vielmehr männlichen - Wettbewerbsstrebens? Es ist das Verlangen der Männer nach unbegrenzter und uneingeschränkter Verfügbarkeit aller Frauen, nach denen sie begehren. Ursprünglich geht es um den Wettbewerb zwischen den Söhnen und dem Vater um den Besitz der Mutter, später um den Wettbewerb zwischen den Söhnen um alle erreichbaren Frauen.

Räumt man das persönliche Recht auf dingliche Güter weg, so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Missgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muss. (S. Freud, 1930a, S. 473.)

Den bürgerlichen Denkern in Freuds Zeit stellte sich der Mensch primär als isoliert und selbstgenügsam dar. Soweit der Mensch auf bestimmte Güter angewiesen war, musste er auf dem Markt erscheinen, wo er mit anderen Individuen zusammentraf, die das brauchten, was er zu verkaufen hatte, und das anboten, was er benötigte; der beiden Seiten zugutekommende Warenaustausch schien den Kern des gesellschaftlichen Zusammenhangs zu bilden. In Freuds Libidotheorie ist diese Vorstellung von der wirtschaftlichen in die psychische Ebene verlegt: Primär ist der Mensch eine durch die Libido angetriebene Maschine, bei der die Notwendigkeit, schmerzhafte oder störende Spannungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren, als automatischer Regulator wirkt. Die Spannungsminderung ist das Wesen der Lust; zur Erlangung dieser Befriedigung sind Männer und Frauen aufeinander angewiesen, sie kommen zur gegenseitigen Befriedigung ihrer libidinösen Bedürfnisse zusammen, und darauf beruht ihr Interesse aneinander. Im wesentlichen bleiben sie jedoch isolierte Einzelwesen - genau [VIII-209] wie der Verkäufer und der Käufer auf dem Markt; auch wenn sie das Bedürfnis, ihre triebhaften Wünsche zu befriedigen, zueinander drängt, transzendieren sie ihr grundlegendes Getrenntsein nie. Für Freud und die meisten Denker seiner Zeit ist der Mensch nur auf Grund der Notwendigkeit der gegenseitigen Befriedigung seiner Bedürfnisse ein soziales Wesen, nicht auf Grund eines primären Bedürfnisses nach Bezogenheit.

Zu diesen Momenten, die dem Menschenbild Freuds und dem des Bürgertums des Neunzehnten Jahrhunderts gemeinsam sind, kommt noch etwas für die Freudsche Lehre sehr Wichtiges hinzu: der „ökonomische Aspekt“ der Libido. Die Libido ist bei Freud immer quantitativ gedacht; sie erscheint als ein bestimmtes Quantum, das zwar auf verschiedene Weise verausgabt werden kann, das aber den Gesetzen der Materie unterworfen bleibt: Was ausgegeben ist, kann nicht zurückgeholt werden. Diese Auffassung steht z.B. auch hinter dem Konzept des Narzissmus. Die Frage ist, ob die Libido nach außen gerichtet ist oder auf das eigene Ich zurückgelenkt wird. Sie steht auch hinter der Lehre von den destruktiven Impulsen, die sich entweder gegen andere oder gegen das Individuum selbst kehren. Schließlich liegt sie der Überzeugung zugrunde, dass Nächstenliebe unmöglich sei. In dem bereits oben zitierten Abschnitt erläutert Freud im Rahmen seiner Auffassung von festgelegten Quantitäten die Absurdität des Gebotes „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“:

Meine Liebe ist etwas mir Wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. (...) Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist ein Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle. Wenn ich ihn aber lieben soll, mit jener Weltliebe, bloß weil er auch ein Wesen dieser Erde ist, wie das Insekt, der Regenwurm, die Ringelnatter, dann wird (...) ein geringer Betrag Liebe auf ihn entfallen, unmöglich so viel, als ich nach dem Urteil der Vernunft berechtigt bin, für mich selbst zurückzuhalten. (S. Freud, 1930a, S. 468°f.)

Wie zu seiner Zeit über Eigentum und Kapital gesprochen wurde, so spricht hier Freud über die Liebe. Ja, er gebraucht genau das Argument, das so oft gegen einen missverstandenen Sozialismus herhalten musste: Würde aller Reichtum der Kapitalisten auf die Besitzlosen aufgeteilt, so käme auf jeden neuen Nutznießer nur „ein geringer Betrag“.

Aus dem Bild, das sich im Neunzehnten Jahrhundert die Wirtschaftstheoretiker und der Durchschnittsbürger von der menschlichen Natur machten, ließ sich leicht die These ableiten, dass der Kapitalismus die Probleme der menschlichen Existenz am besten löse, weil er den der menschlichen Natur innewohnenden Trieben Rechnung trage. Solche Beweise müssen die Ideologen jeder Gesellschaftsordnung erbringen, denn ein Gesellschaftssystem wird am ehesten dann akzeptiert, wenn die Menschen überzeugt sind, dass es der natürlichen Ordnung der Dinge entspricht; dann gilt es als notwendig und gut. Ich möchte damit sagen, dass Freud das in seiner Gesellschaft vorherrschende Menschenbild nicht überschritt. Mehr noch: Er verlieh den vorherrschenden Auffassungen ein zusätzliches Gewicht, indem er zeigte, dass sie im Wesen der Libido und in der Art ihres Funktionierens verwurzelt seien. In dieser Beziehung war er der wahre Psychologe der Gesellschaft des Neunzehnten Jahrhunderts. Er schien zu beweisen, dass [VIII-210] die den ökonomischen Theorien zugrunde liegenden Annahmen über die Natur des Menschen in noch höherem Maße zuträfen, als sich die Nationalökonomen träumen ließen. Seine Vorstellung vom homo sexualis war nichts anderes als eine vertiefte und erweiterte Variante der Vorstellung der Nationalökonomen vom homo oeconomicus. Nur in einem wich Freud von den herkömmlichen Meinungen ab: Er hielt das Ausmaß der sexuellen Verdrängung, das im ausgehenden Neunzehnten Jahrhundert als normal galt, für übersteigert, ja für die eigentliche Ursache der Neurosen. Damit stellte er aber nicht das geltende Menschenbild in Frage, sondern suchte, wie es alle liberalen Reformer tun, die Last, an der die Menschen zu tragen haben, im Rahmen der traditionellen Auffassungen vom Menschen und von der menschlichen Gesellschaft zu erleichtern.

Ebenso wie Freuds theoretische Vorstellungen vom Wesen des Menschen im Prinzip den von der Mehrzahl seiner Zeitgenossen akzeptierten entsprachen, zeigten sich auch in seiner politischen Haltung keine entscheidenden Abweichungen. Das gilt vor allem für seine Haltung gegenüber dem Ersten Weltkrieg, während sich doch damals gerade an der Stellung zum Krieg das Herz, die Vernunft und der Realitätssinn der Menschen zu bewähren hatten. Jones schreibt auf Grund eines Briefes Freuds an Abraham vom 26. 7. 1914 darüber:

Freuds unmittelbare Reaktion auf die Kriegserklärung war unerwartet. Man hätte annehmen können, dass ein friedlicher Gelehrter von achtundfünfzig Jahren nur mit Abscheu darauf reagieren werde, wie es so viele auch taten. Seine erste Reaktion war im Gegenteil eher ein jugendlicher Enthusiasmus, anscheinend das Wiederaufleben der militärischen Begeisterung seiner Knabenzeit. Er fand sogar in Berchtolds [Österreichs Außenminister] ungeschickter Handlung „das Befreiende der mutigen Tat“ und sagte, er fühle sich zum ersten Mal seit dreißig Jahren als Österreicher. (...) Er war ganz mitgerissen, konnte nicht an Arbeit denken und verbrachte die ganze Zeit damit, mit seinem Bruder Alexander über die Tagesereignisse zu sprechen. Er drückte es so aus: „Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn“. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 207.)

Bezeichnenderweise verglich Freud die Kriegsereignisse mit dem „Krieg“ innerhalb seiner Bewegung. Im August 1914 schrieb er in einem Brief an Eduard Hitschmann:

Den Feldzug gegen die Schweizer haben wir gewonnen; ob die anderen ihre Kriege siegreich beenden werden, und zwar so lange wir das Warten aushalten? Wir wollen es intensiv hoffen. Der deutsche Furor scheint dafür zu bürgen, und die österreichische Wiedergeburt es zu versprechen. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 207.)

Es ist charakteristisch für Jones’ Idolisierung, aber auch für einen orthodoxen Standpunkt, dass er das moralische und politische Problem, das in Freuds kriegerischem Enthusiasmus steckt, als harmloses „Wiederaufleben“ des Interesses an Kriegsereignissen deutet, das Freud als zehn- oder vierzehnjähriger Junge zeigte. Das „Unerwartete“ scheint dem Biographen so peinlich zu sein, dass er es mit der Bemerkung abzuschwächen sucht: „Diese Stimmung dauerte jedoch nicht viel länger als zwei Wochen, und dann kam Freud wieder zu sich selbst“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 208). Jones’ weitere Darstellung lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass dies keineswegs der Fall war. „Zu sich selbst“ kam Freud nur in Bezug auf seine Österreich-Begeisterung, und auch das aus Motiven, die schwerlich als [VIII-211] vernünftig angesehen werden können:

Kurioserweise war das, was die Gefühlswendung bei Freud zustande brachte, seine Verachtung für sein neu adoptiertes Vaterland, das in seiner Kampagne gegen Serbien seine Unfähigkeit bewies. (E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 208.)

In Bezug auf Deutschland dauerte es nicht zwei Wochen, sondern einige Jahre, ehe Freud seinen Enthusiasmus aufgab. Noch am 22. März 1918 schrieb er an Karl Abraham, man müsse doch wohl einen deutschen Sieg wünschen, obgleich ihm dies unwahrscheinlich sei. (Vgl. E. Jones, 1960-1962, Bd. 2, S. 235.) Erst in der allerletzten Phase des Krieges gelang es Freud, seine Illusionen zu überwinden. Im Gegensatz zu vielen anderen hatte das Erlebnis des Ersten Weltkriegs und wahrscheinlich auch seine eigene Selbsttäuschung eine tiefe und klärende Wirkung. In den frühen dreißiger Jahren gab es einen bemerkenswerten Briefwechsel zwischen ihm und Albert Einstein über die Frage, ob zukünftige Kriege auf irgendeine Weise verhindert werden könnten. Er bezeichnet sich und Einstein als Pazifisten und weist sich unmissverständlich als Kriegsgegner aus. Er glaubt, dass die Bereitschaft des Menschen zum Krieg im Todestrieb verwurzelt ist und stellt fest, dass die destruktiven Tendenzen mit zunehmender Kultur immer mehr internalisiert werden, und zwar im Über-Ich. Freud gibt der Hoffnung Ausdruck, es sei vielleicht keine Utopie, dass die Internalisierung der Aggression und der Horror vor der Verwüstung durch einen weiteren Krieg allem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen könne. (Vgl. S. Freud, 1933b, S. 22.) Allerdings bringt Freud in dem Brief an Einstein - wie schon vorher in Die Zukunft einer Illusion (1927c) zugleich eine politische Haltung zum Ausdruck, die mit liberalen Positionen kaum noch etwas gemein hat:

Es ist ein Stück der angeborenen und nicht zu beseitigenden Ungleichheit der Menschen, dass sie in Führer und Abhängige zerfallen. Die letzteren sind die übergroße Mehrheit, sie bedürfen einer Autorität, welche für sie Entscheidungen fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen. (S. Freud, 1933b, S. 24.)

Die einzige Hoffnung bestehe darin, dass diese Elite eine Aristokratie von Männern sei, die ihren Verstand gebrauchen können und furchtlos für die Wahrheit kämpfen. „Der ideale Zustand wäre natürlich eine Gemeinschaft von Menschen, die ihr Triebleben der Diktatur der Vernunft unterworfen haben“ (S. Freud, 1933b, S. 24).

Deutlicher denn je verbindet sich hier Freuds grundlegendes Ideal der Triebbeherrschung durch die Vernunft mit der festen Überzeugung, dass der Durchschnittsmensch unfähig sei, sein eigenes Geschick zu meistern. Dies ist einer der tragischen Aspekte in Freuds Leben: Ein Jahr vor dem Sieg Hitlers verzweifelt er an der Lebensfähigkeit der Demokratie und sieht als Hoffnung nur noch die Diktatur einer Elite von mutigen Männern, die sich die Befriedigung ihrer Triebwünsche versagen. Heißt das nicht, dass nur eine Elite, die sich einer Psychoanalyse unterzogen hat, die träge Masse leiten und beherrschen kann?

10. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

In der vorausgehenden Analyse habe ich zu zeigen versucht, dass das Ziel Freuds die Gründung einer Bewegung für die sittliche Befreiung des Menschen war. Er wollte eine neue säkulare und zugleich wissenschaftliche Religion für eine Elite, die die Menschheit führen sollte, begründen. Freuds messianische Impulse allein hätten allerdings aus der Psychoanalyse keine Bewegung machen können, hätte eine solche Entwicklung nicht den Bedürfnissen seiner Anhänger und denen einer größeren Öffentlichkeit entsprochen, die sich mit großem Enthusiasmus von der Psychoanalyse angezogen fühlten.

Was für Menschen waren denn seine ersten loyalen Schüler, die Inhaber der sechs Ringe? Es waren städtische Intellektuelle, die sich nach einer Bindung an ein Ideal, an einen Führer, an eine Bewegung sehnten, aber kein bestimmtes religiöses, politisches oder weltanschauliches Ideal oder ähnliche Überzeugungen mitbrachten; keiner von ihnen war Sozialist, Zionist, Katholik oder orthodoxer Jude. (Nur Eitingon dürfte gewisse Sympathien für den Zionismus gehabt haben.) Ihre Religion war die psychoanalytische Bewegung. Aus ähnlichen Verhältnissen kam der wachsende Kreis der praktizierenden Psychoanalytiker; die meisten von ihnen waren mittelständische Intellektuelle ohne ausgeprägte religiöse, politische oder weltanschauliche Interessen und Bindungen. Die große Popularität, die sich die Psychoanalyse seit dem Anfang der dreißiger Jahre in den meisten westlichen Ländern und vor allem in den Vereinigten Staaten erworben hatte, war auf derselben gesellschaftlichen Grundlage gewachsen. Da haben wir es mit einer Mittelschicht zu tun, für die das Leben seinen Sinn verloren hatte. Politische und religiöse Ideale waren ihnen abhandengekommen; umso ratloser suchten sie nach Sinn und Inhalt des Lebens, nach einer Idee, der man sich verschreiben könnte, nach einer Lebensdeutung, die jedem Anhänger, ohne von ihm Glauben oder Opfer zu verlangen, die Möglichkeit gäbe, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Diese Bedürfnisse erfüllte die psychoanalytische Bewegung (vgl. H. W. Puner, 1943, S. 104).

Der neuen Religion ist es freilich nicht anders ergangen als den meisten religiösen Bewegungen. Schnell vergeht die ursprüngliche Begeisterung, Frische, Spontaneität; [VIII-213] es bildet sich eine Hierarchie, deren Stärke darin liegt, dass sie das Dogma „richtig“ auszulegen weiß und darüber befinden darf, wer als getreuer Bekenner des neuen Glaubens zu gelten habe und wer nicht. Es dauert nicht lange, und an die Stelle von Kreativität und Spontaneität sind Dogma, Riten und Führerkult getreten.

Die gewaltige Rolle des Dogmas in der orthodoxen Psychoanalyse bedarf kaum eines Beweises. Über das hinaus, was Freud selbst an theoretisch Neuem brachte, hat es in 50 Jahren eine theoretische Weiterentwicklung nur in bescheidenem Umfang gegeben.[12]

Im wesentlichen begnügte man sich damit, Freuds Theorien an Hand klinischen Materials zu illustrieren, wobei man in erster Linie um den Beweis bemüht war, dass Freud in allem recht gehabt habe, und man anderen theoretischen Überlegungen so gut wie gar kein Interesse entgegenbrachte. Auch die selbständigste Entwicklung, die im psychoanalytischen Denken nach Freud zu verzeichnen gewesen ist, die stärkere Betonung der Rolle des Ichs, scheint sich darin zu erschöpfen, altbekannte Erkenntnisse in Kategorien der Freudschen Theorie neu zu formulieren, ohne dass sich daraus neue Ausblicke ergäben. Das Überwiegen des Dogmatismus zeigt sich indes nicht nur in einer gewissen Sterilität des „offiziellen“ psychoanalytischen Denkens, sondern vor allem auch in seinen Reaktionen auf alle Abweichungen von der geltenden Lehrmeinung. Ein besonders krasses Beispiel - Freuds Reaktion auf die Gedankengänge Ferenczis, wonach der Patient zur Heilung auch der Liebe bedürfe - habe ich bereits angeführt. Darin kam aber nur etwas zum Ausdruck, was sich in der psychoanalytischen Bewegung überall und seit jeher abspielt. Analytiker, die Freuds Gedanken ausdrücklich, unverhüllt und öffentlich kritisieren, gelten als Abtrünnige, auch wenn sie nicht die Absicht haben, eigene „Schulen“ zu gründen, sondern lediglich die Ergebnisse ihres von Freud ausgehenden Denkens und ihrer auf Freud beruhenden Beobachtungen darstellen.

Nicht minder offensichtlich ist die Bedeutung des Rituals in der orthodoxen Analyse. Die Couch mit dem Analytikerstuhl dahinter, die vier oder fünf wöchentlichen Analysestunden, das Schweigen, das der Analytiker bewahrt, außer wenn er die Aussagen des Patienten „deutet“: Alle diese Faktoren, die vielleicht einmal zweckdienlich gewesen sein mögen, sind zu einem geheiligten Ritual geworden, ohne das die orthodoxe Analyse nicht mehr denkbar ist. Das treffendste Beispiel ist wohl die Couch. Freud hatte sie gewählt, weil er „nicht acht Stunden täglich (...) angestarrt“ werden wollte (S. Freud, 1913c, S. 467). Später kamen andere Gründe hinzu: Da der Patient nicht sehen solle, wie der Analytiker auf seine Äußerungen reagiert, sei es besser, [VIII-214] dass der Analytiker hinter ihm sitze. Oder: Der Patient fühle sich freier und entspannter, wenn er den Analytiker nicht anzusehen brauche; oder schließlich (vor allem in neuerer Zeit betont): Die „Couch-Situation“ versetze den Patienten in eine infantile Lage und begünstige damit das Zustandekommen der Übertragung. Welche Durchschlagskraft solchen Argumenten - ich halte sie nicht für stichhaltig - auch zukommen mag: Diskutierte man über therapeutische Technik unter normalen Voraussetzungen, so ließe sich auch über sie reden. Im Rahmen der psychoanalytischen Orthodoxie genügt dagegen schon der Verzicht auf die Couch zum Beweise dafür, dass man von der richtigen Lehre abgefallen und kein eigentlicher Analytiker mehr sei. Es ist auch nicht zu leugnen, dass sich viele Patienten gerade durch das Ritual angezogen fühlen: Es vermittelt ihnen das Gefühl der Teilhabe an der „Bewegung“: Sie fühlen sich in gewissem Sinne solidarisch mit allen, die analysiert werden, und denen überlegen, die nicht in die Analyse gehen. Das Interesse an der eigenen Heilung ist ihnen oft viel weniger wichtig als das freudige Erlebnis, eine geistige Heimat gefunden zu haben.

Die Idolisierung der Person Freuds rundet das Bild des quasi-politischen Charakters der Bewegung ab. Hier kann ich mich kurzfassen. Es genügt, wenn ich mich auf die Verklärung der Gestalt Freuds in Jones’ großem biographischem Werk berufe: Jones verleugnet Freuds brennendes Verlangen nach öffentlicher Anerkennung, seine autoritäre Haltung, seine menschlichen Schwächen.

Ein anderes bekanntes Symptom derselben Haltung zeigt sich in der Gepflogenheit vieler orthodoxer Freudianer, ihre wissenschaftlichen Abhandlungen mit endlosen Beteuerungen zu versehen, dass Freud das, was sie sagen wollen, längst gesagt habe; zur Klärung des Sachverhalts tragen die zahlreichen Bezugnahmen jedoch nur selten etwas bei.

Die psychoanalytische Bewegung war von vornherein als eine quasi-religiöse Bewegung, die sich auf eine psychologische Theorie stützen und mit psychotherapeutischen Mitteln verwirklicht werden sollte, gedacht und ist tatsächlich zu einer solchen quasi-religiösen Bewegung geworden. Grundsätzlich ist dies legitim. Die hier geäußerte Kritik richtet sich gegen die Irrtümer und die Begrenztheit in ihrer weiteren Entwicklung. Zunächst einmal litt die psychoanalytische Bewegung genau an dem Leiden, das sie heilen will, an der Verdrängung nämlich. Weder sich selbst noch anderen haben Freud und seine Anhänger je zugegeben, dass sie etwas anderes - und mehr - im Auge hatten als bloß wissenschaftliche und therapeutische Erfolge. Sie verdrängten ihren Ehrgeiz, die Welt mit ihrem messianischen Erlösungsideal zu erobern, und weil sie das verdrängten, verfingen sie sich in Zweideutigkeiten und Unehrlichkeiten, wie sie unweigerlich aus solchen Verdrängungen erwachsen. Ein zweites Gebrechen der psychoanalytischen Bewegung liegt in ihrem autoritären und fanatischen Charakter, welcher die fruchtbare Weiterentwicklung einer Theorie vom Menschen verhinderte und zu einer verfestigten Bürokratie führte, die zwar Freuds Namen erbte, aber weder seine Kreativität noch den Radikalismus der ursprünglichen Lehre besaß.

Wichtiger als das bisher Gesagte ist jedoch die Idee selbst. Freuds große Entdeckung, die Entdeckung des Unbewussten als einer neuen Dimension der menschlichen [VIII-215] Realität, ist ein Element in einer Bewegung, die auf die Veränderung des Menschen hinzielt. Aber diese Entdeckung wurde auf eine verhängnisvolle Weise auf einen schmalen Bereich der Wirklichkeit, auf die libidinösen Strebungen und ihre Verdrängung, beschränkt. Auf die umfassendere Wirklichkeit der menschlichen Existenz und auf soziale und politische Phänomene wurde sie nicht bezogen. Die meisten Psychoanalytiker - das gilt auch für Freud - waren und sind gegenüber den Realitäten des menschlichen Daseins und den unbewussten gesellschaftlichen Erscheinungen nicht weniger blind als andere Angehörige ihrer Gesellschaftsklasse. Eigentlich sind sie insofern sogar noch blinder, als sie im Schema der Verdrängung der Libido einen Schlüssel für alle Lebensprobleme gefunden zu haben glauben. Aber man kann nicht einige Bereiche der menschlichen Realität mit Scharfblick erfassen, wenn man in anderen blind bleibt, zumal die Verdrängung selbst in all ihren Elementen ein gesellschaftliches Phänomen ist.

In jeder Gesellschaft verdrängt der Einzelmensch das Wissen um die Gefühle und Phantasien, die sich mit den geltenden Gedanken und Vorstellungen seiner Gesellschaft nicht vereinbaren lassen. Der Faktor, der diese Verdrängung bewirkt, ist die Angst davor, dass man sich isoliert, dass man ausgestoßen wird, wenn man Gedanken und Gefühlen nachgibt, die andere nicht teilen. (In ihrer extremen Form ist die Angst vor der völligen Isolierung nichts anderes als die Angst vor dem Wahnsinn.) Angesichts dieses Sachverhalts ist es für den Psychoanalytiker ein unabweisbares Gebot, sich von den hergebrachten Denkschemata der Gesellschaft, in der er lebt, zu lösen, sie kritisch zu betrachten und die Realität zu entschleiern, die diese Gedankengefüge hervorbringt. Will man das Unbewusste des Einzelnen verstehen, so muss man seine Gesellschaft einer kritischen Analyse unterwerfen. Indes ist die Freudsche Psychoanalyse über die Schranken der bürgerlich-liberalen gesellschaftlichen Einstellung gutsituierter Mitglieder der Mittelschicht kaum je hinausgekommen, und darin lag eine der Ursachen ihrer Enge und später auch ihres Stagnierens auf ihrem ureigensten Gebiet, dem Verstehen des individuellen Unbewussten. (Im Negativen besteht übrigens eine eigenartige Parallele zwischen orthodox Freudscher und orthodox marxistischer Theorie: Die Freudianer sahen das Unbewusste des Einzelnen, waren aber blind gegenüber dem Unbewussten der Gesellschaft; umgekehrt durchschauten die orthodoxen Marxisten die unbewussten Faktoren im gesellschaftlichen Verhalten, waren aber erstaunlich blind in der Beurteilung der im Einzelnen wirkenden Motive. Das hat zu einer Beeinträchtigung der marxistischen Theorie und Praxis geführt, genau wie das umgekehrte Phänomen zur Beeinträchtigung der psychoanalytischen Theorie und Therapie geführt hat. Dass es dazu gekommen ist, kann niemanden wundern. Ob man die Gesellschaft oder ob man das Individuum zu verstehen sucht: In beiden Fällen hat man es mit menschlichen Lebewesen zu tun und deshalb mit unbewussten Motivationen, die ihr Verhalten bestimmen. Man kann den Menschen als Einzelwesen nicht vom Menschen als gesellschaftlichem Wesen trennen; tut man es dennoch, so hat man sich selbst dazu verurteilt, den Menschen weder in der einen noch in der anderen Dimension zu verstehen.) [VIII-216]

Wie kann man nach alledem die Rolle beurteilen, die die Freudsche Psychoanalyse seit dem Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts gespielt hat?

Zunächst ist festzuhalten, dass die Psychoanalyse in ihren Anfängen - etwa von der Jahrhundertwende bis zu den zwanziger Jahren - viel radikaler war als in der späteren Periode, in der sie immer mehr an Popularität gewinnen sollte. Für das Bürgertum, das seine Erziehung in der Viktorianischen Zeit empfangen hatte, waren Freuds Aussagen über die infantile Sexualität, über die pathologischen Folgen der Sexualverdrängung u.ä. schwere Verstöße gegen unerschütterliche Tabus; es gehörte eine ganze Portion Mut und Unabhängigkeit dazu, sich über diese Tabus hinwegzusetzen. 30 Jahre später wirkten dieselben Theorien weder schreckerregend noch provozierend: Mit den zwanziger Jahren war eine Welle sexueller Libertinage emporgekommen, und die viktorianischen Moralvorschriften waren in weitem Maß verlassen worden. So fand die psychoanalytische Theorie großen Anklang in allen gesellschaftlichen Gruppierungen, die echten Radikalismus, d.h. das „Vordringen bis zu den Wurzeln“, ablehnten, aber sich mit großem Eifer darin übten, die konservativen Sitten des Neunzehnten Jahrhunderts anzugreifen und umzuwerfen. Diesen von liberalen Strömungen mehr oder minder beeinflussten Kreisen öffnete die Psychoanalyse einen willkommenen Weg der Mitte, der zwischen humanistischem Radikalismus und konservativ-viktorianischen Haltungen hindurchführte. Die Psychoanalyse wurde zur Ersatzbefriedigung für ein tiefes menschliches Verlangen: einen Lebenssinn zu finden, mit der Realität wirklich in Berührung zu kommen, von Entstellungen und Projektionen frei zu werden, die als Schleier zwischen uns und der Realität wirken. Die Psychoanalyse wurde zum Religionsersatz für Teile der städtischen Mittel- und Oberschichten, die eine gründlichere, mühevollere Suche scheuten. In der psychoanalytischen Bewegung fanden sie alles: ein Dogma, ein Ritual, einen Führer, eine Hierarchie und sogar das Gefühl, im Vollbesitz der Wahrheit und den Uneingeweihten überlegen zu sein; das alles ohne übermäßige Anstrengung, aber auch ohne tieferes Eindringen in die Probleme der menschlichen Existenz, ohne wirklichen Einblick in die Struktur und Kritik der eigenen Gesellschaft mit ihrer Verkrüppelung des Menschen, und ohne den eigenen Charakter verändern und Gier, Aggressivität und Unvernunft überwinden zu müssen. Das einzige, was man loszuwerden suchte, waren bestimmte libidinöse Fixierungen und ihre Übertragung; das mag zwar mitunter überaus wichtig sein, aber man erzielt damit nicht die Charakterumbildung, ohne die sich eine echte Beziehung zur Realität nicht herstellen lässt. Aus einer kühnen, vorwärtsstrebenden Idee wurde die Psychoanalyse zum bequemeren Glaubenssatz für verängstigte und isolierte Mitglieder der Mittelschicht, denen konventionellere religiöse und soziale Bestrebungen keinen sicheren Hafen boten. Im Niedergang der Psychoanalyse spiegelte sich der Verfall des Liberalismus.

Nicht selten wird der Wandel in den sexuellen Bräuchen, der nach dem Ersten Weltkrieg zu beobachten war, auf die zunehmende Ausbreitung der psychoanalytischen Lehren zurückgeführt. Mir scheint, dass diese Vermutung in keiner Weise zutrifft. Dass Freud nie ein Fürsprecher eines sexuellen Libertinismus war, braucht heute kaum noch gesagt zu werden. Ich glaube deutlich genug dargetan zu haben, dass er vielmehr die Beherrschung der Leidenschaften durch die Vernunft anstrebte und in [VIII-217] seiner persönlichen Haltung zu sexuellen Dingen den Idealen der viktorianischen Sexualmoral vollauf gerecht wurde. Soweit er die viktorianische Sexualmoral als zu streng anfocht, weil er sah, dass sie manche Neurosen hervorbrachte, war er ein liberaler Reformer. Was ihm vorschwebte, war aber etwas ganz anderes als die Art sexuelle Freiheit, der die zwanziger Jahre den Weg geebnet haben.

Diese neuen sexuellen Sitten haben viele Wurzeln; die wichtigste liegt in einer neuen Lebenseinstellung, die der moderne Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hat; das Verlangen nach ständig steigendem Konsum. Im Neunzehnten Jahrhundert herrschte in der Mittelschicht das Prinzip des Sparens, im Zwanzigsten Jahrhundert dagegen gehorcht sie der Herrschaft des Konsums, und zwar des sofortigen Konsums, ohne die Befriedigung eines jeden Wunsches länger als unbedingt nötig hinauszuschieben. (Vgl. dazu A. Huxley, 1946, und E. Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955a, GA IV, S. 117-119.) Das gilt für den Verzehr von Waren ebenso wie für die Befriedigung sexueller Bedürfnisse. In einer Gesellschaft aber, in der sich alles darum dreht, dass alle Bedürfnisse möglichst bald und möglichst ausgiebig befriedigt werden, kann es zwischen den einzelnen Bedürfnisbereichen keine allzu erheblichen Unterschiede geben. Psychoanalytische Theorien haben diese Entwicklung nicht ausgelöst, sie haben ihr nur, soweit es um die sexuellen Bedürfnisse ging, bequeme Rationalisierungen geliefert: Wenn Neurosen dadurch entstehen, dass Bedürfnisse verdrängt werden oder ihre Befriedigung versagt wird, dürfen Frustrationen unter keinen Umständen geduldet werden! Genau dasselbe wird uns ja auch täglich und stündlich von der Werbung vorgepredigt.

So verdankt die Psychoanalyse ihre Popularität als Verkünderin sexueller Freiheit eher der neuen Konsumleidenschaft, als dass sie selbst die Urheberin der neuen Sexualmoral gewesen wäre.

Denkt man daran, dass die Bewegung ihr Ziel darin sah, den Menschen dazu zu bringen, seine irrationalen Leidenschaften mit Hilfe der Vernunft zu kontrollieren, so zeigt dieser Missbrauch der Psychoanalyse die tragische Niederlage einer Hoffnung Freuds. Zwar wich die Libertinage der zwanziger Jahre in den folgenden Jahren konservativeren Sitten, aber auch der Wandel der sexuellen Bräuche und Moralvorstellungen, wie er sich noch vor Freuds Augen vollzog, entsprach keineswegs dem, was er sich als wünschenswerte Auswirkung seiner Bewegung erhofft hatte.

Noch tragischer musste es für Freud sein, dass die Vernunft, die Göttin des Neunzehnten Jahrhunderts, deren Sieg über den Menschen die Psychoanalyse so leidenschaftlich angestrebt hatte, in den großen Schlachten zwischen 1914 und 1939 verloren hatte. Der Erste Weltkrieg, der Sieg des Stalinismus und des Nazismus, der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges - eine ganze Kette von Niederlagen für die Vernunft und für einen gesunden Geist.[13] Freud, der stolze Führer der Bewegung, die eine neue Welt der Vernunft hatte aufrichten wollen, sah vor seinen Augen die Ära einer ständig anwachsenden gesellschaftlichen Geisteskrankheit anbrechen.

Dem letzten großen Vertreter des Rationalismus war das tragische Schicksal beschieden, dass sein Leben zu einer Zeit zu Ende ging, da der Rationalismus den irrationalsten Kräften erlag, die die westliche Welt seit den Zeiten der Hexenverfolgungen erlebt hatte. Gewiss kann nur die Geschichte das endgültige Urteil sprechen. Doch scheint mir die Tatsache, dass Freud sein Leben in dem Wahnsinn der Hitlerzeit und [VIII-218] des Stalinismus und an der Schwelle des großen Holocaust des Zweiten Weltkriegs beschließen musste, eher das Tragische in seinem persönlichen Lebensweg zu symbolisieren als ein wirkliches Scheitern seiner Mission. Es ist allerdings nicht zu bestreiten, dass seine Bewegung auf die Stufe einer neuen Religion für manche Menschen, die in einer Welt voller Angst und Wirrnis Zuspruch brauchen, hinabgesunken ist. Aber was ändert das daran, dass das westliche Denken die Saat der Freudschen Entdeckungen in sich birgt und dass seine Zukunft undenkbar ist, ohne dass diese Saat aufgeht? Ich meine damit nicht nur die offensichtliche Tatsache, dass Freud mit der Entdeckung des Unbewussten und dessen Wirkweisen in Träumen, Symptomen, Charakterzügen, Mythen und Religionen, sowie der Bedeutung der frühen Kindheitserlebnisse für die Charakterbildung und mancher anderen, möglicherweise weniger grundlegenden Zusammenhänge, die psychologische Theorie auf ein neues Fundament gestellt hat. Ich denke darüber hinaus an Freuds gewaltigen allgemeinen Einfluss auf das westliche Denken in seiner Gesamtheit.

Freud stellt einen Höhepunkt des Rationalismus dar. Zugleich war er aber auch derjenige, der dem Rationalismus einen vernichtenden Schlag zugefügt hat. Er war es, der gezeigt hat, dass die Quellen menschlichen Handelns im Unbewussten liegen, in einer Tiefe, die sich dem Auge des Beobachters nie ganz erschließt, und dass das Verhalten des Menschen von seinem bewussten Denken nur in geringem Maße gelenkt wird. Damit zerstörte er das rationalistische Bild von einem menschlichen Intellekt, der unbeschränkt und unangefochten die Bühne beherrscht. In dieser Hinsicht - in seiner Vision von der Übermacht der Kräfte der „Unterwelt“ - war Freud ein Erbe der Romantik; der Rationalist vollzog das Vermächtnis einer Bewegung, die in die Sphäre des Nichtrationalen hatte eindringen wollen. So ist Freuds Standort in der geschichtlichen Entwicklung dadurch gekennzeichnet, dass er die beiden gegensätzlichen Kräfte, die im westlichen Denken im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert dominierten: den Rationalismus und die Romantik, zu einer Synthese brachte.

In ihrer vollen Größe tritt jedoch Freuds historische Bedeutung erst hervor, wenn wir noch einen Schritt weiter gehen. Freuds gesamte Art, den Menschen zu sehen, war ein Teil - ja vielleicht die Vollendung - der für das abendländische Denken seit dem 17. Jahrhundert wesentlichsten Tendenz, des Versuchs nämlich, die Realität zu erfassen, eine unmittelbare Beziehung zu ihr herzustellen und den Menschen von den Illusionen zu befreien, die die Wirklichkeit verschleiern und entstellen. Das Fundament für dieses Bemühen hatte bereits Spinoza mit seiner neuen Auffassung der Psychologie gelegt, in der der menschliche Geist als Teil der Natur, in seiner Wirksamkeit den Naturgesetzen unterworfen, begriffen wurde. In derselben Richtung stießen die Naturwissenschaften vor, und ihre Erkenntnisse führten zu radikal neuen Einblicken in das Wesen der Materie. Weitere Etappen auf dem Weg zum unentstellten und unmittelbaren Erfassen der Wirklichkeit sind durch die Namen Kant, Nietzsche, Marx, Darwin, Kierkegaard, Bergson, Joyce, Picasso gekennzeichnet. Sosehr sich diese Denker voneinander unterscheiden mögen, sie alle sind der Ausdruck des leidenschaftlichen Dranges, mit dem der abendländische Mensch danach strebte, falsche Götter zu entthronen, Illusionen zu zerreißen, sich selbst und die Welt als Teile der gesamten Wirklichkeit zu begreifen. Das ist auf der intellektuellen Ebene das Ziel [VIII-219] der Wissenschaft. Auf der Erfahrungsebene sind das Ziel die reinsten und rationalsten Formen der monotheistischen und insbesondere der östlichen nicht-theistischen Mystik.

Freuds Entdeckungen sind ein integraler Bestandteil dieser Befreiungsbewegung. Mag eine verängstigte Generation, die das für Freud charakteristische leidenschaftliche Verlangen, die Wirklichkeit zu begreifen, eingebüßt hat, diese Entdeckungen zu neuen Rationalisierungen umgemünzt haben - wenn die Menschheit die finstere Zeit der Irrationalität und des Wahnsinns, die wir durchmachen, übersteht, wird ihre künftige Entwicklung mit den neuen Einsichten, die Freud erschlossen hat, unzertrennlich verbunden sein.

Am Ende dieses Buches, das sich mit Freuds Persönlichkeit und seiner Wirkung befasst, sollten wir nochmals auf die überragende Gestalt Freuds blicken, die Legenden, Idolisierungen und Feindseligkeiten vergessen, die sein Bild verdunkeln, und ihn als jenes menschliche Wesen sehen, das er war. Wir erblicken dann einen Menschen von leidenschaftlichem Wahrheitsdurst, erfüllt von unbändigem Glauben an die Vernunft und mit dem unbezähmbaren Mut, alles auf diesen Glauben zu setzen. Wir entdecken einen Menschen, der mütterlicher Liebe, Schutz und Bewunderung sehnlichst bedurfte und, wenn sie ihm gewährt wurden, voller Selbstvertrauen war, aber in Depression und Hoffnungslosigkeit verfiel, wenn sie ausblieben. Diese Unsicherheit, die sich im Emotionalen wie im Materiellen auswirkte, ließ ihn danach streben, andere, die von ihm abhängig waren, zu beherrschen, damit er sich seinerseits an sie anlehnen, auf sie stützen konnte. Dieselbe Unsicherheit mag auch der Faktor gewesen sein, der ihn veranlasste, seine Energien darauf zu verwenden, von der Umwelt beachtet zu werden. Er glaubte, dass es ihm nicht darauf ankomme; er glaubte, dass er über Geltung und Anerkennung erhaben sei, aber das Bedürfnis nach Anerkennung und Ruhm war ein ebenso mächtiges Bestreben in seiner Persönlichkeit wie die Erbitterung, die er empfand, wenn seine Erwartungen nicht in Erfüllung gingen.

Freuds offensives Vorgehen der Welt gegenüber war energisch. Seine Verteidigung war eine Umgehungsstrategie, die sich durch Tempo und durchschlagende Wirkung auszeichnete. Das Leben erschien ihm als geistiges Rätsel, das er mit seinem überragenden Intellekt zu lösen entschlossen war. In den Ideen, mit denen er arbeitete, suchte er nach tieferen Werten und Sinn. Der innere Kampf zwischen einem übersteigerten Ehrgeiz und seiner Rangordnung der Werte brachte ihn oft in Konflikt und bewirkte eine an Agonie grenzende Seelentätigkeit. Und da gab es die melancholische Ahnung, dass der Erfolg zu teuer erkauft wurde.

Freud war imstande, mit einem enthusiastischen Aufwand an Energie zu handeln, in den all seine Kraft einging. Er war von einem unersättlichen Verlangen erfüllt, auf allen Sachgebieten und in allen menschlichen Beziehungen zu experimentieren. In oft kleinlichen Streitigkeiten setzte er sich gegen Menschen durch, die seine Ideen und seine Hilfe nicht schätzten. Er empfand instinktiv, dass er viel zu leicht zu beeindrucken war, und in dem Bemühen, unabhängiger zu erscheinen, als er war, stritt er sich aus nichtigen Anlässen mit denen, die auf ihn den tiefsten Eindruck machten.

Energie und Ehrgeiz lagen ständig in Streit. Feindseligkeit und Ärger brachten ihn leichter aus der Fassung als jeden Durchschnittsbürger, obschon er sich besser [VIII-220] beherrschen konnte als die meisten Menschen. Er konnte diplomatisch und nachgiebig sein, und dennoch war er einer der undiplomatischsten Menschen, die man sich vorstellen kann, oft starrköpfig, oft bereit, manches nur zu tun, um den Eklat zu erleben.

Freud hatte die große Begabung, sich nach Bedarf zu konzentrieren und viele Dinge zu meistern. Die besten Bekundungen dieser Begabung machten ihn Goethes Universalmenschen ähnlich, die schlechtesten ließen ihn zum Dilettanten werden. Aber auch dann brachte er es noch fertig, dem missratenen Versuch etwas abzugewinnen und ein Ergebnis zu erzielen. Er hatte einen wachen Sinn für weitgespannte Möglichkeiten und Zielsetzungen. Situationen von großer Tragweite und mit vielen Entfaltungsmöglichkeiten interessierten und ermutigten ihn. Aber er wollte unabhängig sein. Er wehrte sich mit Gewalt gegen jede Beeinflussung, gegen jeden Eingriff von außen. Das verleitete ihn manchmal zu Arroganz und Exzentrizität; aber er war auch von einer ungewöhnlichen Sensibilität und Feinheit des Empfindens, die ihn befähigten, sich in einen Widersacher zu versetzen und das Vorgehen des Gegners vorauszuahnen. Er schwankte zwischen der Fähigkeit, das Wissen um den Menschen grenzenlos auszuweiten, und einer hoffnungslos voreingenommenen und phantastischen Behandlung von Menschen und Ideen. Es war ihm gegeben, in anderen Begeisterung und blinde Ergebenheit zu erwecken, sich zum dramatischen Anziehungspunkt zu machen. Er konnte genial sein, aber er konnte auch wie ein Fanatiker handeln. Er hatte das außergewöhnliche Talent, das, was er sich vornahm, durch rücksichtsloses Ausschalten aller Nebeninteressen und aller zeitraubenden persönlichen Vorlieben bis zur Vollendung zu führen.

Freud war kein Mensch, der liebte. Er war egozentrisch, von der Idee seiner Mission besessen und darauf aus, dass andere ihm folgten, ihm dienten, ihm Unabhängigkeit und intellektuelle Freiheit opferten. Die Welt war für ihn eine Bühne, auf der das Drama der psychoanalytischen Bewegung und seiner Mission spielte. Er war nicht stolz auf sich als Person, aber er war stolz auf seine Mission, auf die Größe seiner Sache und auf sich selbst als den Träger der Botschaft. Er lebte das Leben in steter Angst, das zu verlieren, was ihn freute. Also mied er Lust und Freude und setzte sich die Beherrschung aller Leidenschaften, aller Empfindungen, aller Gefühle durch den Willen und die Vernunft zum Ziel. Sein Ideal war der selbstgenügsame und sich selbst beherrschende Mensch, der - hoch über der Menge - auf die Freuden des Lebens verzichtet, aber sich in der Sicherheit wiegt, dass ihn niemand und nichts verwunden kann. Er war unmäßig in seinen Beziehungen zu anderen, unmäßig in seinem Ehrgeiz und paradoxerweise auch unmäßig in seiner Genügsamkeit.

Freud war ein einsamer Mensch. Sobald ihn seine Entdeckungen und seine quasi-politischen Ziele nicht vollauf in Anspruch nahmen, war er unglücklich. Er konnte gütig und humorvoll sein, sofern er sich nicht angegriffen oder herausgefordert fühlte. In einer entscheidenden Beziehung, die er scharfsichtig erkannte, war er eine tragische Figur: Er wollte den Menschen das Gelobte Land der Vernunft und Harmonie zeigen, aber er konnte es nur aus der Ferne erkennen, er wusste, dass er nie dorthin gelangen würde, und seit dem Abfall seines Josua alias Jung spürte er offenbar, dass auch die, die bei ihm blieben, das Gelobte Land nicht betreten würden. Als einer der Großen des Menschengeschlechts und als einer ihrer Wegbereiter starb er in tiefer [VIII-221] Enttäuschung. Und dennoch taten Krankheit, Niederlage und Enttäuschung seinem Stolz keinen Abbruch.

Für Menschen, die unabhängiger als seine treuen Anhänger waren, muss es schwer gewesen sein, mit Freud auszukommen oder ihn zu mögen. Aber seine Gaben, seine Ehrlichkeit, sein Mut und die Tragik seines Lebens erfüllen uns nicht nur mit Achtung und Bewunderung, sondern auch mit Liebe und Mitgefühl für einen wahrhaft großen Menschen.

[1] [Anmerkung des Herausgebers: Erstveröffentlichung unter dem Titel Sigmund Freud’s Mission. An Analysis of His Personality and Influence als Band 21 der „World Perspectives“, geplant und herausgegeben von Ruth Nanda Anshen, New York 1959 (Harper and Bros.). Eine deutsche Übersetzung von A. R. L. Gurland erschien erstmals 1967 als Band 9 der „Weltperspektiven“ im Verlag Ullstein unter dem Titel Sigmund Freuds Sendung. Persönlichkeit, geschichtlicher Standort und Wirkung. Für die Veröffentlichung in der zehnbändigen Erich Fromm-Gesamtausgabe 1980 wurde die Übersetzung stark überarbeitet und der Titel Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung gewählt. Ab 1980 fand diese Neufassung auch Eingang in die Einzelpublikationen beim Ullstein Verlag und beim Deutschen Taschenbuch Verlag. - Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VIII, S. 153-221. Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1959 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © E-Book Erich Fromm Gesamtausgabe 2016 by Rainer Funk.]

[2] [Anmerkung des Herausgebers: Das Buch Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung verdankt seine Entstehung vermutlich der Anregung durch Ruth Nanda Anshen, die ihre Reihe „World Perspectives“ nach Die Kunst des Liebens (1956a, GA IX, S. 437-518) mit einem weiteren Bestseller von Fromm schmücken wollte. Auch wenn die Publizistin Anshen die Entstehung dieses Buches veranlasst haben mag, so ist doch sehr spürbar, dass Fromm andere Gründe zum Schreiben dieses Buches bewegt haben. Kaum ein Buch ist mit so spitzer Feder geschrieben worden wie diese Psychoanalyse der Person des Begründers der Psychoanalyse und seiner Bewegung.

Fromms Auseinandersetzung mit den Theorien Freuds, und hier vor allem mit seinem triebtheoretischen Erklärungsrahmen, mit Freuds Sicht der Bedeutung der Sexualität und des Ödipuskomplexes für die psychische Strukturbildung sowie den Schlussfolgerungen für die therapeutische Praxis datiert bereits aus den Dreißiger Jahren und war für ihn mit dem Erscheinen des Buches Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 215-392) weitgehend abgeschlossen. Eine Art Streitschrift war schon der Aufsatz Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie (1935a, GA I, S. 115-138), der 1935 in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht wurde.

Kurze Zeit später, im Winter 1936/37 verfasste Fromm unter dem Titel Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft. Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie (1992e, GA XI, S. 129-175) einen umfangreichen Aufsatz, in dem er sein Verständnis von Psychoanalyse neu konzipierte. Die wichtigsten psychischen Strukturbildungen und Fähigkeiten des Menschen wurzeln nun nicht mehr in biologisch vorgegebenen Triebanlagen, sondern im Bedürfnis nach Bezogensein und der Notwendigkeit, durch psychische Strukturbildungen die Befriedigung dieses existenziellen Bedürfnisses zu sichern. Ihre Prägung erfahren diese psychischen Strukturbildungen durch die im Assimilierungs- und Sozialisationsprozess gemachten Bezogenheitserfahrungen individueller und gesellschaftlicher Art. Das psychische Antriebsleben des Menschen mit seinen kognitiven und affektiv-emotionalen Fähigkeiten und Äußerungsweisen wird von Fromm dabei mit dem psychoanalytischen Begriff des Charakters erklärt, der als individueller Charakter die persönlichen Bezogenheitserfahrungen widerspiegelt und als „gesellschaftlich typischer Charakter“ (später „Sozialcharakter“ oder „Gesellschaftscharakter“ genannt) die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Erfordernisse des Zusammenlebens repräsentiert. (Vgl. R. Funk, 2000a; 2011q; 2015d.)

Fromms bezogenheitstheoretisches Verständnis von Psychoanalyse brachte es mit sich, dass viele Freudsche Annahmen in Frage gestellt wurden. Diese Kritik an Freud führte 1937 dazu, dass die Institutskollegen Horkheimer, Marcuse und Löwenthal eine Veröffentlichung des Aufsatzes Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft verweigerten, so dass der Aufsatz schließlich erst posthum im Jahr 1992 veröffentlicht wurde (1992e, GA XI, S. 129-175).

Fromms sozial-psychoanalytischer Ansatz bei der Notwendigkeit des Bezogenseins beinhaltet eine massive Kritik an Freuds libidotheoretischer Erklärung der psychischen Antriebskräfte des Menschen. Für Fromms Anerkennung innerhalb der psychoanalytischen Gesellschaften blieb dies nicht ohne Folgen. Diese nämlich hatten sich, zumal in den USA, bis in die Sechziger und Siebziger Jahre auf die libidotheoretische Erklärung als psychoanalytisches Identifikationsmerkmal festgelegt und alle „Andersgläubigen“ aus ihren Reihen ausgeschlossen bzw. ihnen die Anerkennung als Psychoanalytiker verweigert. Dabei erfolgte die Auseinandersetzung in der Regel nicht als wissenschaftlicher Diskurs. Fromms anderer Ansatz wurde einfach als nicht-psychoanalytisch abgetan und ignoriert, während man seine aktive Einflussnahme dadurch abwehrte, dass man dem Nicht-Mediziner Fromm die klinisch-therapeutische Lehrerlaubnis verweigerte und Anfang der Fünfziger Jahre aus dem Mitgliederverzeichnis der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) strich. (Vgl. hierzu R. Funk, 2000k.)

Zu einer Zuspitzung der Auseinandersetzung kam es, als Ernest Jones 1957 seine dreibändige Freud-Biografie veröffentlichte (E. Jones, 1957). Dass Jones darin die Freud-Kritiker Otto Rank und Sándor Ferenczi zu psychisch Kranken erklärte, rief Fromm auf den Plan. Fromm kannte eine Reihe von Schülerinnen und Schülern Ferenczis, die belegen konnten, dass die Behauptungen von Jones falsch sind und nur dem Ziel dienten, Kritiker zu stigmatisieren. Im Juni 1958 veröffentlichte Fromm in der New York Saturday Review unter dem Titel Psychoanalysis - Scientism or Fanaticism? (Psychoanalyse - Wissenschaft oder Linientreue? (1958a, GA VIII, S. 27-34) eine scharfe Kritik an der Freud-Biografie von Jones und indirekt am Umgang der „Freudschen Orthodoxie“ mit Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, die nicht Teil der psychoanalytischen „Kirchenbildung“ waren.

Die Freud-Biografie von Jones und dessen Umgang mit Freud-Kritikern bilden den Hintergrund für Fromms kleine Freud-Biografie, die 1959 unter dem Titel Sigmund Freud’s Mission. An Analysis of His Personality and Influence auf den Markt kam. Sie setzt bei der Kritik an bestimmten Theorien Freuds an, versucht diese aus dem spezifischen Lebensschicksal Freuds zu erklären und schreitet schließlich zu einer Psychoanalyse der Person Freuds fort. Kernpunkt ist dabei Freuds Mutterbindung, aus der nicht nur seine Liebesunfähigkeit und etwa die Überbetonung des Ödipuskomplexes verständlich werden, sondern auch Freuds Umgang mit seinen Schülern (vgl. P. L. Rudnytsky, 2015). Auch beschäftigt sich Fromm mit dem Stellenwert der „Psychoanalytischen Bewegung“ und dem quasi-religiösen und quasi-politischen Charakter der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.

Die schonungslose Kritik Fromms an der Freudschen Bewegung sollte nicht zu dem Schluss verleiten, dass Fromm die Erkenntnisse Freuds nicht wertschätzte. Wenn immer Fromm zu einer psychologisch relevanten Frage forschte, las er zuerst in der „Standard Edition“ nach, was Freud dazu schrieb und machte sich entsprechende Notizen. Von keinem Autor gibt es im Nachlass Fromms so viele Exzerpte wie von den Schriften Freuds. Freud hatte für Fromm wissenschaftliche Zugänge zum Unbewussten eröffnet und damit einen Schlüssel geliefert, das von irrationalen Kräften geleitete Verhalten von Menschen zu verstehen und zu ändern. Dieser epochale Beitrag Freuds zur Wissenschaft vom Menschen wird auch nicht dadurch geschmälert, dass Freud mit der Libidotheorie ein letztlich mechanistisches Verständnis der Antriebskräfte des Menschen hatte.

Die Wertschätzung Freuds zeigt sich auch in Fromms Engagement für eine neue Dachorganisation psychoanalytischer Gesellschaften, die als „Internationale Föderation Psychoanalytischer Gemeinschaften“ („International Federation of Psychoanalytic Societies“ - IFPS) 1962 von ihm als Alternative zur orthodoxen „International Psychoanalytic Association“ (IPA) mitbegründet wurde (vgl. R. Funk, 2014k). Wie wichtig es Fromm war, als Psychoanalytiker zu wirken und zu gelten, zeigt sich auch darin, dass er sich Ende der Sechziger Jahre von der Ich-Psychologie (vgl. etwa Die Krise der Psychoanalyse, 1970c, GA VIII, S. 63-70) und auch von der Humanistischen Psychologie (vgl. H. Johach, 2015, S. 87°f.) abgrenzte, weil diese den unbewussten irrationalen Antriebskräften zu wenig Aufmerksamkeit schenkten.

Zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung von Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung (1959a) hat Fromm sich noch einmal in einem eigenen Buch mit Freud auseinandergesetzt: Die Psychoanalyse Sigmund Freuds - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 259-361) ist Fromms letztes Buch. Vieles von dem, was Fromm 1959 in Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung thematisiert und ausgeführt hatte, wird in diesem Spätwerk nochmals aufgegriffen. Doch es ist anders geschrieben. Die historische Distanz zu Freud wird stärker sichtbar, das erkenntnisleitende Interesse richtet sich nicht so sehr auf die Psychoanalyse der Person Sigmund Freuds, die Kritik an seiner Libidotheorie und an der psychoanalytischen Bürokratie. Das Interesse Fromms ist sozusagen „objektiver“, sieht beides deutlicher: die Größe und die Grenzen Freuds. Fromm würdigt Freuds Verdienste stärker und erklärt die Differenzen hinsichtlich der Theoriebildungen als Ausdruck der Zeitbedingtheit von Freuds Theorien.

Zweifellos hat sich Fromm mit seiner kleinen Freud-Biografie bei den damaligen Wortführern der Psychoanalyse keine Freunde gemacht; diese reagierten vielmehr wie bisher, indem sie den damals in den Vereinigten Staaten bekanntesten Psychoanalytiker einfach ignorierten. Die Auseinandersetzung mit der Person Freuds war dennoch nicht ohne Wirkung, und zwar bei Fromm selbst. Sie schärfte seinen Blick für die Bedeutung der Psychoanalyse unabhängig von den Verwaltern und Priestern der Psychoanalyse und stärkte sein Identitätserleben als Psychoanalytiker in Freudscher Tradition. In kaum einer anderen Schrift wird dies deutlicher als in der zur gleichen Zeit entstandenen Schrift Psychoanalyse und Zen-Buddhismus (1960a, GA VI, S. 301-356).

An Sekundärliteratur, die sich mit Fromm als Psychoanalytiker befasst, sind unter anderen zu nennen Daniel Burston’s The Legacy of Erich Fromm (1991) und die Habilitationsschrift von Rainer J. Kaus Psychoanalyse und Sozialpsychologie. Freud und Fromm (1999) sowie die Sammelbände The Prophetic Analyst (M. Cortina und M. Maccoby (Hg.), 1996) und Erich Fromm als Therapeut (R. Funk (Hg.), 2009).

Die vorliegende Übersetzung basiert auf der ersten deutschen Übersetzung, die A. R. L. Gurland für den Ullstein Verlag anfertigte. Diese mit sehr viel Fleiß und Detailkenntnis gearbeitete Übersetzung litt darunter, dass sie in einem sehr blumigen Stil gehalten war und viele Informationen, die der Übersetzer aus anderen Quellen hatte, als Worte Fromms in den Text einbrachte. Die neu gestaltete Übersetzung orientiert sich strikt am englischen Originaltext, zitiert dabei aber im allgemeinen nicht aus der englischen Jones-Biographie, sondern aus der sich in einigen Punkten unterscheidenden deutschen Version, in der auch die Briefe in der Originalsprache wiedergegeben sind.]

[3] Dies wird auch in der ausgezeichneten Freud-Biographie von Helen Walker Puner (1943) betont. Ihr Buch ist eine höchst treffende Biographie Freuds. In manchen wichtigen Fragen - besonders was Freuds Haltung zu seiner jüdischen Herkunft und den quasi-religiösen Charakter der psychoanalytischen Bewegung angeht - stimmen meine Ergebnisse mit ihr weitgehend überein. Eine tiefgründige Analyse der Beziehung Freuds zum Judentum findet sich bei Ernst Simon, 1957. Professor Simon bin ich im übrigen für die freundliche Durchsicht des Manuskripts und für manche kritische Anregung zu Dank verpflichtet.

[4] Für die idolisierende und unanalytische Betrachtungsweise der Biographie Jones' ist es ein charakteristisches Beispiel, dass er diesen Vorfall als eine Illustration dessen begreift, „wie ernst die Familie Freuds Studium nahm“ (E. Jones, 1960-1962, Bd. 1, S. 37). Man kann dies natürlich so sehen, nur ist es die konventionelle Sicht des gesunden Menschenverstandes, keine analytische, dynamische Sicht.

[5] Interessanterweise war auch Freuds großer Vorgänger in der Entdeckung der Macht, die die Bindung an die Mutter ausübt, Johann Jakob Bachofen (1815-1887), stark an die eigene Mutter gebunden. (Er heiratete erst nach dem Tod der Mutter, als er etwa vierzig Jahre alt war.) Aber er versuchte nicht, die Macht dieser emotionalen Bindung herunterzuspielen, sondern hat im Gegenteil ihre Bedeutung in seiner Theorie des Matriarchats enthüllt. - [Anmerkung des Herausgebers: Zur Bedeutung Johann Jakob Bachofens vgl. folgende Beiträge von Fromm: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934a, GA I, S. 85-109), Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart (1970f, GA I, S. 111-114) und Bachofens Entdeckung des Mutterrechts (1994b, GA XI, S. 177-187).]

[6] [Anmerkung des Herausgebers: Zum Frommschen Verständnis der oral-rezeptiven Charakter-Orientierung vgl. die Ausführungen in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 44°f.).]

[7] [Anmerkung des Herausgebers: Auf diesen Traum Freuds ist Fromm noch ausführlicher eingegangen in Märchen, Mythen, Träume (1951a, GA IX, S. 213-218) sowie in Sigmund Freuds Psychoanalyse - Größe und Grenzen (1979a, GA VIII, S. 315-320).]

[8] Persönliche Mitteilung von Izette de Forest, einer Schülerin und Vertrauten Ferenczis. Ihr Buch The Leaven of Love (1954) enthält eine ausgezeichnete Einführung in die neuen Ideen Ferenczis. - Freuds Intoleranz gegenüber diesen Gedankengängen zeigt sich auch darin, dass er Ferenczi das Versprechen abnehmen wollte, sein Referat auf dem Psychoanalytikerkongress in Wiesbaden 1932 nicht zu publizieren. Das Referat wurde unter dem Titel Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft (S. Ferenczi, 1970/1972, Band 2, S. 303-313) schließlich 1939 (S. Ferenczi, 1939) abgedruckt. Es ist von außerordentlicher Tiefe und Brillanz und eine der wertvollsten Arbeiten in der gesamten psychoanalytischen Literatur; in einigen wichtigen, wenn auch subtilen Punkten weicht es jedoch von der Freudschen Position ab.

[9] S. Freud, 1950, S. 305. - Der Hinweis auf den Zusammenhang des Mottos mit Lassalle und die zitierte Briefstelle verdanke ich Professor Ernst Simon.

[10] E. Simon, 1957, S. 289, weist auf die Bedeutung der Tatsache hin, dass Freud im dritten Teil des Moses-Aufsatzes es als möglich hinstellt, dass der Monotheismus ursprünglich aus dem Nahen oder Fernen Osten oder vielleicht gar aus Palästina nach Ägypten gebracht worden sein könnte.

[11] [Anmerkung des Herausgebers: Im englischen Original folgt an dieser Stelle eine Wiederholung des Zitats aus E. Jones, The Life and Work of Sigmund Freud (1957), Band 2, S. 50, das von Fromm im Zusammenhang mit der Rolle Jungs als Nachfolger Freuds bereits auf S. 181 benützt wurde; es wurde hier weggelassen, um Wiederholungen zu vermeiden.]

[12] Die einzige große schöpferische Revision, die das psychoanalytische Denken je gekannt hat, die Einführung des Lebens- und Todestriebes, stammt von Freud selbst und ist weder von allen orthodoxen Analytikern ganz akzeptiert noch weiterentwickelt worden. Freud seinerseits hat eine gründliche Revision seiner älteren mechanistischen Konzeption, wie sie von der neuen theoretischen Position aus erforderlich gewesen wäre, nie unternommen. Angesichts des begrenzten Rahmens der vorliegenden Arbeit beziehe ich mich darum nur auf das ursprüngliche Gebilde der Freudschen Lehre, wie sie von Freud vor der Einführung des Todestriebes konzipiert worden war.

[13] [Anmerkung des Herausgebers: Fromm spricht im Englischen von sanity, um den Gegensatz zu insanity (Geisteskrankheit, Wahnsinn) am Ende des Abschnitts zu verdeutlichen.]

Psychoanalyse und Zen-Buddhismus

(Psychoanalysis and Zen Buddhism)

(1960a)[1]

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Marion Steipe
überarbeitet von Rainer Funk.

Inhalt

Vorwort

Wenn man den Zen-Buddhismus zur Psychoanalyse in Beziehung setzt, diskutiert man zwei Systeme, die sich beide mit einer Theorie über die Natur des Menschen und mit praktischen Maßnahmen für sein Wohl beschäftigen.[2] Jedes von ihnen ist charakteristisch, das eine für das östliche, das andere für das westliche Denken. Der Zen-Buddhismus ist eine Verschmelzung der indischen Rationalität und Abstraktion mit chinesischer Konkretheit und chinesischem Realismus. Wie die Psychoanalyse ein Spezifikum des Westens ist, so ist Zen für den Osten typisch. Die Psychoanalyse ist das Kind des westlichen Humanismus und Rationalismus sowie der romantischen Suche des neunzehnten Jahrhunderts nach den dunklen Kräften, die sich dem Rationalismus entziehen. Und viel weiter zurück standen die Weisheit der Griechen und die hebräische Ethik an der Wiege dieser wissenschaftlich-therapeutischen Sicht des Menschen.

Obgleich sich sowohl die Psychoanalyse als auch das Zen mit der Natur des Menschen und mit einem Weg befassen, der zu seiner Wandlung führt, scheinen doch die Unterschiede diese Ähnlichkeiten zu überwiegen. Die Psychoanalyse ist eine wissenschaftliche und durch und durch unreligiöse Methode, das Zen hingegen eine Theorie und eine Technik, die zur „Erleuchtung“ führen, einem Erlebnis, das man im Westen religiös oder mystisch nennen würde. Die Psychoanalyse ist eine Therapie für Geisteskrankheiten; das Zen ein Weg zur geistigen Erlösung. Kann die Diskussion der Beziehungen zwischen Psychoanalyse und dem Zen-Buddhismus zu etwas anderem als der Feststellung führen, dass die einzige Beziehung zwischen ihnen eine radikale und unüberbrückbare Verschiedenheit ist?

Und doch besteht unter den Psychoanalytikern ein unverkennbares und wachsendes Interesse am Zen-Buddhismus.[3] Was sind die Quellen für dieses Interesse? Was [VI-304] bedeutet es? Hier soll versucht werden, diese Fragen zu beantworten. Ich will dabei keine systematische Darstellung der Gedanken des Zen-Buddhismus geben, eine Aufgabe, die mein Wissen und meine Erfahrung übersteigen würde, noch will ich eine vollständige Darstellung der Psychoanalyse geben, weil das über den Rahmen dieser Arbeit hinausginge. Trotzdem will ich in meinem ersten Teil einigermaßen ausführlich diejenigen Aspekte der Psychoanalyse behandeln, die für die Beziehung zwischen ihr und dem Zen-Buddhismus von unmittelbarer Bedeutung sind und die gleichzeitig Grundauffassungen jener Weiterentwicklung der Freudschen Analyse sind, die ich gelegentlich „humanistische Psychoanalyse“ genannt habe. Ich hoffe, damit zeigen zu können, warum das Studium des Zen-Buddhismus für mich von wesentlicher Bedeutung war und, wie ich glaube, für alle Psychoanalytiker wichtig ist.

1. Die geistige Krise der Gegenwart und die Rolle der Psychoanalyse

Wir wollen zuerst die geistige Krise betrachten, in der sich der westliche Mensch heute befindet, sowie die Funktion der Psychoanalyse in dieser Krise. Obwohl die meisten der im Westen lebenden Menschen nicht bewusst das Gefühl haben, in einer Krise der westlichen Kultur zu leben (wahrscheinlich war sich die Mehrheit in einer wirklich kritischen Situation niemals der Krise bewusst), sind sich zumindest eine Anzahl kritischer Beobachter über das Vorhandensein und das Wesen dieser Krise einig. Es ist die Krise, die man als malaise, ennui, mal du siècle, als Abstumpfung des Lebens, Automation des Menschen und seine Entfremdung von sich selbst, seinen Mitmenschen und von der Natur bezeichnet hat.[4] Der Mensch ist dem Rationalismus bis zu dem Punkt gefolgt, wo der Rationalismus zur äußersten Irrationalität wurde. Seit Descartes hat der Mensch in immer größerem Ausmaß das Denken vom Affekt getrennt; nur das Denken wird für rational gehalten - der Affekt gilt schon seiner Natur nach als irrational; die Person, das Ich, wurde in einen Intellekt (intellect) abgespalten, der mein Selbst darstellt und mich ebenso beherrschen soll, wie er die Natur beherrscht. Die Herrschaft des Intellekts über die Natur und die Produktion von immer mehr und mehr Dingen wurden die höchsten Lebensziele. In diesem Prozess hat sich der Mensch in ein Ding verwandelt, das Leben ist dem Eigentum untergeordnet, das Sein wird vom Haben beherrscht. Während in den Anfängen der westlichen Kultur, und zwar sowohl bei den Griechen als auch bei den Juden, die Vervollkommnung des Menschen als Ziel des Lebens galt, befasst sich der moderne Mensch mit der Vervollkommnung der Dinge und mit dem Wissen, wie man sie herstellt. Der westliche Mensch befindet sich in einem Zustand schizoider Unfähigkeit, einen Affekt zu empfinden, und ist deshalb ängstlich, niedergeschlagen und verzweifelt. Mit dem Mund bezeichnet er immer noch Glück, Individualismus und Initiative als Ziele - aber in Wahrheit hat er kein Ziel. Fragen Sie ihn, wofür er lebt, was das Ziel seines Strebens ist - und er wird in Verlegenheit geraten. Manche sagen vielleicht, sie lebten für die Familie, andere „für [VI-306] das Vergnügen“, wieder andere, um Geld zu erwerben, aber in Wirklichkeit weiß keiner, wofür er lebt; er hat kein Ziel außer dem Wunsch, der Unsicherheit und dem Alleinsein zu entrinnen. Zwar gibt es heute mehr Kirchenbesucher als je zuvor, Bücher über Religion werden zu Bestsellern und mehr Menschen sprechen von Gott als je. Und doch verdeckt diese Art von religiösem Bekenntnis nur eine zutiefst materialistische und unreligiöse Einstellung und ist als ideologische Reaktion - hervorgerufen durch Unsicherheit und Konformismus - auf die Tendenz des neunzehnten Jahrhunderts zu verstehen, die Nietzsche mit seinem berühmten „Gott ist tot“ charakterisierte. Eine wahrhaft religiöse Einstellung ist sie nicht.

Es war von einem bestimmten Gesichtspunkt aus keine geringe Leistung des neunzehnten Jahrhunderts, die theistischen Ideen aufzugeben. Der Mensch stürzte sich kopfüber in die Objektivität. Die Erde war nicht mehr der Mittelpunkt des Universums; der Mensch verlor seine Hauptrolle als Geschöpf, das von Gott dazu bestimmt war, alle anderen Geschöpfe zu beherrschen. Freud untersuchte mit einer neuen Objektivität die verborgenen Motivierungen des Menschen und erkannte, dass der Glaube an einen allmächtigen und allwissenden Gott seine Wurzel in der Hilflosigkeit menschlicher Existenz hatte sowie im Versuch des Menschen, mit seiner Hilflosigkeit mittels eines Glaubens an einen helfenden Vater oder an eine solche Mutter, die von Gott im Himmel verkörpert wurden, fertig zu werden. Er sah, dass nur der Mensch sich selbst erlösen kann; die Lehren der großen Lehrer, die liebevolle Hilfe von Eltern, Freunden und geliebten Menschen kann ihm helfen - aber nur dazu, dass er es wagt, die Herausforderung der Existenz anzunehmen und sie mit ganzer Kraft und seinem ganzen Herzen zu beantworten.

Der Mensch ließ die Illusion eines väterlichen Gottes als Helfer fallen - aber er gab auch die wahren Ziele aller großen humanistischen Religionen auf: die Überwindung der Grenzen, die ein egoistisches Ich setzt, die Verwirklichung von Liebe, Objektivität und Demut und die Ehrfurcht vor dem Leben, die als Ziel des Lebens das Leben selbst sieht und den Menschen zu dem macht, was er potenziell ist. Das waren die Ziele der großen Religionen des Westens ebenso wie die des Ostens. Der Osten war jedoch nicht mit der Vorstellung eines transzendenten Vaters und Erlösers belastet, in dessen Gestalt die monotheistischen Religionen ihre Sehnsucht zum Ausdruck brachten. Der Taoismus und der Buddhismus besaßen eine Rationalität und einen Realismus, die denen der westlichen Religionen überlegen waren. Sie konnten den Menschen realistisch und objektiv sehen, da es nur die „Erweckten“ gab, um ihn zu leiten, und er konnte sich leiten lassen, weil in jedem Menschen die Fähigkeit steckt, erweckt und erleuchtet zu werden. Genau das ist der Grund, warum heute die religiösen Gedanken des Ostens, Taoismus und Buddhismus - und ihre Verschmelzung im Zen-Buddhismus - für den Westen eine solche Bedeutung annehmen. Der Zen-Buddhismus hilft dem Menschen, auf die Frage seiner Existenz eine Antwort zu finden, die im wesentlichen die gleiche ist wie die der jüdisch-christlichen Tradition und die dennoch keinen Widerspruch zur Rationalität, zum Realismus und zur Unabhängigkeit bildet, den kostbaren Errungenschaften des modernen Menschen. Paradoxerweise stellt sich heraus, dass die religiösen Gedanken des Ostens dem westlichen rationalen Denken kongenialer sind, als die religiösen Gedanken des Westens selbst.

2. Werte und Ziele in Freuds psychoanalytischen Auffassungen

Die Psychoanalyse ist ein charakteristischer Ausdruck der geistigen Krise des westlichen Menschen und ein Versuch, eine Lösung zu finden. Das gilt ganz besonders für die neueren Entwicklungen der Psychoanalyse, die „humanistische“ oder „existenzialistische“ Analyse. Bevor ich jedoch meine eigene „humanistische“ Auffassung diskutiere, möchte ich zeigen, dass, im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Annahme, Freuds eigenes System über eine Theorie von „Krankheit“ und „Heilung“ hinausgeht und sich mit der „Erlösung“ des Menschen und nicht nur mit einer Therapie für geisteskranke Patienten befasste. Oberflächlich gesehen war Freud der Schöpfer einer neuen Therapie für Geisteskrankheiten, und das war auch der Gegenstand, dem sein Leben lang sein Hauptinteresse und alle seine Bemühungen galten. Bei näherer Betrachtung stellen wir jedoch fest, dass sich hinter dieser Idee einer medizinischen Therapie zur Heilung von Neurosen ein vollkommen anderes Interesse verbarg, dem Freud selten Ausdruck verlieh und dessen er sich wahrscheinlich kaum bewusst war. Diese versteckte oder nur implizierte Idee betraf nicht in erster Linie die Heilung von Geisteskrankheiten, sondern etwas, das über den Begriff von Krankheit und Heilung hinausging. Was war dieses Etwas? Was war das Wesen der „psychoanalytischen Bewegung“, die er begründete? Was war Freuds Vision der Zukunft der Menschheit? Was war das Dogma, auf das sich seine Bewegung gründete?

Freud hat diese Frage vielleicht am klarsten mit dem Satz beantwortet: „Wo Es war, soll Ich werden“ (S. Freud, 1933a, S. 86). Sein Ziel war die Beherrschung irrationaler und unbewusster Leidenschaften durch die Vernunft; die Befreiung des Menschen innerhalb seiner Möglichkeiten aus der Macht des Unbewussten. Der Mensch musste sich der unbewussten Mächte in ihm bewusst werden, um sie zu beherrschen und in der Gewalt zu haben. Freuds Ziel war die optimale Erkenntnis der Wahrheit, und das heißt die Erkenntnis der Wirklichkeit; diese Erkenntnis war für ihn die einzige Richtschnur, die der Mensch auf dieser Erde besitzt. Es waren dies die traditionellen Ziele des Rationalismus, der Philosophie der Aufklärung und der puritanischen Ethik. Aber während die Religion und die Philosophie diese Ziele der Beherrschung des Selbst in einer, wie man es nennen könnte, utopischen Weise gefordert hatten, war Freud der erste - oder glaubte, der erste zu sein -, der sie (durch die Erforschung [VI-308] des Unbewussten) auf eine wissenschaftliche Grundlage stellte und so den Weg zu ihrer Verwirklichung zeigte. Obwohl Freud den Höhepunkt des westlichen Rationalismus repräsentiert, überwand er doch gleichzeitig durch sein Genie die falschen rationalistischen und oberflächlich optimistischen Aspekte des Rationalismus und schuf eine Synthese mit der Romantik, die sich im neunzehnten Jahrhundert durch ihre Wertschätzung der irrationalen, affektiven Seite des Menschen und ihre Beschäftigung damit, dem Rationalismus entgegenstellte.[5]

Was die Behandlung des Individuums betrifft, so war Freuds Ziel ebenfalls mehr philosophischer und ethischer Natur als im allgemeinen angenommen wurde. In den Einführungsvorlesungen (S. Freud, 1916-17; 1933a) spricht er von den Bemühungen gewisser mystischer Praktiken, eine grundlegende Wandlung innerhalb der Persönlichkeit herbeizuführen. „Immerhin wollen wir zugeben“, fährt er fort,

dass die therapeutischen Bemühungen der Psychoanalyse sich einen ähnlichen Angriffspunkt gewählt haben. Ihre Absicht ist ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so dass es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee. (S. Freud, 1933a, S. 86.)

In der gleichen Art sagte er von der psychoanalytischen Therapie, dass sie aus der „Befreiung des Menschen von seinen neurotischen Symptomen, Hemmungen und Charakterabnormitäten“ bestehe. Auch geht die Rolle des Analytikers, wie er sie versteht, über die des Arztes, der den Patienten „heilt“, hinaus. Der Analytiker, sagt er, muss „eine gewisse Überlegenheit“ besitzen,

um auf den Patienten in gewissen analytischen Situationen als Vorbild, in anderen als Lehrer zu wirken. Und endlich ist nicht zu vergessen, dass die analytische Beziehung auf Wahrheitsliebe, d.h. auf die Anerkennung der Realität gegründet ist und jeden Schein und Trug ausschließt. (S. Freud, 1937c, S. 59 und 94; Hervorhebungen E. F.)

Es gibt noch andere Faktoren in Freuds Auffassung der Psychoanalyse, die über die herkömmliche Vorstellung von Krankheit und Heilung hinausgehen. Wer mit dem östlichen Denken und vor allem mit dem Zen-Buddhismus vertraut ist, wird bemerken, dass die Faktoren, die ich erwähnen will, nicht ohne Bezug zu Auffassungen und Gedanken des Ostens sind. Als erstes ist hier Freuds Auffassung zu nennen, dass Erkenntnis zur Wandlung führt, dass man Theorie und Praxis nicht trennen darf und dass die Wandlung schon durch bloße Selbsterkenntnis eintritt. Es ist kaum nötig, darauf hinzuweisen, wie sehr sich diese Idee von den Auffassungen der wissenschaftlichen Psychologie zu Freuds Zeit oder in der Gegenwart unterscheidet, wo die Erkenntnis an sich theoretische Erkenntnis bleibt und im Erkennenden keine Wandlung bewirkt.

Noch ein weiterer Aspekt der Methode Freuds ist mit dem Denken des Ostens und insbesondere mit dem Zen-Buddhismus eng verwandt. Freud teilte nicht die hohe Einschätzung unserer bewussten Gedanken, die so charakteristisch für den modernen Menschen des Westens ist. Im Gegenteil, er glaubte, dass unser bewusstes Denken nur ein kleiner Teil des gesamten psychischen Vorgangs sei, der in uns stattfindet, und zwar ein unbedeutender Teil im Vergleich zu der ungeheuren Macht jener Quellen in uns, die dunkel und irrational und gleichzeitig unbewusst sind. In seinem Wunsch, [VI-309] Einsicht in die wahre Natur eines Menschen zu gewinnen, wollte Freud mit seiner Methode der freien Assoziation das bewusste Gedankensystem durchbrechen. Die freie Assoziation sollte das logische, bewusste, konventionelle Denken umgehen und zu einer neuen Quelle unserer Persönlichkeit, dem Unbewussten, führen. Welche Kritik man an den Inhalten des Freudschen Unbewussten auch üben mag, die Tatsache bleibt bestehen, dass Freud durch das Hervorheben der freien Assoziation gegenüber dem logischen Denken in einem wesentlichen Punkt über die konventionelle, rationalistische Denkweise der westlichen Welt hinausging und eine Richtung einschlug, die im Denken des Ostens viel weiter und weitaus gründlicher entwickelt worden war.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, in dem sich Freud grundlegend von der gegenwärtigen Einstellung im Westen unterscheidet. Ich meine hier die Tatsache, dass er bereit war, einen Menschen ein, zwei, drei, vier, fünf oder noch mehr Jahre lang zu analysieren. Das rief tatsächlich eine Menge Kritik gegen Freud hervor. Es erübrigt sich zu sagen, dass man versuchen sollte, die Analyse so wirksam wie möglich zu machen, aber was ich hier hervorheben will, ist, dass Freud den Mut hatte zu sagen, es habe einen Sinn, mit einer Person Jahre zu verbringen, nur um ihr zu helfen, sich selbst zu verstehen. Vom Standpunkt der Nützlichkeit, vom Standpunkt des Gewinnes und Verlustes ist das nicht sehr sinnvoll. Man würde vielmehr sagen, dass die mit einer dermaßen ausgedehnten Analyse verbrachte Zeit sich nicht lohne, wenn man den gesellschaftlichen Gewinn der Änderung einer einzigen Person in Betracht zieht. Freuds Methode hat nur dann einen Sinn, wenn man über die moderne Idee des „Wertes“, des richtigen Verhältnisses zwischen Mittel und Zweck, der Bilanz sozusagen, hinausgeht. Wenn man glaubt, dass ein Mensch nicht mit demselben Maße zu messen ist wie irgendein Ding, dass seine Emanzipation, sein Wohl, seine Erleuchtung, oder wie immer wir es auch nennen wollen, eine Sache ist, „die uns unbedingt angeht“ (P. Tillich), dann kann kein Aufwand an Zeit und Geld in quantitativem Sinne zu diesem Ziel in Beziehung gesetzt werden. Dass Freud die Vision und den Mut hatte, eine Methode zu entwickeln, die eine so ausgedehnte Beschäftigung mit einer Person mit sich brachte, zeugte von einer Einstellung, die in einem wichtigen Punkt über das herkömmliche Denken des Westens hinausging.

Die vorstehenden Bemerkungen sollen nicht bedeuten, dass Freud in seinen bewussten Absichten dem Denken des Ostens oder insbesondere dem Denken des Zen-Buddhismus nahestand. Viele der Elemente, die ich zuvor erwähnt habe, waren in Freuds eigenem Denken mehr implizit als explizit und mehr unbewusst als bewusst. Freud war zu sehr ein Kind der westlichen Zivilisation und vor allem der Gedankenwelt des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, als dass er dem östlichen Denken, wie es im Zen-Buddhismus zum Ausdruck kommt, nahegestanden hätte, selbst wenn er damit vertraut gewesen wäre. Freuds Vorstellung vom Menschen entsprach in wesentlichen Zügen dem Bild, das die Nationalökonomen und Philosophen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hatten. Sie sahen den Menschen als ein im wesentlichen auf Wettbewerb eingestelltes, isoliertes Wesen, das mit anderen nur durch die Notwendigkeit der Befriedigung wirtschaftlicher und triebhafter Bedürfnisse in Beziehung stehe. Für Freud ist der Mensch eine Maschine, die von [VI-310] der Libido angetrieben und durch das Prinzip, die Erregung der Libido auf einem Minimum zu halten, gesteuert wird. Für ihn war der Mensch im Grunde egoistisch und mit anderen nur durch die gemeinsame Notwendigkeit, Triebwünsche zu befriedigen, verbunden. Die Lust war für Freud eine Befreiung von Spannung, nicht das Erleben von Freude. Man hat den Menschen als in seinen Verstand und seine Affekte aufgeteilt gesehen; er war nicht der ganze Mensch, sondern das Verstandeswesen der Philosophen der Aufklärung. Die brüderliche Liebe war eine unvernünftige Forderung und widersprach der Wirklichkeit; mystische Erfahrungen waren ein Rückfall auf kindlichen Narzissmus.

Ich habe zu zeigen versucht, dass es in Freuds System trotz dieser offensichtlichen Widersprüche zum Zen-Buddhismus Elemente gab, die über die herkömmlichen Begriffe von Krankheit und Heilung und die traditionellen rationalistischen Auffassungen vom Bewusstsein hinausgingen und zu einer Weiterentwicklung der Psychoanalyse führten, die mit dem Denken des Zen-Buddhismus in engerem und positiverem Zusammenhang steht.

Bevor wir jedoch den Zusammenhang zwischen einer solchen „humanistischen“ Psychoanalyse und dem Zen-Buddhismus diskutieren, möchte ich auf eine Wandlung hinweisen, die eine Grundvoraussetzung für das Verständnis der Weiterentwicklung der Psychoanalyse ist: die Wandlung der Art der Patienten, die zur Analyse kommen, und der Probleme, die sie vorbringen.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts gingen zum Psychiater hauptsächlich solche, die an Symptomen litten. Sie hatten einen gelähmten Arm, litten an Zwangssymptomen, beispielsweise an einem Waschzwang oder an Wahnvorstellungen, die sie nicht loswerden konnten. Mit anderen Worten, sie waren krank in dem Sinne, in dem das Wort „Krankheit“ in der Medizin verwendet wird; etwas hinderte sie daran, gesellschaftlich so zu funktionieren, wie der sogenannte normale Mensch funktioniert. Wenn sie an solchen Symptomen litten, entsprach ihre Vorstellung von Heilung der Auffassung vom Kranksein. Sie wollten die Symptome loswerden, und ihre Vorstellung von „Gesundheit“ war - nicht krank zu sein. Sie wollten so gesund sein wie der Durchschnittsmensch oder, wie wir es auch ausdrücken könnten, sie wollten nicht unglücklicher und ebenso normal sein, als es der Durchschnittsmensch in unserer Gesellschaft ist.

Diese Menschen kommen noch immer zum Psychoanalytiker, um Hilfe zu suchen, und für sie ist die Psychoanalyse noch immer eine Therapie mit dem Ziel, ihre Symptome zu beseitigen und sie gesellschaftsfähig zu machen. Aber während sie früher die Mehrzahl der Klienten eines Psychoanalytikers ausmachten, befinden sie sich heute in der Minderheit - und zwar wahrscheinlich nicht, weil ihre absolute Zahl heute geringer ist als früher, sondern weil ihre Anzahl relativ kleiner ist im Vergleich zu den vielen neuen „Patienten“, die gesellschaftlich funktionieren und im herkömmlichen Sinne nicht krank sind, sondern die an der maladie du siècle, der Malaise, der inneren Abgestorbenheit leiden, von der ich oben gesprochen habe.[6] Diese neuen „Patienten“ kommen zum Psychoanalytiker, ohne zu wissen, woran sie wirklich leiden. Sie klagen, dass sie niedergeschlagen seien, an Schlaflosigkeit litten, in ihren Ehen unglücklich seien, keine Freude an ihrer Arbeit hätten, und über alle möglichen ähnlichen Beschwerden. Gewöhnlich glauben sie, dass dieses oder jenes bestimmte [VI-311] Symptom ihr Problem sei und dass sie gesund wären, wenn sie diese bestimmte Beschwerde loswerden könnten. Diese Patienten sehen jedoch nicht, dass nicht Niedergeschlagenheit, Schlaflosigkeit, Ehe oder Arbeit ihr Problem ist. Ihre verschiedenen Beschwerden sind nur die Form, in der ihnen unsere Kultur gestattet, etwas bewusst zum Ausdruck zu bringen, was viel tiefer liegt und an dem all die verschiedenen Menschen gleichermaßen kranken, die glauben, an diesem oder jenem bestimmten Symptom zu leiden. Das allgemeine Leiden ist die Entfremdung von sich selbst, von den Mitmenschen und von der Natur; das Bewusstsein, dass uns das Leben wie Sand durch die Finger läuft, dass wir sterben werden, ohne gelebt zu haben, dass wir im Überfluss leben und doch ohne Freude sind.

Welche Hilfe kann die Psychoanalyse denen bieten, die an der maladie du siècle leiden? Diese Hilfe ist verschieden - und muss verschieden sein - von der „Heilung“, die in der Aufhebung von Symptomen besteht und denen geboten wird, die gesellschaftlich nicht funktionieren. Für den, der an Entfremdung leidet, besteht die Heilung nicht im Fehlen einer Krankheit, sondern im Vorhandensein von Wohl-Sein (well-being).[7]

Wenn wir Wohl-Sein jedoch definieren wollen, stehen wir vor beträchtlichen Schwierigkeiten. Wenn wir im Freudschen System bleiben, müsste Wohl-Sein in der Terminologie der Libidotheorie als Fähigkeit zur uneingeschränkten Funktion des Geschlechtstriebes, oder von einem anderen Blickwinkel, als Bewusstheit der verborgenen Ödipus-Situation definiert werden. Diese Definitionen berühren meiner Ansicht nach das wirkliche Problem der menschlichen Existenz und der Erlangung des Wohl-Seins des ganzen Menschen nur am Rande. Jeder Versuch, das Problem des Wohl-Seins zu lösen, muss den Freudschen Rahmen sprengen und zu einer, wenn auch unvollkommenen, Diskussion der Grundauffassung der menschlichen Existenz führen, die der humanistischen Psychoanalyse zugrunde liegt. Nur auf diese Weise können wir die Grundlage für einen Vergleich zwischen der Psychoanalyse und dem Gedankengut des Zen-Buddhismus schaffen.

3. Das Wesen des Wohl-Seins. Die psychische Entwicklung des Menschen

Eine vorläufige Definition von Wohl-Sein kann folgendermaßen formuliert werden: Wohl-Sein heißt, mit der Natur des Menschen in Einklang stehen. Wenn wir über diese formale Feststellung hinausgehen, erhebt sich die Frage: Was bedeutet hier: in Einklang mit den Bedingungen der menschlichen Existenz sein? Was sind diese Bedingungen?[8]

Die menschliche Existenz wirft eine Frage auf. Der Mensch ist ohne seinen Willen in diese Welt geworfen und wird ohne seinen Willen wieder aus ihr genommen. Im Gegensatz zum Tier, das in seinen Instinkten einen „eingebauten“ Mechanismus der Anpassung an seine Umwelt besitzt und derart völlig in der Natur aufgeht, fehlt dem Menschen dieser instinktive Mechanismus. Er muss sein Leben leben, er wird nicht von ihm gelebt. Er ist in der Natur und geht doch über sie hinaus; er ist sich seiner selbst bewusst, und dieses Bewusstsein seiner selbst als einer abgetrennten Größe bewirkt, dass er sich unerträglich einsam, verloren und ohnmächtig fühlt. Allein die Tatsache, dass man geboren wird, wirft ein Problem auf. Im Augenblick der Geburt stellt das Leben dem Menschen eine Frage, die er in jedem Augenblick seines Lebens beantworten muss; nicht sein Geist, nicht sein Körper, sondern er, der Mensch, der denkt und träumt, schläft und isst, weint und lacht - der ganze Mensch -, muss sie beantworten. Was ist diese Frage, die das Leben stellt? Sie lautet: Wie können wir das Leiden, das Eingekerkertsein, die Schande überwinden, die die Erfahrung des Abgetrenntseins erzeugt; wie können wir zu einer Einheit mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und mit der Natur gelangen? Der Mensch muss diese Frage irgendwie beantworten; und selbst im Wahnsinn gibt er eine Antwort, indem er die Wirklichkeit außerhalb seiner selbst auslöscht, völlig innerhalb der Schale seines Selbst lebt und so die Angst vor der Abgetrenntheit überwindet.

Die Frage ist immer die gleiche. Es gibt jedoch verschiedene Antworten, im Grunde freilich nur zwei. Die eine versucht, die Abgetrenntheit zu überwinden und eine Einheit dadurch zu finden, dass sie zu einem Stadium der Einheit, wie sie vor dem Bewusstwerden gegeben war, regrediert: in den Zustand vor der Geburt. Die andere Antwort lautet, ganz geboren zu werden, das Bewusstsein, die Vernunft, die Fähigkeit zu lieben bis zu einem Grad zu entwickeln, dass man seine eigene egozentrische Ichbezogenheit [VI-313] hinter sich lässt und zu einer neuen Harmonie, einem neuen Einssein mit der Welt gelangt.

Wenn wir von Geburt sprechen, meinen wir gewöhnlich die physiologische Geburt, die beim Menschenkind ungefähr neun Monate nach der Empfängnis stattfindet. Vielfach wird die Bedeutung dieser Geburt jedoch überschätzt. Noch eine Woche nach der Geburt gleicht das Leben des Kindes in wichtigen Punkten mehr dem Leben im Mutterleib als dem Leben eines Erwachsenen. Die Geburt hat jedoch einen einzigartigen Aspekt: Die Nabelschnur wird durchtrennt, und das Kind beginnt seine erste Aktivität: atmen. Von da an ist jede Durchtrennung primärer Bindungen nur soweit möglich, als sie mit eigenem Tätigsein verbunden ist.

Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Prozess. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, dass die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind. Zu leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden. Der Tod tritt ein, wenn die Geburt aufhört. Physiologisch gesehen, befindet sich unser Zellsystem in einem Prozess fortwährender Geburt; psychologisch gesehen, hört die Geburt der meisten von uns an einem bestimmten Punkte auf. Manche sind Totgeburten; sie leben physiologisch weiter, während sie sich geistig danach sehnen, in den Mutterschoß, die Erde, die Dunkelheit, den Tod zurückzukehren; sie sind tatsächlich oder beinahe geisteskrank. Viele andere schreiten auf dem Pfad des Lebens weiter, und können doch die Nabelschnur sozusagen nicht vollständig zerreißen; sie bleiben symbiotisch mit Mutter, Vater, Familie, Rasse, Staat, Stand, Geld, Göttern usw. verknüpft; niemals werden sie ganz sie selbst und sind daher niemals ganz geboren.[9] [VI-314]

Der Versuch, das Problem der Existenz regressiv zu beantworten, kann verschiedene Formen annehmen; ihnen allen ist gemeinsam, dass sie notwendigerweise fehlschlagen und Leiden bringen. Wenn einmal der Mensch aus der vormenschlichen, paradiesischen Harmonie mit der Natur gerissen ist, kann er niemals dorthin zurückkehren, von wo er gekommen ist; zwei Engel mit feurigen Schwertern versperren ihm den Rückweg. Nur im Tod oder im Wahnsinn kann die Rückkehr verwirklicht werden - nicht im Leben und in geistig-seelischer Gesundheit.

Der Mensch kann sich bemühen, auf verschiedenen Ebenen zu dieser regressiven Einheit zu gelangen, die gleichzeitig verschiedene Stufen der Pathologie und Irrationalität sind. Er kann von der Leidenschaft besessen sein, in den Mutterleib, die Mutter Erde, den Tod zurückzukehren. Wenn dieses Streben übermächtig und unbeherrscht ist, führt es zu Selbstmord oder Wahnsinn. Eine weniger gefährliche und pathologische Form einer regressiven Suche nach der Einheit ist das Bestreben, an der Brust oder der Hand der Mutter oder dem Befehl des Vaters hängenzubleiben. Die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Bestrebungen kennzeichnen die Verschiedenheiten zwischen verschiedenen Persönlichkeiten. Wer an der Brust der Mutter bleibt, ist der ewig abhängige Säugling, der das Gefühl der Euphorie empfindet, wenn er geliebt, umsorgt, beschützt und bewundert wird, und der von unerträglicher Angst erfüllt ist, wenn ihm die Trennung von der all-liebenden Mutter droht. Wer an den Befehl des Vaters gebunden bleibt, kann eine Menge Initiative und Aktivität entfalten, doch immer unter der Voraussetzung, dass eine Autorität vorhanden ist, die Befehle gibt, lobt und straft. Eine andere Form regressiver Orientierung ist die Destruktivität, der Wunsch, die Getrenntheit durch die Leidenschaft zu überwinden, alles und jeden zu zerstören. Man kann dabei den Wunsch hegen, alles und jeden aufzuessen und sich einzuverleiben, das heißt die Welt und alles, was sie enthält, als Nahrung empfinden oder alle Dinge unmittelbar zerstören mit Ausnahme des einen - seiner selbst. Eine weitere Form, das Leiden der Getrenntheit zu heilen, besteht darin, das eigene Ich als selbständiges, gewappnetes, unzerstörbares „Ding“ aufzubauen. Man erfährt sich dann als seinen eigenen Besitz, als seine Macht, sein Prestige oder seinen Verstand.

Wenn das Individuum aus der regressiven Einheit heraustritt, überwindet es auch allmählich den Narzissmus. Das Neugeborene hat nicht einmal das Bewusstsein einer Wirklichkeit außerhalb seiner selbst im Sinne einer Sinneswahrnehmung; Kind und Brustwarze und Brust der Mutter sind noch eins; das Kind befindet sich in einem Stadium, in dem Subjekt und Objekt noch nicht unterschieden werden. Nach einiger Zeit entwickelt sich in jedem Kind die Fähigkeit, Subjekt und Objekt zu unterscheiden - jedoch eindeutig nur in dem Sinne, dass es sich des Unterschiedes zwischen Ich und Nicht-Ich bewusst wird. Im Gefühlsbereich jedoch muss es sich bis zur völligen Reife entwickeln, um die narzisstische Haltung der Allwissenheit und Allmacht zu überwinden, vorausgesetzt, dass es dieses Stadium überhaupt jemals erreicht. Wir können [VI-315] diese narzisstische Einstellung deutlich im Verhalten von Kindern und Neurotikern beobachten, nur dass sie bei ersteren gewöhnlich bewusst, bei den letzteren unbewusst ist. Das Kind nimmt die Wirklichkeit nicht so, wie sie ist, sondern wie es sie haben möchte. Es lebt in seinen Wünschen und sieht die Wirklichkeit so, wie es sie sich wünscht. Wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, wird es wütend, und der Zweck dieser Wut ist, die Welt (durch seine Eltern als Mittler) zu zwingen, seinem Wunsch zu entsprechen. Im Laufe der normalen Entwicklung des Kindes verwandelt sich diese Haltung allmählich in die des reifen Menschen, der sich der Wirklichkeit bewusst ist und sie und ihre Gesetze und somit eine Notwendigkeit anerkennt. Bei dem Neurotiker finden wir stets, dass er diesen Punkt nicht erreicht hat und die Wirklichkeit noch immer narzisstisch interpretiert. Er besteht darauf, dass die Wirklichkeit seinen Ideen entsprechen muss, und wenn er erkennt, dass das nicht der Fall ist, reagiert er entweder mit dem Impuls, die Wirklichkeit zu zwingen, dass sie seinen Wünschen entspricht (das heißt, das Unmögliche zu tun), oder mit dem Gefühl der Ohnmacht, weil er das Unmögliche nicht vollbringen kann. Unter der Freiheit versteht dieser Mensch narzisstische Allmacht, ob er sich dessen nun bewusst ist oder nicht, während der Freiheitsbegriff der voll ausgereiften Persönlichkeit darin besteht, die Wirklichkeit und ihre Gesetze anzuerkennen und innerhalb der Gesetze der Notwendigkeit zu handeln, indem man sich dadurch produktiv mit der Welt in Beziehung setzt, dass man sie mit seinen eigenen Kräften des Denkens und Fühlens erfasst.

Diese verschiedenen Ziele und die Wege zu ihrer Verwirklichung sind nicht in erster Linie verschiedene Gedankensysteme, sondern verschiedene Arten des Seins, verschiedene Antworten des ganzen Menschen auf die Frage, die ihm das Leben stellt. Sie sind ebenso die Antworten der verschiedenen Religionen, aus denen Religionsgeschichte besteht. Vom primitiven Kannibalismus bis zum Zen-Buddhismus hat die menschliche Rasse nur wenige Antworten auf die Frage des Seins gegeben, und jeder Mensch gibt in seinem Leben eine dieser Antworten, wenn er sich ihrer auch im allgemeinen nicht bewusst ist. In unserer westlichen Kultur glaubt fast jeder, dass er die Antwort der christlichen oder jüdischen Religion oder die Antwort eines aufgeklärten Atheismus gibt, und doch, wenn wir ein geistiges Röntgenbild jedes Menschen machen könnten, würden wir soundso viele Anhänger des Kannibalismus, soundso viele Totemanbeter, soundso viele Anbeter von Idolen verschiedener Art, und einige wenige Christen, Juden, Buddhisten und Taoisten finden. Die Religion ist die formalisierte und ausgearbeitete Antwort auf das Dasein des Menschen, und da man sie bewusst und mit anderen gemeinsam erfährt, ruft selbst die niedrigste Religion allein schon durch die Gemeinschaft mit anderen das Gefühl hervor, dass sie vernünftig ist und Sicherheit bietet. Wenn man nicht daran teilnimmt, wenn die regressiven Wünsche zum Bewusstsein und den Forderungen der Kultur im Widerspruch stehen, dann ist die geheime, private „Religion“ eine Neurose.

Um den einzelnen Patienten - oder irgendeinen Menschen - zu verstehen, muss man wissen, wie seine Antwort auf die Frage des Seins lautet, oder anders ausgedrückt, was seine geheime, individuelle Religion ist, der er all seine Bemühungen und Leidenschaften widmet. Die meisten der sogenannten „psychologischen Probleme“ sind nur sekundäre Folgen seiner fundamentalen „Antwort“, und es ist daher ziemlich [VI-316] nutzlos zu versuchen, sie zu „heilen“, bevor man nicht diese fundamentale Antwort - das heißt, seine geheime, private Religion - verstanden hat.

Wie sollen wir nun angesichts des bisher Gesagten das Wohl-Sein definieren?

Das Wohl-Sein ist der Zustand, in dem die Vernunft ihr volles Entwicklungsstadium erreicht hat, und zwar die Vernunft nicht im Sinne einer rein intellektuellen Urteilsfähigkeit, sondern in dem Sinne, dass man die Wahrheit erfasst, indem man „die Dinge sein lässt“, wie sie sind (um Heideggers Ausdruck zu verwenden). Wohl-Sein gibt es nur in dem Maße, als man den eigenen Narzissmus überwunden hat; in dem Maße, als man offen, aufnahmefähig, empfindsam, wach und leer (im Sinne des Zen) ist. Wohl-Sein bedeutet, gefühlsmäßig ganz auf den Menschen und die Natur bezogen sein, die Getrenntheit und die Entfremdung zu überwinden, zur Erfahrung des Einsseins mit allem Lebendigen zu kommen, und doch gleichzeitig sich als die separate Ganzheit, die man ist, als das In-dividuum, das Ungeteilte, zu erleben. Wohl-Sein bedeutet, ganz geboren zu sein und das zu werden, was man potenziell ist. Es bedeutet, Freude und Traurigkeit unbeeinträchtigt empfinden zu können, oder noch anders ausgedrückt, aus dem Halbschlaf zu erwachen, in dem der Durchschnittsmensch sein Leben führt, und hellwach zu sein.

Wenn Wohl-Sein das alles ist, so bedeutet es auch, schöpferisch zu sein, das heißt, als der wirkliche, ganze Mensch, der ich bin, auf mich, auf andere, auf alles Existierende, so wie er oder es wirklich ist, zu reagieren und einzugehen. In diesem wahren Eingehen liegt das Schöpferische, es bedeutet, die Welt zu sehen, wie sie ist, und sie gleichzeitig als meine Welt zu sehen, als die Welt, die durch mein schöpferisches Begreifen geschaffen und verwandelt wurde, so dass sie nicht mehr eine fremde Welt „dort drüben“ ist, sondern zu meiner Welt wird. Wohl-Sein bedeutet endlich, dass man sein Ich fallen lässt, seine Gier abstreift, nicht mehr der Erhaltung und Mehrung des Ich nachjagt, dass man ist und sich selbst im Sein, und nicht in dem erfährt, was wir haben, bewahren, begehren, gebrauchen.

Ich habe in den vorstehenden Bemerkungen auf die parallele Entwicklung des Einzelnen und der Religionen in der Geschichte hingewiesen. Da sich diese Arbeit mit dem Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Zen-Buddhismus befasst, ist es meiner Ansicht nach notwendig, wenigstens einige psychologische Aspekte der Entwicklung der Religion eingehender zu behandeln.

Ich habe gesagt, dass dem Menschen allein durch die Tatsache seiner Existenz eine Frage gestellt wird, die der Widerspruch in ihm selbst aufwirft - der Widerspruch, dass er in der Natur ist und gleichzeitig dadurch über die Natur hinausgeht, dass er das sich seiner selbst bewusste Leben ist. Jeder Mensch, der auf diese ihm gestellte Frage hört und für den es eine Angelegenheit ist, die ihn unbedingt angeht, diese Frage als ganzer Mensch und nicht nur in Gedanken zu beantworten, der ist ein „religiöser“ Mensch; und alle Systeme, die versuchen, solche Antworten zu geben, zu lehren und zu vermitteln, sind „Religionen“. Andererseits ist jeder Mensch - und jede Kultur -, der versucht, sich gegenüber der Existenzfrage taub zu stellen, unreligiös. Das beste Beispiel für Menschen, die taub sind gegenüber der Frage, die uns das Dasein stellt, sind wir selbst, die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir versuchen, dieser Frage auszuweichen, indem wir uns mit Besitz, Prestige, Macht, [VI-317] Produktion und Vergnügen befassen, und schließlich, indem wir versuchen zu vergessen, dass wir - ich - existieren. Es ist gleichgültig, wie oft jemand an Gott denkt oder zur Kirche geht, oder wie fest er an religiöse Anschauungen glaubt. Wenn er, der ganze Mensch, gegen die Frage der Existenz taub ist und keine Antwort darauf hat, tritt er auf der Stelle, und er entsteht und vergeht wie eines der Millionen Dinge, die er erzeugt. Er denkt an Gott, anstatt die Erfahrung des Gott-Seins zu machen.

Es ist jedoch irreführend zu glauben, die Religionen hätten notwendigerweise etwas Gemeinsames außer der Bestrebung, irgendeine Antwort auf die Frage des Seins zu geben. Was den Gehalt der Religionen betrifft, gibt es keinerlei Einheitlichkeit; im Gegenteil, es gibt zwei grundlegend verschiedene Antworten, die oben in Bezug auf das Individuum bereits erwähnt wurden: Die eine Antwort besagt, man solle zur vormenschlichen, vorbewussten Existenz zurückkehren, die Vernunft abschaffen, zu einem Tier werden und so wieder mit der Natur eins werden. Die Formen, in denen dieses Bestreben zum Ausdruck kommt, sind vielgestaltig.

Auf der einen Seite gibt es Erscheinungen, wie wir sie in den germanischen Geheimgesellschaften der „Berserker“ (wörtlich: Bärenhemden) finden, die sich mit Bären identifizierten und in denen ein junger Mann bei seiner Einweihung „seine menschliche Natur in einem Anfall aggressiver und furchterregender Wut, der ihn dem rasenden Raubtier ähnlich machte, umwandeln musste“ (M. Eliade, 1961, S. 119 f.). (Dass diese Tendenz, zur vormenschlichen Einheit mit der Natur zurückzukehren, keineswegs auf primitive Gesellschaften beschränkt ist, wird deutlich, wenn wir die „Bärenhemden“ mit Hitlers „Braunhemden“ vergleichen. Während ein großer Teil der Anhänger der Nationalsozialistischen Partei ganz einfach aus weltlichen, opportunistischen, unbarmherzigen und machtgierigen Politikern, Junkern, Generalen, Geschäftsleuten und Bürokraten bestand, unterschied sich der Kern, durch das Triumvirat Hitler, Himmler und Goebbels repräsentiert, im wesentlichen nicht von den primitiven „Bärenhemden“, die von einer „heiligen“ Wut getrieben wurden und die Zerstörung als höchste Erfüllung ihrer religiösen Vision sahen. Diese „Bärenhemden“ des zwanzigsten Jahrhunderts, die die „Ritualmord“-Legende über die Juden wiederaufleben ließen, projizierten damit in Wirklichkeit einen ihrer eigenen tiefsten Wünsche: den Ritualmord. Zuerst begingen sie Ritualmorde an den Juden, dann an fremden Völkern, dann am deutschen Volk selbst, und schließlich mordeten sie ihre eigenen Frauen und Kinder und sich selbst im letzten Ritus der vollständigen Zerstörung.) Es gibt viele andere weniger archaische religiöse Formen, die nach der vormenschlichen Einheit mit der Natur streben. Man findet sie in Kulten, in denen der Stamm mit einem Totemtier identifiziert wird, in religiösen Systemen, die der Verehrung von Bäumen, Seen, Höhlen usw. geweiht sind, und in orgiastischen Kulten, deren Ziel die Auslöschung von Bewusstsein, Vernunft und Gewissen ist. In all diesen Religionen ist das Heilige das, was zur Vision einer Verwandlung des Menschen in einen vormenschlichen Teil der Natur gehört; der „heilige Mann“ (zum Beispiel der Schamane) ist der, der in der Verwirklichung dieses Zieles am weitesten gekommen ist.

Den anderen Pol repräsentieren alle jene Religionen, die die Antwort auf die Frage des menschlichen Seins darin suchen, die vormenschliche Existenz vollkommen hinter sich zu lassen, die spezifisch menschlichen Fähigkeiten der Vernunft und Liebe [VI-318] zu entwickeln und so eine neue Harmonie zwischen Mensch und Natur - und zwischen Mensch und Mensch - zu finden. Obgleich solche Bemühungen auch bei Individuen relativ primitiver Gesellschaften festzustellen sind, so scheint doch die große Trennlinie für die gesamte Menschheit in der Zeit von ungefähr 2000 v. Chr. und dem Beginn unserer Ära zu liegen. Der Taoismus und Buddhismus im Fernen Osten, Echnatons religiöse Revolution in Ägypten, die Religion Zarathustras in Persien, die Mosaische Religion in Palästina, die Quetzalcoatl-Religion in Mexiko (vgl. L. Séjournée, 1957), sie alle kennzeichnen die vollständige Wendung, die die Menschheit gemacht hat.

Alle diese Religionen suchen die Einheit - nicht die regressive Einheit, die durch Rückkehr zur vor-individuellen, vorbewussten Harmonie des Paradieses gefunden wird, sondern die Einheit auf einer neuen Ebene, die der Mensch nur erreichen kann, nachdem er seine Getrenntheit empfunden und das Stadium der Entfremdung von sich selbst und von der Welt durchlaufen hat und ganz geboren wurde. Eine Voraussetzung dieser neuen Einheit ist die volle Entwicklung der Vernunft des Menschen bis zu einem Stadium, in dem sie ihn nicht mehr daran hindert, die Realität unmittelbar und intuitiv zu erfassen. Für dieses Ziel, das vor uns liegt und nicht in der Vergangenheit, gibt es viele Symbole: Tao, Nirwana, Erleuchtung, das Gute, Gott. Die Unterschiede in diesen Symbolen gehen auf die gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiede in den einzelnen Ländern zurück, in denen sie entstanden sind. In der westlichen Tradition wurde als Symbol für „das Ziel“, die autoritäre Gestalt des höchsten Königs oder des höchsten Stammeshäuptlings gewählt. Jedoch schon zu Zeiten des Alten Testaments änderte sich diese Gestalt vom willkürlichen Herrscher zum Herrscher, der durch den Bund und die darin enthaltenen Versprechungen dem Menschen gegenüber verpflichtet ist. In der prophetischen Literatur wird das Ziel als neue Harmonie zwischen Mensch und Natur in der messianischen Zeit gesehen; im Christentum offenbart sich Gott als Mensch; in der Philosophie von Maimonides sowie in der Mystik sind die anthropomorphen und autoritären Elemente fast vollständig eliminiert, wenn sie auch in den populären Formen der westlichen Religionen ohne wesentliche Änderung beibehalten wurden.

Was das jüdisch-christliche und das zen-buddhistische Denken gemeinsam haben, ist das Bewusstsein, dass ich meinen „Willen“ (in der Bedeutung meines Verlangens, die Welt außerhalb und in mir zu zwingen, zu lenken und zu unterdrücken) aufgeben muss, um vollständig offen, aufnahmefähig, wach und lebendig zu sein. In der Terminologie des Zen heißt das oft „sich leer machen“ - was nichts Negatives bedeutet, sondern die Offenheit, um etwas aufzunehmen. In der christlichen Terminologie heißt es „sich abtöten und dem Willen Gottes beugen“. Es scheint zwischen der christlichen und der buddhistischen Erfahrung, die hinter diesen beiden verschiedenen Formulierungen steckt, wenig Unterschied zu geben. Nach der populären Auslegung und Erfahrung bedeutet diese Formulierung jedoch, dass der Mensch, anstatt selbst Entscheidungen zu treffen, diese Entscheidungen einem allwissenden und allmächtigen Vater überlässt, der über ihn wacht und weiß, was für ihn gut ist. Es ist klar, dass der Mensch durch diese Erfahrung nicht offen und aufnahmefähig, sondern gehorsam und unterwürfig wird. Dem Willen Gottes zu folgen, im Sinne einer wahren [VI-319] Aufgabe des Egoismus, gelingt am besten, wenn es keinen Gottesbegriff gibt. Paradoxerweise folge ich dann dem Willen Gottes richtig, wenn ich Gott selbst vergesse. Die Auffassung des Zen von der Lehre hat die richtige Bedeutung, dass man seinen Willen aufgibt, jedoch ohne die Gefahr eines Rückschrittes zu dem götzenhaften Begriff eines helfenden Vaters.

4. Bewusstsein, Verdrängung und Aufhebung der Verdrängung

Im vorigen Kapitel habe ich versucht, die Vorstellungen vom Menschen und der menschlichen Existenz zu umreißen, die den Zielen der humanistischen Psychoanalyse zugrunde liegen. Die Psychoanalyse hat diese allgemeinen Vorstellungen jedoch mit anderen philosophischen oder religiösen humanistischen Auffassungen gemeinsam. Wir müssen nun beschreiben, wie die Psychoanalyse im besonderen versucht, ihr Ziel zu erreichen.

Das charakteristischste Element in der Methode der Psychoanalyse ist zweifellos ihre Bemühung, das Unbewusste bewusst zu machen - oder mit Freuds Worten, das Es in das Ich zu verwandeln. Das ist jedoch keineswegs so einfach und klar, wie es in dieser Formulierung klingt. Es erheben sich sofort die Fragen: Was ist das Unbewusste? Was ist das Bewusstsein? Was ist Verdrängung? Wie wird das Unbewusste bewusst? Und wenn das geschieht, welche Wirkung hat es?

Zunächst müssen wir bedenken, dass die Ausdrücke bewusst und unbewusst in verschiedenen Bedeutungen verwendet werden. In einer bestimmten Bedeutung, die man funktionell nennen könnte, bezeichnen „bewusst“ und „unbewusst“ einen subjektiven Zustand innerhalb des Individuums. Wenn man sagt, jemand sei sich dieses oder jenes psychischen Gehaltes bewusst, bedeutet es, dass er von Affekten, Wünschen, Urteilen usw. weiß. „Unbewusst“, im gleichen Sinne verwendet, bezeichnet eine geistige Verfassung, in der der Mensch von seinen inneren Erfahrungen nicht weiß; wenn er sich überhaupt keiner Empfindungen, einschließlich der sensorischen, bewusst wäre, wäre er genau wie ein Mensch, der bewusstlos ist. Wenn man sagt, der Mensch sei sich gewisser Affekte usw. bewusst, bedeutet das, er sei, soweit es sich um diese Affekte handelt, bei Bewusstsein; wenn man sagt, gewisse Affekte seien unbewusst, bedeutet es, er sei bewusstlos, soweit es sich um diese Affekte handelt. Wir müssen bedenken, dass „unbewusst“ nicht das Fehlen jeglicher Impulse, Gefühle, Begierden, Angst usw. bedeutet, sondern nur, dass das Bewusstsein dieser Impulse fehlt.

Ganz verschieden von der funktionellen Bedeutung der Bezeichnungen „bewusst“ und „unbewusst“, die soeben beschrieben wurde, ist eine andere Anwendung, die bestimmte Örtlichkeiten im Menschen und gewisse, mit diesen Örtlichkeiten verbundene Inhalte bezeichnet. Das ist im allgemeinen der Fall, wenn man die Hauptwörter [VI-321] „Bewusstsein“ und „Unbewusstes“ verwendet. Hier ist das „Bewusstsein“ ein Teil der Persönlichkeit mit bestimmten Inhalten, und das „Unbewusste“ ist ein anderer Teil der Persönlichkeit mit anderen bestimmten Inhalten. Nach Freuds Auffassung ist das Unbewusste im wesentlichen der Sitz der Irrationalität. Nach Jungs Anschauung hingegen scheint die Bedeutung fast umgekehrt zu sein; für ihn ist das Unbewusste im wesentlichen der Sitz der tiefsten Quellen der Weisheit, während das Bewusstsein der intellektuelle Teil der Persönlichkeit ist. In dieser Sicht des Bewusstseins und des Unbewussten wird das letztere mit dem Keller eines Hauses verglichen, in dem alles angehäuft ist, was weiter oben im Gebäude keinen Platz hat; Freuds Keller enthält in der Hauptsache die Laster des Menschen, Jungs Keller hauptsächlich seine Weisheit.

Wie H. S. Sullivan betont hat, ist es keine glückliche Lösung, den Ausdruck „das Unbewusste“ im lokalen Sinne zu verwenden; die psychischen Tatsachen, um die es geht, werden damit nur mangelhaft beschrieben. Ich könnte noch hinzufügen, dass die Verwendung eines solchen Hauptwortes anstelle eines funktionellen Begriffs der allgemeinen Tendenz der westlichen Kultur der Gegenwart entspricht, alles als Dinge, die wir haben, aufzufassen anstatt in Begriffen des Seins. Wir haben ein Problem der Angst, wir haben Schlaflosigkeit, wir haben eine Depression, wir haben einen Psychoanalytiker, so wie wir ein Auto, ein Haus oder ein Kind haben. Im gleichen Stil haben wir auch ein „Unbewusstes“. Es ist kein Zufall, dass viele Leute anstatt „Unbewusstes“ das Wort „Unterbewusstsein“ verwenden, und zwar offensichtlich deshalb, weil „Unterbewusstsein“ der lokalen Auffassung besser entspricht; ich kann sagen: „Dieses oder jenes ist mir unbewusst“, aber ich kann nicht sagen: „Es ist mir unterbewusst.“

Es gibt noch eine andere Verwendung des Begriffes „bewusst“, die manchmal Verwirrung stiftet. Das Bewusstsein wird mit dem überlegenen Verstand, das Unbewusste mit unreflektierten Erfahrungen gleichgesetzt. Gegen diese Verwendung von „bewusst“ und „unbewusst“ ist natürlich nichts einzuwenden, vorausgesetzt, dass der Sinn klar ist und nicht mit den beiden anderen Bedeutungen verwechselt wird. Trotzdem erscheint diese Verwendung nicht glücklich. Die gedankliche Überlegung ist natürlich immer bewusst, aber nicht alles, was bewusst ist, ist eine gedankliche Überlegung. Wenn ich einen Menschen ansehe, bin ich mir seiner bewusst; ich bin mir dessen bewusst, was in mir im Zusammenhang mit diesem Menschen vorgeht. Aber nur, wenn ich mich als Subjekt von ihm als Objekt distanziert habe, ist dieses Bewusstsein mit der gedanklichen Überlegung identisch. So ist es auch, wenn ich mir bewusst bin, dass ich atme, was keineswegs das gleiche ist, als wenn ich an mein Atmen denke; ja, sobald ich an mein Atmen denke, bin ich mir meines Atmens nicht mehr bewusst. Das gleiche gilt für alle meine Handlungen, die mich zur Welt in Beziehung setzen. Darüber wird später noch mehr gesagt werden.

Nachdem wir uns geeinigt haben, „bewusst“ und „unbewusst“ als Zustand des Gewahrseins oder Nichtgewahrseins und nicht als „Teile“ der Persönlichkeit und spezifische Inhalte aufzufassen, müssen wir nun die Frage untersuchen, was eine Empfindung daran hindert, unser Bewusstsein zu erreichen, das heißt, bewusst zu werden.

Bevor wir jedoch mit der Diskussion dieser Frage beginnen, erhebt sich noch eine [VI-322] andere, die wir zuerst behandeln sollten. Wenn wir im Zusammenhang mit Psychoanalyse von Bewusstsein und Unbewusstem sprechen, entsteht der Eindruck, als besitze das Bewusstsein einen größeren Wert als das Unbewusste. Warum sollten wir sonst danach streben, den Bereich des Bewusstseins zu erweitern, wenn dem nicht so wäre? Und doch ist es ganz offenkundig, dass das Bewusstsein als solches keinen besonderen Wert besitzt; in Wirklichkeit besteht der größte Teil des bewussten Denkens der Menschen nur in Fiktion und Täuschung. Der Grund hierfür ist nicht sosehr die Unfähigkeit der Menschen, die Wahrheit zu sehen, sondern die Funktion der Gesellschaft. Während des größten Teils der Geschichte der Menschheit hat stets (mit Ausnahme einiger primitiver Gesellschaften) eine kleine Minderheit über die Mehrheit ihrer Mitmenschen geherrscht und sie ausgebeutet. Um das zu erreichen, hat die Minderheit meistens Gewalt angewendet; aber Gewalt ist nicht genug. Auf die Dauer musste die Mehrheit ihre eigene Ausbeutung freiwillig anerkennen - und das ist nur möglich, wenn ihr Geist mit den verschiedensten Lügenmärchen und Fiktionen erfüllt wurde, die die Anerkennung der Herrschaft der Minderheit erklärten und rechtfertigten. Das ist jedoch nicht der einzige Grund dafür, dass das meiste von dem, was das Bewusstsein der Menschen über sie selbst, über andere, über die Gesellschaft usw. enthält, erfunden ist. Im Lauf der historischen Entwicklung entsteht in jeder Gesellschaft zwangsläufig das Bedürfnis, in der besonderen Form bestehen zu bleiben, zu der sie sich entwickelt hat, und das erreicht sie gewöhnlich, indem sie die höheren Ziele der Menschheit, die alle Menschen gemeinsam haben, außer acht lässt. Dieser Widerspruch zwischen dem gesellschaftsspezifischen und dem universalen Ziel führt (auf sozialer Ebene) ebenfalls zur Erdichtung von allen möglichen Fiktionen und Illusionen, die die Aufgabe haben, die Dichotomie zwischen den Zielen der Menschheit und denen einer gegebenen Gesellschaft abzuleugnen und zu rationalisieren.

Wir könnten also sagen, dass der Inhalt des Bewusstseins hauptsächlich aus Fiktion und Täuschung besteht und nicht die Wirklichkeit repräsentiert. Das Bewusstsein als solches ist daher nichts Erstrebenswertes. Nur wenn die verborgene Wirklichkeit (die unbewusst ist) enthüllt wird und daher nicht mehr verborgen (d.h. bewusst geworden) ist, ist etwas Wertvolles erreicht worden. Wir werden an anderer Stelle auf dieses Thema zurückkommen. Jetzt möchte ich nur betonen, dass das meiste von dem, was unser Bewusstsein enthält, ein „falsches Bewusstsein“ ist und dass es im wesentlichen die Gesellschaft ist, die uns diese Fiktionen und unrealistischen Vorstellungen eingibt.

Die Wirkung der Gesellschaft besteht jedoch nicht nur darin, unserem Bewusstsein Fiktionen einzutrichtern, sondern auch darin, uns daran zu hindern, uns der Wirklichkeit bewusst zu sein. Die weitere Behandlung dieses Punktes führt uns geradewegs in das zentrale Problem, wie die Verdrängung oder das Unbewusste zustande kommt.

Das Tier ist sich der Dinge bewusst, die es umgeben, und dieses Bewusstsein können wir mit R. M. Buckes (1954) Bezeichnung das „einfache Bewusstsein“ nennen. Das Gehirn des Menschen, größer und komplizierter als das des Tieres, geht über dieses einfache Bewusstsein hinaus und ist die Grundlage des Selbstbewusstseins, des Bewusstseins von sich selbst als Subjekt der Erfahrung. Aber vielleicht gerade weil es so ungeheuer [VI-323] kompliziert ist (Anregungen über die neurologischen Grundlagen des Bewusstseins bekam ich von Dr. William Wolf), ist das menschliche Bewusstsein auf verschiedene mögliche Weisen gegliedert, und damit irgendeine Empfindung bewusst werden kann, muss sie innerhalb der Kategorien verständlich sein, in die das bewusste Denken eingeteilt ist. Einige Kategorien wie Zeit und Raum mögen universal sein und Kategorien sein, die allen Menschen gemeinsam sind. Andere, wie die Kausalität, sind vielleicht für viele, aber nicht alle Formen der bewussten Wahrnehmung eine gültige Kategorie. Wieder andere Kategorien sind noch weniger allgemeingültig und von Kultur zu Kultur verschieden. Wie dem auch sein mag, die Empfindung kann nur unter der Bedingung bewusst werden, dass sie wahrgenommen, mit einem Begriffssystem und seinen Kategorien in Beziehung gesetzt und darin eingeordnet werden kann.[10] Dieses System selbst ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung. Jede Gesellschaft bildet durch ihre Lebenspraxis und die Art ihres Bezogenseins, Fühlens und Wahrnehmens ein System von Kategorien, das die Formen des Bewusstseins bestimmt. Dieses System arbeitet sozusagen wie ein gesellschaftlich bedingter Filter.[11] Eine Empfindung kann nur dann ins Bewusstsein eindringen, wenn sie diesen Filter passiert.

Damit stellt sich das Problem, konkreter zu verstehen, wie dieser „gesellschaftliche Filter“ wirkt und wie es kommt, dass er gewisse Empfindungen durchlässt und andere daran hindert, in das Bewusstsein einzudringen.

Zunächst müssen wir bedenken, dass viele Empfindungen nicht ohne weiteres geeignet sind, bewusst wahrgenommen zu werden. Unter den körperlichen Empfindungen eignet sich vielleicht am besten der Schmerz für eine bewusste Wahrnehmung; auch sexuelle Begierde, Hunger usw. werden leicht wahrgenommen; offensichtlich gehen alle Empfindungen, die zur Erhaltung des Lebens des Individuums oder der Gruppe dienen, leicht in das Bewusstsein ein. Eine subtilere oder kompliziertere Empfindung, zum Beispiel beim Anblick einer Rosenknospe mit einem Tautropfen am frühen Morgen, während die Luft noch kühl ist, die Sonne gerade aufgeht und ein Vogel singt, wird in gewissen Kulturkreisen (zum Beispiel in Japan) leicht in das Bewusstsein dringen, während die gleiche Empfindung in der modernen westlichen Kultur gewöhnlich das Bewusstsein nicht erreichen wird, weil sie nicht genügend „wichtig“ oder „ereignisreich“ ist, um bemerkt zu werden. Ob subtile affektive Empfindungen bewusst werden können oder nicht, hängt davon ab, wieweit solche Empfindungen in einem [VI-324] Kulturkreis gepflegt werden. Es gibt viele affektive Empfindungen, für die eine bestimmte Sprache keine Bezeichnung hat, während eine andere reich an Ausdrücken ist, die diese Gefühle benennen. Im Deutschen haben wir beispielsweise ein Wort, „Liebe“, das Empfindungen vom einfachen Gernhaben bis zur erotischen Leidenschaft und bis zur brüderlichen Liebe und Mutterliebe umfasst. Wenn in einer Sprache verschiedene affektive Empfindungen nicht durch verschiedene Wörter ausgedrückt werden, ist es fast unmöglich, dass diese Empfindungen in das Bewusstsein dringen, und umgekehrt. Allgemein kann man sagen, dass eine Empfindung selten bewusst wird, für die die Sprache kein Wort hat.

Das ist jedoch nur ein Aspekt der Filterwirkung der Sprache. Verschiedene Sprachen unterscheiden sich nicht nur in der Mannigfaltigkeit von Ausdrücken zur Bezeichnung gewisser affektiver Empfindungen, sondern auch in ihrer Syntax, in ihrer Grammatik und in der Stammbedeutung ihrer Wörter. Die ganze Sprache enthält eine Einstellung zum Leben, ist ein erstarrter Ausdruck für eine bestimmte Art und Weise, das Leben zu erleben. (Vgl. B. Whorf, 1952.)

Hier einige Beispiele. Es gibt Sprachen, in denen das Verb „regnen“ zum Beispiel verschieden konjugiert wird, je nachdem, ob ich sage, dass es regnet, weil ich im Regen draußen war und nass geworden bin, oder weil ich es von einer Hütte aus regnen gesehen habe oder weil mir jemand gesagt hat, dass es regne. Es ist ganz offenkundig, dass der Nachdruck, den die Sprache auf die verschiedenen Quellen legt, aus denen man eine Tatsache erfährt (in diesem Fall, dass es regnet), einen großen Einfluss auf die Art hat, wie die Menschen die Tatsachen erleben. (In unserer modernen Kultur beispielsweise mit ihrer Betonung der rein intellektuellen Seite des Wissens ist es ziemlich gleichgültig, auf welche Weise ich von einer Tatsache erfahren habe, ob aus direkter oder indirekter Erfahrung oder vom Hörensagen.) Oder: Im Hebräischen besteht das Hauptprinzip der Konjugation darin, festzustellen, ob eine Handlung vollendet (perfekt) oder unvollendet (imperfekt) ist, während die Zeit, in der sie stattfindet - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - erst in zweiter Linie zum Ausdruck gebracht wird. Im Lateinischen werden beide Prinzipien (Zeit und Vollendung) gemeinsam beachtet, während wir im Englischen (und Deutschen) hauptsächlich nach der Zeit orientiert sind. Wieder ist es selbstverständlich, dass diese Unterschiede in der Konjugation eine Verschiedenheit im Erleben zum Ausdruck bringen. (Die Bedeutung dieser Verschiedenheit wird in den englischen und deutschen Übersetzungen des Alten Testamentes offenkundig; wenn der hebräische Text für eine emotionelle Empfindung wie „lieben“ die Vergangenheit verwendet, was bedeutet: „Ich empfinde tiefe Liebe“, missversteht dies der Übersetzer und schreibt: „Ich liebte.“)

Ein weiteres Beispiel findet man in der unterschiedlichen Verwendung von Zeitwörtern und Hauptwörtern in verschiedenen Sprachen oder auch unter verschiedenen Menschen, die die gleiche Sprache sprechen. Das Hauptwort bezeichnet ein „Ding“, das Zeitwort eine Tätigkeit. Immer mehr Menschen denken lieber in Begriffen des „Habens von Dingen“ anstatt in Begriffen des Seins oder Tätig-Seins; deshalb ziehen sie auch Hauptwörter den Zeitwörtern vor.

Die Sprache bestimmt durch ihre Vokabeln, ihre Grammatik, ihre Syntax und durch den ganzen Geist, der in ihr erstarrt ist, wie und was wir bewusst empfinden. [VI-325]

Der zweite Aspekt des Filters, der das Bewusstwerden ermöglicht, ist die Logik, die das Denken der Menschen in einem Kulturkreis lenkt.[12] Wie die meisten Menschen annehmen, dass ihre Sprache „natürlich“ sei und andere Sprachen nur andere Wörter für die gleichen Dinge verwenden, nehmen sie auch an, dass die Regeln für das richtige Denken natürlich und allgemeingültig seien und dass, was in einem Kulturkreis unlogisch ist, in jedem anderen ebenfalls unlogisch sei, weil es zur „natürlichen“ Logik im Widerspruch stehe. Ein gutes Beispiel dafür ist der Unterschied zwischen der aristotelischen und der paradoxen Logik.

Die aristotelische Logik beruht auf dem Satz der Identität, der besagt, dass A gleich A ist, auf dem Satz vom Widerspruch (A ist nicht nicht-A) und auf dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (A kann nicht gleichzeitig A und nicht-A, und auch nicht weder A noch nicht-A sein). Aristoteles drückte es so aus: „Es ist unmöglich, dass dasselbe gleichzeitig und in gleicher Hinsicht demselben zukomme und nicht zukomme. (...) Das ist das allergewisseste aller Prinzipien“ (Aristoteles, 1951, Metaphysik 1005b, 19 f.).

Im Gegensatz zur aristotelischen Logik steht die sogenannte paradoxe Logik, die annimmt, dass A und nicht-A einander als Prädikate von X nicht ausschließen. Die paradoxe Logik herrschte im chinesischen und indischen Denken, in der Philosophie Heraklits und ferner unter dem Namen Dialektik in den Gedanken von Hegel und Marx vor. Das allgemeine Prinzip der paradoxen Logik wurde von Laotse deutlich beschrieben: „Worte, die eindeutig wahr sind, scheinen paradox zu sein“, und von Tschuang-tse: „Was Eines ist, ist Eines. Was Nicht-Eines ist, ist ebenfalls Eines.“ (Vgl. F. M. Müller, 1927, S. 120.)

Lebt ein Mensch in einem Kulturkreis, in dem die Richtigkeit der aristotelischen Logik nicht bezweifelt wird, ist es für ihn überaus schwierig, wenn nicht überhaupt unmöglich, sich solcher Erfahrungen bewusst zu werden, die der aristotelischen Logik widersprechen und daher auf dem Standpunkt seiner Kultur unsinnig sind. Ein gutes Beispiel ist Freuds Begriff der Ambivalenz, der besagt, dass man zur gleichen Zeit für die gleiche Person Liebe und Hass empfinden kann. Diese Erfahrung, auf dem Standpunkt der paradoxen Logik durchaus „logisch“, ist auf dem der aristotelischen Logik unsinnig. Das Ergebnis ist, dass es den meisten Menschen überaus schwerfällt, sich ambivalenter Gefühle bewusst zu werden. Wenn sie sich der Liebe bewusst sind, können sie sich nicht des Hasses bewusst sein - da es völlig unsinnig wäre, gleichzeitig gegen dieselbe Person zwei einander widersprechende Gefühle zu haben.[13]

Der dritte Aspekt des Filters neben Sprache und Logik ist der Gehalt von Erfahrungen. In jeder Gesellschaft dürfen gewisse Gedanken und Gefühle nicht gedacht, gefühlt und ausgedrückt werden. Es gibt Dinge, die man nicht nur „nicht tut“, sondern die man „nicht einmal denkt“. In einem Stamm von Kriegern beispielsweise, dessen Mitglieder davon leben, Mitglieder anderer Stämme zu töten und zu berauben, könnte es einen Einzelnen geben, der eine innere Abneigung gegen Töten und Rauben fühlt. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass er sich seines Gefühls bewusst wird, da es mit dem Fühlen des ganzen Stammes unvereinbar wäre. Wenn er sich eines solchen Gefühls bewusst würde, brächte das die Gefahr mit sich, dass er sich völlig isoliert und ausgeschlossen fühlte. Deshalb würde ein Individuum, das eine solche [VI-326] Abneigung fühlt, wahrscheinlich ein psychosomatisches Symptom, etwa Erbrechen, entwickeln, anstatt das Gefühl der Abneigung in sein Bewusstsein dringen zu lassen.

Genau das Gegenteil würde man bei einem Mitglied eines friedlichen, vom Ackerbau lebenden Stammes finden, das den Drang verspürte, Mitglieder anderer Gruppen zu töten und zu berauben. Es würde sich wahrscheinlich ebenfalls nicht gestatten, sich seiner Impulse bewusst zu werden, sondern würde statt dessen ein Symptom entwickeln - vielleicht heftige Angst. Noch ein weiteres Beispiel: Es muss in unseren großen Städten viele Geschäftsinhaber geben, zu denen ein Kunde kommt, der, sagen wir, dringend einen Anzug braucht, der aber nicht genügend Geld hat, um auch nur den billigsten zu kaufen. Unter diesen Geschäftsinhabern muss es einige geben, die den natürlichen menschlichen Impuls haben, dem Kunden den Anzug für den Preis zu überlassen, den er bezahlen kann. Wie viele dieser Geschäftsinhaber werden sich jedoch gestatten, sich eines solchen Impulses bewusst zu werden? Ich glaube, nur sehr wenige. Die Mehrzahl wird ihn verdrängen, und manche von ihnen werden sich vielleicht dem Kunden gegenüber aggressiv verhalten und damit den unbewussten Impuls verdecken, oder sie werden in der folgenden Nacht einen Traum haben, der ihn offenbart.

Wenn wir die Behauptung aufstellen, dass gesellschaftlich unzulässige Inhalte nicht in das Bewusstsein eingelassen werden, werfen wir zwei weitere Fragen auf. Warum stehen gewisse Inhalte zu einer Gesellschaft im Widerspruch? Ferner, warum hat das Individuum Angst davor, sich solcher verbotenen Inhalte bewusst zu werden?

Zur ersten Frage muss ich auf den Begriff des „Gesellschafts-Charakters“ verweisen.[14] Um fortzubestehen, muss jede Gesellschaft den Charakter ihrer Mitglieder so formen, dass sie das tun wollen, was sie tun müssen. Ihre gesellschaftliche Funktion muss zu einem Teil ihrer selbst werden und muss in etwas verwandelt werden, zu dem sie sich getrieben fühlen, und nicht etwas sein, das sie tun müssen. Eine Gesellschaft kann ein Abweichen von diesem Schema nicht dulden, denn wenn dieser „Gesellschafts-Charakter“ seine zusammenhaltende Festigkeit verliert, werden viele Individuen nicht mehr so handeln, wie man es von ihnen erwartet, und der Fortbestand der Gesellschaft in ihrer gegebenen Form wäre gefährdet. Natürlich gibt es Unterschiede in der Strenge, mit der die Gesellschaften ihren Gesellschafts-Charakter und die Einhaltung der Tabus zum Schutze dieses Charakters durchsetzen, aber Tabus, deren Verletzung zur Ächtung führt, gibt es in allen Gesellschaften.

Die zweite Frage lautet, warum das Individuum solche Angst vor der drohenden Gefahr der Ächtung hat, dass es sich nicht gestattet, sich „verbotener“ Triebe bewusst zu werden. Um diese Frage zu beantworten, muss ich auch auf ausführlichere Erklärungen an anderer Stelle verweisen.[15] Um es kurz zu sagen, wenn ein Individuum nicht geisteskrank werden will, muss es in irgendeiner Weise mit anderen in Verbindung treten. Vollkommene Isolierung bringt es an den Rand des Wahnsinns. Zwar fürchtet es, soweit seine Natur animalisch ist, am meisten das Sterben, aber insofern es ein Mensch ist, hat es die größte Angst davor, vollkommen allein zu sein. Diese Angst, und nicht, wie Freud annimmt, Angst vor Kastration, verbietet es ihm, sich solcher Gefühle und Gedanken bewusst zu werden, die unter ein Tabu fallen.

Wir kommen also zu dem Schluss, dass es gesellschaftlich bedingt ist, ob etwas bewusst [VI-327] oder unbewusst ist. Ich bin mir all meiner Gefühle und Gedanken bewusst, die den dreifachen Filter der (gesellschaftlich bedingten) Sprache, der Logik und der Tabus (Gesellschafts-Charakter) passieren dürfen. Empfindungen, die nicht durch den Filter gehen, bleiben außerhalb des Bewusstseins; das heißt, sie bleiben unbewusst.[16]

Im Zusammenhang mit der Betonung der gesellschaftlichen Eigenart des Unbewussten muss man zwei Einschränkungen machen. Die eine, die ziemlich offenkundig ist, besagt, dass es neben den gesellschaftlichen Tabus noch individuelle Auslegungen dieser Tabus gibt, die von Familie zu Familie verschieden sind. Ein Kind, das fürchtet, von seinen Eltern „fallengelassen“ zu werden, weil es sich solcher Empfindungen bewusst wird, die für sie persönlich tabu sind, wird außer der gesellschaftlich normalen Verdrängung auch noch diese Gefühle verdrängen, die der individuelle Aspekt des Filters daran hindert, in das Bewusstsein zu dringen. Andererseits werden Eltern, die innerlich sehr aufgeschlossen sind und wenig „Verdrängungen“ haben, durch ihren Einfluss den gesellschaftlichen Filter (und das Über-Ich) weniger dicht und undurchdringlich machen.

Die andere Einschränkung betrifft eine kompliziertere Erscheinung. Wir verdrängen nicht nur das Bewusstsein der Bestrebungen, die mit dem gesellschaftlichen Denkschema unvereinbar sind, sondern neigen auch dazu, Strebungen zu verdrängen, die mit dem Prinzip des Aufbaus und Wachstums des ganzen Menschen, das heißt mit dem „humanistischen Gewissen“ unvereinbar sind, jener Stimme, die im Namen der vollen Entwicklung unserer Person spricht.

Destruktive Triebe, der Drang, in den Mutterleib oder in den Tod zurückzukehren, oder der Drang, diejenigen aufzufressen, denen ich nahe sein möchte - alle diese und viele andere regressive Triebe mögen mit dem Gesellschafts-Charakter vereinbar sein oder nicht, auf keinen Fall lassen sie sich mit den inhärenten Entwicklungszielen der Natur des Menschen in Einklang bringen. Wenn ein Säugling gesäugt werden möchte, ist das normal, das heißt, es entspricht dem Entwicklungsstadium, in dem er sich gerade befindet. Wenn ein Erwachsener die gleichen Wünsche hat, ist er krank; da er nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von dem Ziel, das seiner Gesamtstruktur angeboren ist, bestimmt wird, fühlt er die Diskrepanz zwischen dem, was er ist, und dem, was er sein sollte; „sollte“ wird hier nicht im Sinne eines sittlichen Gebotes gebraucht, sondern im Sinne der immanenten Entwicklungsziele, die in den Chromosomen liegen, aus denen er sich entwickelt, so wie auch sein zukünftiger Körperbau, seine Augenfarbe usw. bereits in den Chromosomen „vorhanden“ sind.

Wenn der Mensch seinen Kontakt zur sozialen Gruppe, in der er lebt, verliert, bekommt er Angst, dass er vollkommen isoliert wird, und wegen dieser Angst wagt er nicht zu denken, was „man nicht denkt“. Aber der Mensch hat auch Angst, von der Menschlichkeit in seinem Innern, die von seinem Gewissen verkörpert wird, völlig abgeschnitten zu werden. Ganz und gar unmenschlich zu sein erzeugt ebenfalls Angst, [VI-328] wenn auch, wie die Geschichte zu beweisen scheint, weniger als die soziale Ächtung, vorausgesetzt, dass eine ganze Gesellschaft unmenschliche Verhaltensnormen angenommen hat. Je mehr die Lebensnorm einer Gesellschaft der menschlichen Lebensnorm entspricht, um so weniger gibt es einen Konflikt zwischen der Isolierung von der Gesellschaft und der Isolierung von der Menschheit. Je größer der Konflikt zwischen gesellschaftlichen und menschlichen Zielen ist, um so mehr ist das Individuum zwischen den beiden gefährlichen Polen der Isoliertheit hin- und hergerissen. Es bedarf kaum einer Erwähnung, dass ein Mensch die soziale Ächtung um so leichter ertragen kann, je mehr er sich - infolge seiner eigenen intellektuellen und geistigen Entwicklung - mit der Menschheit solidarisch fühlt, und umgekehrt. Die Fähigkeit, seinem Gewissen zu folgen, hängt davon ab, wie weit man über die Grenzen seiner Gesellschaft hinausgewachsen und ein Weltbürger, ein „Kosmopolit“ geworden ist.

Der Einzelne kann es sich nicht gestatten, Gedanken oder Gefühle bewusst werden zu lassen, die mit den Schemata seiner Kultur unvereinbar sind, und er ist daher gezwungen, sie zu verdrängen. In formaler Hinsicht hängt es also (außer von den individuellen, familienbedingten Elementen und dem Einfluss des humanistischen Gewissens) von der Struktur der Gesellschaft und von den Normen für Gefühle und Gedanken ab, die sie aufstellt, was bewusst und was unbewusst ist. Was den Inhalt des Unbewussten betrifft, so ist keine Verallgemeinerung möglich. Eines jedoch kann man sagen: Das Unbewusste repräsentiert stets den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeiten für Licht und Dunkelheit; es enthält stets die Grundlage für die verschiedenen Antworten, die der Mensch auf die Frage des Lebens geben kann. Im extremsten Fall der rückschrittlichsten Kulturen, die nach einer Rückkehr zur tierischen Existenz streben, ist gerade dieser Wunsch vorherrschend und bewusst, während alle Bestrebungen, sich über diese Stufe zu erheben, verdrängt werden. In einer Kultur, die sich vom regressiven zum geistig-progressiven Ziel gewandelt hat, sind jene Kräfte unbewusst, die die Dunkelheit vertreten. Aber in jeder Kultur liegen im Menschen alle Möglichkeiten; er ist der archaische Mensch, das Raubtier, der Kannibale, der Götzenanbeter und das Wesen mit der Fähigkeit zur Vernunft, Liebe und Gerechtigkeit. Der Inhalt des Unbewussten ist also weder das Gute noch das Böse, weder das Rationale noch das Irrationale, sondern beides; er besteht aus allem, was menschlich ist. Das Unbewusste ist der ganze Mensch - abzüglich des Teiles, der seiner Gesellschaft entspricht. Das Bewusstsein repräsentiert den gesellschaftlichen Menschen, dessen zufällige Grenzen durch die historische Situation gezogen sind, in die ein Individuum geworfen ist. Das Unbewusste hingegen verkörpert den universalen, den ganzen Menschen, der im Kosmos verwurzelt ist; es verkörpert die Pflanze, das Tier und den Geist in ihm. Es verkörpert seine Vergangenheit bis zur Morgendämmerung des menschlichen Seins, und seine Zukunft bis zu dem Tag, wo der Mensch vollkommen menschlich und die Natur ebenso vermenschlicht wie der Mensch „natürlich“ geworden sein wird.[17]

Nachdem wir nun das Bewusstsein und das Unbewusste definiert haben, was bedeutet es nun, das Unbewusste bewusst zu machen, die Verdrängung rückgängig zu machen? Nach Freud hatte das Bewusstmachen des Unbewussten nur eine begrenzte Funktion, vor allem deshalb, weil das Unbewusste hauptsächlich aus den verdrängten, triebhaften [VI-329] Begierden bestehen sollte, soweit sie mit dem zivilisierten Leben unvereinbar sind. Er befasste sich mit einzelnen triebhaften Begierden wie den inzestuösen Impulsen, der Kastrationsangst, dem Penisneid usw., von denen man annahm, dass sie in der Entwicklung jedes Einzelnen verdrängt worden waren. Das Bewusstwerden des verdrängten Impulses sollte dazu beitragen, dass er vom siegreichen Ich beherrscht würde. Wenn wir uns von der engen Auffassung Freuds vom Unbewussten freimachen und uns der oben vorgetragenen Auffassung anschließen, gewinnt Freuds Ziel, das Unbewusste in das Bewusstsein zu transformieren („Es in Ich“), eine weitere und tiefere Bedeutung. Wenn das Unbewusste bewusst wird, verwandelt sich die bloße Idee der Universalität des Menschen in die lebendige Erfahrung seiner Universalität; es ist die erfahrungsmäßige Verwirklichung des Humanismus.

Freud erkannte klar, wie Verdrängung den Sinn für Wirklichkeit bei einem Menschen beeinträchtigt und wie die Aufhebung der Verdrängung zu einer neuen Einschätzung der Wirklichkeit führt. Freud nannte den entstellenden Effekt unbewusster Strebungen „Übertragung“; H. S. Sullivan nannte später die gleiche Erscheinung „parataktische Entstellung“. Freud entdeckte zuerst in der Beziehung des Patienten zum Analytiker, dass der Patient den Analytiker nicht so sieht, wie er ist, sondern als Projektion seiner (des Patienten) eigenen Erwartungen, Wünsche und Ängste, wie sie ursprünglich durch seine Erfahrungen mit den wichtigen Personen seiner Kindheit entstanden waren. Nur wenn der Patient mit seinem Unbewussten in Berührung kommt, kann er die Entstellungen überwinden, die er selbst erzeugt hat, und die Person des Analytikers sowie die seines Vaters oder seiner Mutter so sehen, wie sie sind.

Was Freud hier entdeckte, war die Tatsache, dass wir die Wirklichkeit entstellt sehen; dass wir glauben, wir sähen einen Menschen so, wie er ist, während wir in Wahrheit ein projiziertes Bild dieses Menschen sehen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Freud erkannte nicht nur den entstellenden Einfluss der Übertragung, sondern auch die vielen anderen entstellenden Einflüsse der Verdrängung. Wenn ein Mensch von Impulsen getrieben wird, von denen er nichts weiß und die im Widerspruch zu seinem bewussten Denken stehen (das die Forderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit verkörpert), ist es möglich, dass er seine eigenen unbewussten Strebungen auf einen anderen Menschen überträgt und sich ihrer in seinem eigenen Inneren nicht bewusst ist, sondern sie - entrüstet - im anderen Menschen (in der „Projektion“) sieht. Oder er kann vernünftige Gründe für Impulse erfinden, die eigentlich eine völlig andere Ursache haben. Dieses bewusste Argumentieren, eine Pseudoerklärung für Strebungen, deren wahre Motive unbewusst sind, nannte Freud Rationalisierung. Ob es sich nun um Übertragung, Projektion oder Rationalisierung handelt, das meiste von dem, dessen sich der Mensch bewusst wird, ist eine Fiktion - wogegen das, was er verdrängt (das heißt das Unbewusste), wirklich ist.

Wenn wir das, was wir oben über den verdummenden Einfluss der Gesellschaft gesagt haben, und ferner unsere erweiterte Auffassung des Unbewussten in Betracht ziehen, gelangen wir zu einer neuen Auffassung des Bewusstseins und des Unbewussten. Wir können damit beginnen, dass sich der Durchschnittsmensch in Wahrheit in einem Halbschlaf befindet, während er glaubt, wach zu sein. Mit „Halbschlaf“ meine ich, dass er mit der Wirklichkeit nur teilweise in Verbindung steht; das meiste von dem, [VI-330] was er für Wirklichkeit hält (außerhalb oder innerhalb seiner selbst), ist eine Reihe von Fiktionen, die sein Geist konstruiert. Er ist sich der Wirklichkeit nur soweit bewusst, als es sein gesellschaftliches Funktionieren notwendig macht. Er ist sich seiner Mitmenschen in dem Grade bewusst, als er mit ihnen zusammenarbeiten muss; er ist sich der materiellen und sozialen Wirklichkeit soweit bewusst, als er sich ihrer bewusst sein muss, um sie zu gestalten. Er ist sich der Wirklichkeit in dem Ausmaße bewusst, in dem das Ziel des Fortbestehens ein solches Bewusstsein notwendig macht. (Zum Unterschied dazu ist im Zustand des Schlafs das Bewusstsein der äußeren Wirklichkeit aufgehoben, lässt sich jedoch notfalls leicht zurückgewinnen, und im Falle der Geisteskrankheit fehlt das volle Bewusstsein der äußeren Wirklichkeit und kann nicht einmal im Notfall wiedererlangt werden.) Das Bewusstsein des Durchschnittsmenschen ist hauptsächlich ein „falsches Bewusstsein“, das aus Fiktionen und Illusionen besteht, während die Wirklichkeit genau das ist, dessen er sich nicht bewusst ist. Wir können daher zwischen dem, dessen sich ein Mensch bewusst ist, und dem, dessen er sich bewusst wird, unterscheiden. Er ist sich hauptsächlich seiner Fiktionen bewusst; er kann sich der Wirklichkeit, die hinter diesen Fiktionen steckt, bewusst werden.

Es gibt noch einen anderen Aspekt des Unbewussten, der sich aus den vorher besprochenen Voraussetzungen ergibt. Da das Bewusstsein nur den kleinen Sektor gesellschaftlich bestimmter Erfahrungen und das Unbewusste den Reichtum und die Tiefe des ganzen Menschen verkörpert, führt die Verdrängung dazu, dass ich, der zufällige, gesellschaftliche Mensch, von mir, dem ganzen Menschen, getrennt bin. Ich bin mir selbst ein Fremder, und in dem gleichen Grade ist auch jeder andere ein Fremder für mich. Ich bin von dem unermesslichen Bereich menschlichen Empfindens abgeschnitten und bleibe ein menschliches Fragment, ein Krüppel, der nur einen kleinen Teil dessen empfindet, was in ihm und in anderen wirklich ist.

Bis jetzt haben wir nur von der entstellenden Wirkung der Verdrängung gesprochen; es ist jedoch noch ein weiterer Aspekt zu erwähnen, der nicht zur Entstellung führt, sondern dazu, dass eine Empfindung durch das Denken (cerebration) unwirklich gemacht wird. Damit meine ich die Tatsache, dass ich zu sehen glaube - aber nur Worte sehe; dass ich zu fühlen glaube, aber die Gefühle nur denke. Der Mensch, der alles denkerisch verarbeitet, ist der Entfremdete, der Mensch in der Höhle, der, wie in Platos Allegorie, nur Schatten sieht und sie für die unmittelbare Wirklichkeit hält.

Dieser Prozess der gedanklichen Verarbeitung (cerebration) hängt mit der Ambiguität der Sprache zusammen. Sobald ich etwas durch ein Wort ausgedrückt habe, findet eine Entfremdung statt, und die volle Erfahrung ist bereits durch das Wort ersetzt. Die volle Erfahrung besteht tatsächlich nur bis zu dem Augenblick, wo sie sprachlich ausgedrückt wird. Dieser allgemeine Prozess der gedanklichen Verarbeitung (cerebration) ist in der modernen Kultur weiter verbreitet und intensiver als wahrscheinlich je zuvor in der Geschichte. Gerade wegen der zunehmenden Betonung des intellektuellen Wissens als Vorbedingung für wissenschaftliche und technische Leistungen und damit zusammenhängend der Bildung und Erziehung, nehmen die Worte immer mehr die Stellung der Erfahrung ein. Und doch ist sich der betroffene Mensch dessen nicht bewusst. Er glaubt, etwas zu sehen; er glaubt, etwas zu fühlen; und doch hat er kein Empfinden außer Erinnerung und Denken. Wenn er glaubt, er erfasse die [VI-331] Wirklichkeit, ist es nur sein Gehirn-Ich, das sie erfasst, während er, der ganze Mensch, seine Augen, seine Hände, sein Herz, sein Bauch, nichts erfassen - ja er nimmt an der Erfahrung nicht teil, von der er glaubt, dass sie seine Erfahrung sei.

Was geschieht nun also, wenn das Unbewusste bewusst wird? Um diese Frage zu beantworten, sollten wir sie lieber anders formulieren. So etwas wie „das Bewusstsein“ und „das Unbewusste“ gibt es nicht, sondern nur Abstufungen von „bewusst“ und „unbewusst“. Unsere Frage sollte daher lauten: Was geschieht, wenn ich mir dessen bewusst werde, wessen ich mir vorher nicht bewusst war? Nach dem, was bisher gesagt wurde, lautet die allgemeine Antwort auf diese Frage, dass wir durch jeden Schritt in dieser Richtung immer mehr erkennen, wie fiktiv und unwirklich unser „normales“ Bewusstsein ist. Sich des Unbewussten bewusst zu werden und damit sein Bewusstsein zu erweitern, bedeutet, mit der Wirklichkeit und - in diesem Sinne - (intellektuell und affektiv) mit der Wahrheit in Berührung zu kommen. Das Bewusstsein erweitern heißt aufwachen, den Schleier lüften, die Höhle verlassen, Licht in die Finsternis bringen. Ist das die gleiche Erfahrung, die die Zen-Buddhisten „Erleuchtung“ nennen? Ich will auf diese Frage später zurückkommen und an dieser Stelle einen für die Psychoanalyse wichtigen Punkt ausführlicher behandeln, nämlich welcher Art die Einsicht und das Wissen sind, die die Transformierung des Unbewussten ins Bewusstsein bewerkstelligen sollen.[18]

Zweifellos teilte Freud in den ersten Jahren seiner psychoanalytischen Forschung den konventionellen, rationalistischen Glauben, dass das Wissen theoretisch und intellektuell sei. Er glaubte, es genüge, dem Patienten zu erklären, warum gewisse Entwicklungen stattgefunden hatten, und ihm zu sagen, was der Analytiker in seinem Unbewussten gefunden hatte. Dieses intellektuelle Wissen, das „Deutung“ genannt wurde, sollte eine Wandlung im Patienten bewirken. Aber bald mussten Freud und andere Analytiker die Wahrheit von Spinozas Feststellung entdecken, dass das intellektuelle Wissen die Wandlung nur soweit befördert, als es gleichzeitig affektiv ist. Es wurde offenkundig, dass das intellektuelle Wissen als solches keine Wandlung bewirkt, außer vielleicht in dem Sinne, dass ein Mensch durch das intellektuelle Wissen um seine unbewussten Bestrebungen sie vielleicht besser beherrschen kann - was jedoch eher das Ziel der herkömmlichen Ethik und nicht das der Psychoanalyse ist. Solange der Patient die Stellung des objektiven, wissenschaftlichen Beobachters einnimmt, der selbst Gegenstand seiner Untersuchung ist, ist er mit seinem Unbewussten nicht in Berührung, außer dadurch, dass er darüber nachdenkt; er erfährt nicht die weitere, tiefere Wirklichkeit in seinem Innern. Sein Unbewusstes zu entdecken, ist gerade keine intellektuelle Tätigkeit, sondern eine affektive Erfahrung, die sich, wenn überhaupt, kaum in Worte fassen lässt. Das bedeutet nicht, dass Denken und Spekulation der Entdeckung nicht vorausgehen können; aber die Entdeckung selbst ist stets eine totale Erfahrung in dem Sinne, dass die ganze Persönlichkeit sie erfährt; sie ist eine Erfahrung, die durch ihre Spontaneität und Unmittelbarkeit charakterisiert wird. Plötzlich werden einem die Augen geöffnet; man selbst und [VI-332] die Welt erscheinen in einem neuen Licht, werden von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen. Vor dem Erlebnis empfindet man gewöhnlich große Angst, während man nachher ein neues Gefühl der Stärke und Gewissheit hat. Der Vorgang der Entdeckung des Unbewussten kann als Serie sich immer erweiternder Erlebnisse beschrieben werden, die man intensiv empfindet und die über theoretisches, intellektuelles Wissen hinausgehen. Die Bedeutung dieses erlebten Wissens liegt darin, dass es die Art von Wissen und Bewusstsein übersteigt, bei dem sich das intellektualistische Subjekt (subject-intellect) selbst als Objekt betrachtet, und daher geht es über die westliche, rationalistische Auffassung des Wissens hinaus. (Ausnahmen in der westlichen Tradition, bei denen es sich um erlebtes Wissen handelt, findet man in Spinozas höchster Form des Wissens, der Intuition, in Fichtes intellektueller Intuition oder in Bergsons schöpferischem Bewusstsein. Alle diese Kategorien der Intuition gehen über das durch die Trennung von Subjekt und Objekt erworbene Wissen hinaus. Die Bedeutung einer solchen Erfahrung für das Problem des Zen-Buddhismus wird später, in der Diskussion des Zen, geklärt werden.)

In unserer kurzen Skizze der wesentlichen Elemente der Psychoanalyse ist noch ein weiterer Punkt zu erwähnen, nämlich die Rolle des Psychoanalytikers. Ursprünglich unterschied sie sich nicht von der irgendeines Arztes, der einen Patienten „behandelt“. Aber nach einigen Jahren änderte sich die Situation von Grund auf. Freud erkannte, dass es für den Analytiker selbst notwendig ist, sich zu analysieren, das heißt, sich dem gleichen Vorgang zu unterwerfen, dem sich später sein Patient unterziehen sollte. Diese Notwendigkeit wurde so erklärt, dass sich der Analytiker von seinen eigenen blinden Flecken, neurotischen Tendenzen usw. befreien müsse. Aber diese Erklärung scheint schon im Hinblick auf Freuds eigene Ansichten ungenügend, wenn wir seine frühen oben erläuterten Feststellungen in Betracht ziehen, dass der Analytiker ein „Vorbild“ und ein „Lehrer“ sein müsse, der imstande sei, zwischen sich und dem Patienten eine Beziehung herzustellen, die auf „Wahrheitsliebe“ aufgebaut sei und jede Art von „Falschheit und Trug“ ausschließe. Freud scheint hier gefühlt zu haben, dass der Analytiker in seinem Verhältnis zum Patienten eine Funktion besitzt, die über die des Arztes hinausgeht. Aber dennoch änderte er seine Grundauffassung nicht, dass der Analytiker ein distanzierter Beobachter und der Patient sein Beobachtungsobjekt sei.

In der Geschichte der Psychoanalyse wurde diese Vorstellung vom distanzierten Beobachter von zwei Richtungen her modifiziert, und zwar zuerst von Ferenczi, der in seinen letzten Lebensjahren behauptete, es genüge nicht, wenn der Analytiker beobachte und interpretiere, sondern er müsse imstande sein, den Patienten mit genau der Liebe zu lieben, die der Patient als Kind gebraucht und doch niemals erfahren hatte. Ferenczi meint nicht, der Analytiker solle seinem Patienten gegenüber erotische Liebe empfinden, sondern eher eine mütterliche oder väterliche Liebe, oder, um es noch allgemeiner auszudrücken, liebevolle Fürsorge. (Vgl. S. Ferenczi, 1970/1972, und I. de Forest, 1954.) H. S. Sullivan ging an das gleiche Problem von einer anderen Seite heran. Er war der Meinung, der Analytiker dürfe nicht die Haltung eines distanzierten Beobachters, sondern müsse die eines „teilnehmenden Beobachters“ (participant observer) einnehmen, und er versuchte so, über die orthodoxe Auffassung von der Distanziertheit des Analytikers hinauszukommen.

Ich [VI-333] finde, Sullivan ist doch wohl nicht weit genug gegangen, und man sollte den Analytiker eher definieren als „beobachtenden Teilnehmer“ (observant participant) denn als „teilnehmenden Beobachter“. Aber selbst der Ausdruck „Teilnehmer“ drückt nicht ganz das aus, was hier gemeint ist; „teilnehmen“ heißt immer noch, draußen zu stehen. Um eine andere Person zu kennen, muss man in ihr sein, muss man sie selbst sein. Der Analytiker versteht den Patienten nur soweit, als er in seinem Innern alles empfindet, was der Patient empfindet; sonst wird er nur ein intellektuelles Wissen über den Patienten besitzen, aber weder die Empfindungen des Patienten wirklich kennen, noch ihm das Gefühl vermitteln können, dass er seine (des Patienten) Empfindungen teilt und versteht. Es ist eine der wesentlichen Bedingungen des psychoanalytischen Verstehens und Heilens, dass diese produktive Beziehung zwischen Analytiker und Patient besteht, bei der der Analytiker ganz beim Patienten ist, für ihn völlig offen und aufnahmefähig und in dieser Bezogenheit von Person zu Person sozusagen von ihm durchdrungen ist. (Vgl. E. Fromm, Der Mensch ist kein Ding (1957a), GA VIII, S. 21-26.[19]) Der Analytiker muss zum Patienten werden und doch er selbst bleiben. Er muss vergessen, dass er der Arzt ist, und muss sich dessen doch bewusst bleiben. Nur wenn er dieses Paradoxon akzeptiert, kann er Deutungen geben, die Autorität besitzen, weil sie ihre Wurzeln in seiner eigenen Erfahrung haben. Der Analytiker analysiert den Patienten, aber der Patient analysiert den Analytiker ebenfalls, weil der Analytiker, wenn er das Unbewusste seines Patienten teilt, nicht umhin kann, sein eigenes Unbewusstes zu klären. So heilt der Analytiker nicht nur den Patienten, sondern wird auch von ihm geheilt. Nicht nur er versteht den Patienten, sondern mit der Zeit versteht der Patient auch ihn. Wenn dieses Stadium erreicht ist, ist das Ergebnis Solidarität und Gemeinsamkeit.

Dieses Verhältnis zum Patienten muss realistisch und frei von aller Sentimentalität sein. Weder der Analytiker noch sonst ein Mensch kann einen anderen Menschen „erlösen“. Er kann als Führer - oder Hebamme - wirken; er kann ihm den Weg zeigen, Hindernisse aus dem Weg räumen und manchmal direkte Hilfe leisten, aber er kann für den Patienten niemals das tun, was nur der Patient selbst für sich tun kann. Er muss das dem Patienten vollkommen klarmachen, und zwar nicht nur mit Worten, sondern mit seiner ganzen Haltung. Er muss auch betonen, dass er sich der realistischen Situation bewusst ist, die noch beschränkter ist, als es eine Beziehung zwischen zwei Menschen zu sein braucht. Wenn er, der Analytiker, sein eigenes Leben führen und einer Anzahl von Patienten gleichzeitig dienen soll, gibt es zeitliche und räumliche Beschränkungen. Aber das Hier und Jetzt der Begegnung zwischen Patient und Analytiker ist nicht beschränkt. Wenn diese Begegnung während der analytischen Sitzung stattfindet und wenn die beiden miteinander sprechen, gibt es in der ganzen Welt nichts Wichtigeres als ihr Gespräch - und zwar ebenso für den Patienten wie für den Analytiker. In Jahren der Zusammenarbeit mit dem Patienten geht der Analytiker wirklich über die konventionelle Rolle des Arztes hinaus, er wird ein Lehrer, ein Vorbild, vielleicht ein Meister, vorausgesetzt, dass er selbst sich niemals als analysiert betrachtet, bis er das volle Bewusstsein seiner selbst und die volle Freiheit erreicht und seine eigene Entfremdung und Getrenntheit überwunden hat. Die didaktische Analyse des Analytikers ist nicht das Ende, sondern der Beginn einer kontinuierlichen Selbstanalyse, das heißt der Beginn immer größerer Wachheit.

5. Prinzipien des Zen-Buddhismus

Auf den vorstehenden Seiten habe ich eine kurze Skizze der Freudschen Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung in der humanistischen Psychoanalyse gegeben. Ich habe über die Existenz des Menschen und die Frage, die sie aufwirft, gesprochen sowie über das Wesen des Wohl-Seins, das als Überwindung von Entfremdung und Getrenntheit definiert wurde, und über die spezielle Methode, mit der die Psychoanalyse versucht, ihr Ziel zu erreichen, indem sie in das Unbewusste eindringt. Ich habe die Frage behandelt, was das Wesen des Unbewussten und des Bewusstseins ist und was „Wissen“ und „Bewusstwerden“ in der Psychoanalyse bedeuten, und schließlich habe ich die Rolle des Psychoanalytikers bei dem Vorgang besprochen.

Um die Vorbedingungen für eine Diskussion der Beziehungen zwischen der Psychoanalyse und dem Zen zu schaffen, müsste ich eigentlich eine systematische Übersicht über den Zen-Buddhismus geben. Glücklicherweise ist das nicht notwendig, da Dr. Suzukis Vorträge in diesem Buch[20] (sowie seine anderen Veröffentlichungen) genau das Ziel verfolgen, ein Verständnis des Wesens des Zen zu vermitteln, soweit das mit Worten überhaupt möglich ist. Ich muss jedoch von denjenigen Prinzipien des Zen sprechen, die eine direkte Beziehung zur Psychoanalyse haben.

Das Wesentliche am Zen ist der Gewinn von Erleuchtung (Satori). Wer dieses Erlebnis nicht gehabt hat, kann Zen niemals vollkommen verstehen. Da ich selbst Satori nicht erlebt habe, kann ich über Zen nur am Rande und nicht so darüber sprechen, wie man es eigentlich sollte - aus dem Reichtum des Erlebnisses heraus. Aber das ist nicht deshalb, wie C. G. Jung gemeint hat, weil Satori „eine Art und einen Weg der Erleuchtung bezeichnet, welche nachzufühlen dem Europäer fast unmöglich ist“ (C. G. Jung, 1939). In dieser Hinsicht ist Zen für den Europäer nicht schwieriger als Heraklit, Meister Eckhart oder Heidegger. Die Schwierigkeit liegt an der ungeheuren Anstrengung, die zur Erlangung des Satori erforderlich ist; diese Anstrengung ist mehr, als die meisten Menschen auf sich zu nehmen bereit sind, und deshalb ist Satori sogar in Japan selten. Jedoch, wenn ich auch über Zen nicht als Autorität sprechen kann, hat mir das Glück, dass ich Suzukis Bücher kennengelernt, eine ganze Anzahl seiner Vorträge gehört und auch sonst alles über den Zen-Buddhismus gelesen habe, was mir zugänglich war, wenigstens eine ungefähre Vorstellung vermittelt, worin [VI-335] Zen besteht, eine Vorstellung, die, wie ich hoffe, mich befähigt, den Versuch eines Vergleichs zwischen dem Zen-Buddhismus und der Psychoanalyse zu wagen.

Was ist das Hauptziel des Zen? Mit Suzukis Worten:

Zen ist seinem Wesen nach die Kunst, in die Natur seines Seins zu blicken, und es zeigt den Weg von der Knechtschaft zur Freiheit. (...) Wir können sagen, dass das Zen alle Energien freisetzt, die in jedem von uns richtig und natürlich aufgespeichert, aber unter normalen Bedingungen verkrampft und verzerrt sind, so dass sie keinen angemessenen Kanal zur Betätigung finden. (...) Es ist deshalb das Ziel des Zen, uns davor zu bewahren, geisteskrank oder verkrüppelt zu werden. Das verstehe ich unter Freiheit, dass man allen schöpferischen und wohlwollenden Impulsen, die in unseren Herzen schlummern, freien Spielraum lässt. Im allgemeinen sind wir der Tatsache gegenüber blind, dass wir alle notwendigen Fähigkeiten besitzen, die uns glücklich und anderen gegenüber liebevoll machen. (D. T. Suzuki, 1956, S. 3.)

Wir finden in dieser Definition eine Anzahl wesentlicher Aspekte des Zen, die ich gerne hervorheben möchte: Zen ist die Kunst, in die Natur seines Seins zu blicken, es ist ein Weg von der Knechtschaft zur Freiheit, es setzt unsere natürlichen Energien frei, es bewahrt uns davor, geisteskrank oder verkrüppelt zu werden, und es zwingt uns, unserer Fähigkeit zum Glücklichsein und zur Liebe Ausdruck zu verleihen.

Das höchste Ziel des Zen ist das Erlebnis der Erleuchtung, Satori genannt. Dr. Suzuki hat es in diesen Vorträgen und seinen anderen Veröffentlichungen so genau beschrieben, wie dies überhaupt möglich ist. Ich möchte hier einige Aspekte hervorheben, die für den westlichen Leser und vor allem für den Psychologen von besonderer Bedeutung sind. Satori ist keine abnorme Geistesverfassung, es ist kein Trancezustand, in der die Wirklichkeit verschwindet. Es ist kein narzisstischer Gemütszustand, wie man ihn bei manchen religiösen Erscheinungen beobachten kann. Es ist höchstens „der vollkommen normale Zustand des Geistes“. Wie Joshu erklärte: „Zen ist euer tägliches Denken“, und: „es hängt von der Art, wie eine Türangel angebracht ist, ab, ob die Tür nach innen oder nach außen aufgeht“. Satori hat auf den Menschen, der es erlebt, eine eigenartige Wirkung.

Alle deine geistigen Kräfte wirken in einem neuen Grundton, beglückender, friedvoller, freudiger als je zuvor. Die Tonart des Lebens ist geändert. Es liegt etwas Verjüngendes im Besitz des Zen. Die Frühlingsblumen lachen heiterer, der Bergstrom rinnt kühler und klarer zu Tal. (D. T. Suzuki, 1934, S. 97 f.; dt.: S. 136.)

Offensichtlich ist Satori die wahre Erfüllung des Zustandes des Wohl-Seins, den Dr. Suzuki im oben zitierten Absatz beschrieben hat. Wenn wir versuchen, die Erleuchtung mit psychologischen Ausdrücken zu beschreiben, möchte ich sagen, sie sei ein Zustand, in dem der Mensch mit der Wirklichkeit in sich und außerhalb seiner vollkommen übereinstimmt, ein Zustand, in dem er sich ihrer vollkommen bewusst ist und sie vollkommen erfasst. Er ist sich ihrer bewusst - das heißt, weder sein Gehirn noch irgendein anderer Teil seines Organismus, sondern er, der ganze Mensch. Er ist sich ihrer bewusst, und zwar nicht als eines Objektes, das er mit seinem Denken erfasst, sondern ihrer, der Blume, des Hundes, des Menschen, in ihrer oder seiner vollen Realität. Wer erwacht, ist für die Welt offen und aufnahmefähig, und er kann offen und aufnahmefähig sein, weil er aufgehört hat, an sich als an einem Ding festzuhalten, und [VI-336] weil er dadurch leer und aufnahmebereit geworden ist. Erleuchtung bedeutet „das volle Erwachen des ganzen Menschen zur Wirklichkeit“.

Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass der Zustand der Erleuchtung kein Zustand der Dissoziation oder Trance ist, in dem man glaubt, erwacht zu sein, während man in Wirklichkeit tief schläft. Der westliche Psychologe wird natürlich geneigt sein zu glauben, dass Satori nur ein subjektiver Zustand, eine Art selbstinduzierter Trance sei, und selbst ein Psychologe, der dem Zen so anteilnehmend gegenübersteht wie Dr. Jung, verfällt in den gleichen Fehler. Jung schreibt:

Auch die Einbildung ist ein psychischer Vorgang, weshalb es völlig irrelevant ist, ob eine „Erleuchtung“ „wirklich“ oder „eingebildet“ genannt wird. Der, welcher eine Erleuchtung hat oder zu haben vorgibt, meint auf alle Fälle, erleuchtet zu sein. (...) Selbst wenn er löge, wäre seine Lüge eine seelische Tatsache. (C. G. Jung, 1939.)

Das entspricht natürlich Jungs allgemeiner relativistischer Einstellung in Bezug auf die „Wahrheit“ religiöser Erfahrungen. Im Gegensatz zu ihm glaube ich, dass eine Lüge niemals eine „geistige Tatsache“ oder irgendeine andere Tatsache ist, außer, dass sie eine Lüge ist. Wie dem aber auch sein mag, Jungs Einstellung wird ganz gewiss nicht von Zen-Buddhisten geteilt. Im Gegenteil, es ist für sie von höchster Bedeutung, zwischen dem echten Satori-Erlebnis, in dem wirklich ein neuer Gesichtspunkt gefunden wird und das daher wahr ist, und einem Pseudoerlebnis zu unterscheiden, das hysterischer oder psychotischer Natur sein kann und in dem der Zen-Schüler überzeugt ist, dass ihm Satori zuteilwurde, während ihm der Zen-Meister klarmachen muss, dass es nicht der Fall ist. Genau das ist eine der Funktionen des Zen-Meisters, wachsam zu sein, dass der Schüler wirkliche und eingebildete Erleuchtung nicht verwechselt.

Für die Wirklichkeit hellwach zu sein bedeutet, wieder in psychologischen Begriffen gesprochen, dass man eine vollkommen „produktive Orientierung“[21] erlangt hat. Das heißt, dass man sich zur Welt nicht rezeptiv, ausbeutend, hortend oder in der Weise des Marketing-Menschen in Beziehung setzt, sondern schöpferisch und tätig (im Sinne Spinozas). Im Zustand voller Produktivität gibt es keine Schleier, die das Ich vom Nicht-Ich trennen. Das Objekt ist kein Objekt mehr; es steht nicht mehr mir gegenüber, sondern ist bei mir. Die Rose, die ich sehe, ist kein Objekt für mein Denken, so wie wir sagen: „Ich sehe eine Rose“, und damit nur feststellen, dass das Objekt, eine Rose, zu der Gattung „Rose“ gehört, sondern in der Bedeutung: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.“

Der Zustand der Produktivität ist gleichzeitig der Zustand der größten Objektivität; ich sehe das Objekt ohne Entstellung durch meine Gier und Angst. Ich sehe es, wie es ist, nicht wie ich will, dass es ist oder nicht ist. Bei dieser Art der Wahrnehmung gibt es keine parataktischen Entstellungen, sondern sie ist vollkommen lebendig, und es besteht eine Synthese zwischen Subjektivität und Objektivität. Ich erlebe intensiv - und doch bleibt das Objekt das, was es ist. Ich erwecke es zum Leben - und es erweckt mich zum Leben. Das Satori erscheint nur dem geheimnisvoll, der sich nicht bewusst ist, in welchem Ausmaß seine Wahrnehmung der Welt rein gedanklicher oder parataktischer Natur ist. Wenn man sich dessen bewusst ist, ist man sich auch eines anderen Bewusstseins bewusst, das man auch ein vollkommen realistisches Bewusstsein nennen kann. Vielleicht hat man nur Bruchstücke davon empfunden - und doch kann man sich vorstellen, was es ist. Ein kleiner Junge, [VI-337] der Klavier spielen lernt, spielt nicht wie ein großer Künstler. Und doch ist das Spiel des Künstlers nichts Geheimnisvolles, sondern nur die Vervollkommnung des rudimentären Erlebnisses, das der Junge hat.

Dass die unentstellte und ohne Denkarbeit gewonnene Wahrnehmung der Wirklichkeit ein wesentliches Element der Zen-Erfahrung ist, wird in zwei Zen-Geschichten deutlich zum Ausdruck gebracht. Die eine schildert das Gespräch eines Meisters mit einem Mönch:

„Bemühst du dich je, die Wahrheit zu lernen?“
„Ja.“
„Wie übst du dich?“
„Wenn ich hungrig bin, esse ich; wenn ich müde bin, schlafe ich.“
„Das tut doch jeder. Kann man von ihnen sagen, sie übten sich auf die gleiche Weise wie du?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Wenn sie essen, so essen sie nicht, sondern denken an verschiedene andere Dinge und lassen sich hierdurch stören; wenn sie schlafen, so schlafen sie nicht, sondern träumen von tausenderlei Dingen. Deshalb sind sie nicht wie ich.“
(D. T. Suzuki, 1934, S. 86; dt.: S. 120.)

Die Geschichte bedarf kaum einer Erklärung. Der Durchschnittsmensch, der von Unsicherheit, Gier und Angst getrieben wird, ist unaufhörlich in eine Phantasiewelt verstrickt (ohne sich notwendigerweise dessen bewusst zu sein), in der er der Welt Eigenschaften verleiht, die er in sie hineinprojiziert, die aber nicht in ihr vorhanden sind. Das traf schon damals zu, als dieses Gespräch geführt wurde; um wieviel mehr trifft es heute zu, wo fast jeder nur noch mit seinen Gedanken sieht, hört, fühlt und schmeckt, anstatt mit jenen Kräften in ihm, die sehen, hören, fühlen und schmecken können.

Die andere, ebenso bezeichnende Feststellung ist die eines Zen-Meisters, der sagte: „Bevor ich erleuchtet wurde, waren die Flüsse Flüsse und die Berge Berge. Als ich den Weg zur Erleuchtung beschritt, waren die Flüsse keine Flüsse und die Berge keine Berge mehr. Jetzt, da ich erleuchtet bin, sind die Flüsse wieder Flüsse und die Berge wieder Berge.“ Wieder sehen wir die neue Einstellung zur Wirklichkeit. Der Durchschnittsmensch ist wie der Mann in Platos Höhle, der nur die Schatten sieht und sie für die Wirklichkeit hält. Sobald er einmal diesen Irrtum erkannt hat, weiß er nur, dass die Schatten nicht die Wirklichkeit sind. Aber wenn er erleuchtet ist, hat er die Höhle und ihre Finsternis verlassen und ist ins Licht getreten: Hier sieht er die Wirklichkeit und nicht die Schatten. Er ist wach. Solange er im Dunkel ist, kann er das Licht nicht verstehen (wie die Bibel sagt: „Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen“, Jo 1,5). Sobald er aus der Finsternis heraus ist, begreift er den Unterschied zwischen der Schattenwelt, die er sah, und der wirklichen Welt, die er jetzt sieht.

Das Ziel des Zen ist die Kenntnis des eigenen Wesens. Es strebt nach dem „Erkenne dich selbst! „Aber dieses Wissen ist nicht das „wissenschaftliche“ Wissen des modernen Psychologen, das Wissen des Verstandes des Wissenden, der sich als Objekt [VI-338] kennt; die Kenntnis des Selbst im Zen ist ein Wissen, das nicht intellektuell und nicht entfremdet, sondern die Total-Erfahrung ist, in der Wissen und Gewusstes eins werden. Wie es Suzuki ausgedrückt hat: „Die Grundidee des Zen besteht darin, mit dem inneren Wirken unseres Wesens in Berührung zu kommen, und zwar auf die unmittelbarste Weise, ohne auf etwas Äußerliches oder Überlagertes zurückzugreifen.“ (D. T. Suzuki, 1934, S. 44; dt.: S. 60.)

Diese Einsicht in das eigene Wesen ist keine intellektuelle und äußerliche, sondern eine erlebte und sozusagen innere Einsicht. Für das Zen ist dieser Unterschied zwischen intellektuellem und erlebtem Wissen von höchster Wichtigkeit und bildet gleichzeitig eine der Grundschwierigkeiten für den Menschen des Westens, wenn er versucht, Zen zu verstehen. Der Westen (mit nur wenigen Ausnahmen, wie den Mystikern) glaubt seit zweitausend Jahren daran, dass sich eine endgültige Antwort auf das Problem der Existenz gedanklich geben lässt. In der Religion und in der Philosophie ist die „richtige Antwort“ von überragender Bedeutung. Darauf zu bestehen, bildet die Voraussetzung für die Blüte der Naturwissenschaften. In ihnen ist der richtige Gedanke, wenn er auch auf das Problem der Existenz keine endgültige Antwort gibt, ein Teil der Methode, und er ist für die Anwendung des Gedankens auf die Praxis, das heißt für die Technik, notwendig. Das Zen hingegen setzt voraus, dass sich die letzte Antwort auf das Leben nicht durch Denken geben lässt.

Die intellektuelle Schablone von „Ja“ und „Nein“ ist ganz bequem, wenn die Dinge normal laufen, sobald jedoch die letzte Frage des Lebens aufgeworfen wird, ist der Verstand nicht imstande, eine befriedigende Antwort zu geben. (D. T. Suzuki, 1934, S. 67; dt.: S. 93.)

Aus diesem Grunde kann das Satori-Erlebnis niemals mit dem Verstand begreiflich gemacht werden. Es ist

ein Erlebnis, das durch keine Menge von Erklärungen und Argumenten anderen mitgeteilt werden kann, wenn es ihnen nicht bereits zuteil wurde. Wenn sich das Satori analysieren lässt, so dass es dadurch für einen anderen, der es niemals erlebt hat, vollkommen klar wird, so ist dieses Satori kein Satori. Denn ein Satori, das in einen Begriff verwandelt wird, ist nicht mehr es selbst; und es wird kein Zen-Erlebnis mehr geben. (D. T. Suzuki, 1934, S. 92; dt.: S. 128 f.)

Die letzte Antwort auf das Leben lässt sich also durch keine verstandesmäßige Formulierung geben; ja, um die Erleuchtung zu erlangen, muss man auch die vielen konstruierten Gebilde des Geistes fallenlassen, die eine wahre Einsicht behindern.

Das Zen will den Geist frei und unbehindert; selbst die Idee der Einheit und Allheit ist ein Hindernis und ein Fallstrick, die die ursprüngliche Freiheit des Geistes bedrohen. (D. T. Suzuki, 1934, S. 41; dt.: S. 56.)

Als weitere Folge ist der Begriff der Anteilnahme und des Einfühlungsvermögens, die von westlichen Psychologen so sehr betont werden, für das Denken des Zen unannehmbar.

Die Idee der Anteilnahme und des Einfühlungsvermögens ist eine verstandesmäßige Interpretation einer ursprünglichen Empfindung, während die Empfindung selbst keinen Platz für irgendeinen Widerspruch lässt. Aber der Verstand drängt sich auf und zerbricht die Empfindung, damit sie verstandesmäßiger Verarbeitung zugänglich ist, was eine Unterscheidung oder Spaltung bedeutet. Das ursprüngliche Gefühl der Identität geht dann verloren, und der Verstand kann auf seine charakteristische Weise die Wirklichkeit in Stücke brechen. Die Anteilnahme oder das Einfühlungsvermögen ist das Ergebnis der [VI-339] Bearbeitung durch den Verstand. Der Philosoph, der keine ursprüngliche Empfindung hat, wird geneigt sein, sich damit zufriedenzugeben. (D. T. Suzuki 1957, S. 105.)

Nicht nur der Verstand, sondern alle autoritativen Begriffe oder Wendungen beschränken die Spontaneität des Empfindens, deshalb

misst das Zen den heiligen Sutras oder ihrer Auslegung durch die Weisen und Gelehrten keine wesentliche Bedeutung bei. Das persönliche Empfinden wirkt der Autorität und objektiven Offenbarung stark entgegen. (D. T. Suzuki, 1934, S. 34; dt. S. 45.)

Das Zen besteht weder auf einem Gott, noch leugnet es ihn. „Das Zen will absolute Freiheit, selbst Freiheit von Gott“ (D. T. Suzuki, 1934, S. 97; dt.: S. 135). Sogar von Buddha will es gleichermaßen frei sein; deshalb der Ausspruch des Zen: „Reinige deinen Mund, wenn du das Wort Buddha aussprichst.“

Gemäß der Einstellung des Zen zur verstandesmäßigen Einsicht ist sein Lehrziel nicht wie im Westen eine immer größere Verfeinerung des logischen Denkens, sondern seine Methode „besteht darin, jemand in eine Zwangslage zu bringen, aus der er sich bemühen muss, nicht durch Logik, sondern durch einen Geist einer höheren Stufe, zu entkommen“ (D. T. Suzuki, 1934, S. 40; dt.: S. 55). Demgemäß ist der Lehrer nicht ein Lehrer im westlichen Sinne. Er ist ein Meister, weil er seinen eigenen Geist gemeistert hat und daher imstande ist, dem Schüler das einzige mitzuteilen, was sich mitteilen lässt: seine Existenz.

Trotz allem, was der Meister tun kann, kann er doch den Schüler nicht das Ding erfassen lassen, wenn dieser dafür nicht vollkommen vorbereitet ist. (...) Die höchste Wirklichkeit kann man nur selbst erfassen. (D. T. Suzuki, 1956, S. 96.)

Die Einstellung des Zen-Meisters zu seinem Schüler ist für den modernen westlichen Leser verwirrend, der in der Alternative zwischen einer irrationalen Autorität, die die Freiheit beschränkt und ihr Objekt ausbeutet, und einem laissez-faire, das jede Autorität vermissen lässt, gefangen ist. Das Zen stellt eine andere Form der Autorität dar, die „rationale Autorität“. Der Meister ruft den Schüler nicht; er will von ihm nichts, nicht einmal, dass er erleuchtet wird; der Schüler kommt freiwillig und geht freiwillig. Aber wenn er von dem Meister lernen will, muss er die Tatsache anerkennen, dass der Meister ein Meister ist, das heißt, dass der Meister weiß, was der Schüler wissen will und selbst noch nicht weiß. Für den Meister

gibt es nichts, was durch Worte zu erklären wäre, nichts von der Art einer heiligen Lehre. Dreißig Stockschläge, ob du zustimmst oder ablehnst. Steh nicht schweigend da, noch ergehe dich in Reden. (D. T. Suzuki, 1934, S. 49; dt.: S. 68.)

Der Zen-Meister wird gleichzeitig durch das völlige Fehlen jeglicher irrationalen Autorität und durch die gleichermaßen starke Bejahung jener nicht gebieterischen Autorität gekennzeichnet, deren Ursprung genuine Erfahrung ist.

Das Zen lässt sich unmöglich verstehen, wenn man nicht die Idee in Betracht zieht, dass die Verwirklichung der wahren Einsicht unauflöslich mit einer Änderung des Charakters verbunden ist. Hier wurzelt das Zen im buddhistischen Denken, für das die Änderung des Charakters Voraussetzung einer Erlösung ist. Gier nach Besitz oder irgendetwas anderem, Eitelkeit und Selbstverherrlichung muss man hinter sich lassen. Gegen die Vergangenheit ist man dankbar, der Gegenwart dienstbereit und vor der Zukunft verantwortungsbewusst. Im Zen leben heißt „dich selbst und die Welt mit höchster Wertschätzung und Ehrerbietung behandeln“, eine Einstellung, die die [VI-340] Grundlage „geheimer Tugend ist, eines höchst charakteristischen Zuges der Lehre des Zen. Sie bedeutet, dass man natürliche Hilfsquellen nicht vergeudet und alles, dem man begegnet, wirtschaftlich und moralisch voll ausnützt.“

Das positive, ethische Ziel von Zen besteht darin, „vollkommene Sicherheit und Furchtlosigkeit“ zu verwirklichen und von der Knechtschaft zur Freiheit zu gelangen. „Zen ist eine Sache des Charakters und nicht des Verstandes, was bedeutet, dass das Zen aus dem Willen als dem ersten Lebensprinzip erwächst.“ (D. T. Suzuki, 1934, S. 131.)

6. Aufhebung der Verdrängung und Erleuchtung

Was ergibt nun unsere Erörterung im Hinblick auf die Beziehung zwischen der Psychoanalyse und dem Zen? (Wenn ich in diesem Kapitel von „Psychoanalyse“ spreche, meine ich die humanistische Psychoanalyse, eine Weiterentwicklung der Freudschen Analyse, schließe jedoch diejenigen Aspekte der Freudschen Analyse mit ein, die die Grundlage dieser Weiterentwicklung gebildet haben.)

Der Leser wird jetzt davon überzeugt sein, dass die Annahme einer Unvereinbarkeit von Zen-Buddhismus und Psychoanalyse nur aus einer oberflächlichen Betrachtung beider herrühren kann. Im Gegenteil, ihre Verwandtschaft scheint viel auffallender zu sein. Dieses Kapitel soll diese Verwandtschaft im Detail behandeln.

Beginnen wir mit der bereits oben zitierten Feststellung Suzukis über das Ziel des Zen.

Zen ist seinem Wesen nach die Kunst, in die Natur seines Seins zu blicken, und es zeigt den Weg von der Knechtschaft zur Freiheit. (...) Wir können sagen, dass das Zen alle Energien freisetzt, die in jedem von uns richtig und natürlich aufgespeichert, aber unter normalen Bedingungen verkrampft und entstellt sind, so dass sie keinen angemessenen Kanal zur Betätigung finden. (...) Es ist deshalb das Ziel des Zen, uns davor zu bewahren, geisteskrank oder verkrüppelt zu werden. Das verstehe ich unter Freiheit, dass man allen schöpferischen und wohlwollenden Impulsen, die in unseren Herzen schlummern, freien Spielraum lässt. Im allgemeinen sind wir der Tatsache gegenüber blind, dass wir alle notwendigen Fähigkeiten besitzen, die uns glücklich und anderen gegenüber liebevoll machen. (D. T. Suzuki, 1956, S. 3.)

Diese Beschreibung der Ziele des Zen könnte ohne Änderung als Beschreibung dessen verwendet werden, was die Psychoanalyse sich bemüht zu erreichen: Einsicht in die eigene Natur, Verwirklichung von Freiheit, Glück und Liebe, Freisetzung von Energie und Erlösung von geistigem und körperlichem Siechtum.

Diese letzte Feststellung, dass wir vor der Alternative zwischen Erleuchtung oder Wahnsinn stehen, mag bestürzend wirken, wird jedoch meiner Ansicht nach durch beobachtbare Tatsachen bewiesen. Während sich die Psychiatrie mit der Frage befasst, warum einige Menschen geisteskrank werden, lautet die eigentliche Frage, warum die meisten Menschen nicht geisteskrank werden. Wenn man die Stellung des Menschen in der Welt, seine Isoliertheit, seine Einsamkeit, seine Ohnmacht und sein [VI-342] Wissen darum bedenkt, sollte man annehmen, diese Last übersteige seine Kräfte und er müsse ganz wörtlich unter der Belastung „zusammenbrechen“. Die meisten vermeiden ein solches Resultat durch kompensierende Mechanismen wie übertönende Alltagsroutine, Übereinstimmung mit der Masse, Streben nach Macht, Prestige und Geld, Abhängigkeit von Idolen, die man mit anderen in religiösen Kulten teilt, ein aufopferndes, masochistisches Leben, narzisstische Aufgeblasenheit - kurz, indem sie zum Krüppel werden. Alle diese Kompensationen können, wenn sie funktionieren, die geistige Gesundheit bis zu einem gewissen Grad sichern, aber die einzige grundlegende Lösung, die die potenzielle Geisteskrankheit wirklich überwindet, ist das volle, produktive Ja zur Welt, das in seiner höchsten Form Erleuchtung ist.

Bevor wir zum Kernpunkt des Zusammenhangs zwischen Psychoanalyse und Zen kommen, möchte ich noch einige Verwandtschaften ins Auge fassen.

Als erstes ist die dem Zen und der Psychoanalyse gemeinsame ethische Orientierung zu erwähnen. Eine Voraussetzung für die Erreichung der Ziele des Zen ist Überwindung der Gier, sei es Gier nach Besitz oder Ruhm oder irgendeine andere („Begehren“ im Sinne des Alten Testaments). Genau das ist auch das Ziel der Psychoanalyse. Freud hat in seiner Theorie der Entwicklung der Libido von der oral-rezeptiven Phase über die oral-sadistische und anale Phase zur genitalen ausdrücklich betont, dass sich der gesunde Charakter von gieriger, grausamer, geiziger Orientierung zu einer aktiven, unabhängigen Orientierung entwickelt. In meiner eigenen Terminologie, die sich an Freuds klinische Beobachtungen anlehnt, hebe ich dieses Wertelement noch stärker hervor, indem ich von einer Entwicklung von der rezeptiven über die ausbeutende, hortende und Marketing-Orientierung zur produktiven Orientierung spreche. (Vgl. E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik (1947a), GA Il, S. 44-56.) Aber welche Terminologie man auch anwendet, das Wesentliche ist, dass in der psychoanalytischen Auffassung Gier eine pathologische Erscheinung ist; sie tritt dann auf, wenn ein Mensch seine aktiven, produktiven Fähigkeiten nicht entwickelt hat. Und doch sind weder Psychoanalyse noch Zen in erster Linie ethische Systeme. Das Ziel des Zen ist höher als das ethische Verhalten, und das gleiche gilt für die Psychoanalyse. Man könnte sagen, beide Systeme sehen in der Verwirklichung ihrer Ziele eine ethische Wandlung, die Überwindung von Gier und die Fähigkeit, Liebe und Mitgefühl zu empfinden. Sie wollen nicht erreichen, dass ein Mensch durch die Unterdrückung „böser“ Begierden ein tugendhaftes Leben führt, sondern sie erwarten, dass die bösen Begierden unter dem Licht und der Wärme des erweiterten Bewusstseins schmelzen und verschwinden. Aber wie die kausale Zusammenhang zwischen Erleuchtung und ethischer Wandlung auch sein mag, es wäre ein grundlegender Irrtum, anzunehmen, das Ziel des Zen ließe sich von dem Ziel trennen, Gier, Selbstverherrlichung und Dummheit zu überwinden, oder Satori könne ohne Demut, Liebe und Mitgefühl erreicht werden. Ebenso falsch wäre es, das Ziel der Psychoanalyse erreicht zu glauben, wenn nicht im Charakter des Menschen eine ähnliche Wandlung stattgefunden hätte. Ein Mensch, der die produktive Ebene erreicht hat, ist nicht gierig und hat gleichzeitig seine Großartigkeit und die Fiktion seiner Allwissenheit und Allmacht überwunden; er ist bescheiden und sieht sich so, wie er ist. Sowohl Zen als auch Psychoanalyse streben nach etwas, das über die Ethik hinausgeht, und doch lässt sich ihr Ziel nicht verwirklichen, wenn nicht eine ethische Wandlung stattfindet. [VI-343]

Den beiden Systemen ist weiterhin gemeinsam, dass sie auf Unabhängigkeit von jeglicher Autorität bestehen. Dies ist der Hauptgrund, aus dem Freud die Religion kritisiert hat. Nach ihm ist das Wesentliche der Religion die Illusion, die ursprüngliche Abhängigkeit von einem helfenden und strafenden Vater durch eine Abhängigkeit von Gott zu ersetzen. Im Glauben an Gott behält der Mensch nach Freud seine infantile Abhängigkeit bei, anstatt zu reifen, das heißt, sich nur auf seine eigene Kraft zu verlassen. Was hätte Freud zu einer „Religion“ gesagt, die verlangt: „Wenn du Buddhas Namen ausgesprochen hast, reinige deinen Mund!“ Was hätte er zu einer Religion gesagt, in der es keinen Gott und keinerlei irrationale Autorität gibt und deren Hauptziel genau darin besteht, den Menschen von jeglicher Abhängigkeit zu befreien, ihn zu aktivieren und ihm zu zeigen, dass er und kein anderer die Verantwortung für sein Schicksal trägt?

Man könnte allerdings fragen, ob diese anti-autoritäre Einstellung nicht der Bedeutung des Meisters im Zen und des Analytikers in der Psychoanalyse widerspricht. Auch diese Frage berührt einen tiefen Zusammenhang zwischen Zen und Psychoanalyse. In beiden Systemen wird ein Führer benötigt, jemand, der selbst die Erfahrung gemacht hat, die dem Patienten (Schüler) unter seiner Obhut zuteilwerden soll. Bedeutet dies, dass der Schüler vom Meister (oder Psychoanalytiker) abhängig wird und für ihn deshalb die Worte des Meisters die Wahrheit bedeuten? Zweifellos befassen sich Psychoanalytiker mit der Tatsache einer solchen Abhängigkeit (Übertragung) und erkennen den mächtigen Einfluss, den sie gewinnen kann. Aber es ist das Ziel der Psychoanalyse, diese Bindung bewusst zu machen und mit der Zeit aufzulösen und den Patienten so weit zu bringen, dass er vom Analytiker vollkommen frei ist, weil er das Unbewusste in seinem Inneren erkannt und es wieder in sein Bewusstsein aufgenommen hat.

Der Zen-Meister - und das gleiche gilt für den Psychoanalytiker - weiß mehr und kann daher in sein Urteil Vertrauen haben, aber das bedeutet keineswegs, dass er dem Schüler sein Urteil aufzwingt. Er hat den Schüler nicht gerufen und hindert ihn nicht daran, ihn zu verlassen. Wenn der Schüler freiwillig zu ihm kommt und sich von ihm auf dem steilen Pfad zur Erleuchtung führen lassen will, ist der Meister bereit, ihn zu führen, aber nur unter einer Bedingung: Der Schüler muss einsehen, dass er sich um sich selbst kümmern muss, so gern ihm auch der Meister helfen will. Keiner von uns kann die Seele eines andern erlösen, man kann sich nur selbst erlösen. Alles, was der Meister tun kann, ist, die Rolle einer Hebamme oder eines Bergführers zu spielen. Wie es ein Meister ausdrückte: „Es gibt wirklich nichts, was ich dir mitteilen könnte, und wenn ich es versuchte, könntest du mich lächerlich finden. Außerdem ist alles, was ich dir sagen kann, mein Eigentum und kann niemals dir gehören.“

Ein sehr auffallendes und konkretes Beispiel für die Einstellung des Zen-Meisters findet man in Herrigels Buch über die Kunst des Bogenschießens (E. Herrigel, 1960). Der Zen-Meister macht seine rationale Autorität geltend, das heißt, er weiß besser, wie man sich die Kunst des Bogenschießens aneignet, und muss daher auf einer bestimmten Methode, sie zu lernen, bestehen; aber er will keine irrationale Autorität, keine Macht über den Schüler, keine dauernde Abhängigkeit des Schülers vom Meister. Im Gegenteil, sobald der Schüler selbst ein Meister geworden ist, geht er seine [VI-344] eigenen Wege, und das einzige, was der Meister von ihm erwartet, ist von Zeit zu Zeit ein Bild, das ihm zeigt, wie es dem Schüler geht. Man könnte sagen, der Zen-Meister liebe seine Schüler. Seine Liebe ist realistisch und reif und lässt ihn jede Anstrengung machen, um dem Schüler zu helfen, dass er sein Ziel erreicht, und doch weiß er, dass er durch kein Mittel das Problem für den Schüler lösen und das Ziel für ihn erreichen kann. Diese Liebe des Zen-Meisters ist realistisch und nicht sentimental; sie ist eine Liebe, die die Realität des menschlichen Schicksals hinnimmt: dass keiner von uns den anderen erlösen kann und dass wir doch niemals aufhören dürfen, jede Anstrengung zu machen, um einem anderen zu helfen, sich selbst zu erlösen. Jede Liebe, die diese Beschränkung nicht kennt und behauptet, sie könne die Seele eines anderen „erlösen“, ist eine Liebe, die sich von Großspurigkeit und Ehrgeiz nicht freigemacht hat.

Ein weiterer Beweis dafür, dass, was über den Zen-Meister gesagt wurde, im Prinzip auch für den Psychoanalytiker gilt (oder gelten sollte), ist kaum nötig. Freud dachte, die Unabhängigkeit des Patienten vom Analytiker könne am besten durch eine spiegelgleiche, unpersönliche Haltung des Analytikers erreicht werden. Analytiker wie Ferenczi, Sullivan, ich und andere erachten allerdings eine Beziehung zwischen Analytiker und Patienten als notwendig für das Verstehen, stimmen darin jedoch völlig überein, dass diese Beziehung frei sein müsse von jeder Sentimentalität, von unrealistischen Entstellungen und vor allem von jeglicher Einmischung des Analytikers in das Leben des Patienten, selbst der subtilsten und indirektesten. Sie dürfe nicht einmal in der Forderung bestehen, dass er gesund werde. Wenn der Patient gesund werden und sich ändern will, ist das gut, und der Analytiker ist bereit, ihm zu helfen. Wenn sein Widerstand gegen eine Änderung zu groß ist, ist nicht der Analytiker dafür verantwortlich. Dessen ganze Verantwortung besteht darin, auf der Suche nach dem Ziel, um dessentwillen der Patient ihn aufsucht, sein bestes Wissen und alle seine Bemühungen einzusetzen und sich dem Patienten zu schenken.

Im Zusammenhang mit der Einstellung des Analytikers gibt es noch eine weitere Ähnlichkeit zwischen Zen-Buddhismus und Psychoanalyse. Die „Lehr“-Methode des Zen besteht darin, den Schüler sozusagen in die Ecke zu drängen. Das Koan macht es dem Schüler unmöglich, im intellektuellen Denken Zuflucht zu suchen; es wirkt wie eine Schranke, die eine weitere Flucht verhindert. Der Analytiker tut etwas Ähnliches - oder sollte etwas Ähnliches tun. Er muss den Fehler vermeiden, dem Patienten Deutungen und Erklärungen zu bieten, die diesen nur daran hindern, den Sprung vom Denken zum Empfinden zu machen. Er muss ihm im Gegenteil eine Rationalisierung nach der anderen, eine Krücke nach der anderen wegnehmen, bis der Patient nicht mehr länger ausweichen kann und statt dessen die Fiktionen durchbricht, die seinen Geist erfüllen, und bis er Wirklichkeit erlebt - das heißt, sich dessen bewusst wird, wessen er sich zuvor nicht bewusst war. Dieser Vorgang ruft oft große Angst hervor, die manchmal den Durchbruch verhindern würde, wenn nicht die beruhigende Gegenwart des Analytikers wäre. Aber diese Beruhigung besteht darin, dass er „da ist“, und nicht in Worten, die den Patienten hindern können, zu empfinden, was nur er selbst empfinden kann.

Unsere Erörterung hat bis jetzt äußere Berührungspunkte und Ähnlichkeiten zwischen Zen-Buddhismus und Psychoanalyse behandelt. Aber ein solcher Vergleich [VI-345] kann nicht befriedigen, wenn er nicht direkt das Hauptanliegen des Zen, die Erleuchtung, und das Hauptanliegen der Psychoanalyse, die Überwindung der Verdrängung und die Transformierung des Unbewussten ins Bewusstsein, behandelt.

Fassen wir zusammen, was wir bisher über dieses Problem, soweit es die Psychoanalyse betrifft, gesagt haben. Das Ziel der Psychoanalyse besteht darin, das Unbewusste bewusst werden zu lassen. Wenn wir jedoch von „Bewusstsein“ und von „Unbewusstem“ sprechen, nehmen wir Worte für die Wirklichkeit. Wir müssen an der Tatsache festhalten, dass „bewusst“ und „unbewusst“ Funktionen und nicht Orte oder Inhalte bezeichnen. Genaugenommen können wir also nur von Zuständen verschiedenen Grades von Verdrängung sprechen, in denen nur diejenigen Empfindungen in das Bewusstsein dringen können, die den gesellschaftlichen Filter von Sprache, Logik und Gehalt passieren dürfen. In dem Ausmaß, in dem ich mich von diesem Filter befreien und mich als ganzen Menschen empfinden kann, das heißt, in dem Ausmaß, in dem die Verdrängung abnimmt, bin ich mit den tiefsten Quellen in meinem Inneren, das heißt mit der ganzen Menschheit, in Berührung. Wenn jede Verdrängung aufgehoben wurde, gibt es kein Unbewusstes im Gegensatz zum Bewussten mehr, sondern ein direktes, unmittelbares Erleben; im gleichen Ausmaß, in dem ich mir selbst nicht fremd bin, ist mir niemand und nichts fremd. Und ferner, in dem Grad, in dem ein Teil von mir mir selbst entfremdet und mein „Unbewusstes“ von meinem Bewusstsein getrennt ist (das heißt, dass ich, der ganze Mensch, von mir, dem gesellschaftlichen Menschen, getrennt bin), wird die Art und Weise, wie ich die Welt erfasse, auf verschiedene Arten verfälscht. Erstens durch parataktische Entstellungen (Übertragung): Ich erlebe den anderen nicht mit meinem ganzen Ich, sondern mit meinem gespaltenen, infantilen Ich, und daher empfinde ich einen anderen Menschen als wichtige Person meiner Kindheit, und nicht als den Menschen, der er wirklich ist.

Zweitens erlebt der Mensch im Zustand der Verdrängung die Welt mit einem falschen Bewusstsein. Er sieht nicht das, was ist, sondern er projiziert sein Gedankenbild in die Dinge hinein und sieht sie im Licht seiner Gedankenbilder und Phantasien, und nicht in ihrer Realität. Durch das Gedankenbild, die entstellende Maske, entstehen seine Leidenschaften und Ängste. Schließlich erlebt der Mensch mit Verdrängungen keine Dinge und Menschen, sondern sein Erleben ist gedanklicher Natur. Er hat die Illusion, mit der Welt in Berührung zu sein, während er nur mit Worten in Berührung ist. Parataktische Entstellung, falsches Bewusstsein und Intellektualisierung (cerebration) sind nicht streng getrennte Arten von Unwirklichkeit; sie sind vielmehr verschiedene und doch sich überschneidende Aspekte der gleichen Erscheinung von Unwirklichkeit, die so lange vorhanden ist, wie der universale Mensch vom gesellschaftlichen Menschen verschieden ist. Wir beschreiben nur dasselbe Phänomen auf andere Weise, wenn wir sagen, der Mensch, der in einem Zustand der Verdrängung lebt, sei der entfremdete Mensch. Er projiziert seine eigenen Gefühle und Ideen auf Objekte und empfindet dann nicht sich selbst als Subjekt seiner Gefühle, sondern wird von den Objekten beherrscht, die mit seinen Gefühlen beladen sind.[22]

Das Gegenteil der entfremdeten, entstellten, parataktischen, falschen und rein denkerischen Empfindung ist das unmittelbare, direkte, totale Erfassen der Welt, das wir am Kind beobachten, bevor die Macht der Erziehung diese Form des Empfindens [VI-346] verändert. Für das Neugeborene gibt es noch keine Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich. Diese Trennung vollzieht sich allmählich, und ihre Vollendung kommt dadurch zum Ausdruck, dass das Kind „ich“ sagen kann. Aber immer noch erfasst das Kind die Welt verhältnismäßig unmittelbar und direkt. Wenn das Kind mit einem Ball spielt, sieht es den Ball sich wirklich bewegen, es befindet sich vollkommen in diesem Erlebnis und kann es deshalb endlos und mit stets der gleichen Freude wiederholen. Der Erwachsene glaubt ebenfalls, dass er den Ball rollen sieht. Das stimmt natürlich insofern, als er sieht, dass das Objekt Ball über das Objekt Fußboden rollt. Aber er sieht das Rollen nicht wirklich. Er denkt den rollenden Ball auf dem Boden. Wenn er sagt: „Der Ball rollt“, bestätigt er in Wirklichkeit nur (a) sein Wissen, dass der runde Gegenstand dort drüben Ball genannt wird, und (b) sein Wissen, dass runde Gegenstände über eine glatte Fläche rollen, wenn man ihnen einen Anstoß gibt. Seine Augen arbeiten mit dem Ziel, sein Wissen zu beweisen und ihn so seiner Welt sicher zu machen.

Wenn man keine Verdrängungen hat, lernt man wieder, die Wirklichkeit unmittelbar und unentstellt zu erfassen, und erwirbt wieder die Einfachheit und Spontaneität des Kindes. Wenn man durch den Prozess der Entfremdung und der Entwicklung des Verstandes hindurchgegangen ist, bedeutet das Nichtverdrängen die Rückkehr zur Unschuld auf einer höheren Ebene; diese Rückkehr zur Unschuld ist nur möglich, nachdem man seine Unschuld verloren hat.

Diese ganze Idee ist im Alten Testament in der Geschichte vom Sündenfall und in der prophetischen Auffassung vom Messias klar zum Ausdruck gebracht. In der biblischen Geschichte befindet sich der Mensch im Garten Eden in einem Zustand undifferenzierter Einheit. Es gibt kein Bewusstsein, keine Differenzierung, keine Wahl, keine Freiheit, keine Sünde. Er ist ein Teil der Natur und ist sich keines Abstandes zwischen sich und der Natur bewusst. Dieser Zustand ursprünglicher und vor-individueller Einheit wird durch seine erste Entscheidung zerrissen, die gleichzeitig seine erste Tat des Ungehorsams und der Freiheit ist. Diese Tat bringt das Entstehen des Bewusstseins mit sich. Der Mensch ist sich seiner selbst als Er, seiner Getrenntheit von Eva, der Frau, und von der Natur, den Tieren und der Erde bewusst. Wenn er dieses Getrenntsein empfindet, schämt er sich - so wie wir uns noch immer (wenn auch unbewusst) schämen, wenn wir unser Getrenntsein von unseren Mitmenschen empfinden. Er verlässt den Garten Eden, und das ist der Beginn der Geschichte der Menschheit. Er kann nicht in den ursprünglichen Zustand der Harmonie zurückkehren, aber er kann einen neuen Zustand der Harmonie anstreben, indem er seine Vernunft, seine Objektivität, sein Gewissen und seine Liebe vollkommen entwickelt, so dass, wie die Propheten es ausdrücken, „das Land voll Erkenntnis des Herrn ist, wie Wasser das Meer bedeckt“ (Jes 11,9). Die Geschichte ist in der messianischen Auffassung der Ort, wo sich diese Entwicklung von der vor-individuellen, vor-bewussten Harmonie zu einer neuen Harmonie, die sich auf Vollendung und Vervollkommnung der Entwicklung der Vernunft gründet, vollziehen wird. Dieser neue Zustand der Harmonie wird die Messianische Zeit genannt, in der es zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mensch keinen Konflikt mehr geben wird, wo die Wüste zu einem fruchtbaren Tal wird und wo Wolf und Lamm Seite an Seite ruhen und die Schwerter [VI-347] zu Pflugscharen werden. Die Messianische Zeit ist die Zeit des Gartens Eden und doch ihr Gegenteil. Sie ist das Einssein, die Unmittelbarkeit und Ganzheit des vollentwickelten Menschen, der wieder zum Kind geworden und doch darüber hinausgewachsen ist.

Die gleiche Idee wird im Neuen Testament zum Ausdruck gebracht: „Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt, als wäre er ein Kind, wird nicht hineinkommen“ (Lk 18,17). Der Sinn ist klar: Wir müssen wieder zu Kindern werden, um die Welt unentfremdet und schöpferisch zu erfassen; aber während wir zu Kindern werden, sind wir gleichzeitig keine Kinder, sondern vollentwickelte Erwachsene. Dann haben wir wirklich das Erlebnis, das das Neue Testament folgendermaßen beschreibt: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich ganz erkennen, so wie ich auch ganz erkannt bin“ (1 Kor 13,12). „Sich des Unbewussten bewusst werden“ heißt, die Verdrängungen und Entfremdung von mir, und damit von dem Fremden, zu überwinden. Es bedeutet aufzuwachen, Illusionen, Fiktionen und Lügen abzuschütteln und die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.

Der Mensch, der erwacht, ist der befreite Mensch, der Mensch, dessen Freiheit weder von ihm noch von anderen eingeschränkt werden kann. Der Vorgang, dass man sich dessen bewusst wird, wessen man sich nicht bewusst war, bildet die innere Revolution des Menschen. Es ist das wahre Erwachen, das an der Wurzel sowohl des schöpferischen intellektuellen Denkens als auch des intuitiven, unmittelbaren Erfassens liegt. Lügen kann man allein im Zustand der Entfremdung, wo man die Wirklichkeit nur als Gedanken empfindet. Wenn man für die Wirklichkeit offen, das heißt, wenn man erwacht ist, ist Lügen unmöglich, weil die Lüge unter der Kraft des vollen Erlebens dahinschmelzen würde. Schließlich bedeutet das Unbewusste bewusst zu machen, dass man in der Wahrheit lebt. Die Wirklichkeit ist nicht mehr entfremdet, ich bin für sie offen, ich lasse sie existieren; daher sind meine Reaktionen auf sie „wahr“.

Dieses Ziel, dass man die Welt unmittelbar und voll erfasst, ist auch das Ziel des Zen. Da Suzuki in diesem Buch ein Kapitel über das Unbewusste geschrieben hat, kann ich auf seinen Beitrag verweisen und hier versuchen, den Zusammenhang zwischen der Auffassung der Psychoanalyse und der des Zen noch weiter zu klären.

Zunächst möchte ich auf eine Schwierigkeit in der Terminologie hinweisen, die meiner Ansicht nach die Sache unnötig kompliziert, nämlich die Verwendung der Begriffe „Bewusstsein“ und „das Unbewusste“ anstatt des funktionellen Begriffes, dass sich der ganze Mensch der Empfindung mehr oder weniger stark bewusst ist. Ich glaube, wenn wir unsere Erörterung von diesen terminologischen Hindernissen befreien, können wir den Zusammenhang zwischen dem, was es wirklich bedeutet, das Unbewusste bewusst zu machen, und der Idee der Erleuchtung leichter erkennen.

„Die Methode des Zen besteht darin, in den Gegenstand selbst einzudringen und ihn sozusagen von innen zu sehen. „Dieses unmittelbare Erfassen der Wirklichkeit „kann man auch triebhaft oder schöpferisch nennen“. Suzuki spricht dann von dieser Quelle der Schöpferkraft als vom „Unbewussten des Zen“ und fährt fort: „Das Unbewusste ist etwas, das man fühlt, und zwar nicht im gewöhnlichen Sinne, sondern was ich den [VI-348] elementarsten oder fundamentalsten Sinn nennen möchte.“ Die Formulierung spricht hier vom Unbewussten als von einem Bereich innerhalb der Persönlichkeit, der gleichzeitig über sie hinausreicht, und wie Suzuki weiter sagt: „Das Gefühl des Unbewussten ist grundlegend und elementar.“ Wenn ich das in funktionelle Begriffe übersetze, würde ich nicht sagen, man fühle „das Unbewusste“, sondern vielmehr, man sei sich eines tieferen und nicht konventionalisierten Bereichs des Empfindens bewusst, oder anders ausgedrückt, der Grad der Verdrängung und somit die parataktische Entstellung, die projizierten Bilder und die rein gedankliche Verarbeitung der Wirklichkeit würden verringert. Wenn Suzuki sagt, der Zen-Anhänger stehe „in direkter Verbindung mit dem großen Unbewussten“, würde ich folgende Formulierung vorziehen: Er ist sich seiner eigenen Wirklichkeit und der Wirklichkeit der Welt in ihrer vollen Tiefe und ohne Maske bewusst. Ein wenig später verwendet Suzuki die gleiche funktionelle Sprache, wenn er sagt:

Vielmehr ist es (das Unbewusste) im Gegenteil das uns Vertrauteste, und gerade wegen dieser Vertrautheit lässt es sich schwer greifen, so wie auch das Auge sich selbst nicht sehen kann. Um sich daher des Unbewussten bewusst zu werden, muss das Bewusstsein besonders geübt werden. (D. T. Suzuki, 1960, S. 18; dt.: S. 30 - Hervorhebungen E. F.)

Hier wählt Suzuki eine Formulierung, die man auch vom psychoanalytischen Standpunkt aus gewählt hätte: Das Ziel besteht darin, sich des Unbewussten bewusst zu werden, und um dieses Ziel zu erreichen, muss das Bewusstsein besonders geübt werden. Bedeutet dies, dass Zen und Psychoanalyse das gleiche Ziel haben und sich nur darin unterscheiden, welche Schulung des Bewusstseins sie entwickelt haben? Bevor wir auf diesen Punkt zurückkommen, möchte ich noch einige weitere Punkte besprechen, die der Klärung bedürfen.

In seinem Beitrag bezieht sich Suzuki auf das gleiche Problem, das ich weiter oben in meiner Besprechung der psychoanalytischen Auffassung erwähnt habe, nämlich auf das Problem des Gegensatzes zwischen dem Wissen und dem Zustand der Unschuld. Was man im biblischen Sinne Verlust der Unschuld durch Erwerb von Wissen nennt, heißt im Zen und im Buddhismus im allgemeinen „affektive Verseuchung“ (Klesha) oder „Einmengung des bewussten Geistes, der vom Verstand beherrscht ist“ (Vijnana). Der Begriff Verstandesarbeit wirft eine sehr wichtige Frage auf: Ist Verstandesarbeit dasselbe wie Bewusstsein? In diesem Fall würde die Bewusstmachung des Unbewussten die Förderung von Verstandesarbeit bedeuten und damit zu einem Ziel führen, das dem des Zen genau entgegengesetzt ist. Wenn dies der Fall wäre, dann wären wahrhaftig die Ziele der Psychoanalyse und des Zen diametral entgegengesetzt, weil das eine nach mehr Verstandesarbeit, das andere nach Überwindung der Verstandesarbeit strebte.

Man muss zugeben, dass Freud in den frühen Jahren seiner Arbeit, als er noch glaubte, es genüge zur Heilung, wenn der Psychoanalytiker dem Patienten die richtige Information gebe, die verstandesmäßige Verarbeitung als das Ziel der Psychoanalyse betrachtete; man muss ferner zugeben, dass sich viele Analytiker in der Praxis noch immer nicht von dieser Auffassung freigemacht haben und dass Freud niemals in voller Klarheit über den Unterschied zwischen verstandesmäßiger Verarbeitung und affektivem Gesamterlebnis gesprochen hat, das beim echten „Durcharbeiten“ auftritt. [VI-349] Und doch ist es genau diese empfundene und nicht-intellektuelle Einsicht, die das Ziel der Psychoanalyse ist. Wie ich bereits sagte, ist es nicht das gleiche, ob ich mir bewusst bin, dass ich atme, oder ob ich über mein Atmen nachdenke. Wenn ich mir der Bewegung meiner Hand bewusst bin, heißt das nicht, dass ich daran denke. Im Gegenteil, sobald ich an mein Atmen oder an die Bewegung meiner Hand denke, bin ich mir des Atmens oder der Handbewegung nicht mehr bewusst. Das gleiche gilt, wenn ich mir einer Blume oder eines Menschen, meiner Empfindung der Freude, der Liebe oder des Friedens bewusst bin. Es ist in der Psychoanalyse für jede wahre Einsicht charakteristisch, dass man sie gedanklich nicht formulieren kann, während es für jede schlechte Analyse charakteristisch ist, dass die „Einsicht“ in komplizierte Theorien gefasst ist, die mit dem unmittelbaren Empfinden nichts zu tun haben. Die authentische psychoanalytische Einsicht kommt unvermittelt, sie tritt nicht erzwungen oder vorsätzlich auf. Sie beginnt nicht in unserem Gehirn, sondern, um ein japanisches Bild zu verwenden, in unserem Bauch. Sie lässt sich nicht ausreichend in Worte fassen und weicht uns aus, wenn wir es versuchen; und doch ist sie wirklich und bewusst und lässt den Menschen, der sie empfindet, verändert zurück.

Das Kleinkind erfasst die Welt unmittelbar, weil bei ihm das Bewusstsein, die Objektivität und der Sinn dafür, dass die Wirklichkeit vom Ich getrennt ist, noch nicht voll entwickelt sind. In diesem Stadium ist „das Unbewusste instinktiv und geht über das von Tieren oder kleinen Kindern nicht hinaus. Es kann nicht das Unbewusste des reifen Menschen sein“ (D. T. Suzuki, 1960, S. 19; dt. S. 31). Während der Wandlung vom primitiven Unbewussten zum Ich-Bewusstsein empfindet man infolge der Kluft zwischen Subjekt und Objekt, der Trennung zwischen dem universalen Menschen und dem gesellschaftlichen Menschen, zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein, die Welt als entfremdete Welt. In dem Maße jedoch, in dem das Bewusstsein geübt wird, sich zu öffnen und den dreifachen Filter zu lockern, verschwindet die Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten. Wenn sie vollständig verschwunden ist, ist das Empfinden direkt, unreflektiert, bewusst und das gleiche, wie man es ohne Verstandesarbeit und ohne Nachdenken hat. Dieses Wissen ist das, was Spinoza die höchste Form des Wissens, Intuition, nannte; das Wissen, das Suzuki so beschreibt, dass man „direkt in das Objekt selbst eindringt und es sozusagen von innen sieht“; es ist die konative oder schöpferische Art, die Wirklichkeit zu sehen. Wenn der Mensch die Welt unmittelbar und ohne Nachdenken erfasst, wird er durch dieses Erlebnis zum „schöpferischen Künstler des Lebens“, der wir alle sind und es doch vergessen haben.

Jede seiner (des schöpferischen Künstlers des Lebens) Handlungen ist Ausdruck seiner Originalität, Kreativität und lebendigen Persönlichkeit. In ihm gibt es keine Konventionalität, keine Konformität, keine hemmende Motivierung. (...) Sein Ich ist nicht in seiner fragmentarischen, begrenzten, gehemmten egozentrischen Existenz eingekerkert; er hat sein Gefängnis verlassen. (D. T. Suzuki, 1960, S. 19 und 16; dt.: S. 31 und 27.)

Wenn sich der „reife Mensch“ von der „affektiven Verseuchung“ und vom Dazwischentreten des Verstandes gereinigt hat, kann er „ein Leben der Freiheit und Spontaneität führen, in dem ihn solche beunruhigenden Gefühle wie Furcht, Angst oder Unsicherheit nicht überfallen können“ (D. T. Suzuki, 1960, S. 20; dt.: S. 32). Was Suzuki hier [VI-350] von der befreienden Funktion dieser Errungenschaften sagt, ist das gleiche, was man vom psychologischen Standpunkt aus über die erwartete Wirkung der vollen Einsicht sagen würde.

Es bleibt noch eine Frage der Terminologie zu klären, die ich nur kurz erwähnen will, da sie wie alle terminologischen Fragen nicht sehr wichtig ist. Ich habe bereits erwähnt, dass Suzuki davon spricht, das Bewusstsein zu üben; aber an anderen Stellen spricht er vom „trainierten Unbewussten, in das alle bewussten Erfahrungen, die er seit seiner Kindheit gemacht hat, aufgenommen sind, weil sie zusammen sein ganzes Wesen ausmachen“ (D. T. Suzuki, 1960, S. 19; dt.: S. 32 - Hervorhebungen E. F.). Man könnte darin einen Widerspruch sehen, dass einmal von „trainiertem Bewusstsein“ und ein andermal von „trainiertem Unbewussten“ gesprochen wird. Aber in Wirklichkeit glaube ich nicht, dass wir es hier überhaupt mit einem Widerspruch zu tun haben. Wenn das Unbewusste bewusstgemacht wird und man zur vollen und daher unreflektierten Realität des Empfindens gelangt, müssen sowohl das Bewusstsein als auch das Unbewusste geübt werden. Das Bewusstsein muss geübt werden, so dass es sich nicht mehr auf den herkömmlichen Filter verlässt, und das Unbewusste, damit es aus seiner geheimen, getrennten Existenz ins Licht tritt. Aber in Wirklichkeit verwenden wir nur Metaphern, wenn wir davon sprechen, das Bewusstsein und das Unbewusste zu üben. Weder das Unbewusste noch das Bewusstsein brauchen geübt zu werden (da es weder ein Bewusstsein noch ein Unbewusstes gibt), sondern der Mensch muss lernen, seine Verdrängungen fallen zu lassen und die Wirklichkeit voll, klar und bewusst und doch ohne intellektuelle Reflexion zu erleben, außer dort, wo sie notwendig oder erwünscht ist, wie in der Wissenschaft und in praktischen Beschäftigungen.

Suzuki schlägt vor, dieses Unbewusste das kosmische Unbewusste zu nennen. Gegen diesen Ausdruck gibt es natürlich kein stichhaltiges Argument, vorausgesetzt, er wird so klar erklärt wie in Suzukis Text. Trotzdem würde ich lieber den Ausdruck „kosmisches Bewusstsein“ verwenden, den Bucke zur Bezeichnung einer neuen, im Entstehen begriffenen Form des Bewusstseins benutzte.[23] Ich möchte diesen Begriff vorziehen, denn in dem Maße wie das Unbewusste bewusst wird, hört es auf, unbewusst zu sein (wobei wir stets beachten, dass es nicht zur gedanklichen Überlegung wird). Das kosmische Unbewusste ist nur so lange unbewusst, als wir von ihm getrennt sind, das heißt, solange wir uns der Wirklichkeit nicht bewusst sind. In dem Grad, wie wir erwachen und mit der Wirklichkeit in Berührung kommen, gibt es nichts, dessen wir uns nicht bewusst sind. Mit dem Begriff „kosmisches Bewusstsein“ soll jedoch die Funktion des Bewusstseins und nicht ein Ort innerhalb der Persönlichkeit bezeichnet werden. [VI-351]

Was ergibt diese ganze Diskussion in Bezug auf die Beziehungen zwischen Zen-Buddhismus und Psychoanalyse?

Das Ziel des Zen ist die Erleuchtung: das unmittelbare, unreflektierte Erfassen der Wirklichkeit ohne affektive Versuchung und Verstandesarbeit, und die Erkenntnis der Beziehung zwischen mir und dem Universum. Diese neue Erfahrung ist eine Wiederholung des vor-intellektuellen, unmittelbaren Erfassens des Kindes, aber auf einer neuen Ebene, auf der die Vernunft, Objektivität und Individualität des Menschen voll entwickelt sind. Während die Erfahrung der Unmittelbarkeit und des Einsseins beim Kind vor der Erfahrung der Entfremdung und der Kluft in Subjekt und Objekt liegt, kommt das Erlebnis der Erleuchtung danach.

Das Ziel der Psychoanalyse, wie es von Freud formuliert wurde, besteht darin, das Unbewusste bewusst zu machen, Es durch Ich zu ersetzen. Sicherlich war der Inhalt des Unbewussten, der freigelegt werden sollte, auf einen kleinen Sektor der Persönlichkeit begrenzt, und zwar auf jene triebhaften Strebungen, die in der frühen Kindheit wirksam waren, jedoch der Amnesie anheimfielen. Diese aus dem Zustand der Verdrängung zu befreien, war das Ziel der psychoanalytischen Technik. Ferner wurde, ganz abgesehen von Freuds theoretischen Voraussetzungen, der freizulegende Sektor durch die therapeutische Notwendigkeit bestimmt, ein bestimmtes Symptom zu heilen. Für die Freilegung des Unbewussten außerhalb des Sektors, der mit der Symptombildung in Zusammenhang stand, bestand wenig Interesse. Allmählich haben die Einführung der Begriffe des Todestriebs und des Eros und die Entwicklung der Ich-Aspekte in den letzten Jahren eine gewisse Erweiterung der Freudschen Auffassungen über den Inhalt des Unbewussten mit sich gebracht. Die von Freud unabhängigen Schulen haben den Sektor des Unbewussten, der freigelegt werden soll, stark vergrößert. Am radikalsten haben Jung, aber auch Adler, Rank und die anderen jüngeren sogenannten Neo-Freudianer zu dieser Erweiterung beigetragen. Aber das Ausmaß des freizulegenden Sektors blieb (mit Ausnahme von Jung) trotz einer solchen Erweiterung durch das therapeutische Ziel der Heilung von diesem oder jenem Symptom oder neurotischen Charakterzug bestimmt und umfasste nicht den ganzen Menschen.

Wenn man jedoch Freuds ursprüngliches Ziel, das Unbewusste bewusst zu machen, bis zur letzten Konsequenz verfolgt, muss man es von den Beschränkungen befreien, die ihm Freuds eigene Ausrichtung auf die Triebe und die Aufgabe, Symptome zu heilen, auferlegt haben. Wenn man das Ziel verfolgt, das Unbewusste vollständig freizulegen, ist diese Aufgabe weder auf die Triebe noch auf andere begrenzte Teile des Empfindens beschränkt, sondern umfasst das gesamte Empfinden des ganzen Menschen; dann besteht das Ziel in der Überwindung der Entfremdung und der Subjekt-Objekt-Kluft bei der Wahrnehmung der Welt; dann bedeutet die Freilegung des [VI-352] Unbewussten die Überwindung der affektiven Versuchung und der rein gedanklichen Bewältigung; sie bedeutet die Befreiung des Verdrängten, die Aufhebung der Kluft in mir zwischen dem universalen Menschen und dem gesellschaftlichen Menschen; sie bedeutet das Verschwinden der Polarität von Bewusstsein gegenüber Unbewusstem; sie bedeutet, dass man die Wirklichkeit unmittelbar, ohne Entstellung und ohne Dazwischentreten der intellektuellen Reflexion erfasst; sie bedeutet die Überwindung des Verlangens, am eigenen Ich festzuhalten und es anzubeten; sie bedeutet die Aufgabe der Illusion von einem unzerstörbaren, isolierten Ich, das vergrößert und bewahrt werden muss, wie die ägyptischen Pharaonen hofften, sich durch Mumifizierung für die Ewigkeit zu bewahren. Sich des Unbewussten bewusst zu sein bedeutet, offen und aufnahmebereit zu sein und nicht zu haben, sondern zu sein.

Dieses Ziel, das Unbewusste durch das Bewusstsein vollständig zu erobern, ist ganz eindeutig viel tiefgreifender als das allgemeine Ziel der Psychoanalyse. Die Gründe hierfür sind leicht einzusehen. Dieses Gesamtziel zu erreichen erfordert eine Anstrengung, die weit größer ist, als die meisten Menschen des Westens bereit sind auf sich zu nehmen. Aber ganz abgesehen von der Frage der Anstrengung ist es nur unter gewissen Bedingungen möglich, dieses Ziel auch nur ins Auge zu fassen. Erstens lässt sich dieses tiefgreifende Ziel nur vom Standpunkt einer gewissen philosophischen Einstellung heraus anstreben. Diese Einstellung braucht im einzelnen nicht beschrieben zu werden. Es mag genügen zu sagen, dass durch sie nicht das negative Ziel des Fehlens einer Krankheit, sondern das positive Ziel des Vorhandenseins des Wohl-Seins angestrebt wird, und dass unter Wohl-Sein die volle Einheit und das unmittelbare und unverseuchte Erfassen der Welt verstanden wird.

Dieses Ziel könnte man nicht besser beschreiben, als es Suzuki mit dem Ausdruck „die Kunst des Lebens“ getan hat. Man muss sich vor Augen halten, dass jede solche Auffassung, die dieser Kunst des Lebens entspricht, aus dem Boden einer geistig-humanistischen Orientierung erwächst, wie sie der Lehre Buddhas, der Propheten, Jesu, Meister Eckharts oder der von Männern wie Blake, Walt Whitman oder Bucke zugrunde liegt. Wenn man sie nicht in diesem Zusammenhang sieht, verliert die Auffassung von der „Kunst des Lebens“ alles Spezifische und entartet zu einer Auffassung, die heutzutage unter dem Namen „Glück“ verbreitet ist. Man darf ferner nicht vergessen, dass diese Orientierung ein ethisches Ziel enthält. Obwohl das Zen über die Ethik hinausgeht, enthält es doch die ethischen Grundziele des Buddhismus, die im wesentlichen die gleichen sind wie die aller humanistischen Lehren. Wie es Suzuki sehr klar ausgesprochen hat, bedeutet die Erreichung des Zieles des Zen die Überwindung von Gier in jeder Form, sei es Gier nach Besitz, nach Ruhm oder nach Zuneigung; sie bedeutet die Überwindung der narzisstischen Selbstverherrlichung und der Illusion der Allmacht. Sie bedeutet ferner die Überwindung des Bestrebens, sich einer Autorität zu unterwerfen, die das Problem der Existenz für uns löst. Wer das Unbewusste nur zur Heilung einer Krankheit freilegen will, wird natürlich nicht einmal versuchen, das tiefgreifende Ziel zu erreichen, das in der Überwindung der Verdrängungen besteht.

Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass das tiefgreifende Ziel der Befreiung des Verdrängten keinen Zusammenhang mit einem therapeutischen Ziel habe. Wie man erkannt hat, dass es ohne Analyse und Änderung des Charakters nicht möglich ist, ein [VI-353] Symptom zu heilen und zukünftige Symptombildungen zu verhindern, muss man ebenso erkennen, dass es nicht möglich ist, diesen oder jenen neurotischen Charakterzug zu ändern, ohne das radikalere Ziel einer vollkommenen Wandlung der Persönlichkeit zu verfolgen. Es ist sehr leicht möglich, dass die verhältnismäßig enttäuschenden Ergebnisse der Charakteranalyse (die von keinem ehrlicher eingestanden wurden als in der Schrift Die endliche und die unendliche Analyse (1937c) von Sigmund Freud selbst) gerade auf die Tatsache zurückzuführen sind, dass die Ziele bei einer Therapie des neurotischen Charakters nicht tiefgreifend genug waren; dass Wohl-Sein und Freiheit von Angst und Unsicherheit nur verwirklicht werden können, wenn man über das begrenzte Ziel hinausgeht, das heißt, wenn man erkennt, dass sich das begrenzte therapeutische Ziel nicht erreichen lässt, solange es begrenzt bleibt und nicht Teil eines weiteren, humanistischen Systems wird. Vielleicht lässt sich das begrenzte Ziel mit begrenzteren und weniger zeitraubenden Methoden erreichen, während die im langen analytischen Prozess aufgewandte Zeit und Energie nur für das grundlegende Ziel der „Wandlung“ und nicht für das begrenzte Ziel einer „Reform“ fruchtbar eingesetzt werden.

Diese Auffassung ließe sich vielleicht durch eine weiter oben getroffene Feststellung stützen: Solange der Mensch nicht die schöpferische Bezogenheit erreicht hat, deren höchste Leistung das Satori ist, kompensiert er bestenfalls eine inhärente potenzielle Depression durch Routine, Götzendienst, Zerstörungsdrang, Gier nach Besitz oder Ruhm usw. Wenn eine dieser Kompensationen versagt, ist seine geistige Gesundheit in Gefahr. Die Heilung der potenziellen Geisteskrankheit besteht nur darin, sich von Gespaltenheit und Entfremdung weg, und zum schöpferischen, unmittelbaren Erfassen und Reagieren auf die Welt hin zu wenden. Wenn die Psychoanalyse auf diese Weise helfen kann, kann sie dazu beitragen, wahre geistige Gesundheit zu erlangen; wenn nicht, wird sie nur helfen, kompensierende Mechanismen zu verbessern. Noch anders ausgedrückt, man kann jemand von einem Symptom, aber nicht von einer charakterlichen Neurose „heilen“. Der Mensch ist kein Ding (vgl. E. Fromm, 1957a, GA VIII, S. 21-26), er ist kein „Fall“, und der Analytiker heilt keinen, indem er ihn als Objekt behandelt. Vielmehr kann der Analytiker dem „Patienten“ nur helfen aufzuwachen, wenn er sich mit ihm in einem Prozess gegenseitigen Verstehens befindet, das heißt, wenn sie ihr Einssein empfinden.

Wenn wir das alles feststellen, müssen wir jedoch darauf gefasst sein, einem Einwand zu begegnen. Wenn, wie ich oben sagte, das Unbewusste vollkommen bewusst zu machen ein ebenso tiefgreifendes und schwer erreichbares Ziel ist wie die Erleuchtung, ist es dann sinnvoll, über dieses tiefgreifende Ziel als über etwas zu sprechen, das sich allgemein anstreben lässt? Ist es nicht reine Spekulation, ernsthaft zu behaupten, dass nur dieses tiefgreifende Ziel die Hoffnungen der psychoanalytischen Therapie rechtfertigen kann?

Wenn es nur die Alternative zwischen der vollen Erleuchtung und nichts gäbe, wäre dieser Einwand wirklich gerechtfertigt. Aber das ist nicht der Fall. Im Zen gibt es viele Stufen der Erleuchtung, von denen Satori die höchste und entscheidende Stufe ist. Soweit ich es jedoch verstehe, wird Wert auf Empfindungen gelegt, die Schritte auf dem Weg zum Satori sind, wenn es vielleicht auch niemals erreicht wird. Suzuki erläuterte dies (in einer persönlichen Mitteilung) einmal folgendermaßen: Wenn man in [VI-354] einen vollkommen dunklen Raum eine Kerze bringt, verschwindet die Finsternis, und es gibt Licht. Wenn aber noch zehn oder hundert oder tausend Kerzen hinzugefügt werden, wird der Raum immer heller werden. Und doch wurde die entscheidende Änderung durch die erste Kerze bewirkt, die die Dunkelheit durchdrang.

Was geschieht im analytischen Prozess? Ein Mensch empfindet zum ersten Mal, dass er eitel ist, dass er Angst hat, dass er hasst, während er in seinem Bewusstsein geglaubt hatte, bescheiden, mutig und liebevoll zu sein. Die neue Einsicht schmerzt ihn vielleicht, aber sie öffnet eine Tür; sie ermöglicht ihm, ein Ende damit zu machen, auf andere das zu projizieren, was er in sich selbst verdrängt. Er geht weiter; er erlebt den Säugling, das Kind, den Heranwachsenden, den Verbrecher, den Wahnsinnigen, den Heiligen, den Künstler, den Mann und die Frau in sich; er kommt mit der Menschheit, mit dem universalen Menschen enger in Berührung; er verdrängt weniger, ist freier, hat weniger Bedürfnis zu projizieren und gedanklich zu verarbeiten; dann erlebt er vielleicht zum ersten Mal, wie er Farben sieht, wie er einen Ball rollen sieht und wie sich seine Ohren plötzlich für die Musik auftun, während er bisher nur zugehört hat; wenn er sein Einssein mit den anderen fühlt, sieht er vielleicht zum ersten Mal, dass es eine Illusion ist, sein isoliertes, individuelles Ich für etwas zu halten, das er festhalten, kultivieren und bewahren soll; er wird empfinden wie nutzlos es ist, die Antwort auf das Leben darin zu suchen, sich zu haben, anstatt er selbst zu sein und zu werden. Das alles sind plötzliche und unerwartete Erlebnisse ohne intellektuellen Inhalt; und doch fühlt sich der Mensch hernach freier, stärker und weniger ängstlich als je zuvor.

Bisher haben wir nur über Ziele gesprochen, und ich habe behauptet, wenn man Freuds Prinzip der Transformierung des Unbewussten ins Bewusstsein bis zur letzten Konsequenz durchführe, nähere man sich der Auffassung der Erleuchtung. Was jedoch die Methoden zur Erreichung dieses Zieles betrifft, sind die Psychoanalyse und das Zen wahrhaftig vollkommen verschieden. Man könnte sagen, die Methode des Zen besteht aus einem Frontalangriff auf die entfremdete Art der Wahrnehmung mit Hilfe des „Sitzens“, des Koan und der Autorität des Meisters. Natürlich ist das alles nicht eine „Technik“, die man von den Voraussetzungen der buddhistischen Denkweise und dem Verhalten und den ethischen Werten loslösen kann, die durch den Meister und die Atmosphäre des Klosters verkörpert werden. Man muss sich auch vor Augen halten, dass es keine Angelegenheit von „fünf Wochenstunden“ ist und dass der Schüler schon allein durch die Tatsache, dass er Unterweisung im Zen sucht, eine überaus bedeutsame Entscheidung getroffen hat, die ein wichtiger Teil dessen ist, was folgt.

Die Methode der Psychoanalyse ist von der des Zen vollkommen verschieden. Sie lehrt das Bewusstsein, das Unbewusste auf eine andere Art und Weise zu packen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die entstellte Wahrnehmung; sie führt zur Erkenntnis der Fiktion in unserem Inneren; sie erweitert den Bereich menschlichen Empfindens durch die Aufhebung der Verdrängung. Die analytische Methode ist psychologisch-empirisch. Sie untersucht die psychische Entwicklung eines Menschen von Kindheit an und versucht, frühere Erlebnisse aufzudecken, um dem Menschen zu helfen, das zu empfinden, was jetzt verdrängt ist. Sie fährt fort, indem sie unsere Illusionen über [VI-355] die Welt Schritt für Schritt aufdeckt, so dass parataktische Entstellungen und entfremdete Intellektualisierungen allmählich verschwinden. Indem der Mensch, der diesen Prozess mitmacht, sich selbst weniger fremd wird, wird er auch der Welt weniger entfremdet; weil er zum Universum in seinem Inneren Beziehungen angeknüpft hat, hat er auch Beziehungen zum äußeren Universum angeknüpft. Das falsche Bewusstsein verschwindet, und mit ihm die Polarität von bewusst und unbewusst. Ein neuer Realismus dämmert herauf, in dem „die Berge wieder Berge sind“. Die psychoanalytische Methode ist natürlich nur eine Methode, eine Vorbereitung; aber das gleiche gilt für die Methode des Zen. Allein durch die Tatsache, dass sie eine Methode ist, garantiert sie niemals, dass man das Ziel erreicht. Die Faktoren, die dieses Erreichen zulassen, wurzeln tief in der individuellen Persönlichkeit, und für alle praktischen Zwecke wissen wir sehr wenig von ihnen.

Ich habe gesagt, dass die Methode, das Unbewusste aufzudecken, wenn sie bis zur letzten Konsequenz durchgeführt wird, ein Schritt auf dem Wege zur Erleuchtung sein kann, vorausgesetzt, dieser Schritt wird in dem philosophischen Zusammenhang getan, der am tiefgreifendsten und realistischsten im Zen zum Ausdruck kommt. Aber nur sehr viele weitere Erfahrungen in der Anwendung dieser Methode werden zeigen, wie weit sie führen kann. Die Ansicht, die hier vertreten wurde, zeigt nur eine Möglichkeit und besitzt daher den Charakter einer Hypothese, die zu prüfen ist.

Was man jedoch mit einem größeren Grad von Gewissheit sagen kann, ist, dass die Kenntnis des Zen und das Interesse daran auf die Theorie und Technik der Psychoanalyse überaus fruchtbar und klärend wirken können. So verschieden die Methode des Zen auch von der der Psychoanalyse ist, kann doch das Zen den Blick schärfen, neues Licht auf das Wesen der Einsicht werfen und das Gefühl dafür vertiefen, was es bedeutet zu sehen, schöpferisch zu sein und die affektiven Versuchungen und falschen Intellektualisierungen zu überwinden, die die notwendigen Folgen des Empfindens auf der Grundlage der Subjekt-Objekt-Kluft sind.

Gerade durch seinen Radikalismus in Beziehung auf verstandesmäßige Verarbeitung, Autorität und Verblendung des Ich sowie durch seine Betonung des Wohl-Seins als Ziel wird das Denken des Zen den Horizont des Psychoanalytikers erweitern und ihm helfen, zu einem gründlicheren Verständnis der Wirklichkeitserfassung als höchstem Ziel wacher Bewusstheit zu gelangen.

Wenn eine weitere Spekulation über das Verhältnis zwischen Zen und Psychoanalyse erlaubt sein mag, könnte man an die Möglichkeit denken, dass die Psychoanalyse für den Zen-Schüler Bedeutung gewänne. Ich kann sie mir als Hilfe vorstellen, um die Gefahr einer falschen Erleuchtung (die natürlich keine ist) zu vermeiden, einer Erleuchtung, die rein subjektiv ist und sich auf psychotische oder hysterische Phänomene oder auf einen selbstinduzierten Trancezustand gründet. Die analytische Klärung könnte dem Zen-Schüler helfen, Illusionen zu vermeiden, deren Fehlen gerade Vorbedingung für die Erleuchtung ist.

Welchen Nutzen das Zen vielleicht auch aus der Psychoanalyse ziehen könnte, vom Standpunkt eines westlichen Psychoanalytikers aus möchte ich meine Dankbarkeit für dieses kostbare Geschenk des Ostens zum Ausdruck bringen. Ich möchte besonders Dr. Suzuki danken, dem es gelungen ist, es auf eine solche Weise darzustellen, [VI-356] dass nichts Wesentliches in dem Versuch verloren geht, östliches Denken in westliches zu übertragen, so dass der Mensch des Westens, wenn er sich die Mühe macht, zu einem Verständnis des Zen gelangen kann, soweit es sich überhaupt verstehen lässt, bevor das Ziel erreicht ist. Wie wäre ein solches Verstehen möglich, wenn nicht dadurch, dass „Buddha-Natur in uns allen liegt“, dass Mensch und Sein allgemeingültige Kategorien und unmittelbares Erfassen der Wirklichkeit, Erwachen und Erleuchtung universale Erfahrungen sind.

[1] [Anmerkung des Herausgebers: Psychoanalyse und Zen-Buddhismus erschien erstmals 1960 unter dem Titel Psychoanalysis and Zen Buddhism, in: D. T. Suzuki, E. Fromm and R. de Martino, Zen Buddhism and Psychoanalysis beim Verlag Harper and Brothers in New York. Eine von Marion Steipe besorgte deutsche Übersetzung wurde 1972 unter dem Titel Psychoanalyse und Zen Buddhismus bei Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main veröffentlicht. Anlässlich der Veröffentlichung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden 1980/1981 wurde die Übersetzung überarbeitet. - Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band VI, S. 301-356. Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1960 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © E-Book Erich Fromm Gesamtausgabe 2016 by Rainer Funk.]

[2] [Anmerkung des Herausgebers: Psychoanalyse und Zen-Buddhismus verdankt seine Entstehung einer wissenschaftlichen Konferenz über Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, die, veranstaltet vom Institut für Psychoanalyse an der Medizinischen Fakultät der Autonomen Nationalen Universität von Mexiko, vom 3. bis 11. August 1957 in Fromms neuem Haus in Calle Neptuno Nr. 9 in Cuernavaca, Morelos, tagte. Fromms Anwesen verfügte über eine große Terrasse zum parkähnlichen Garten hin, auf der die Vorträge und Aussprachen stattfanden. Etwa ein Drittel der insgesamt 45 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren psychotherapeutisch Tätige aus Mexiko; zwei Drittel kamen aus New York und anderen Städten der USA. Unter den Gästen aus den USA waren Maurice Green, Ira Progoff, Edward Tauber, James Kirsch, David Schecter, Charlotte Selver und Ben Weininger. Fromms erste Frau, Frieda Fromm-Reichmann, hatte ihr Kommen zugesagt, starb aber kurze Zeit vor Beginn dieser bedeutendsten aller Konferenzen, die Fromm in Mexiko initiiert hatte.

Bereits die Zusammensetzung lässt erahnen, dass es nicht nur um Fromm und seine Gastfreundschaft im gerade fertig gewordenen neuen Haus ging; vielmehr war es gelungen, den großen Zen-Buddhisten Daisetz Teitaro Suzuki nach Mexiko zu holen. Fromm war mit ihm und seinen Schriften bereits in New York bekannt geworden und pflegte einen regen brieflichen Austausch mit ihm. Die Freundschaft ging so weit, dass Fromm in seinem Garten ein eigenes Gebäude für Suzuki errichten ließ und ihn einlud, seinen Lebensabend bei ihm in Cuernavaca zu verbringen. Im Mittelpunkt der Konferenz standen deshalb vier Vorträge, die der 87-jährige Suzuki hielt.

Die innere Verwandtschaft von Psychoanalyse und Zen-Buddhismus war die thematische Klammer der Konferenz, doch wurden auch Referate vorgetragen, die sich ohne besonderen Bezug zum Zen-Buddhismus mit der Psychotherapie nach Jung und Sullivan befassten. Es war deshalb vor allem Fromms Beitrag, der das Konferenzthema behandelte und bei dem Fromm zu erkennen gab, dass es um eine für ihn sehr existenzielle Frage ging - sowohl im Blick auf sein Selbstverständnis als psychoanalytischer Therapeut als auch hinsichtlich seiner Beziehung zur Religion. War es in den Zwanziger Jahren die Konfrontation mit der Psychoanalyse Freuds, die Fromm aus seiner religiösen Tradition herauswachsen und zu einem scharfsinnigen Religionskritiker werden ließ, so war es die Bekanntschaft mit Suzuki, die Fromm eine „Versöhnung“ von Psychoanalyse und Religion ahnen ließ. Die Bekanntschaft mit einer nicht-theistischen Mystik, deren einziges Anliegen es ist, den Menschen frei und unabhängig zu machen, und die zu diesem Zweck eine über viele Generationen gewachsene Methode und Technik entwickelt hat, ermöglichte Fromm nicht nur die Ahnung einer Aufhebung des Antagonismus von Psychoanalyse und Religion, sondern verhalf ihm auch ganz entscheidend dazu, die Psychoanalyse in ihrer den kranken Menschen übergreifenden Bedeutung zu verstehen - als „transtherapeutische Methode“.

Fromms Beitrag Psychoanalyse und Zen-Buddhismus enthält die tiefsinnigsten Gedanken Fromms zum Selbstverständnis der Psychoanalyse. Was Fromm im Laufe seines Lebens über die Bedeutung der Psychoanalyse und Psychotherapie zur Selbsterlösung des Menschen von den inneren und äußeren Kräften der Entfremdung erkannt hat, ist vor allem in dieser kleinen Schrift zu finden. Zugleich finden sich in ihr die wichtigsten Aussagen zu seiner Sicht vom Menschen, seinen Möglichkeiten und seinem Ziel. Dieses Ziel nennt er well-being, was wörtlich zu verstehen ist und deshalb im Deutschen am besten mit „Wohl-Sein“ wiedergegeben wird. Fromm versucht mit seinen Ausführungen die Lehre des Aristoteles von der eudaimonia und Thomas von Aquins beatitudo-Lehre unter der Voraussetzung eines nicht-theistischen Religionsbegriffs neu zu formulieren mit Einsichten zur Frage des Heils des Menschen, die erst mit der Psychoanalyse möglich wurden.

Die Begegnung Fromms mit Suzuki wirkte sich nicht nur auf Fromms Verständnis des Unbewussten und der therapeutischen Zielsetzung aus; Fromm erkannte in Suzuki vor allem einen Lehrer, der die Erfahrung des Einsseins mit dem Gegenstand der Wahrnehmung vorlebte. Suzuki illustrierte mit seiner Person, was es heißt, eine Rose oder eine Katze so wahrzunehmen, dass man mit dieser eins wurde. (Tatsächlich wurde Suzuki während seines Aufenthalts bei Fromm einmal vermisst, weil er drei Stunden lang nichts anderes getan hatte, als einer der Katzen von Fromms Frau Annis zuzuschauen.)

Zen-Buddhismus wie Psychoanalyse kennen Wege der Erfahrung des Einsseins mit der äußeren und inneren Wirklichkeit, bei der die Ich-Grenzen überwunden werden und der Mensch mit dem raum- und zeitlosen Unbewussten eins werden kann, ohne dass es zu einer psychotischen Auflösung der Ich-Funktionen kommt. Die im Zen-Buddhismus angestrebte Erfahrung des Einsseins hat Fromm zeitlebens gesucht. Er meditierte täglich, analysierte seine Träume und „las jeden Morgen entweder einen Zen-Text oder Meister Eckhart“, wie er in einem Brief am 29. April 1964 an den nach Japan zurückgekehrten 93jährigen Suzuki schrieb.

Die Erfahrung des Einsseins fand Fromm bezeugt in den mystischen Strömungen der Religionen: in der jüdischen Kabbala und im Chassidisums, bei christlichen Mystikern wie Meister Eckhart und Jakob Böhme, im islamischen Sufismus Rumis (vgl. Vorwort in: A. R. Arasteh "Rumi the Persian", 1965e, GA VI, S. 357 f.), im Zen-Buddhismus nach Suzuki und im Buddhismus, wie er ihm in seinen letzten Lebensjahren durch Nyanaponika Mahathera vermittelt wurde (vgl. Die Bedeutung des Ehrwürdigen Nyanaponika Mahathera für die westliche Welt, 1976b, GA VI, S. 359-361).

Fromm spürte die Erfahrung des Einsseins auch in der philosophischen Idee des EINEN bei Plotin und Pseudo-Dionysius Areopagita und in der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte auf. Sein bleibendes Interesse am Religiösen richtete sich auf diese Erfahrung des EINEN oder, wie er in seinem Buch Ihr werdet sein wie Gott (1966a, GA VI, S. 118-120) sagt, auf diese „X-Erfahrung“, die eben gerade nicht - wie dies die etablierten Religionen mit ihren Dogmen tun - mit einem Begriff oder Namen gekennzeichnet werden kann.

Der Weg von der Konferenz im August 1957 bis zur Veröffentlichung des Buches 1960 war relativ lang. Pläne, alle Beiträge der Konferenz zu veröffentlichen, wurden wieder aufgegeben, weil der amerikanische Verlag nur am Zusammenhang von Psychoanalyse und Zen-Buddhismus interessiert war. So kam es, dass der Band Zen Buddhism and Psychoanalysis (1960h), nur die vier Vorlesungen von Suzuki, den Beitrag von Fromm und einen Beitrag von Richard De Martino enthielt. Der Frommsche Beitrag, wie er in diesem E-Book wiedergegeben wird, stellt gegenüber dem Referat bei der Konferenz eine erweiterte Fassung dar, von der Fromm im Vorwort selbst sagt, dass seine „eigene Arbeit sowohl hinsichtlich der Länge als auch des Inhalts vollkommen überarbeitet wurde. Der Hauptgrund dafür ist die Tagung selbst, denn wenn ich auch mit der Literatur über den Zen-Buddhismus vertraut war, so bewirkten doch die Anregungen der Tagung und die darauf folgende Gedankenarbeit, dass ich meine Ideen beträchtlich erweiterte und revidierte. Dies gilt nicht nur für mein Verständnis des Zen, sondern auch für gewisse psychoanalytische Auffassungen, wie beispielsweise die Probleme, woraus das Unbewusste besteht, wie das Unbewusste ins Bewusstsein transformiert wird, und was das Ziel der psychoanalytischen Therapie ist.“ Die erweiterte Fassung wurde bereits 1959 in der japanischen Zeitschrift Psychologia in englischer Sprache veröffentlich (E. Fromm, 1959e).

[3] Vgl. C. G. Jungs Geleitwort zu D. T. Suzukis Die große Befreiung (C. G. Jung, 1939) und die Arbeiten des französischen Psychiaters Benoit über den Zen-Buddhismus (P. Benoit, 1955). Die verstorbene Karen Horney interessierte sich in ihren letzten Lebensjahren sehr stark für den Zen-Buddhismus. Die in Cuernavaca, Mexiko, abgehaltene Konferenz, bei der die hier veröffentlichten Arbeiten vorgetragen wurden, ist ein weiteres Symptom für das Interesse der Psychoanalytiker am Zen-Buddhismus. In Japan besteht ebenfalls beträchtliches Interesse für die Beziehungen zwischen Psychotherapie und dem Zen-Buddhismus. (Vgl. auch K. Sato, 1958.)

[4] Vgl. die Arbeiten von Kierkegaard, Marx, Nietzsche und von existenzialistischen Philosophen sowie von Lewis Mumford, Paul Tillich, Erich Kahler, David Riesman u.a.

[5] Vgl. hierzu Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung (1959a, GA VIII, S. 155-159#VIII-155#).

[6] [Anmerkung des Herausgebers: Vgl. hierzu auch Die dialektische Revision der Psychoanalyse (1990f, GA XII, S. 68-71), sowie den Abschnitt „Die Krankheit unserer Zeit als Herausforderung für die Psychoanalyse“ in Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse (1991d, GA XII, S. 275-278).]

[7] [Anmerkung des Herausgebers: Well-being als Fähigkeit, aus den eigenen geistigen, affektiv-emotionalen und körperlichen Fähigkeiten - also von Innen heraus - aktiv sein zu können, ist ein Erkennungsmerkmal der Orientierung am Sein (vgl. Haben oder Sein, 1976a, GA II, S. 332-339) und meint also etwas anderes als wellness.]

[8] [Anmerkung des Herausgebers: Zum Folgenden vgl. auch Fromms Ausführungen zur „produktiven Charakterorientierung“ in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 56-71) sowie die Abschnitte „Die Situation des Menschen“ und „Seelische Gesundheit und Gesellschaft“ in Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 20-50 und S. 51-58).]

[9] Die Entwicklung des Menschen von der Fixierung an Mutter und Vater bis zur vollen Unabhängigkeit und Erleuchtung wurde von Meister Eckhart im Traktat Vom edlen Menschen überaus schön beschrieben:

Die erste Stufe des inneren und des neuen Menschen, spricht Sankt Augustinus, ist es, wenn der Mensch nach dem Vorbilde guter und heiliger Leute lebt, dabei aber noch an den Stühlen geht und sich nahe bei den Wänden hält, sich noch mit Milch labt.

Die zweite Stufe ist es, wenn er jetzt nicht nur auf die äußeren Vorbilder, (darunter) auch auf gute Menschen, schaut, sondern läuft und eilt zur Lehre und zum Rate Gottes und göttlicher Weisheit, kehrt den Rücken der Menschheit und das Antlitz Gott zu, kriecht der Mutter aus dem Schoß und lacht den himmlischen Vater an.

Die dritte Stufe ist es, wenn der Mensch mehr und mehr sich der Mutter entzieht und er ihrem Schoß ferner und ferner kommt, der Sorge entflieht, die Furcht abwirft, so dass, wenn er gleich ohne Ärgernis aller Leute (zu erregen) übel und unrecht tun könnte, es ihn doch nicht danach gelüsten würde; denn er ist in Liebe so mit Gott verbunden in eifriger Beflissenheit, bis der ihn setzt und führt in Freude und in Süßigkeit und Seligkeit, wo ihm alles das zuwider ist, was ihm (= Gott) ungleich und fremd ist.

Die vierte Stufe ist es, wenn er mehr und mehr zunimmt und verwurzelt wird in der Liebe und in Gott, so dass er bereit ist, auf sich zu nehmen alle Anfechtung, Versuchung, Widerwärtigkeit und Leid-Erduldung willig und gern, begierig und freudig.

Die fünfte Stufe ist es, wenn er allenthalben in sich selbst befriedet lebt, still ruhend im Reichtum und Überfluss der höchsten unaussprechlichen Weisheit.

Die sechste Stufe ist es, wenn der Mensch entbildet ist und überbildet von Gottes Ewigkeit und gelangt ist zu gänzlich vollkommenem Vergessen vergänglichen und zeitlichen Lebens und gezogen und hinüberverwandelt ist in ein göttliches Bild, wenn er Gottes Kind geworden ist. Darüber hinaus noch höher gibt es keine Stufe, und dort ist ewige Ruhe und Seligkeit, denn das Endziel des inneren Menschen und des neuen Menschen ist: ewiges Leben. (Meister Eckhart 1977, S. 142 f.)

[10] Die gleiche Idee wurde von E. G. Schachtel (1947) im Zusammenhang mit der „Amnesie von Kindheitserinnerungen“ zum Ausdruck gebracht. Wie schon der Titel andeutet, befasst er sich hier mit dem spezielleren Problem der kindlichen Amnesie und mit dem Unterschied zwischen den Kategorien („Schemata“) des Kindes und des Erwachsenen. Er folgerte, dass „die Unvereinbarkeit des Erlebens in der frühen Kindheit mit den Kategorien und der Organisation des Gedächtnisses des Erwachsenen zum großen Teil auf... die Konventionalisierung des Gedächtnisses des Erwachsenen zurückzuführen ist“. Nach meiner Ansicht stimmt das, was er über das Gedächtnis des Kindes und des Erwachsenen sagt, aber wir finden die Unterschiede nicht nur zwischen den Kategorien des Kindes und des Erwachsenen, sondern auch zwischen denen verschiedener Kulturen, und ferner betrifft das Problem nicht nur das Gedächtnis, sondern das Bewusstsein im allgemeinen.

[11] [Anmerkung des Herausgebers: Zu Fromm Theorie von den „gesellschaftlichen Filtern“ vgl. auch Jenseits der Illusionen (1962a, GA IX, S. 113-116).]

[12] [Anmerkung des Herausgebers: Der Unterschied zwischen der aristotelischen und der paradoxen Logik wurde von Fromm bereits in Die Kunst des Liebens (1956a, GA IX, S. 483-487) erörtert.]

[13] Vgl. E. Fromm, Die Kunst des Liebens (1956a, GA IX, S. 477-488) den Abschnitt über „Liebe zu Gott“.

[14] [Anmerkung des Herausgebers: Zum „Gesellschafts-Charakter“, seiner Genese und Funktion vgl. vor allem den Anhang „Charakter und Gesellschaftsprozess“ in Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 379-391) sowie folgende Beschreibung: „Der Begriff des Gesellschafts-Charakters gründet sich auf die Überlegung, dass jede Gesellschaftsform (oder jede soziale Klasse) sich gezwungen sieht, sich der menschlichen Energie in der spezifischen Form zu bedienen, die für das Funktionieren der betreffenden Gesellschaft notwendig ist. Ihre Mitglieder müssen das tun wollen, was sie tun müssen, wenn die Gesellschaft richtig funktionieren soll. Dieser Prozess der Umwandlung der allgemeinen psychischen Energie in eine spezifische psychosoziale Energie wird durch den Gesellschafts-Charakter vermittelt.“ (Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 228).]

[15] Vgl. Die Furcht vor der Freiheit (1941a, GA I, S. 261-263 und S. 299 f.) sowie Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 24-30). - [Anmerkung des Herausgebers: darüber hinaus vgl. Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 202-204).]

[16] Diese Analyse des Bewusstseins führt uns zu dem gleichen Schluss, zu dem Karl Marx kam, als er das Problem des Bewusstseins folgendermaßen formulierte: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (K. Marx, 1974, S. 9.)

[17] [Anmerkung des Herausgebers: Fromm spielt hier auf die Bekenntnisformel der humanistischen Marx-Interpreten aus den Pariser Manuskripten von 1844 an, wo Marx von der neuen Einheit sagt: Dieser ist „als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, (…) die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen. (...) Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ (K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA 1, 3, S. 114).]

[18] Wir haben kein Wort, das diese Transformierung bezeichnet. Wir können „Reversion der Verdrängung“ oder konkretes „Erwachen“ sagen; ich möchte den Ausdruck de-repression vorschlagen [hier mit „Aufhebung der Verdrängung“ übersetzt].

[19] [Anmerkung des Herausgebers: Die wichtigsten Aussagen Fromms zur therapeutischen Beziehung sind drei Vorträgen zu entnehmen, die er 1959 am William Alanson White Institute in New York gegeben hat und die posthum veröffentlicht wurden unter dem Titel Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis (1992g), GA XII, S. 201-236. Vgl. außerdem den Sammelband Erich Fromm als Therapeut (R. Funk (Hg.), 2009).]

[20] [Anmerkung des Herausgebers: Die ursprüngliche Buchpublikation enthielt auch die vier Vorträge, die Suzuki bei der Konferenz hielt.]

[21] [Anmerkung des Herausgebers: Zum zentralen Begriff der produktiven Orientierung vgl. vor allem Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 56-71) sowie R. Funk, 2003a.]

[22] [Anmerkung des Herausgebers: Die hier skizzierte Entfremdung des Menschen von sich selbst hat Erich Fromm vor allem im Zusammenhang des am Marketing orientierten Charakters beobachtet und beschrieben, in den Fünfziger Jahren dann aber sehr grundlegend in seiner psychologischen und klinischen Relevanz analysiert. Vgl. hierzu Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 88-109 und S. 136-147) sowie die zur gleichen Zeit entstandenen, aber erst posthum veröffentlichten Beiträge „Die Entfremdung als Krankheit des Menschen von heute“ in Die Pathologie der Normalität des heutigen Menschen (1991e, GA XI, S. 239-256).]

[23] R. M. Bucke, 1954. - Ich möchte nebenbei erwähnen, dass Buckes Buch mit dem Gegenstand dieses Beitrages aufs Engste verwandt ist. Bucke, ein Psychiater von großem Wissen und großer Erfahrung, ein Sozialist mit einem tiefen Glauben an die Notwendigkeit und Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft, die „das persönliche Eigentum abschaffen und die Erde gleichzeitig von zwei ungeheuren Übeln - Reichtum und Armut - befreien wird“, entwickelt in diesem Buch eine Hypothese der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Nach seiner Hypothese hat sich der Mensch vom animalischen „einfachen Bewusstsein“ zum menschlichen „Ich-Bewusstsein“ entwickelt und befindet sich nun an der Schwelle zur Bildung des „kosmischen Bewusstseins“, einem revolutionären Ereignis, das bereits bei einer Anzahl außergewöhnlicher Persönlichkeiten in den letzten zweitausend Jahren stattgefunden hat. Was Bucke als „kosmisches Bewusstsein“ bezeichnet, ist meiner Ansicht nach genau die Erfahrung, die im Zen-Buddhismus „Satori“ genannt wird.

Es geht um den Menschen!
Eine Untersuchung der Tatsachen und Fiktionen in der Außenpolitik

May Man Prevail?
An Inquiry into the Facts and Fictions of Foreign Policy

(1961a)[1]

Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Inhalt

Vorwort

Die verantwortlichen politischen Führer stimmen darin überein, dass die Vereinigten Staaten und die gesamte westliche Welt zur Zeit eine sehr gefährliche Phase durchmachen.[2] Bestehen auch gewisse Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Größe dieser Gefahren, so ist man doch weithin der Überzeugung, dass das Bild, welches wir uns von der Situation machen, klar und realistisch ist, dass wir der Situation angemessen begegnen und dass uns kein prinzipiell anderer Kurs möglich wäre. Auf folgenden Voraussetzungen gründet sich diese Auffassung über die allgemeine Weltlage:

Der Kommunismus, wie ihn die Sowjetunion und China repräsentieren, ist eine revolutionär-imperialistische Bewegung, die zum Ziel hat, sich die Welt mit Gewalt oder durch politischen Umsturz zu unterwerfen. Die industrielle und militärische Entwicklung hat das kommunistische Lager und speziell die Sowjetunion zu einem mächtigen Rivalen gemacht, der in der Lage ist, unser menschliches und industrielles Potenzial bis zu einem beträchtlichen Grad zu vernichten. Man kann diesen Machtblock an der Durchführung seines Willens, sich die Welt zu erobern, nur hindern, indem man ihm zu verstehen gibt, dass auf jeden derartigen Versuch ein Gegenschlag erfolgen würde, der auch sein menschliches und wirtschaftliches Potenzial vernichten oder aufs Schwerste schädigen würde. In dieser Abschreckungsmöglichkeit liegt die einzige Hoffnung, den Frieden zu erhalten, da Russland nur aus Angst vor unserem Gegenschlag von seinen Welteroberungsplänen Abstand nehmen wird. Solange wir daher über eine ausreichende Abschreckungsmacht verfügen und auf der ganzen Welt militärische Verbündete haben, ist der Frieden gesichert.

Innerhalb dieses Gesamtkonzepts weichen die einzelnen Ansichten allerdings weit voneinander ab. Einige sind der Meinung, dass in einem Atomkrieg zwar 60 bis 70 Millionen Amerikaner ums Leben kommen könnten, dass unser Lebensstil jedoch hierdurch nicht zerstört oder ernstlich verändert würde. Andere meinen, die Annahme von 100 bis 150 Millionen Todesopfern sei realistischer.

Manche treten für Abrüstungsverhandlungen aus einer Position der Stärke heraus ein, während wieder andere in Abrüstungsverhandlungen irgendwelcher Art nur eine nutzlose Propagandaübung sehen. Manche sind auch für eine schrittweise durchzuführende begrenzte Rüstungskontrolle, etwa für die Einstellung der Atomversuche, während andere in [V-046] einem derartigen Schritt nur eine Gefährdung unserer Sicherheit sehen. Die einen treten für eine atomare Gegenstrategie ein, die sich gegen die gegnerischen Raketenbasen richtet, andere sind für die beständige Abschreckungsstrategie eines „zweiten Schlags“, welche die Ballungsgebiete der Bevölkerung zum Ziel hat, und wieder andere möchten beide Strategien kombiniert wissen (obgleich eine solche Kombination beide Methoden ihrer angeblichen Vorteile berauben könnte). Meinungsverschiedenheiten herrschen auch bei den verschiedenen Gruppen, die bei uns Politik machen. Unter Eisenhower verfolgten das State Department und der Präsident in Bezug auf die Einstellung der Atomversuche und die Rüstungskontrolle eine etwas konziliantere Linie, während das Militär und die Atomenergie-Kommission damals wie heute auf einem weniger konzilianten Standpunkt stehen. Auch die verschiedenen Waffengattungen weichen in ihren strategischen Konzeptionen voneinander ab. Jede von ihnen vertritt eine Auffassung, die ihr selbst den größten Entfaltungsspielraum gibt und gleichzeitig zu gewissen Kompromissen mit ihren beiden konkurrierenden Waffengattungen bereit ist.

Trotz dieser Differenzen jedoch scheinen die meisten politischen Führer und der größte Teil der Bevölkerung von der Richtigkeit der Grundvoraussetzungen unserer Politik überzeugt und bereit zu sein, den einmal eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Sie sind sogar gewiss, dass kein anderer Kurs möglich ist, und dass jede andere Politik effektiv eher zum Krieg führen würde als der von uns verfolgte Weg. In dieser Einstellung werden sie noch durch ihre Überzeugung bestärkt, dass unsere Politik nicht nur die einzige ist, bei der wir hoffen können, physisch zu überleben, sondern dass sie auch aus moralischen und religiösen Überlegungen heraus als einzige vertretbar ist. Sie sind der Ansicht, dass wir und unsere Verbündeten die Repräsentanten von Freiheit und Idealismus seien, während die Russen und deren Verbündete Sklaverei und Materialismus repräsentieren. Dabei gilt prinzipiell, dass man sogar das Risiko von Krieg und Vernichtung auf sich nehmen müsse, weil der Tod immer noch besser sei als die Sklaverei.

Wer eine solche Politik verfolgt, wird es zwar schweren Herzens tun, sofern er erkennt, welche Gefahren eine solche Politik für uns und die ganze Welt in sich birgt, doch werden ihm kaum Zweifel kommen. Er wird überzeugt sein, dass wir das Bestmögliche tun und dass es keinen anderen Weg gibt, auf dem wir vor Krieg und Versklavung besser geschützt wären.

Sollten die Voraussetzungen, auf die sich unsere Politik gründet, jedoch falsch sein, so würden wir in der Tat einen Kurs verfolgen, den zu empfehlen kein Mensch wagen kann, der auch nur ein wenig Verantwortungs- und Pflichtgefühl hat. Daher haben wir die intellektuelle und moralische Verpflichtung, die Richtigkeit dieser Voraussetzungen immer wieder zu überprüfen. Zu dieser Überprüfung möchte auch ich meinen Teil beitragen. Ich will versuchen, die Gründe für meine Überzeugung darzulegen, dass viele der Voraussetzungen, die unserer Politik zugrunde liegen, falsch sind, dass viele unserer Annahmen fiktiv oder verzerrt sind, und dass wir daher wie in einer Art geistiger Verwirrung in die schwerste Gefahr für uns selbst und für die gesamte übrige Menschheit hineinrennen.

Manche meiner Behauptungen und Schlussfolgerungen werden viele Leser [V-047] überraschen und schockieren. Ich verlange nichts weiter von ihnen, als dass sie meine Argumente möglichst unvoreingenommen nachvollziehen und sich dabei möglichst wenig von Emotionen beeinflussen lassen. Schließlich haben wir ein gemeinsames Anliegen: Wir wollen nicht die totale Zerstörung durch Krieg und wir wollen, dass die Idee der menschlichen Würde und des Individualismus auf Erden lebendig bleibt. Ich möchte zu zeigen versuchen, dass Friede immer noch möglich ist und dass die humanistische Tradition noch immer eine Zukunft hat.

Meinen Dank möchte ich Roger Hagan sagen. Er hat mir nicht nur dabei geholfen, das historische Material zu sammeln, sondern auch viele wichtige kritische und konstruktive Vorschläge insgesamt gemacht. Michael Maccoby möchte ich für seine wertvollen Hilfen danken, vor allem im Kapitel über die Abrüstung. Harrop Freeman gilt mein Dank, dass er sich auch noch die Zeit genommen hat, das Manuskript sehr sorgfältig zu lesen, und dass er wichtige Vorschläge gemacht hat. David Riesman und Stewart Meacham haben die Druckfahnen gelesen. Für ihre wichtigen Kritiken und Verbesserungen sei hier herzlich gedankt.

E. F.

1. Allgemeine Voraussetzungen

a) Veränderung durch vorausschauendes Handeln und Veränderung durch Katastrophen

Gesellschaften haben ihr eigenes Leben und gründen sich auf das Vorhandensein von bestimmten Produktivkräften, von gewissen geographischen und klimatischen Bedingungen, von Produktionsmethoden, von Ideen und Werten und auf einen bestimmten Typ des menschlichen Charakters, der sich unter diesen Bedingungen entwickelt. Sie sind so organisiert, dass sie in eben jener Gesellschaftsform, der sie sich angepasst haben, weiter leben wollen. Die Menschen jeder Gesellschaft glauben gewöhnlich, ihre Art zu leben sei die einzig natürliche und sei unvermeidlich. Sie sehen kaum eine andere Möglichkeit und neigen zu der Überzeugung, eine prinzipielle Veränderung ihrer Lebensweise müsse zu Chaos und Zerstörung führen. Sie sind allen Ernstes davon überzeugt, dass ihr Weg der einzig richtige und der von den Göttern und den Gesetzen der menschlichen Natur sanktionierte ist, sodass die einzige Alternative zur Fortsetzung der bestehenden speziellen Lebensform nur Destruktion sein kann. Dieser Glaube ist nicht einfach das Ergebnis eines ideologischen Drills, sondern im affektiven Teil des Menschen verwurzelt: Er gründet in seiner Charakterstruktur, die von sämtlichen gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen derart geprägt wird, dass der Mensch genau das zu tun wünscht, was er tun muss. Seine psychische Energie wird so kanalisiert, dass sie eben jener Funktion gerecht wird, die ein Mensch als nützliches Glied der Gesellschaft hat.[3] Da die Modelle des Denkens in den Modellen des Fühlens wurzeln, sind die Denkmodelle derart dauerhaft und gegen jegliche Veränderung resistent.

Dennoch verändern sich Gesellschaften. Viele Faktoren, wie neue Produktivkräfte, wissenschaftliche Entdeckungen, politische Eroberungen, Bevölkerungsexpansion usw., führen zu Veränderungen. Zu diesen objektiven Faktoren kommt hinzu, dass der Mensch sich seiner Bedürfnisse und seiner selbst in wachsendem Maße bewusst wird und dass er vor allem ein wachsendes Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit hat. Auch hierdurch werden ständig Veränderungen in seiner historischen [V-049] Situation herbeigeführt, von der Lebensweise des Höhlenbewohners bis zum Weltraumfahrer der nahen Zukunft.

Wie aber kommt es zu diesen Veränderungen? Meistens entstanden sie gewaltsam auf Grund von Katastrophen. Führer wie Geführte der meisten Gesellschaften waren unfähig, sich freiwillig und friedlich völlig neuen Bedingungen anzupassen, indem sie durch vorausschauendes Handeln die notwendigen Veränderungen trafen.[4] Sie wollten lieber mit dem fortfahren, was sie gelegentlich poetisch als „Erfüllung ihrer Sendung“ bezeichneten, und versuchten, das Grundmuster ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens mit nur geringen Veränderungen und Abwandlungen beizubehalten. Selbst dann, wenn Umstände eintraten, die in völligem und flagrantem Widerspruch zu ihrer Gesamtstruktur standen, setzten solche Gesellschaften ihren Versuch blindlings fort, an ihrer Lebensweise festzuhalten, bis es schließlich nicht mehr ging. Dann wurden sie von anderen Völkern erobert und vernichtet, oder sie starben langsam aus, da sie nicht mehr in der Lage waren, ihr Leben in der gewohnten Weise weiterzuführen.

Die erbittertsten Gegner einer fundamentalen Veränderung waren stets die Eliten, die von der bestehenden Ordnung am meisten profitierten und daher nicht gewillt waren, ihre Privilegien freiwillig aufzugeben. Aber die materiellen Interessen der herrschenden und privilegierten Gruppen waren nicht der einzige Grund für die Unfähigkeit vieler Kulturen, die notwendigen Veränderungen durch vorausschauendes Handeln zu treffen. Eine andere, ebenso wichtige Ursache ist psychologischer Natur. Da Führer wie Geführte ihre Art zu leben gerne hypostasieren und verabsolutieren, kommt es zu einer starren Bindung an ihre jeweiligen Denkformen und Wertvorstellungen. Daher sehen sie sich bereits bei nur geringfügig abweichenden anderen Auffassungen in größte Verwirrung gestürzt und erblicken in ihnen feindliche, teuflische, wahnwitzige Angriffe auf das eigene „normale“, „gesunde“ Denken.

Für die Anhänger Cromwells waren die Papisten vom Teufel besessen; für die Jakobiner waren es die Girondisten, für die Amerikaner sind es die Kommunisten. Offenbar verabsolutiert der Mensch in jeder Gesellschaft die von seiner Kultur erzeugte Lebens- und Denkweise und ist eher bereit zu sterben als etwas zu verändern, da er die Veränderung mit dem Tod gleichsetzt. So ist die Menschheitsgeschichte ein Friedhof großer Kulturen, die in der Katastrophe endeten, weil sie sich als unfähig erwiesen zu einer geplanten, vernünftigen, freiwilligen Reaktion auf eine Herausforderung.

Dennoch gibt es in der Geschichte auch nicht-gewaltsame Veränderungen auf Grund vorausschauenden Handelns. Die Befreiung der Arbeiterklasse aus ihrem Status, nur Objekt gewissenloser Ausbeutung zu sein, zu einem einflussreichen wirtschaftlichen Partner in der westlichen Industriegesellschaft, ist ein Beispiel für eine nichtgewaltsame Veränderung in den Klassenbeziehungen innerhalb einer Gesellschaft. Die Bereitschaft der britischen Labour-Regierung, Indien die Unabhängigkeit zu gewähren, bevor sie dazu gezwungen wurde, ist ein Beispiel im Bereich der internationalen Beziehungen. Aber solche vorausschauenden Lösungen waren in der bisherigen Geschichte eher die Ausnahme als die Regel. Zum religiösen Frieden kam es in Europa erst nach dem Dreißigjährigen Krieg, in England erst nach gegenseitigen gewalttätigen und grausamen Verfolgungen, bei denen Papisten und Antipapisten einander in [V-050] nichts nachstanden. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg schloss man erst Frieden, nachdem auf beiden Seiten Millionen von Männern und Frauen sinnlos getötet worden waren, noch nachdem der Ausgang des Krieges bereits klar war. Wäre es nicht ein Gewinn für die Menschheit gewesen, wenn die schließlich erzwungenen Entscheidungen von beiden Seiten freiwillig akzeptiert worden wären, bevor sie erzwungen wurden? Hätte nicht ein vorausschauender Kompromiss schreckliche Verluste und eine allgemeine Brutalisierung verhindert?

Heute stehen wir wieder einmal vor einer schicksalhaften Entscheidung, eine gewaltsame Lösung zu suchen oder eine Lösung auf Grund vorausschauenden Handelns. Die Entscheidung kommt der zwischen allgemeiner Vernichtung oder fruchtbarem Wachstum unserer Zivilisation gleich. Unsere heutige Welt ist in zwei Blöcke aufgeteilt, die sich voller Hass und Misstrauen gegenüberstehen. Beide Blöcke sind in der Lage, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, dessen Größe unvorstellbar und unermesslich ist. (Schätzungen über die von den Vereinigten Staaten zu erwartenden Verluste variieren zwischen einem Drittel bis praktisch der Gesamtzahl der Bevölkerung für den Fall eines Atomkrieges; ähnliche Schätzungen gelten für die Sowjetunion.) Beide Blöcke sind bis zu den Zähnen bewaffnet und auf den Krieg vorbereitet. Sie misstrauen einander, und jeder verdächtigt den anderen, er wolle ihn überwältigen und vernichten. Das gegenwärtige Gleichgewicht von Misstrauen und Drohung auf der Basis eines destruktiven Potenzials kann noch eine Weile erhalten bleiben. Aber auf die Dauer sind die einzigen Alternativen entweder ein Atomkrieg mit all seinen Konsequenzen oder die Beendigung des Kalten Krieges. Dies setzt jedoch Abrüstung und politischen Frieden zwischen den beiden Blöcken voraus.

Die Frage ist, ob die Vereinigten Staaten (einschließlich ihrer westlichen Verbündeten) und die Sowjetunion sowie das kommunistische China jeder für sich ihren gegenwärtigen Kurs bis zum bitteren Ende weiterverfolgen müssen, oder ob beide Seiten vorausschauend gewisse Änderungen vornehmen und auf diese Weise zu einer Lösung gelangen, die historisch möglich ist und gleichzeitig jedem Machtblock optimale Vorteile bietet.

Die Frage ist im wesentlichen die gleiche, der sich auch andere Gesellschaften und Kulturen gegenübergestellt sahen: Ob wir fähig sind, unsere historischen Einsichten in politisches Handeln umzusetzen. (Vgl. R. L. Heilbronner, 1960.)

An dieser Stelle erhebt sich eine zusätzliche Frage: Was macht eigentlich eine Gesellschaft lebensfähig und was ermöglicht es ihr, auf Veränderungen richtig zu reagieren? Hierauf gibt es keine einfache Antwort, sicher ist jedoch, dass die Gesellschaft vor allem fähig sein muss, zwischen ihren primären Werten und ihren sekundären Werten und Institutionen zu unterscheiden. Dies ist deshalb schwierig, weil unsere sekundären Systeme sich ihre eigenen Werte schaffen, die mit der Zeit ebenso wesentlich erscheinen wie die menschlichen und sozialen Bedürfnisse, denen sie ihre Entstehung verdanken. In dem Maße wie das Leben der Menschen mit Institutionen, Organisationen, Lebensstilen, Produktions- und Konsumformen usw. verflochten ist, werden diese Menschen bereit sein, sich und andere für das Werk ihrer Hände zu opfern, ihre eigenen Schöpfungen in Idole zu verwandeln und diese Idole anzubeten. Außerdem erweisen sich Institutionen im allgemeinen als resistent gegen Veränderungen. Aus [V-051] diesem Grund fällt es Menschen, die sich diesen Institutionen eng verbunden fühlen, nicht leicht, vorausschauend zu verändern. Für eine Gesellschaft wie unsere gegenwärtige liegt das Problem daher darin, ob die Menschen die grundlegenden menschlichen und sozialen Werte unserer Zivilisation wieder zu entdecken vermögen und ob sie in der Lage sind, ihre Ergebenheit - um nicht zu sagen religiöse Verehrung - denjenigen ihrer institutionellen (oder ideologischen) Werte zu entziehen, die zu einem Hindernis geworden sind.

Ein großer Unterschied zwischen der Vergangenheit und unserer Gegenwart macht dies zu einem dringenden Problem. Die gewaltsame, nicht-vorausschauende Lösung wird in unserem Fall nicht zu einem schlechten Frieden führen, wie das 1919 oder 1945 für Deutschland der Fall war; sie wird nicht dazu führen, dass einige unserer Landsleute oder einige Russen in Gefangenschaft geraten, wie dies den vom Römischen Reich besiegten Völkerschaften widerfuhr, sondern es wird höchstwahrscheinlich zur physischen Vernichtung der meisten jetzt lebenden Amerikaner und Russen und zu einem barbarischen, entmenschlichten diktatorischen Regime über die Überlebenden führen. Diesmal ist die Wahl zwischen einem gewalttätig-irrationalen und einem vorausschauend-rationalen Verhalten eine Wahl, bei der es um die Menschheit und ihr kulturelles, wenn nicht gar physisches Überleben geht.

Bis jetzt sind die Chancen gering, dass es zu einem solchen rationalen vorausschauenden Handeln kommen wird. Und dies nicht etwa, weil es bei der realen Lage der Dinge keine Möglichkeit zu einem solchen Ausgang gäbe, sondern weil auf beiden Seiten eine Denkbarriere aus Klischeevorstellungen, ritualistischen Ideologien und einem guten Teil allgemeinem Wahnsinn errichtet wurde, welche die Menschen - Führer wie Geführte - daran hindert, klar und realistisch zu erkennen, wie die Dinge liegen, Fakten von Fiktionen zu unterscheiden und alternative Lösungen zur Gewalt zu suchen. Eine solche vernünftige, vorausschauende Politik erfordert vor allem eine kritische Überprüfung unserer Vorstellungen - beispielsweise vom Wesen des Kommunismus, von der Zukunft der Entwicklungsländer, vom Wert der Abschreckung zur Vermeidung eines Krieges. Sie erfordert auch eine ernsthafte Überprüfung unserer eigenen Vorurteile und gewisser halb pathologischer Denkformen, die unser Verhalten bestimmen.

b) Historische Ursprünge der gegenwärtigen Krise und Aussichten für die Zukunft

Nach einem Prozess von rund tausend Jahren vom Beginn der Feudalisierung des Römischen Reiches bis zum ausgehenden Mittelalter - einem Zeitraum, in dem Europa durch das Christentum von den Ideen des griechischen, hebräischen und arabischen Denkens durchdrungen wurde -, entstand eine neue Kultur. Der westliche Mensch entdeckte die Natur als ein Objekt intellektueller Spekulation und ästhetischen Genusses; er schuf eine neue Naturwissenschaft, die innerhalb weniger Jahrhunderte zur Grundlage für eine Technik wurde, welche die Natur und das praktische Leben des Menschen auf eine Weise umformen sollte, wie er sich dies bis dahin nicht hätte [V-052] träumen lassen. Er entdeckte sich als ein Individuum, das mit fast unbegrenzten Energien und Kräften ausgestattet war.

Die neue Epoche erzeugte auch die neue Hoffnung auf einen besseren, ja vollkommenen Menschen. Die Hoffnung, dass der Mensch bereits auf dieser Erde vollkommen sein und eine „gute Gesellschaft“ errichten könnte, gehört zu den ganz charakteristischen und einzigartigen Merkmalen westlichen Denkens. Es ist eine Hoffnung, welche sowohl die Propheten des Alten Testaments wie die griechischen Philosophen erfüllte. Sie wurde dann von den transhistorischen Idealen der Erlösung und der vom christlichen Denken propagierten Vorstellung von der wesensmäßigen Verderbtheit des Menschen überschattet - wenn sie auch nie ganz verlorenging. Neuen Ausdruck fand sie in den Utopien des sechzehnten und siebzehnten und in den philosophischen und politischen Ideen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.

Parallel zum Aufleben einer neuen Hoffnung nach der Renaissance und der Reformation verlief die explosionsartige wirtschaftliche Entwicklung des Westens, die erste industrielle Revolution. Organisatorisch nahm sie die Form des kapitalistischen Systems an, das durch Privatbesitz in Bezug auf die Produktionsmittel, durch die Existenz politisch unabhängiger Lohnempfänger und die Regulierung sämtlicher ökonomischer Aktivitäten nach dem Prinzip der Kalkulation und der Maximierung des Profits gekennzeichnet ist. 1913 war die industrielle Produktion siebenmal so groß wie 1860 und war fast ausschließlich in Europa und Nordamerika lokalisiert. (Weniger als 10 Prozent der Weltproduktion kamen nicht aus diesen beiden Bereichen.)

Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ist die. Menschheit in eine neue Phase eingetreten. Die kapitalistische Produktionsweise hat eine tief greifende wesensmäßige Veränderung erfahren. Neue Produktivkräfte (Verwendung von Öl, Elektrizität und Atomenergie) sowie technische Entdeckungen haben die materielle Produktivität im Vergleich zu den Verhältnissen um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts um ein Vielfaches erhöht.

Die neuen technischen Entdeckungen brachten eine neue Form der Produktion mit sich. Diese war gekennzeichnet durch die Zentralisierung in großen Fabrikbetrieben, durch die dominierende Position der großen Unternehmen, durch von Managern geleitete Bürokratien, die diese Unternehmen verwalten, sie aber nicht besitzen, und durch eine Produktionsweise, bei der Hunderttausende von Arbeitern und Büroangestellten reibungslos zusammenarbeiten. Dabei werden sie von starken Gewerkschaften gestützt, die oft denselben bürokratischen Aufbau haben wie die großen Konzerne. Zentralisation, Bürokratisierung und Manipulation sind die charakteristischen Merkmale der neuen Produktionsform.

Die Anfangsperiode der industriellen Entwicklung, in der es darum ging, die Schwerindustrie auf Kosten der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Arbeiter aufzubauen, führte zu einer extremen Verarmung der Millionen von Männern, Frauen und Kindern, die im neunzehnten Jahrhundert in den Fabriken arbeiteten. Als Reaktion auf ihre Not, aber auch als Ausdruck des Glaubens an die Würde des Menschen verbreitete sich die sozialistische Bewegung über ganz Europa und drohte die alte Ordnung zu stürzen und durch eine andere zu ersetzen, die sich zum Wohl der breiten Massen auswirken würde. [V-053]

Die Organisation der Arbeit in Verbindung mit dem technischen Fortschritt und die sich daraus ergebende größere Produktivität verschafften der Arbeiterklasse einen ständig wachsenden Anteil am Nationalprodukt. An die Stelle äußerster Unzufriedenheit mit dem System, wie sie für das neunzehnte Jahrhundert kennzeichnend war, trat nun ein Geist der Kooperation innerhalb des kapitalistischen Systems. Eine neue Partnerschaft entwickelte sich zwischen der Industrie und den in den Gewerkschaften organisierten Arbeitern, und es entstanden (außer in den Vereinigten Staaten) starke sozialistische Parteien. Nach dem Ersten Weltkrieg war es in Europa - außer in Russland, dem wirtschaftlich rückständigsten Land unter den Großmächten - mit der Tendenz zu gewaltsamen Revolutionen zu Ende.

Während die Kluft zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen innerhalb der westlichen Industrienationen (und langsam auch in Russland) wesentlich schmaler geworden ist, ist die Kluft zwischen den „reichen Ländern“ von Europa und Nordamerika einerseits und den „armen Ländern“ in Asien (mit Ausnahme Japans), in Afrika und Lateinamerika so groß, wie sie vormals innerhalb eines Landes war, und wird ständig noch größer. Aber während die Kolonialvölker zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Ausbeutung und Armut hinnahmen, erleben wir jetzt um die Mitte dieses Jahrhunderts den Befreiungskampf dieser armen Länder. Genauso wie die Arbeiter innerhalb des Kapitalismus im neunzehnten Jahrhundert sich weigerten, noch weiterhin daran zu glauben, dass ihr Schicksal eine göttliche Fügung oder eine unabänderliche soziale Gegebenheit sei, so weigern sich jetzt die armen Völker, ihre Armut hinzunehmen. Sie fordern nicht nur politische Freiheit, sondern einen mit dem der westlichen Welt vergleichbaren Lebensstandard und zur Erreichung dieses Zieles eine rasche Industrialisierung. Zwei Drittel der Menschheit sind nicht mehr gewillt, eine Situation zu akzeptieren, in der ihr Lebensstandard nur zwischen 10 bis weniger als 5 Prozent des Lebensstandards des reichsten Landes - der Vereinigten Staaten - liegt, welche mit nur 6 Prozent der Weltbevölkerung heute etwa 40 Prozent der Güter dieser Welt produzieren.

Die koloniale Revolution wurde von vielen Faktoren beschleunigt, unter anderem von der Schwächung Europas auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet nach den beiden Weltkriegen; außerdem von der nationalistischen und revolutionären, aus dem Europa des neunzehnten Jahrhunderts überkommenen Ideologie, sowie von den neuen Produktionsformen und der sozialen Organisation, die den Slogan, „den Westen einzuholen“, zu einer realen Möglichkeit machte.

China, das sich die kommunistische Ideologie und die wirtschaftlichen und sozialen Methoden von Sowjetrussland entlieh, ist zum ersten Kolonialland geworden, welches spektakuläre wirtschaftliche Erfolge aufzuweisen hat und eine der großen Weltmächte zu werden beginnt, indem es durch Beispiel, Überredung und wirtschaftliche Unterstützung versucht, zum Anführer der kolonialen Revolution in Asien, Afrika und Lateinamerika zu werden.

Während die Sowjetunion seit 1923 endgültig die Hoffnung auf eine Arbeiterrevolution im Westen aufgegeben und seitdem tatsächlich versucht hat, alle westlichen revolutionären Bewegungen zu reglementieren, hatte sie auf Unterstützung durch die nationalistischen Revolutionen im Osten gehofft. Nachdem sie jedoch inzwischen [V-054] selbst zu den „reichen“ Nationen gehört, fühlt sie sich von dem wachsenden Ansturm der unterentwickelten Länder unter Führung Chinas bedroht und erstrebt eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten, ohne indessen aus dieser Verständigung eine Allianz gegen China machen zu wollen.

In jeder Beschreibung der Haupttendenzen der Geschichte des Westens in den letzten vierhundert Jahren würde ein wesentliches Element fehlen, wollte man den tief greifenden Wandel auf geistigem Gebiet außer Acht lassen. Während der Einfluss des christlichen theologischen Denkens seit dem siebzehnten Jahrhundert dahinschwand, fand die gleiche spirituelle Wirklichkeit, die zuvor in den Vorstellungen dieser Theologie zum Ausdruck gekommen war, einen neuen Ausdruck in philosophischen, historischen und politischen Formulierungen. Die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts waren, wie Carl Becker (1932) dargelegt hat, nicht weniger Männer des Glaubens als die Theologen des dreizehnten Jahrhunderts. Sie drückten ihr Erlebnis nur in einem anderen begrifflichen Rahmen aus. Das explosionsartige Anwachsen des Reichtums und der technischen Möglichkeiten im neunzehnten Jahrhundert brachte eine fundamentale Veränderung in der Einstellung der Menschen mit sich. Nicht nur war „Gott tot“, wie Nietzsche verkündete, der Humanismus, den die Theologen des dreizehnten Jahrhunderts - genau wie die Philosophen des achtzehnten - vertraten, verkümmerte langsam. Zwar bediente man sich auch weiterhin der Formeln und Ideologien von Religion und Humanismus, aber das echte Erlebnis dahinter wurde immer dünner, bis es schließlich fast jede Realität verlor. Es war, als ob der Mensch sich an seiner eigenen Macht berauschte und die materielle Produktion, die einst ein Mittel zum Zweck eines menschenwürdigeren Lebens gewesen war, zum Selbstzweck gemacht hätte.

Großunternehmen, staatliche Intervention, Kontrolle der Produktionsmittel - die wichtiger wird als deren Besitz -, all das sind Kennzeichen unseres heutigen industriellen Systems. Das kapitalistische System des Westens besitzt zwar noch viele Merkmale des Kapitalismus des vorigen Jahrhunderts, hat aber so viele der neuen Kennzeichen in sich aufgenommen, dass es sich gegenüber dem früheren System stark verändert hat. Die drei heute bekannten Formen des Sozialismus, die weit drastischer mit der Kontinuität der früheren ökonomischen Phase gebrochen haben, weisen in unterschiedlichem Grad und mit unterschiedlicher Betonung die neuen Tendenzen auf: 1. der Chruschtschowismus, ein System einer völlig zentralisierten Planwirtschaft und Verstaatlichung von Industrie und Landwirtschaft; 2. der chinesische Kommunismus, besonders seit 1958, ein System der totalen Mobilisierung seines wichtigsten Aktivpostens, seiner sechshundert Millionen Menschen bei einer totalen Manipulation ihrer physischen und emotionalen Energie und Gedanken ohne Rücksicht auf ihre Individualität; 3. der humanistische Sozialismus, dessen Ziel es ist, ein unumgängliches Minimum an Zentralisation, staatlicher Intervention und Bürokratie mit einer größtmöglichen Dezentralisation und möglichst viel Individualismus und Freiheit zu vereinigen. Dieser dritte Typ des Sozialismus ist in verschiedenen Formen von Skandinavien bis Jugoslawien, Burma und Indien zu finden.

Aufgrund der Erkenntnis dieser historischen Tendenzen möchte ich folgende These aufstellen, bzw. mit Beispielen erhärten: Die Sowjetunion unter Führung [V-055] Chruschtschows ist ein konservatives, staatlich kontrolliertes Industrie-Managertum und kein revolutionäres System; sie ist interessiert an Gesetz und Ordnung und darauf bedacht, sich gegen den revolutionären Ansturm der Nationen der Besitzlosen zu verteidigen. Aus diesem Grund sucht Chruschtschow die Verständigung mit den USA, die Beendigung des Kalten Krieges und eine weltweite Abrüstung. Er will weder den Krieg, noch kann er ihn brauchen. Chruschtschow kann jedoch seine kommunistisch-revolutionäre Ideologie nicht aufgeben und sich auch nicht gegen China wenden, ohne sein eigenes System zu unterminieren. Daher muss er vorsichtig manövrieren, um das russische Volk ideologisch im Griff zu behalten und sich sowohl gegen seine Gegner innerhalb Russlands wie auch gegen China und dessen potenzielle Verbündete von außerhalb verteidigen zu können. Falls sein Versuch, den Kalten Krieg mit dem Westen zu beenden, scheitert, wird er (oder sein Nachfolger) in ein enges Bündnis mit China und in eine Politik hineingedrängt werden, bei der nur wenig Hoffnung auf Frieden bleibt.

Die Entwicklung der früheren Kolonialvölker wird sich anders gestalten als die kapitalistische Entwicklung, weil für sie dieses System aus psychologischen, sozialen und ökonomischen Gründen weder durchführbar noch attraktiv ist. Die Frage lautet nicht, ob sie sich dem kommunistischen oder dem kapitalistischen System anschließen werden. Die wirkliche Alternative ist, ob sie die chinesische oder die russische Form des Kommunismus annehmen und auf diese Weise mit dem einen oder dem anderen dieser beiden Länder in enge Verbindung treten werden, oder ob sie eine der verschiedenen Formen des demokratischen, dezentralisierten Sozialismus annehmen und zu Verbündeten des neutralen Blocks werden, wie er von Tito, Nasser und Nehru repräsentiert wird.

Die Vereinigten Staaten stehen deshalb vor der Alternative, entweder unter Fortsetzung des Wettrüstens weiter gegen den Kommunismus zu kämpfen - mit der sich daraus ergebenden Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges - oder auf der Basis des Status quo eine politische Verständigung mit der Sowjetunion, eine allgemeine Abrüstung (unter Einschluss Chinas) und die Unterstützung neutraler demokratisch-sozialistischer Regime in der kolonialen Welt anzustreben. Letztgenannte Lösung würde zu einer multi-polaren Welt führen, die aus dem westlichen Block unter Führung der Vereinigten Staaten und Europas, aus dem Sowjetblock unter Führung der Sowjetunion, aus China, aus dem demokratisch-sozialistischen Block unter jugoslawisch-indischer Führung und dem Block anderer neutraler Nationen außerhalb der oben angeführten Gruppen bestünde. Tatsache bleibt, dass die beiden von Russland-China und von den Vereinigten Staaten-Westeuropa repräsentierten Systeme in der heutigen Welt miteinander konkurrieren. Jeder Versuch eines dieser Systeme, das andere mit Waffengewalt zu besiegen, wird nicht nur fehlschlagen, sondern zur Vernichtung beider Systeme führen. Es gibt für die Vereinigten Staaten nur eine Möglichkeit, mit dem Kommunismus zu konkurrieren, nämlich zu zeigen, dass es möglich ist, den Lebensstandard in den Entwicklungsländern bis zu einem Grad anzuheben, der mit dem durch totalitäre Methoden erreichten vergleichbar wäre, ohne Methoden einer Zwangsreglementierung anzuwenden.

Ob eine Welt mit vielen Zentren möglich sein wird, hängt vom Akzeptieren des [V-056] gegenwärtigen Status quo durch alle Mächte und von einer wirksamen allgemeinen Abrüstung ab. Die durch das atomare Wettrüsten verursachte Spannung und das hierdurch erzeugte Misstrauen erlauben keine politische Verständigung; die ungelöste politische Situation erlaubt keine Abrüstung. Sowohl Abrüstung als auch politische Verständigung sind aber notwendig, wenn der Frieden erhalten bleiben soll.

Um diese Schritte aber zu ermöglichen, sind zuvor einige andere Schritte notwendig:

  1. Psychologische Abrüstung, Beendigung des hysterischen Hasses und Misstrauens unter den Hauptprotagonisten, die bisher ein realistisches und objektives Denken auf beiden Seiten sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich gemacht haben. (Eine solche psychologische Abrüstung bedeutet nicht, dass man seine politischen und philosophischen Überzeugungen aufgibt oder auf das Recht verzichtet, an anderen Systemen Kritik zu üben. Im Gegenteil ist sie einer solchen Kritik und der Verfechtung der eigenen Überzeugungen nur förderlich, weil diese dann nicht mehr von Hass bestimmt sind und nicht mehr dazu dienen, den Kampfgeist zu schüren.)
  2. Massive Wirtschaftshilfe in Gestalt von Nahrungsmitteln, Kapital und technischer Unterstützung für die Entwicklungsländer, die nur möglich sein wird, wenn das Wettrüsten aufhört.
  3. Die Stärkung und Neuorganisierung der Vereinten Nationen in der Weise, dass diese Organisation in die Lage versetzt wird, die internationale Abrüstung zu überwachen und eine Wirtschaftshilfe großen Stils für die Entwicklungsländer zu organisieren.

Verwandt mit dieser Alternative in der Außenpolitik ist eine andere, die kaum weniger wichtig ist. Die Vereinigten Staaten haben genau wie der Westen (und Russland), als sie die Armut besiegten und zu Reichtum gelangten, einen Geist des Materialismus angenommen, bei dem Produktion und Konsum zum Selbstzweck wurden, anstatt das Leben menschlicher und kreativer zu machen. Die meisten Menschen haben die Fähigkeit eingebüßt, zwischen diesen institutionellen, zweitrangigen Zielen und Werten und den primären Zielen des Lebens zu unterscheiden. Ganz abgesehen von allen Gefahren, die uns von außen drohen, wird unsere innere Leere und unsere tief eingewurzelte Hoffnungslosigkeit schließlich zum Untergang der westlichen Zivilisation führen, falls nicht eine echte Renaissance des westlichen Geistes an die Stelle der gegenwärtigen Gleichgültigkeit, Resignation und Verwirrung tritt. Diese Renaissance müsste genau das sein, was die Renaissance des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts war - eine belebende Erneuerung der humanistischen Prinzipien und Bestrebungen der westlichen Kultur.

Um noch einmal zusammenzufassen: Was wir heute erleben, ist im wahrsten Sinn des Wortes eine rasch voranschreitende Weltrevolution, eine Revolution, welche vor vierhundert Jahren im Westen begonnen hat. Sie führte zu einem neuen Produktionssystem, das zunächst Europa und Amerika zu den führenden Nationen der Welt machte. Es machte aus den arbeitenden Massen in Europa Nutznießer des Systems, wodurch die Revolution der Massen in Europa (mit Ausnahme Russlands) und in Nordamerika friedlich war. Augenblicklich entwickelt sich ein neues Stadium der Weltrevolution, die Revolution der unterentwickelten Länder in Asien, Afrika und [V-057] Lateinamerika. Die Frage ist, ob diese Revolution ebenfalls friedlich verlaufen wird, wozu die Möglichkeit zu bestehen scheint, falls die großen Industriemächte den historischen Trend akzeptieren, sich zu adäquaten vorausschauenden Schritten zu entschließen. Tun sie dies nicht, werden sie der kolonialen Revolution keinen Einhalt gebieten können, selbst wenn es ihnen einen kurzen historischen Augenblick lang gelingen sollte, sie zurückzuschlagen. Aber bei einem solchen Versuch, die koloniale Revolution hinauszuschieben, werden zwischen den beiden sich mit Atomwaffen gegenüberstehenden Großmächten Spannungen entstehen, die uns kaum eine Hoffnung auf Frieden und auf ein Überleben der Demokratie lassen.

c) Gesundes und pathologisches Denken in der Politik

Die Idee, dass die Sowjetunion ein konservativer und kein revolutionärer Staat ist, und dass die demokratisch-sozialistische Entwicklung der unterentwickelten Länder von den Vereinigten Staaten nicht bekämpft, sondern begrüßt werden sollte, steht zu der diesbezüglichen Meinung der meisten im Widerspruch. Dieser Widerspruch ist nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein emotionaler. Je nach der Einstellung des Lesers klingen solche Gedanken ketzerisch, unsinnig oder subversiv. Daher erscheinen mir einige Bemerkungen über den bei diesen Reaktionen wirksamen psychologischen Mechanismus angebracht, damit man das, was ich in den nächsten Kapiteln zu sagen habe, besser versteht.

Die eigene Gesellschaft und Kultur zu verstehen, ist genau wie das Verständnis des eigenen Ich Aufgabe der Vernunft. Aber die Hindernisse, welche die Vernunft zu überwinden hat, um die eigene Gesellschaft zu verstehen, sind nicht geringer als die ungeheuren Hindernisse, die - wie Freud gezeigt hat - den Weg zum Verständnis von uns selbst blockieren. Diese von Freud als „Widerstand“ bezeichneten Hindernisse beruhen keineswegs auf intellektuellen Mängeln oder fehlender Information. Sie beruhen vielmehr auf emotionalen Faktoren, die unsere Denkinstrumente derart stumpf machen oder verformen, dass sie zur Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr taugen. In jeder Gesellschaft sind sich die meisten der Existenz dieser Verformung nicht bewusst. Sie bemerken eine Entstellung nur dann, wenn es sich um eine Abweichung von der Einstellung der Mehrheit handelt. Andererseits sind sie davon überzeugt, dass die Meinungen der Mehrheit vernünftig und „gesund“[5] sind. (Vgl. Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955a, GA IV, S. 52.) Das ist ein Irrtum. Genauso wie es eine folie à deux gibt, gibt es auch einen Wahn von Millionen, und ein Konsens im Irrtum verwandelt den Irrtum noch nicht in Wahrheit. Spätere Generationen können Jahre nach dem Ausbruch des Massenwahns die Verrücktheit einer solchen Einstellung klar erkennen, obwohl sie von fast allen geteilt wurde. So kommen einem erst nach langer Zeit gewisse extreme psychische Reaktionen, etwa die auf den Schwarzen Tod im Mittelalter, die Hexenjagden zur Zeit der Gegenreformation, der religiöse Hass in England im siebzehnten Jahrhundert oder der Hass gegen die „Hunnen“ im Ersten Weltkrieg wie pathologische Erscheinungen vor. Im allgemeinen ist man sich jedoch des pathologischen Charakters von vielem, was unter dem Begriff „Denken“ läuft, im Augenblick des [V-058] Geschehens kaum bewusst. Ich möchte auf den nächsten Seiten einige der wichtigsten Formen des pathologischen Denkens im Bereich der Innen- und vor allem der Außenpolitik skizzieren, weil ich es für äußerst wichtig halte, dass wir über ein einwandfreies Instrumentarium verfügen, wenn es gilt, die politischen Ereignisse unserer Zeit zu verstehen.

Ich beginne mit der Beschreibung einer der extremen Formen pathologischen Denkens, dem paranoiden Denken. Die Psychiater - wie auch die meisten Laien - kennen den Fall des an paranoischen Wahnideen leidenden Menschen. Jemand, der zu uns sagt, dass jeder „hinter ihm her“ sei, dass seine Kollegen, Freunde, ja selbst seine Frau sich verschworen hätten, ihn umzubringen, wird von den meisten als wahnsinnig erkannt. Aus welchem Grund? Offensichtlich nicht deshalb, weil die Beschuldigungen, die er äußert, unmöglich wären. Es könnte ja sein, dass seine Feinde, seine Bekannten und sogar seine Familie sich zusammengetan hätten, um ihn umzubringen; so etwas kommt tatsächlich vor. Wir können dem unglücklichen Patienten, wenn wir bei der Wahrheit bleiben wollen, nicht sagen, was er da vermute, sei unmöglich. Wir können nur argumentieren, es sei höchst unwahrscheinlich, und dies deshalb, weil solche Dinge sich im allgemeinen nur selten ereignen und weil der Charakter seiner Frau und der seiner Freunde es besonders unwahrscheinlich mache.

Trotzdem werden wir den Patienten nicht überzeugen. Seine Realität gründet sich auf die logische Möglichkeit und nicht auf Wahrscheinlichkeit. Eben diese Einstellung liegt seiner Krankheit zugrunde. Sein Zugang zur Realität ruht auf der schmalen Basis ihrer Vereinbarkeit mit den Gesetzen des logischen Denkens und bedarf keiner Untersuchung der realistischen Wahrscheinlichkeit. Der Paranoiker bedarf ihrer nicht, weil er zu einer solchen Untersuchung gar nicht in der Lage ist. Wie bei jedem psychotischen Patienten ist auch bei ihm der Kontakt mit der Realität äußerst dünn und brüchig. Realität ist für ihn hauptsächlich das, was in seinem eigenen Inneren existiert, seine eigenen Emotionen, Ängste und Wünsche. Die Außenwelt ist der Spiegel oder die symbolische Repräsentation der inneren Welt.

Im Gegensatz zum Schizophrenen ist jedoch bei vielen Paranoikern ein Aspekt des gesunden Denkens erhalten: die Frage nach dem logisch Möglichen. Sie haben nur den anderen Aspekt, den der realistischen Wahrscheinlichkeit, fallengelassen. Wenn etwas nur möglich zu sein braucht, um wahr zu sein, ist Gewissheit leicht zu erlangen. Muss aber etwas wahrscheinlich sein, so gibt es nur Weniges, dessen man unbedingt gewiss sein kann. Das ist es, was das paranoide Denken so „attraktiv“ macht trotz der Leiden, die es verursacht. Es erspart uns den Zweifel und garantiert uns ein Gefühl der Gewissheit, das in den meisten Fällen stärker ist als bei Einsichten, zu denen uns gesundes Denken hinführen kann.

Es fällt nicht schwer, paranoides Denken im individuellen Fall eines paranoischen Psychotikers zu erkennen. Aber paranoides Denken dann zu erkennen, wenn es von Millionen geteilt und von den Autoritäten, die sie führen, gebilligt wird, ist schwieriger. Dies trifft zum Beispiel auf die herkömmlichen Ansichten über Russland zu. Heutzutage denken die meisten Amerikaner über Russland auf paranoide Weise, indem sie sich nämlich fragen, was möglich ist und nicht, was wahrscheinlich ist. Natürlich ist es möglich, dass Chruschtschow uns gewaltsam überwältigen will. Es ist [V-059] möglich, dass er Friedensvorschläge macht, um uns über die Gefahr hinwegzutäuschen. Möglich ist auch, dass seine ganze Argumentation mit den chinesischen Kommunisten über Koexistenz nur ein Trick ist, um uns glauben zu machen, er wolle den Frieden, und um uns dann umso besser überraschen zu können. Wenn wir nur an Möglichkeiten denken, haben wir in der Tat keine Chance für ein realistisches und vernünftiges politisches Handeln.

Gesundes Denken bedeutet, nicht nur an Möglichkeiten zu denken, die in der Tat immer relativ leicht zu erkennen sind, sondern auch Wahrscheinlichkeiten zu erwägen. Das heißt, dass man die realen Situationen untersucht, um das vermutliche Verhalten des Gegners bis zu einem gewissen Grade voraussagen zu können, und dies mit Hilfe einer Analyse aller Faktoren und Motivationen, die sein Verhalten beeinflussen könnten. Um mich ganz klar auszudrücken: Wenn ich hier gesundes Denken dem paranoiden gegenüberstelle, ist damit nicht behauptet, dass die Russen nicht alle die erwähnten verborgenen irreführenden Pläne haben könnten. Ich möchte nur nachdrücklich darauf hinweisen, dass wir die Tatsachen gründlich und ohne Emotionen untersuchen sollten und dass die logische Möglichkeit als solche nichts beweist und wenig bedeutet.

Ein anderer pathologischer Mechanismus, der einem realistischen und wirksamen Denken im Wege steht, ist der Mechanismus der Projektion. Wenn er in individuellen Fällen in seinen gröberen Formen auftaucht, sind wir alle mit diesem Mechanismus vertraut. Jeder kennt den feindseligen, destruktiven Menschen, der allen anderen Feindseligkeit vorwirft und sich selbst für ein unschuldiges Opfer hält. Tausende von Ehen bestehen auf der Basis dieses projektiven Mechanismus. Jeder Partner beschuldigt den anderen dessen, was in Wirklichkeit sein eigenes Problem ist, wodurch er es fertigbringt, völlig mit dem Problem des Partners ausgefüllt zu sein, anstatt sich seinem eigenen zu stellen. Aber auch in diesem Fall wird das, was im Einzelfall leicht zu erkennen ist, nicht gesehen, wenn der gleiche projektive Mechanismus von Millionen geteilt und von ihren Führern unterstützt wird. So glaubte beispielsweise im Ersten Weltkrieg die Bevölkerung der Alliierten, die Deutschen seien gemeine Hunnen, die unschuldige kleine Kinder umbrächten; sie seien eine wahre Personifikation alles Bösen, ja sogar die Musik von Bach und Beethoven wurde in das Reich des Teufels verbannt. Andererseits kämpften diese Ankläger der Hunnen selbst nur für die edelsten Ziele, für Freiheit, für Frieden, für Demokratie und so weiter. Merkwürdigerweise nur hatten die Deutschen genau dieselbe Meinung von den Alliierten. Was ist das Resultat? Der Feind erscheint als die Verkörperung alles Bösen, weil ich alles Böse, das ich in mir selbst verspüre, auf ihn projiziere. Logischerweise halte ich mich, nachdem das geschehen ist, für die Verkörperung alles Guten, weil ich das Böse auf die andere Seite übertragen habe. Das Resultat ist Empörung und Hass gegen den Feind und eine unkritische narzisstische Selbstglorifizierung. Hieraus kann eine Stimmung entstehen, die durch eine allgemeine Manie und durch gemeinsamen leidenschaftlichen Hass gekennzeichnet ist. Es ist dies jedoch eine pathologische Einstellung, die gefährlich ist, wenn sie zum Krieg führt, und die tödlich ist, weil dieser Krieg Vernichtung bedeutet.

Unsere Einstellungen dem Kommunismus, der Sowjetunion und dem [V-060] kommunistischen China gegenüber verkörpern ein solches projektives Denken. Tatsächlich war das stalinistische Terrorsystem unmenschlich, grausam und empörend, wenn auch der Terror nicht schlimmer war als in einer Anzahl von Ländern, die wir als frei bezeichnen - z.B. nicht schlimmer als der Terror eines Rafael Leónidas Trujillo oder eines Fulgenico Batista.

Ich möchte mit dieser nicht-kommunistischen Grausamkeit oder Gefühllosigkeit keineswegs das Regime Stalins beschönigen, denn natürlich heben sich Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten nicht gegenseitig auf. Ich erwähne sie nur, um zu zeigen, dass die Empörung vieler Leute gegen Stalin nicht so echt ist, wie sie glauben mögen. Wäre sie es, so wären sie genauso empört über andere Fälle von Grausamkeit und Gefühllosigkeit, ob deren Urheber nun zufällig zu ihren politischen Gegnern gehören oder nicht. Aber, was wesentlicher ist, das Regime Stalins ist vorüber. Russland ist heute ein konservativer Polizeistaat, der keineswegs etwas Wünschenswertes ist, wenn man Freiheit und Individualität liebt, aber der in uns auch nicht jene tiefe menschliche Empörung wecken sollte, die das stalinistische System verdiente. Tatsächlich ist es nur zu begrüßen, dass das russische Regime von einem grausamen Terrorismus zu den Methoden eines konservativen Polizeistaates übergegangen ist. Auch kommen mir jene Freiheitsverfechter nicht ganz aufrichtig vor, die ihren Hass auf die Sowjetunion besonders lautstark verkünden und dabei die beträchtliche Wandlung, die sich dort vollzogen hat, kaum bemerkt zu haben scheinen.

Es gibt immer noch viele, die weiterhin den Kommunismus für den Inbegriff des Bösen und uns, die freie Welt, einschließlich solcher Verbündeter wie Franco, für die Verkörperung alles Guten halten. Das Resultat ist das narzisstische und unrealistische Bild vom Westen als dem alleinigen Verfechter des Guten, der Freiheit und Humanität, und des Kommunismus als des Feindes alles Humanen und Ehrbaren. Die kommunistischen Chinesen unterliegen demselben Mechanismus besonders in ihrer Auffassung vom Westen.

Vermischt sich die Projektion mit paranoidem Denken, wie dies während eines Krieges und auch im „Kalten Krieg“ der Fall ist, so haben wir es in der Tat mit einem gefährlich explosiven psychologischen Gemisch zu tun, das ein gesundes und vorausschauendes Denken verhindert.

Die Erörterung des pathologischen Denkens wäre unvollständig, wenn wir nicht einen weiteren Typus des Pathologischen berücksichtigten, der im politischen Denken eine große Rolle spielt - den Fanatismus. Was versteht man unter einem Fanatiker? Woran erkennt man ihn? Weil heute eine echte Überzeugung so rar geworden ist, neigen wir dazu, jeden als „Fanatiker“ zu bezeichnen, der mit tiefem Glauben einer geistigen oder wissenschaftlichen Überzeugung verbunden ist, die radikal von der Meinung anderer abweicht und noch nicht bewiesen ist. Wäre dem so, so wären die größten und kühnsten Menschen wie Buddha, Jesaja, Sokrates, Jesus, Galilei, Darwin, Marx, Freud und Einstein ganz gewiss alle „Fanatiker“ gewesen.

Die Frage, wer ein Fanatiker ist, kann man oft nicht nach dem Inhalt einer Behauptung beantworten. So kann man beispielsweise die Richtigkeit des Glaubens an den Menschen und seine Möglichkeiten verstandesmäßig nicht beweisen, auch wenn er tief im echten Erleben dessen verwurzelt ist, der glaubt. Andererseits ist beim [V-061] wissenschaftlichen Denken das Stadium der Aufstellung einer Hypothese oft vom Beweis noch recht weit entfernt, und der Wissenschaftler muss an seine Idee glauben, bis er zum Stadium des Beweises gelangen kann. Allerdings gibt es viele Behauptungen, die in deutlichem Widerspruch zu den Gesetzen des rationalen Denkens stehen, und jeden, der unerschütterlich daran glaubt, kann man mit Recht als einen Fanatiker bezeichnen. Aber oft fällt es nicht leicht zu entscheiden, was irrational ist und was nicht, und weder ein „Beweis“ noch die allgemeine Zustimmung sind ausreichende Kriterien dafür.

Tatsächlich erkennt man den Fanatiker leichter an gewissen Eigenschaften seiner Persönlichkeit als am Inhalt seiner Überzeugung. Die wichtigste und im allgemeinen auch leicht erkennbare Persönlichkeitseigenschaft des Fanatikers ist eine Art „kaltes Feuer“, eine Leidenschaftlichkeit, die gleichzeitig ohne Wärme ist. Der Fanatiker steht in keiner Beziehung zur Welt außerhalb seiner selbst. Niemand und nichts liegt ihm wirklich am Herzen, auch wenn er vielleicht Anteilnahme als wichtigen Bestandteil seines „Glaubens“ proklamiert. Das kalte Funkeln in seinen Augen sagt uns oft mehr über den Fanatismus in seinen Ideen als die offensichtliche „Unvernünftigkeit“ der Ideen selbst.

Theoretisch gesprochen ist der Fanatiker eine stark narzisstische Persönlichkeit, die ohne Kontakt mit der Außenwelt lebt. Er hat für nichts ein echtes Gefühl, da dieses stets das Ergebnis einer Wechselbeziehung zwischen uns selbst und der Welt ist. Die Pathologie des Fanatikers ähnelt der eines Depressiven, der nicht an seiner Traurigkeit leidet (dies wäre eine Erleichterung für ihn), sondern an seiner Unfähigkeit, überhaupt etwas zu empfinden. Der Fanatiker unterscheidet sich von der depressiven Persönlichkeit dadurch, dass er einen Ausweg aus der akuten Depression gefunden hat. Er hat sich ein Idol, ein Absolutum aufgebaut, dem er sich völlig unterwirft, während er sich selbst gleichzeitig zu einem Bestandteil desselben macht. Er handelt, denkt und fühlt dann im Namen seines Idols, oder, besser gesagt, er hat die Illusion, eine innere Erregung zu „empfinden“, während er in Wirklichkeit kein echtes Gefühl aufbringt. Er lebt in einem Zustand narzisstischer Erregung, da er das Gefühl seiner Isolation und Leere in einer völligen Unterwerfung unter das Idol und in der gleichzeitigen Vergottung seines eigenen Ich ertränkt hat, das er zu einem Bestandteil des Idols gemacht hat. Er ist leidenschaftlich in seiner abgöttischen Unterwerfung und seiner Grandiosität, gleichzeitig ist er jedoch kalt und zu einer echten Bezogenheit und einem echten Gefühl unfähig. Man könnte seine Haltung symbolisch mit „brennendem Eis“ vergleichen. Er wird andere besonders dann täuschen, wenn sein Idol Liebe, Brüderlichkeit, Gott, Erlösung, Vaterland, Rasse, Ehre und dergleichen zum Inhalt hat anstatt unverhüllter Destruktivität, Feindseligkeit oder unverhohlenem Eroberungsdrang. Aber für die menschliche Wirklichkeit macht es kaum einen Unterschied, welcher Art sein Idol ist. Der Fanatismus ist stets das Resultat der Unfähigkeit zu echter Bezogenheit. Der Fanatiker ist deshalb so verführerisch und daher politisch so gefährlich, weil er den Eindruck macht, ganz intensiv zu fühlen und vollständig überzeugt zu sein. Ist es verwunderlich, dass es ihm gelingt, so viele mit seinem gefälschten Glauben und Gefühl anzuziehen, wo wir doch alle uns nach Gewissheit und leidenschaftlichem Erleben sehnen? [V-062]

Paranoides, projektives und fanatisches politisches Denken sind im wahren Sinne pathologische Denkformen, die sich von der Pathologie im herkömmlichen Sinn nur durch die Tatsache unterscheiden, dass politische Gedanken nicht auf ein oder zwei Individuen beschränkt sind, sondern von einer größeren Gruppe von Menschen geteilt werden. Diese pathologischen Formen des Denkens sind jedoch nicht die einzigen, die den Weg zu einer richtigen Auffassung der politischen Wirklichkeit blockieren. Es gibt noch andere Formen des Denkens, die man vielleicht nicht als pathologisch bezeichnen sollte, die jedoch genauso gefährlich sind, vielleicht nur aus dem Grunde, weil sie noch verbreiteter sind. Ich meine hier insbesondere das unauthentische, automatenhafte Denken. Dabei handelt es sich um einen einfachen Prozess: Ich halte etwas für wahr; nicht deshalb, weil ich durch eigenes Nachdenken, welches sich auf eigene Beobachtung und Erfahrung gründet, darauf gekommen bin, sondern weil man es mir „suggeriert“ hat. Beim automatenhaften Denken kann ich die Illusion haben, es handle sich um meine eigenen Ideen, während ich sie tatsächlich deshalb übernommen habe, weil sie mir von Instanzen präsentiert wurden, die in der einen oder anderen Form eine Autorität sind.

Die moderne Manipulation des Denkens, ob es sich um kommerzielle Werbung oder politische Propaganda handelt, bedient sich der suggestiv-hypnoiden Techniken, die in den Menschen Gedanken und Gefühle erzeugen, ohne dass es diesen bewusst wird, dass „ihre“ Gedanken nicht ihre eigenen sind. Die Kunst der Gehirnwäsche, in der die Chinesen es zu einer gewissen Perfektion gebracht zu haben scheinen, ist eigentlich nur eine extreme Form der hypnoiden Suggestion. Mit der zunehmenden Geschicklichkeit in den suggestiven Techniken wird echtes Denken mehr und mehr durch automatenhaftes Denken ersetzt, doch bleibt dabei die große Illusion vom freiwilligen und spontanen Charakter unserer Gedanken weithin erhalten.

Es ist bemerkenswert, wie rasch Gruppen den unechten Charakter des Denkens bei ihren Gegnern, aber nicht bei sich selbst erkennen. So berichten beispielsweise amerikanische Touristen nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion von der Uniformität des dortigen politischen Denkens. Anscheinend stellt jeder dort die gleichen Fragen. Von: „Wie ist das mit der Lynchjustiz im Süden?“ bis zu: „Weshalb brauchen die Vereinigten Staaten so viele Militärbasen rings um die Sowjetunion, wenn die Amerikaner friedliche Absichten haben?“

Die Russlandreisenden, die von dieser Uniformität der Meinungen berichten, sind sich meist nicht klar darüber, dass die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten kaum weniger uniform ist. Die Mehrzahl der Amerikaner nimmt eine Anzahl von Klischees als gegebene Tatsachen hin, etwa, dass die Russen die Welt für den revolutionären Kommunismus erobern wollen, dass sie, weil sie nicht an Gott glauben, keine den unseren ähnliche Moralbegriffe haben usw. Hinzu kommt, dass in den Vereinigten Staaten die Klischeemeinungen keineswegs nur auf die unteren Bevölkerungsschichten beschränkt sind. Wieweit das auch auf die Sowjetunion zutrifft, kann ich natürlich nicht einmal vermuten. In Amerika werden diese Klischeevorstellungen auch von amtierenden Politikern, Intellektuellen und Zeitungs- und Radiokommentatoren geteilt, die an der Formulierung der praktischen Politik und an der Bildung der öffentlichen Meinung mitbeteiligt sind. [V-063]

Diese Art des unechten, automatenhaften Denkens führt zum „Doppeldenken“ (doublethink)[6], das George Orwell so glänzend als die Logik des totalitären Denkens beschrieben hat. „Doppeldenken“, sagt er in seinem Roman 1984 (G. Orwell, 1949, S. 32; dt. 1950, S. 44), „bedeutet das Vermögen, zwei widersprüchliche Überzeugungen im Kopf zu haben und beide zugleich zu akzeptieren“. Das russische Doppeldenken ist uns geläufig. Länder wie Ungarn und die DDR[7], deren Regierung unverkennbar gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung regiert, werden als „Volksdemokratien“ bezeichnet. Eine hierarchische Klassengesellschaft, die nach den strengen Richtlinien einer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ungleichheit aufgebaut ist, heißt „klassenlose Gesellschaft“. Ein System, in dem die Macht des Staates in den letzten vierzig Jahren ständig gewachsen ist, soll angeblich zum „allmählichen Absterben des Staates“ führen. Aber das Phänomen des Doppeldenkens beschränkt sich keineswegs nur auf die Sowjets. Wir im Westen bezeichnen Diktaturen als „Teil der freien Welt“, wenn sie nur antirussisch eingestellt sind. Diktatoren wie Syngman Rhee, Tschiang Kai-schek, Franco, Salazar, Batista, um nur einige zu erwähnen, wurden als Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie gepriesen, und die Wahrheit über ihr Regime wurde unterschlagen oder entstellt. Außerdem haben wir es zugelassen, dass Männer wie Tschiang, Rhee und Adenauer die amerikanische Außenpolitik beeinflussten und zeitweise modifizierten. Die amerikanische Öffentlichkeit ist falsch informiert über Korea, Formosa, Laos, den Kongo und Deutschland, und das in einem Maß, das in flagrantem Gegensatz zu unserem Bild von uns selbst als einer gut informierten Bevölkerung mit einer freien Presse steht. (Nachweise hierzu liefert W. J. Lederer, 1961. Er behandelt folgende Kapitel: „Der Betrug über Laos“; „Was man uns über Formosa nicht sagt“; „Was man uns über Korea nicht sagt“; außerdem berichtet er über die Rolle der „falschen Information“, der „Publicity“ und der „Geheimhaltung“ bei der Regierung der Vereinigten Staaten.) Wir nennen es Subversion, wenn die Russen antiamerikanische Propaganda betreiben, aber die Sendungen von „Radio Freies Europa“ nach Osteuropa sind keine Subversion. Wir proklamieren unsere Achtung vor der Unabhängigkeit aller kleinen Länder, aber wir unterstützen Versuche zum Sturz der Regierungen in Guatemala und Kuba. Wir sind entsetzt über den Terror der Russen in Ungarn, aber nicht über den der Franzosen in Algerien.

Pathologisches Denken und Doppeldenken sind nicht nur krankhaft und unmenschlich, sie gefährden auch unser Überleben. In einer Situation, in der eine falsche Beurteilung katastrophale Folgen haben kann, können wir uns pathologisches oder klischeehaftes Denken einfach nicht mehr leisten. Ein möglichst klares, realistisches Denken über die Weltlage, besonders in Bezug auf den Konflikt zwischen den Großmächten wird zu einer Sache von vitaler Notwendigkeit. Heute werden gewisse Meinungen stolz als „realistisch“ vertreten, während sie in Wirklichkeit ebenso phantastisch und unrealistisch sind wie einige der Pollyannischen Illusionen, gegen die sie sich wenden. Es gehört zu den Schwächen menschlicher Reaktionen, dass viele zu der Ansicht neigen, eine zynische, „harte“ Einstellung sei von vornherein „realistischer“ als eine objektive, komplexe und konstruktive. Offenbar glauben viele, nur der starke, mutige Mensch könne die Dinge einfach und relativ unkompliziert sehen oder [V-064] eine Katastrophe riskieren, ohne mit der Wimper zu zucken.[8] Sie vergessen, dass es oft fanatische, selbstgerechte und uneinsichtige Menschen sind, welche das, was C. W. Mills so richtig als „Crackpot-Realismus“ bezeichnet hat, mit einer vernünftigen Einschätzung der Wirklichkeit verwechseln.

Paranoides, projektives, fanatisches und automatenhaftes Denken sind verschiedene Formen von Denkprozessen, die alle in dem gleichen Phänomen wurzeln - in der Tatsache, dass die Menschheit noch nicht auf dem Entwicklungsniveau angelangt ist, das in den großen humanistischen Religionen und Philosophien zum Ausdruck kommt, die in Indien, China, Palästina, Persien und Griechenland zwischen 1500 v. Chr. und der Zeit Christi entstanden sind. Während die meisten Menschen in den Begriffen dieser religiösen Systeme und ihrer nicht-theologischen, philosophischen Nachfolger denken, befinden sie sich mit ihren Emotionen immer noch auf einer archaischen, irrationalen Stufe, welche sich nicht von der unterscheidet, die vor den Ideen des Buddhismus, des Judentums und des Christentums existierte. Noch immer beten wir Götzenbilder an. Wir nennen sie nicht mehr Baal oder Astarte, aber wir verehren unsere Götzen unter anderen Namen und unterwerfen uns ihnen.

Technisch und intellektuell leben wir in einem Atomzeitalter, emotional leben wir noch in der Steinzeit. Wir fühlen uns den Azteken überlegen, die an einem Festtag 20 000 Menschen ihren Göttern opferten, im Glauben, damit das Fortbestehen des Universums zu sichern. Wir opfern Millionen von Menschen unterschiedlichen Zielen, von denen wir annehmen, es seien edle Ziele, die das Gemetzel rechtfertigten. Aber die Tatsachen sind dieselben, es unterscheiden sich lediglich die Rationalisierungen. Trotz all seiner intellektuellen und technischen Fortschritte ist der Mensch noch immer befangen in der Verehrung seiner Götzen: der Bande des Blutes, des Besitzes und der Institutionen. Noch immer wird seine Vernunft von irrationalen Leidenschaften beherrscht. Noch immer hat er nicht gelernt, was es heißt, ganz Mensch zu sein. Noch immer haben wir zweierlei Wertmaßstäbe für die Beurteilung unserer eigenen Gruppe und für die Beurteilung der anderen Gruppen. Die Geschichte der zivilisierten Menschheit bis zum heutigen Tage ist in Wirklichkeit sehr kurz und entspricht kaum dem Zeitraum von einer Stunde in einem menschlichen Leben. Es ist daher weder verwunderlich noch entmutigend, dass wir noch nicht bis zur Reife gelangt sind. Wer an die Fähigkeit des Menschen glaubt, das zu werden, was er potenziell ist, müsste nicht beunruhigt sein, hätte nicht die Diskrepanz zwischen der emotionalen und der intellektuell-technischen Entwicklung inzwischen derartige Ausmaße angenommen, dass uns Vernichtung oder eine neue Barbarei droht. Diesmal wird uns nur eine fundamentale und authentische Wandlung retten. [V-065]

Dennoch wissen wir wenig darüber, wie diese Wandlung zu bewerkstelligen ist - und die Zeit drängt so sehr. Wir müssen durch das Netz von Rationalisierungen, Selbsttäuschungen und Doppeldenken hindurchdringen. Wir müssen objektiv sein und die Welt und uns selbst realistisch und unentstellt durch Narzissmus und Xenophobien sehen. Freiheit existiert nur dort, wo Vernunft und Wahrheit herrschen. Archaische Stammesgefühle und Götzenverehrung gedeihen dort, wo die Stimme der Vernunft schweigt. Folgt hieraus nicht, dass es für die Erhaltung von Freiheit und Frieden von lebenswichtiger Bedeutung ist, die Wahrheit über die Tatsachen der Außenpolitik zu kennen?

2. Grundlagen des Sowjetsystems

Das Sowjetsystem hat für die meisten Amerikaner etwas Geheimnisvolles an sich, vermutlich genauso, wie es das kapitalistische System für die meisten Russen hat. Während die Russen den Kapitalismus als ein System von ausgebeuteten Lohnsklaven ansehen, die der Peitsche von Wall-Street-Bossen gehorchen, sind die Amerikaner der Ansicht, dass Russland von Menschen regiert wird, die einer Mischung aus Lenin und Hitler gleichen und darauf aus sind, sich die übrige Welt mit Gewalt oder List zu unterwerfen. Da sich unsere gesamte Außenpolitik auf die Idee gründet, dass die Sowjetunion die Welt gewaltsam unterwerfen will, ist es von größter Wichtigkeit, die Tatsachen zu überprüfen und sich ein klares, realistisches Bild des Sowjetsystems zu machen. Diese Aufgabe ist umso schwieriger, als sich das Sowjetsystem zwischen 1917 und heute grundlegend geändert hat. Es ist aus einem revolutionären System, das sich als Mittelpunkt der Welt und als Vorkämpfer der kommunistischen Revolution in Europa und schließlich in der ganzen Welt betrachtete, zu einer konservativen, industriellen Klassengesellschaft geworden, die in vieler Hinsicht ähnlich wie die „kapitalistischen“ Staaten des Westens gelenkt wird.

Diese Wandlung war jedoch nie durch einen offiziellen Bruch in der kontinuierlichen Entwicklung gekennzeichnet, da viele grundlegende Merkmale, wie zum Beispiel die Verstaatlichung der Produktionsmittel und die Idee der Planwirtschaft, die gleichen geblieben sind. Noch weit verwirrender als die Kontinuität gewisser ökonomischer Modelle ist die Kontinuität der Ideologie. Aus Gründen, die wir noch analysieren werden, haben Stalin und Chruschtschow mit religiöser Verehrung an den „marxistisch-leninistischen“ Formulierungen festgehalten und die Sprache von 1848 oder 1917 weitergesprochen, obgleich sie selbst für ein System stehen, das das genaue Gegenteil dessen ist, was Revolutionäre wie Marx oder Lenin im Sinn hatten.

Wir sollten tatsächlich eine größere Fähigkeit besitzen, den Unterschied zwischen ritualisierten ideologischen Formeln und der Wirklichkeit zu erkennen. Sind wir nicht selbst in eine ähnliche Diskrepanz hineingeraten, wenn wir von „individueller Initiative“ in einer Gesellschaft „organisierter Menschen“ oder von einer „gottesfürchtigen Gesellschaft“ sprechen, wo es uns doch hauptsächlich um Geld, Komfort, Gesundheit und Bildung geht und weniger um Gott? Trotzdem sind weder die Russen [V-067] noch wir Lügner, sodass ein Erkennen der Wirklichkeit noch schwieriger ist. Beide Seiten sind davon überzeugt, dass sie die Wahrheit reden, und sie begegnen einander in der Überzeugung, dass ihre eigenen Ideologien - und bis zu einem gewissen Grade selbst die ihres Gegners - Realitäten darstellen.

Ich habe die Absicht, in diesem Kapitel die üblichen Klischeevorstellungen zu durchbrechen, um zu einer realistischen Beurteilung des heutigen Sowjetsystems zu gelangen. Dabei werde ich die kurze revolutionäre Periode von 1917 bis 1922 mit der Umwandlung des Systems in das totalitäre Managertum Stalins und Chruschtschows vergleichen. Ich möchte den Versuch machen, ausführlich den nicht-sozialistischen und nicht-revolutionären Charakter des heutigen Sowjetsystems darzulegen, und außerdem möchte ich zeigen, dass die Sowjetführer seit der Machtergreifung Stalins nie mehr eine kommunistische Revolution im Westen zum Ziel hatten, sondern dass sie die kommunistischen Parteien zur Unterstützung der sowjetischen Außenpolitik benutzt haben.

a) Die Revolution - eine fehlgeschlagene Hoffnung

Die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war eine Zeit sozialistischer Hoffnungen. Diese Hoffnungen gründeten sich auf den unglaublichen Fortschritt der Naturwissenschaften und seine Auswirkung auf die Industrieproduktion, auf den Erfolg der bürgerlichen Revolutionen von 1789, 1830 und 1848, auf den zunehmenden Protest der Arbeiter und die Ausbreitung der sozialistischen Ideen. Marx und Engels waren wie viele andere Sozialisten davon überzeugt, dass der Zeitpunkt nahe bevorstehe, an dem die große Revolution ausbrechen würde, und dass binnen kurzem eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte anbrechen würde - dass, um mit F. Engels (MEW 22, S. 515) zu sprechen, alle Aussicht bestehe „für den Umschlag der Revolution der Minorität“ (wie es alle vorangehenden Revolutionen gewesen waren) „in die Revolution der Majorität“ (was er von der sozialistischen Revolution erwartete). Aber am Ende des Jahrhunderts musste Engels zugeben: „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, dass der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“ (F. Engels, MEW 22, S. 515).

Der Erste Weltkrieg markierte einen entscheidenden Wandel in der Geschichte des Sozialismus. Er bedeutete den Zusammenbruch zweier seiner bedeutsamsten Zielsetzungen: des Internationalismus und des Friedens. Bei Kriegsbeginn stellte sich jede sozialistische Partei auf die Seite ihrer eigenen Regierung und kämpfte im Namen der Freiheit gegen die anderen Sozialisten. An diesem moralischen Zerfall des Sozialismus war nicht sosehr der persönliche Verrat einiger Führer schuld als die Veränderung der allgemeinen ökonomischen und politischen Bedingungen. An die Stelle der nackten, gewissenlosen Ausbeutung der Arbeiter im neunzehnten Jahrhundert trat allmählich die Beteiligung der Arbeiterklasse am wirtschaftlichen Gewinn ihres Landes. Anstatt auf Grund der eigenen inneren Widersprüche funktionsunfähig zu werden, wie Marx es vorausgesagt hatte, erwies sich der Kapitalismus als gut [V-068] funktionierendes System, das weit besser mit Krisen und Schwierigkeiten fertig wurde, als es die radikalen Revolutionäre erwartet hatten. (Diese Faktoren trugen zur Entwicklung des „revisionistischen“ Flügels der sozialistischen Bewegung bei, dessen theoretischer Exponent E. Bernstein in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war.)

Es war der Erfolg des Kapitalismus, der zu einer Neuinterpretation des Sozialismus führte. Während die Vision von Marx und Engels die einer neuen Gesellschaftsform war, die den Kapitalismus überwinden würde - einer Gesellschaft, welche die volle Verwirklichung von Humanität und Individualität bringen würde -, begannen jetzt die meisten Anhänger des Sozialismus, diesen als eine Bewegung zu interpretieren, die den ökonomischen und politischen Aufstieg der Arbeiterklasse innerhalb des kapitalistischen Systems zum Ziel hatte. Während der marxistische Sozialismus im neunzehnten Jahrhundert die bedeutsamste geistige und moralische Bewegung des Jahrhunderts war, ihrem Wesen nach antipositivistisch und antimaterialistisch, wurde sie jetzt allmählich in eine rein politische Bewegung umgeformt, die im wesentlichen ökonomische Ziele verfolgte, wenn auch die älteren ethischen Ziele nie ganz verschwanden. Die Interpretation des Sozialismus mit den Kategorien des Kapitalismus veranlasste die sozialistischen Parteien zu einer neuen Art von Politik, deren Ziel nicht mehr die Erfüllung der von den Begründern des Sozialismus gehegten messianischen Hoffnungen, sondern der Wohlfahrtsstaat war.

Der Krieg von 1914 mit seiner sinnlosen Niedermetzelung von Millionen von Menschen aller Nationen um gewisser wirtschaftlicher Vorteile willen führte zu einem Wiederaufleben der früheren sozialistischen Einstellung gegen Krieg und Nationalismus in einer neuen lebendigen Form. Radikale Sozialisten in allen Ländern empfanden eine tiefe Empörung über den Krieg und wurden zu Anführern revolutionärer Bewegungen in Russland, Deutschland und Frankreich. Dabei stand die Radikalisierung der sozialistischen Bewegung in engem Zusammenhang mit der Zimmerwald-Bewegung, dem Versuch internationalistischer Sozialisten, den Krieg zu beendigen.

Die Februarrevolution in Russland gab diesen revolutionären Anführern neuen Auftrieb. Lenin hatte in Übereinstimmung mit der Theorie von Marx ursprünglich geglaubt, eine sozialistische Revolution hätte nur in einem hochentwickelten kapitalistischen Wirtschaftssystem wie dem deutschen Aussicht auf Erfolg. Er war der Meinung gewesen, ein weniger hochentwickeltes Land wie Russland müsse zunächst seine bürgerliche Revolution durchführen, bevor es zu einer sozialistischen Revolution voranschreiten könne. (Vgl. E. H. Carr, 1951, Band 2, S. 270.) Aus eben diesem Grund war auch die Mehrheit des Kommunistischen Zentralkomitees 1917 zunächst gegen die Machtergreifung. Dann aber trieben der wachsende Protest der Bauernsoldaten gegen den Krieg sowie die Unfähigkeit der zaristischen Regierung und ihrer revolutionären Nachfolger, den Krieg zu beenden und die russische Wirtschaft wiederaufzubauen, Lenin in die Oktoberrevolution. Lenin und Trotzki setzten ihre Hoffnungen auf eine deutsche Revolution, mit der sie beide binnen kurzem rechneten. Sie unterzeichneten den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit dem kaiserlichen Deutschland in der Erwartung, die deutsche Revolution werde bald losbrechen und den Friedensvertrag außer Kraft setzen. Aus der marxistischen Theorie zogen sie den Schluss, wenn ein hochindustrialisiertes Deutschland zu einem Sowjetstaat würde und [V-069] sich Russland anschlösse, das vorwiegend ein Agrarland war, dann hätte ein deutschrussisches Sowjetsystem eine gute Chance zu überleben und sich zu entwickeln. Genau wie Marx und Engels um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, so glaubten auch Lenin und Trotzki 70 Jahre später eine kurze Zeit lang, das sozialistische „Reich sei nahe gekommen“ und sie könnten die Grundlagen für eine echte sozialistische Gesellschaft legen.

Lenins Hoffnung erlebte Höhen und Tiefen. 1917 und 1918 erreichte sie ihren ersten Höhepunkt. In einer „Rede an die Bevölkerung“ vom 5. November 1917, also zehn Tage nach der Oktoberrevolution erklärte er (W. I. Lenin, Werke, Band 26, S. 295):

Nach und nach werden wir (...) fest und unbeirrt zum Sieg des Sozialismus voranschreiten, den die fortgeschrittenen Arbeiter der zivilisierten Länder verankern werden und der den Völkern einen dauerhaften Frieden und die Befreiung von jeglicher Unterdrückung und jeglicher Ausbeutung bringen wird.[9]

Als dann aber die neue deutsche Regierung eine starke Zurückhaltung bekundete, mit Russland diplomatische Beziehungen aufzunehmen, und als die deutschen Arbeiter dem russischen Beispiel nicht zu folgen schienen, kamen Lenin und Trotzki Zweifel. 1919 erweckte die Entstehung von Revolutionsräten in Bayern und Ungarn neue Hoffnungen, die jedoch bald wieder zerstört wurden, als diese Revolutionen niedergeschlagen wurden. Das Ansehen der Komintern und die Hoffnung der Kommunisten auf eine Weltrevolution waren im Sommer und Herbst 1920 auf dem Höhepunkt, als der russische Bürgerkrieg seinem Ende zuging und die Rote Armee vor den Toren Warschaus stand. (Vgl. E. H. Carr, 1951, Band 3, S. 165 ff.) Der zweite Kongress der Komintern 1920 wurde in einer begeisterten revolutionären Stimmung abgehalten. Jedoch schon kurze Zeit danach kam es zu einer dramatischen Wendung, als die Rote Armee vor Warschau zurückgeschlagen wurde und der Aufstand der polnischen Arbeiter scheiterte. Die revolutionären Hoffnungen erlitten damals einen Schock, von dem sie sich nie mehr erholt haben. Als Lenin den Marsch auf Warschau anordnete, nachdem er den polnischen Angriff erfolgreich abgewehrt hatte, gab er sich seiner überschwänglichen Hoffnung auf die Weltrevolution hin, wobei er sich diesmal als weniger realistisch erwies als Trotzki, der (zusammen mit Marschall Tuchatschewski) von der Offensive gegen Warschau abgeraten hatte. Wieder einmal bewies die Geschichte, dass sich Revolutionäre in ihrer Einschätzung der revolutionären Möglichkeiten geirrt hatten. Lenin erkannte die Niederlage. Er räumte ein, dass der westliche Kapitalismus noch weit mehr Lebenskraft besaß, als er erwartet hatte, und er befahl und [V-070] organisierte den Rückzug, um zu retten, was noch zu retten war. Er startete die NÖP (Neue Ökonomische Politik) und führte damit in weiten Bereichen der russischen Wirtschaft den Kapitalismus wieder ein; er versuchte, ausländische Kapitalisten dazu zu überreden, in „Konzessionen“ innerhalb der Sowjetunion Kapital zu investieren; er suchte mit den westlichen Großmächten zu einer friedlichen Verständigung zu gelangen und unterdrückte gleichzeitig gewaltsam den Aufstand der Matrosen in Kronstadt, die aufbegehrten, weil sie die Revolution verraten sahen.

Ich werde der Versuchung widerstehen, an dieser Stelle die Irrtümer von Lenin und Trotzki und die Frage zu diskutieren, wieweit sie sich an die Lehren von Marx gehalten haben. Der Hinweis möge genügen, dass Lenins Auffassung, das wahre Interesse der Arbeiterklasse liege in den Händen einer Führerelite und könne nicht von der Mehrheit der Arbeiter wahrgenommen werden, nicht der Ansicht von Marx entsprach. Trotzki hat sich in den Jahren seiner Differenzen mit Lenin vor dem Ersten Weltkrieg ebenso dagegen gewandt wie Rosa Luxemburg, die unerschütterlichste und weitblickendste unter den marxistischen Revolutionsführern. Sie wurde durch deutsche Soldaten im Januar 1919 ermordet. Lenin sah nicht, was Rosa Luxemburg und viele andere erkannten, dass das zentralisierte bürokratische System, bei dem eine Elite für die Arbeiter regierte, schließlich zu einem System führen musste, bei dem es über die Arbeiter regierte, und dass sie damit den Untergang des Sozialismus in Russland beschleunigten. Aber worin auch immer die Unterschiede zwischen Marx und Lenin bestanden, Tatsache bleibt, dass die große Hoffnung zum zweiten Male gescheitert war. Diesmal jedoch befanden sich Lenin und Trotzki an der Macht, als es zu diesem Scheitern kam, und sie standen vor dem historischen Dilemma, wie sie eine sozialistische Revolution in einem Land durchführen sollten, in dem die objektiven Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft nicht gegeben waren. Es blieb ihnen erspart, dieses Dilemma lösen zu müssen. Nach einem ersten Schlaganfall im Jahre 1922, der ihn mehr und mehr schwächte, starb Lenin im Januar 1924. Trotzkis Macht endete wenige Jahre später. Stalin, zu dem Lenin in den letzten Monaten vor seinem Tode alle persönlichen Beziehungen abgebrochen hatte, übernahm die Macht.

Lenins Tod und Trotzkis Sturz unterstrichen nur noch das Ende der Epoche der revolutionären Bewegungen in ganz Europa und damit aller Hoffnungen auf eine neue sozialistische Ordnung. Nach 1919 befand sich die Revolution auf dem Rückzug, und 1923 war nicht länger daran zu zweifeln, dass sie gescheitert war.

b) Stalins Umwandlung der kommunistischen Revolution in eine Manager-Revolution

Stalin, ein gerissener, zynischer Opportunist mit einer unersättlichen Machtgier, zog aus dem Scheitern der Revolution die Konsequenzen. Von seiner ganzen Persönlichkeit her kann der Sozialismus für ihn nie die Bedeutung der humanistischen Vision von Marx und Engels gehabt haben, und daher machte es ihm keine Skrupel, Russland unter dem Motto „Sozialismus in einem Land“ zwangsweise zu industrialisieren. Diese Formel war nur ein leicht zu durchschauender Deckmantel für das von ihm [V-071] angestrebte Ziel - den Aufbau eines totalitären Staats-Managertums[10] in Russland[11], und die zur Erreichung dieses Zieles notwendige rasche Kapitalanhäufung (und Mobilisierung menschlicher Energie).

Stalin hat die sozialistische Revolution im Namen des „Sozialismus“ liquidiert. Er bediente sich des Terrors, um die Menschen zu zwingen, die materiellen Entbehrungen auf sich zu nehmen, die durch den schnellen Aufbau der Grundindustrien auf Kosten der Produktion von Konsumgütern entstanden. Außerdem diente ihm der Terror dazu, eine neue Arbeitsmoral zu erzeugen, indem er die Energien einer Bevölkerung mobilisierte, die zum wesentlichen Teil in der Landwirtschaft tätig war, und sie zu zwingen, in einem Tempo zu arbeiten, das für diese rasche industrielle Ausweitung unerlässlich war. Vermutlich hat er sich des Terrors weit über das Ausmaß hinaus bedient, welches zur Durchführung seines ökonomischen Programms notwendig gewesen wäre, weil er von einem außerordentlichen Machthunger, einem paranoiden Argwohn gegen Rivalen und einer pathologischen Rachsucht besessen war.[12] (Ich werde noch darauf zurückkommen, wie er die kommunistische Bewegung in ein Werkzeug der russischen Außenpolitik umwandelte.)

Wenn Stalins Ziel ein hochindustrialisiertes, zentralisiertes russisches Staats-Managertum war, so konnte er das natürlich nicht offen aussprechen. Terror allein, selbst in seiner extremsten Form, hätte nicht genügt, die Massen zur Kooperation zu zwingen, wäre es Stalin nicht gelungen, den Willen und das Denken der Menschen zu beeinflussen. Natürlich hätte er auch eine totale Kehrtwendung machen und eine ideologische Gegenrevolution inszenieren können, indem er sich einer faschistisch-nationalistischen Ideologie bedient hätte. Er hätte auf diese Weise ideologische Mittel zur Verfügung gehabt, die zu ähnlichen Reaktionen geführt hätten. Er entschied sich nicht für diesen Kurs, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich der einzigen Ideologie zu bedienen, die damals überhaupt einen Einfluss auf die Massen hatte - der Ideologie des Kommunismus und der Weltrevolution. Die Religion war ebenso wie der Nationalismus von der Kommunistischen Partei verächtlich gemacht worden. Der „Marxismus-Leninismus“ war die einzige anerkannte Ideologie. Darüber hinaus besaßen die Gestalten von Marx, Engels und Lenin für das russische Volk eine charismatische Anziehungskraft, und Stalin bediente sich dieses Charismas, indem er sich selbst als legitimen Nachfolger hinstellte. Um diesen ungeheuren historischen Betrug verüben zu können, musste er sich Trotzkis entledigen und schließlich fast alle alten [V-072] Bolschewiken ausrotten. Nur so konnte er für seine Umwandlung des sozialistischen Ziels in ein reaktionäres Staats-Managertum den Weg freimachen. Er musste die Geschichte neu schreiben, um selbst noch die Erinnerung an die alten Revolutionäre und ihre Ideen auszulöschen. Vielleicht riefen die alten Revolutionäre in ihm eine unbewusste paranoide Angst hervor, weil er durch seinen Verrat an den Idealen, deren Symbole sie waren, Schuld empfand.

Stalin erreichte sein Ziel, das nicht die Weltrevolution, sondern ein industrialisiertes Russland war, welches zur stärksten Industriemacht Europas, wenn nicht der ganzen Welt, werden sollte. Der wirtschaftliche Erfolg seiner Methode einer totalitären staatlichen Planung, wie sie Malenkow und Chruschtschow später mit gewissen Veränderungen weiterführten, wird heute nicht mehr bestritten. „Das Sowjetsystem mit seiner zentralisierten Wirtschaftslenkung hat sich mehr und mehr als mit der Marktwirtschaft der Vereinigten Staaten gleichrangig herausgeschält“ (W. S. Nutter, 1959, S. 118). Dieses Urteil wird durch das russische Industriewachstum bestätigt. (Vgl. die Berichte von W. S. Nutter, 1959, S. 118, und von M. Bornstein sowie von W. W. Rostow, ebenda; ferner N. E. Kaplan und R. H. Moorsteen, 1960.) Obwohl die Schätzungen der verschiedenen amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler variieren, sind doch die Meinungsunterschiede relativ geringfügig. Bornstein schätzt die jährliche Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts in der Sowjetunion zwischen 1950 und 1958 auf 6,5 bis 7,5 Prozent bei 2,9 Prozent in den Vereinigten Staaten. Kaplan und Moorsteen nehmen für den gleichen Zeitraum eine Wachstumsrate der russischen Industrie von 9,2 Prozent an. R. W. Campell (1960, S. 51) spricht von einer gegenwärtigen Wachstumsrate in der Sowjetunion von 6 Prozent. Betrachtet man die jährliche Wachstumsrate seit 1913, das heißt über einen Zeitraum, der auch die Zerstörungen durch den Ersten Weltkrieg und den Bürgerkrieg mitumfasst, so ergeben sich natürlich völlig andere Zahlen. Nach W. S. Nutter (1959, S. 100) beträgt die Wachstumsrate des nicht-militärischen Industrieaufkommens von 1913 bis 1955 in der Sowjetunion nur 4,2 Prozent im Vergleich zu 5,3 Prozent während der letzten vierzig Jahre im zaristischen Russland. (Es ist uneinsichtig, dass die beträchtlichen Investitionen ausländischen Kapitals in die zaristische Wirtschaft berücksichtigt werden. Genau wie später China, so musste auch Sowjetrussland fast seine gesamte Wirtschaft aus eigenen Mitteln finanzieren.) Demgegenüber betrug die sowjetische Wachstumsrate zwischen 1928 und 1940 (also in einer Friedensphase) 8,3 Prozent und zwischen 1950 und 1955 sogar 9,0 Prozent. Sie war damit doppelt so hoch wie die in den Vereinigten Staaten im gleichen Zeitraum, und etwas weniger als doppelt so hoch wie im zaristischen Russland. (Siehe auch die Vergleiche bezüglich der Schätzungen verschiedener amerikanischer Volkswirtschaftler hinsichtlich der Wachstumsrate in den Ausführungen von Kaplan und Moorsteen.) W. S. Nutter (1959, S. 119) schließt daraus für die nächste Zukunft: „Es scheint ziemlich sicher, dass das Industriewachstum in der Sowjetunion schneller vorangehen wird als in den Vereinigten Staaten, falls es in keinem der beiden Länder zu radikalen institutionellen Veränderungen kommt, (während) es zweifelhafter ist, ob das Industriewachstum in der Sowjetunion schneller vorangehen wird als in den sich rasch ausweitenden westlichen Wirtschaftsbereichen wie zum Beispiel der Bundesrepublik, [V-073] Frankreich und Japan.“ Nutter bezweifelt jedoch, dass das Sowjetsystem auf lange Sicht ein schnelleres Wachstum erreichen wird als das System der Privatwirtschaft. Im Gegensatz zur Industrieproduktion ist die russische Agrarproduktion weit hinter den Planzahlen zurückgeblieben und stellt noch immer eines der schwierigsten Probleme des sowjetischen Systems dar.

Für den Konsum schätzt man das jährliche Wachstum unter Berücksichtigung der Bevölkerungszunahme auf etwa 5 Prozent, wobei der Verbrauch der Landbevölkerung in der letzten Zeit gestiegen ist. (Vgl. L. Turgeon, 1959, S. 319 ff.) L. Turgeon meint: „Was die Ernährung und Kleidung betrifft, so haben die Sowjets die beste Chance, unseren Lebensstandard zu erreichen“ (L. Turgeon, 1959, S. 335), während die Vereinigten Staaten bezüglich der Automobile und anderer langlebiger Verbrauchsgüter und mit ihren Ausgaben für Dienstleistungen und Reisen weit an der Spitze liegen.

Stalin hat die Grundlagen für ein neues, industrialisiertes Russland gelegt. In einem Zeitraum von weniger als dreißig Jahren hat er das ökonomisch rückständigste Land unter den europäischen Großmächten in ein Industriesystem verwandelt, das bald zum ökonomisch fortgeschrittensten und reichsten werden könnte und nur hinter den Vereinigten Staaten zurückbliebe. Er erreichte dieses Ziel durch eine erbarmungslose Vernichtung von Menschenleben und menschlichem Glück, durch eine zynische Verfälschung der sozialistischen Ideen und durch eine Unmenschlichkeit, die - gemeinsam mit der Hitlers - das Gefühl für Menschlichkeit in der übrigen Welt untergraben hat. Lässt man jedoch die Frage außer acht, ob dieses Ziel auch auf eine weniger unmenschliche Weise zu erreichen gewesen wäre, so bleibt die Tatsache bestehen, dass er seinen Erben ein lebensfähiges und starkes wirtschaftliches und politisches System hinterlassen hat. Viele Merkmale des Stalinismus sind unverändert erhalten geblieben - andere haben sich verändert. Im Folgenden will ich die Grundlagen der sowjetischen Gesellschaft von heute zu beschreiben versuchen.

c) Das System Chruschtschows
1. Das Ende des Terrors

Der augenfälligste neue Faktor, durch den sich das System Chruschtschows von dem Stalins unterscheidet, ist die Aufhebung des Terrors. War der Terror in einem System unumgänglich, in dem die Massen hart arbeiten mussten, ohne eine entsprechende materielle Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erhalten, so konnte er reduziert werden, sobald die Arbeiter die Früchte ihrer Arbeit ernten und auf mehr Lebensfreude hoffen konnten. Auch waren Stalins Nachfolger selbst traumatisiert durch den aberwitzigen Terror, den dieser während der letzten Jahre seiner Herrschaft ausgeübt hatte und der jeden aus der obersten Führung täglich mit dem Tod bedroht hatte. Wahrscheinlich existierte in der obersten russischen Führung ein psychologisches Phänomen ähnlich dem in Frankreich vor dem Sturz Robespierres, das zusammen mit den obenerwähnten Gründen zu dem Entschluss führte, den Terror abzuschaffen.

Alle Berichte aus Russland bestätigen, dass das System des Terrors heute nicht mehr [V-074] existiert. Die Sklavenarbeitslager, die unter Stalin nicht nur Terroreinrichtungen, sondern auch eine Quelle für billige Arbeitskräfte waren, wurden aufgelöst. Willkürliche Verhaftungen und Strafen wurden abgeschafft. Man könnte den Staat Chruschtschows vom Aspekt der politischen Freiheit her mit einem reaktionären Polizeistaat des neunzehnten Jahrhunderts vergleichen, der sich wohl nicht allzu sehr vom zaristischen System unterschied. Aber dieser Vergleich wäre doch irreführend, nicht nur wegen der offensichtlichen Unterschiede beider Systeme hinsichtlich ihrer ökonomischen Struktur, sondern auch aus einem anderen, komplexeren Grund. Die politische Freiheit wird als Problem erst dort manifest, wo es bei grundlegenden Strukturfragen der Gesellschaft zu beträchtlichen Meinungsverschiedenheiten kommt. Im zaristischen Russland stand die Mehrheit der Bevölkerung - Bauern, Arbeiter und Mittelstand - in Opposition zum System, und das System griff zu Unterdrückungsmaßnahmen, um seine eigene Existenz zu sichern. Andererseits besteht Grund zu der Annahme, dass es dem System Chruschtschows gelungen ist, die Mehrheit der Sowjetbürger für sich zu gewinnen. Es gelang ihm dies teils dank der realen ökonomischen Bedürfnisbefriedigung, die man derzeit beobachten kann, außerdem wegen der berechtigten Hoffnungen auf weit größere Verbesserungen in der Zukunft sowie wegen der erfolgreichen ideologischen Manipulation der inneren Einstellung der Bevölkerung.

Aus allen Berichten scheint relativ eindeutig hervorzugehen, dass die meisten Russen davon überzeugt sind, dass das System recht gut funktioniert, sodass sie auf eine bessere Zukunft hoffen und sich über größere Möglichkeiten zu Bildung und Lebensgenuss freuen können. Sie haben nur noch vor einem Angst: vor dem Krieg. Wenn sie das System kritisieren, dann kritisieren sie es in Einzelpunkten, wie es gehandhabt wird, seinen Bürokratismus oder die minderwertige Qualität von Konsumgütern, doch sie kritisieren nicht das System als solches. Ganz sicher möchten sie es nicht durch ein System wie den Kapitalismus ersetzt wissen.

Zweifellos war die Situation unter Stalins Schreckensherrschaft völlig anders. Die erbarmungslose Willkür seines Terrors bedrohte einen jeden, ob hoch oder niedrig, mit Gefangenschaft oder physischer Vernichtung, nicht nur wenn er einen Fehler gemacht hatte, sondern auch auf Grund von Denunziationen, Intrigen usw. Aber mit dem Terror ist es heute vorbei, und die Dinge haben sich geändert. Die meisten Amerikaner beurteilen die Situation in Russland insofern falsch, als sie sich selbst in die Rolle des Antikommunisten in Russland hineindenken und sich überlegen, bis zu welchem Grade ihre eigene freie Meinungsäußerung dann behindert würde. Sie vergessen, dass - von Schriftstellern und Sozialwissenschaftlern abgesehen - der russische Bürger hierzu kaum das Bedürfnis empfindet. Daher ist auch das Problem der politischen Freiheit für ihn weit weniger real, als es sich vom amerikanischen Standpunkt aus darstellt. (Ein Russe dürfte ähnliche Gefühle wie ein Amerikaner hegen, wenn er sich die Behinderungen und Risiken vorstellt, denen er als Kommunist in den Vereinigten Staaten ausgesetzt wäre.)

All das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass das Russland Chruschtschows ein Polizeistaat ist, in welchem die Freiheit des Einzelnen, eine abweichende Meinung zu vertreten und die Regierung und die Auffassung der [V-075] Mehrheit zu kritisieren, weit geringer ist als in den westlichen Demokratien. Außerdem wird es nach vielen Jahren hemmungslosen Terrors noch Jahre in Anspruch nehmen, um den Rest der durch den Terror erzeugten Angst und Einschüchterung zu beseitigen. Alles in allem bedeutet das System Chruschtschows hinsichtlich der politischen Freiheit eine beträchtliche Verbesserung gegenüber der stalinistischen Ära.

In engem Zusammenhang mit dem Verschwinden des Terrorsystems steht auch eine Veränderung bezüglich der Führungsmethoden in Russland. Stalins Herrschaft war ein Ein-Mann-Regime ohne jede ernsthafte Beratung mit Mitarbeitern und ohne etwas, was man im weitesten Sinn als Diskussion oder Mehrheitsregierung bezeichnen könnte. Es ist klar, dass ein solches Ein-Mann-Regime über eine terroristische Gewalt verfügen musste, mit der der Diktator jeden treffen konnte, der es wagte, sich dagegen aufzulehnen. Seit der Liquidierung Berijas wurde die Macht der terroristischen Staatspolizei erheblich eingeschränkt, und keiner der russischen Führer seit Stalins Tod hat eine diktatorische Stellung eingenommen, die mit der Stalins vergleichbar wäre. Es sieht jetzt so aus, als müsse der Führer, wer immer er auch sei, die oberste Parteispitze von der Richtigkeit seiner Ansichten überzeugen und als gäbe es in der Führungsspitze so etwas wie Diskussion und Mehrheitsbeschlüsse. Alle Ereignisse der letzten Jahre zeigen deutlich, dass Chruschtschow seine Politik gegen Gegner verteidigen muss, dass er Erfolge aufweisen muss, um sich an der Spitze halten zu können und dass er sich tatsächlich in gewisser Weise in einer Lage befindet, welche nicht allzu sehr von der eines Staatsmannes im Westen abweicht, der von der politischen Bildfläche verschwinden würde, wenn er ständig politische Fehler beginge.

2. Die sozio-ökonomische Struktur

Das auffälligste Merkmal einer sozialistischen Wirtschaft ist die Tatsache, dass es bei den Produktionsmitteln keinen Privatbesitz gibt und dass alle Unternehmen von einer vom Staat ernannten Manager-Bürokratie verwaltet werden. (Natürlich gibt es genau wie in den Vereinigten Staaten Privateigentum an Konsumgütern, an Häusern, Möbeln, Automobilen und persönlichen Ersparnissen wie zum Beispiel Bankguthaben und Staatspapiere. Der Unterschied liegt nur darin, dass man keine Fabrik und keine Geschäftsanteile bei einer größeren Firma besitzen kann - ein Unterschied, der nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Bedeutung wäre. Nach R. L. Heilbronner (1960, S. 125) sind in den Vereinigten Staaten vier Fünftel aller Industrieanteile, die sich im Besitz einzelner Personen befinden dürfen, im Besitz von 1 Prozent der Familien.) Das sowjetische Volk und die Führer glauben, der marxistische Sozialismus sei dadurch gekennzeichnet, dass die Unternehmen im Besitz des Staates sind und von ihm geführt werden. Darum halten sie ihr System für Sozialismus. Wir werden später noch darauf zu sprechen kommen, ob diese Behauptung berechtigt ist oder nicht, wobei zu bemerken sein wird, dass die derzeitigen Entwicklungen im Sowjetsystem in mancher Hinsicht mehr den Tendenzen im Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts verwandt sind als dem Sozialismus. Eine Gesamtplanung, wie sie 1928 zum ersten Mal durch Stalins Fünfjahresplan eingeführt [V-076] wurde, liefert der Sowjetideologie einen weiteren Grund, ihr System als ein sozialistisches zu bezeichnen. Der Gesamtplan (Gosplan) wird nach intensiver Beratung über eine große Menge von Einzeldaten zentral für die UdSSR in Moskau aufgestellt. Im Gegensatz zu dem relativ freien Markt in den westlichen Ländern wird bei dieser Planung darüber entschieden, was zu produzieren ist und in welchem Tempo dies zu geschehen hat. Bis 1957 waren die verschiedenen Moskauer Industrieministerien die zentralen Autoritäten für die jeweils ihrer Verwaltung unterstehenden Einzelindustrien. Chruschtschow hat dieses zentralisierte System abgeschafft, das über zwanzig Jahre lang bestanden hatte, und einen Dezentralisationsprozess eingeleitet, in dem er die Ministerien durch regionale Wirtschaftsräte ersetzte.

Diese Räte übernahmen in den verschiedenen Regionen der Sowjetunion die Funktion der Ministerien. Es gibt innerhalb der Sowjetunion über hundert solcher Räte. Sie ernennen die Spitzenfunktionäre (oder bestätigen deren Ernennung) in den ihnen unterstellten Unternehmen, bestimmen das Produktionsprogramm „ihrer“ Industrien (wenn auch innerhalb des Rahmens des Gesamtplans), beteiligen sich an der Festsetzung der Preise und Produktionsmethoden und der Beschaffung von knappem Material, führen Qualitätskontrollen durch usw. Die Kontrolle dieser Wirtschaftsräte über die verschiedenen ihrer Kontrolle unterstehenden Industrien wird durch Unterabteilungen, die sogenannten „Hauptverwaltungen“, durchgeführt, die ihrerseits die einzelnen Unternehmen kontrollieren, deren Leitung in den Händen ihrer Manager liegt.

Wer sind nun aber diese Verwalter, die in den regionalen Räten, den Hauptverwaltungen und den einzelnen Unternehmen arbeiten? (Vgl. zum Folgenden D. Granick, 1960.)

Die meisten haben eine akademische Ausbildung genossen (tatsächlich handelt es sich um einen größeren Prozentsatz als in den Vereinigten Staaten), wobei der größere Teil ein technisches und der kleinere Teil ein betriebswirtschaftliches Studium absolviert hat. Weitaus die meisten sind Mitglieder der Kommunistischen Partei. (Dabei sollten wir uns vor Augen halten, dass die Kommunistische Partei in Russland keine Massenpartei sein will, sondern die Elite derer repräsentiert, die nach den höchsten Stellungen streben und zu den größten Anstrengungen bereit sind; tatsächlich sind nur etwa 4 Prozent der Gesamtbevölkerung Parteimitglieder.) Der Leiter eines Unternehmens verdient (einschließlich der Sonderzulagen) zwischen fünf- und zehnmal soviel wie ein Arbeiter, je nach Größe und Art des Betriebs.

Wollten wir die Situation in Amerika damit vergleichen, so müsste der Leiter eines amerikanischen Unternehmens im Jahr 22 000 Dollar verdienen, wenn er im gleichen Verhältnis zum Arbeiter stehen wollte. Eine 1957 in kleinem Rahmen durchgeführte Untersuchung amerikanischer Firmen hat ergeben, dass „die Spitzenmanager in Firmen mit unter 1 000 Angestellten jährlich im Durchschnitt 28 000 Dollar an Gehalt und Sondervergütungen verdienten“ (D. Granick, 1960, S. 41 f.). Diese Zahlen sind nur schwer miteinander zu vergleichen, da einerseits die Preise für die Konsumgüter in der Sowjetunion relativ höher sind als in den USA, während andererseits die Mieten in der Sowjetunion viel niedriger und die Sozialleistungen wiederum höher sind als in den Vereinigten Staaten. So sind die Einkommensunterschiede zwischen [V-077] Managern und Arbeitern in der Sowjetunion und in den Vereinigten Staaten nicht allzu groß.

Eine besonders wichtige Rolle spielt das Bonussystem, das Sonderzulagen von 50 bis 100 Prozent des Einkommens eines Managers einbringt und den wichtigsten Anreiz für eine optimale Produktion darstellt. (Oft liegt bei diesem System allerdings der Nachdruck auf der Quantität und nicht auf der Qualität - was zur Produktion minderwertiger Konsumgüter führt.) So stellen die Manager eine soziale Gruppe dar, die sich in Bezug auf Einkommen, Konsum und Autorität von den Arbeitern genauso unterscheidet, wie in irgendeinem kapitalistischen Lande des Westens. Nach vielen Berichten zu urteilen sind die Klassen- und Statusunterschiede sogar noch schärfer ausgeprägt als in den Vereinigten Staaten.

Es gibt noch ein weiteres charakteristisches Merkmal der Managergruppe. Für D. Granick geht aus Daten aus der Sowjetunion hervor, dass dort bereits in den dreißiger Jahren eine beträchtliche soziale Stabilität erreicht war.

Leider hören die entsprechenden Statistiken in den dreißiger Jahren auf. (...) Auch sind die Daten bezüglich der elterlichen Berufe nur in drei Kategorien, in Arbeiter, Bauern und Büroangestellte aufgefächert. Trotzdem sprechen auch diese Daten eine recht deutliche Sprache. Es geht aus ihnen hervor, dass die Chancen des Sohnes eines Büroangestellten, eines Akademikers oder Geschäftsinhabers, in den Vereinigten Staaten ins Top-Management zu gelangen, [1952] achtmal so groß sind wie die von Söhnen von Handarbeitern und Bauern, und dass er in der Sowjetunion [1936] eine sechsmal so große Chance hatte. (D. Granick, 1960, S. 54; Hervorhebung E. F.)

Zur gegenwärtigen Situation sind wir lediglich auf Vermutungen angewiesen. Aber es klingt überzeugend, wenn D. Granick (1960, S. 56) sagt, die von einer sozialen Mobilität wegführende Tendenz hat sich „im heutigen Russland vermutlich einfach deshalb vergrößert, weil die feindselige Einstellung gegen die Kinder von Eltern mit höheren Berufen nachgelassen hat“. Diese Klassenschichtung ist trotz der Tatsache vorhanden, dass die Ausbildung in der Sowjetunion völlig kostenlos erfolgt und die meisten der begabteren Studenten außerdem Stipendien erhalten. Dieser scheinbare Widerspruch dürfte zum Teil damit zu erklären sein, dass viele junge Sowjetbürger die Universität nicht besuchen können, weil ihre Familie auf ihren Verdienst angewiesen ist. (Vgl. J. S. Berliner, 1959, S. 352.) Auch dürfte der sehr hohe Wissensstandard der Gebildeten in Russland zur Folge haben, dass die kulturelle Atmosphäre in einer Funktionärsfamilie eine bessere Vorbereitung auf die Universität darstellt als die in einer Arbeiter- oder Bauernfamilie.

Es ist eine erstaunliche Tatsache - erstaunlich für den, der an den sozialistischen Charakter des Sowjetsystems glaubt -, dass, wie J. S. Berliner, 1959, S. 350, sagt, „die meisten jungen Leute einen regelrechten Widerwillen dagegen haben, Arbeiter zu werden, wenn sie das Hochschulniveau erreicht haben“. Diese Einstellung zum Beruf des Arbeiters kommt natürlich in der offiziellen Ideologie nicht zum Ausdruck, die den Arbeiter als den wahren Herrn der Sowjetgesellschaft preist, und der Mythos von der wunderbaren sozialen Mobilität besteht in der Sowjetunion weiter.

Kann man deshalb mit Recht in der Sowjetunion von einer Klasse der Manager sprechen? Wenn man den Begriff der Klasse im Sinn von Marx versteht, kann man ihn [V-078] hier kaum anwenden, weil er im marxistischen Denken eine gesellschaftliche Gruppe je nach ihrer Beziehung zu den Produktionsmitteln meint, das heißt je nachdem, ob die betreffende Gruppe Kapital besitzt oder die Werkzeuge dazu (Handwerker) oder ob sie sich aus besitzlosen Arbeitern zusammensetzt. Natürlich gibt es in einem Land, wo der Staat sämtliche Produktionsmittel besitzt, keine Manager-“Klasse“ in diesem Sinn - und übrigens auch keine andere Klasse -; ja wenn man den Begriff „Klasse“ im streng marxistischen Sinn nimmt, kann man wohl behaupten, dass die Sowjetunion eine klassenlose Gesellschaft ist. In Wirklichkeit trifft dies jedoch nicht zu. Marx hat nicht vorausgesehen, dass im Verlauf der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft eine große Gruppe von Managern entstehen würde, denen zwar die Produktionsmittel nicht gehören, die aber die Kontrolle über sie ausüben und sämtlich ein hohes Einkommen beziehen und einen hohen gesellschaftlichen Status haben. (Vgl. A. A. Berle und G. C. Means, 1940, sowie J. A. Schumpeter, 1962.) Daher hat Marx mit seinem Klassenbegriff stets nur den Besitz der Produktionsmittel gemeint und hat nie auch die Kontrolle der Produktionsmittel und des „Menschenmaterials“ miteinbegriffen, das im Prozess von Produktion, Verteilung und Konsum eingesetzt wird.

In Bezug auf die Kontrolle ist die Sowjetunion eine Gesellschaft mit strengen Klassenunterschieden. Neben der Manager-Bürokratie gibt es die politische Bürokratie der Kommunistischen Partei und die militärische Bürokratie. Die drei teilen sich die Kontrolle, das Prestige und das Einkommen. Wichtig ist, dass sie sich weitgehend überschneiden. Nicht nur sind die meisten Manager und hohen Funktionäre Parteimitglieder, sie „wechseln auch oft den Hut“, das heißt, sie arbeiten eine Zeitlang als Manager und dann wieder als Parteifunktionäre. (Nach D. Granick, 1960, S. 309, waren 1936 98 Prozent aller Fabrikdirektoren in der Schwerindustrie Parteimitglieder.) Am Rand der drei Bürokratien stehen die Wissenschaftler, andere Intellektuelle sowie Künstler, die hohe Einkünfte beziehen, wenn sie auch an der Machtposition der drei Hauptgruppen keinen Anteil haben.

Aus obigen Erwägungen geht eines klar hervor: Die Sowjetunion hat im Entwicklungsprozess zu einem hochindustrialisierten System nicht nur neue Fabriken und Maschinen, sondern auch neue Klassen produziert, welche die Produktion leiten und verwalten. Diese Klassen verfolgen eigene Interessen, welche sich völlig von denen der Revolutionäre unterscheiden, die 1917 die Macht übernahmen. Sie streben nach materiellem Komfort, nach Sicherheit, nach einer guten Ausbildung und sozialem Aufstieg für ihre Kinder - kurz nach den gleichen Zielen wie die entsprechenden Klassen in den kapitalistischen Ländern.

Dass der Mythos von der Gleichheit weiterbesteht, bedeutet nicht, dass die Tatsache des Aufkommens einer neuen Hierarchie in der Sowjetunion bestritten würde. Bereits 1925 hat Stalin - natürlich stets unter Anführung von passenden, aber aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten von Marx und Lenin - den 14. Kongress gewarnt: „Man darf nicht mit der Phrase von der Gleichheit spielen, da dies ein Spiel mit dem Feuer ist.“ I. Deutscher (1960, S. 339; dt. 1959, Band 1, S. 362) meint dazu: „In späteren Jahren sprach er gegen die Gleichmacherei mit einer Schärfe und einem Hass, dass er zu erkennen gab, dass er hier den wichtigsten, aber auch den verwundbarsten Teil seiner Politik verteidigte. Dieser Punkt war deshalb so empfindlich, weil die [V-079] hoch bezahlten und privilegierten Gruppen der Manager ganz von selbst zu Hauptstützen des stalinistischen Systems wurden.“ Tatsächlich hat die Sowjetunion das gleiche Problem wie die kapitalistischen Länder zu bewältigen: Wie lässt sich die Ideologie von einer offenen, mobilen Gesellschaft mit der Notwendigkeit einer hierarchisch organisierten Bürokratie vereinbaren und wie kann man denen an der Spitze Ansehen und eine moralische Rechtfertigung verschaffen? Die Lösung der Sowjets unterscheidet sich nicht allzu sehr von unserer eigenen: Beide Prinzipien werden verfochten, und vom Einzelnen wird erwartet, dass er nicht über diesen Widerspruch stolpert.

Das Wachstum der sowjetischen Industrie hat nicht nur eine neue Klasse von Managern, sondern auch eine wachsende Klasse von Handarbeitern hervorgebracht. 1928 waren noch 76,5 Prozent der russischen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig gegenüber 23,5 Prozent in nicht-landwirtschaftlichen Berufen. 1958 war das entsprechende Verhältnis 52 Prozent gegenüber 48 Prozent. (Vgl. W. W. Eason, 1959, S. 75.) Aber die Entwicklung der Industrie erfordert mehr als nur eine ständig wachsende Zahl von Industriearbeitern. Sie erfordert auch eine zunehmende Produktivität der Arbeit. Wie schwerwiegend diese Notwendigkeit für die Sowjetunion ist, geht daraus hervor, dass nach der offiziellen Zeitschrift des Gosplan (Gesamtplan) in der Maschinenbauindustrie in den Vereinigten Staaten die Produktivität der Arbeit 2,8 bis 3mal so hoch ist wie in der Sowjetunion. (Zahlen nach L. Herman, 1961.) Neben dem höheren Niveau der Technologie ist der Charakter der Arbeiter einer der entscheidenden Faktoren bei der Arbeitsproduktivität. Um unabhängigere und verantwortungsbewusstere Charaktere zu fördern, hat man nicht nur die Strafmaßnahmen abgeändert (während zum Beispiel das Fernbleiben vom Arbeitsplatz unter Stalin eine kriminelle Handlung war, ist es jetzt eine Disziplinarangelegenheit, mit der sich das Management befasst), sondern „die sowjetische Arbeitspolitik ist in vielerlei Hinsicht dazu übergegangen, überzeugende Bekundung von Arbeitseifer und Tüchtigkeit in der Berufsausübung zu honorieren“ (W. W. Eason, 1959, S. 92). Über die Änderung im Bereich der Lohnpolitik hinaus räumt man seit einiger Zeit dem Arbeiter sogar eine wichtigere Rolle bei den täglich zu treffenden betriebsinternen Entscheidungen ein, „ohne jedoch dem Management grundsätzlich seine Vorrechte zu nehmen“ (W. W. Eason, 1959, S. 92).

Die Sowjethierarchie hat im allgemeinen erkannt, welch wichtige Rolle Bildung, materielle Befriedigung und Leistungsanreize spielen, und der Staat versucht sein Bestes, um hier Verbesserungen einzuführen und auf diese Weise die Produktivität der Arbeit zu erhöhen. Diese Entwicklung wird zweifellos genau zu dem führen, wozu sie auch in den westlichen Ländern geführt hat. Die Arbeiter arbeiten nicht nur besser, sie sind auch zufriedener und loyaler dem System gegenüber: im einen Fall gegenüber dem „Kapitalismus“, im anderen gegenüber dem „Kommunismus“.

Während die Kluft zwischen der Situation der Arbeiter in beiden Systemen schmaler wird, gibt es einen Unterschied, bei dem keine Anzeichen für eine Änderung zu erkennen sind. Dabei handelt es sich mehr um einen politischen und psychologischen als einen ökonomischen Faktor - nämlich um das Fehlen unabhängiger Gewerkschaften in der Sowjetunion. Natürlich bestreiten die Sowjetideologen, dass ihre [V-080] „Gewerkschaften“ den Charakter von Arbeitervereinigungen innerhalb des Unternehmens haben. Dabei argumentieren sie, dass ein Arbeiterstaat, in dem die Arbeiter selbst die Produktionsmittel „besitzen“, keine Gewerkschaften der Art brauche, wie sie die Arbeiter im kapitalistischen System benötigen. Aber diese Argumentation ist ideologisch. Das Entscheidende ist doch, dass die Herrschaft von Partei und Staat über die Gewerkschaften den Geist der Unabhängigkeit und Freiheit in der Sowjetunion erstickt und so den autoritären Charakter des gesamten Systems verstärkt.

3. Erziehung und Moral

Das Erziehungssystem der Sowjetunion dient wie das eines jeden anderen Landes dazu, den Einzelnen auf die Funktion vorzubereiten, die er in der Gesellschaft zu übernehmen hat. Die erste Aufgabe besteht darin, die Einstellungen und Werte einzuprägen, die in der Sowjetgesellschaft die beherrschende Rolle spielen. Die Werte der sowjetischen Jugend und aller Bürger entsprechen denen, die auch in der westlichen Moral dominieren, wenn auch ein starker Akzent auf der konservativen Seite liegt. „Sorgfalt, Verantwortung, Liebe, Patriotismus, Eifer, Ehrlichkeit, Fleiß, die ausdrücklichen Gebote gegen die Verletzung des Glücks der Mitmenschen, Rücksicht auf das allgemeine Interesse - es gibt nichts in diesem Wertekatalog, das nicht in die Ethik der westlichen Tradition aufgenommen werden könnte.“ (H. Marcuse, 1958, S. 232; dt. S. 217.) (Vgl. auch den zweiten Teil dieses Buches, der von den ethischen Fragen handelt.) Achtung vor dem Besitz wird hier in Form der Achtung vor dem sozialistischen Besitz gefordert; Unterwerfung unter die Autorität ist Anerkennung der nationalen oder der internationalen Solidarität. Die sowjetische Sexualmoral ist konservativ und puritanisch. Die Familie wird als Mittelpunkt der sozialen Stabilität gepriesen; jede Art von Promiskuität ist streng verpönt. Da der Verrat an der Partei oder am Sowjetsystem ungefähr das schlimmste Verbrechen darstellt, das man sich in der Sowjetmoral vorstellen kann, soll ein Beispiel den sowjetischen Puritanismus verdeutlichen. Die „Komsomolskaja Prawda“ fragte im April 1959 in einem Bericht über einen Fall von Ehebruch: „Wie viele Schritte trennen diesen Verrat noch von dem Verrat im weiteren Sinne (...)?“ (zit. nach E. Goldhagen, 1960). Der Kommunismus wird als ein System „beständiger Monogamie“ beschrieben, das in einem prinzipiellen Gegensatz zu freien Liebesbeziehungen steht, die aus „Zügellosigkeit und Leichtsinn“ geboren sind (A. Kharchew, zit. nach E. Goldhagen, 1960, S. 17).

Außer dem zentralen Erziehungsziel - der pflichtschuldigen Unterordnung des Einzelnen unter die Forderungen der Sowjetgesellschaft und ihrer Repräsentanten - gibt es als weiteres Ziel die Ausbildung des richtigen Geistes einer wettbewerbsorientierten Arbeitsmoral. Die folgende, vom Zentralkomitee des Komsomol übernommene Feststellung zeigt, wie sehr selbst die Familie zu diesem Arbeitstraining heranzuziehen ist:

Familien, in denen ein echtes gegenseitiges Interesse am kulturellen Wachstum zu beobachten ist und in denen die häuslichen Verpflichtungen in der richtigen Weise unter allen Familienmitgliedern aufgeteilt werden, sollte man als Beispiele herausstellen. Es ist dafür einzutreten, dass Kinder, Heranwachsende und junge [V-081] Männer und Frauen sich an der Hausarbeit beteiligen, ja es ist dies als ein wichtiger und integraler Bestandteil des Arbeitstrainings anzusehen. (Komsomolskaja Prawda vom 5. August 1960; zit. nach E. Goldhagen, 1960, S. 17.)

Die Freizeitbeschäftigung soll genau wie das Familienleben dem Arbeitstraining dienen. Sie soll nicht nur „eitel Vergnügen“ sein, sondern den Menschen für seine soziale Integration und für bessere Arbeitsgewohnheiten rüsten. Dies kommt sehr prägnant in folgendem Zitat zum Ausdruck:

Mit der Ausdehnung der Freizeit im Sozialismus erhält jeder arbeitende Mensch eine bessere Gelegenheit, sein kulturelles Niveau zu heben und sein Wissen zu vervollkommnen; er kann seine sozialen Verpflichtungen besser erfüllen und seine Kinder besser erziehen, seine Erholung besser organisieren, sich mehr sportlich betätigen und so weiter. All dies ist für die allseitige Entwicklung des Menschen notwendig. Gleichzeitig dient (...) die Freizeit als mächtiger Faktor der Steigerung der Arbeitsproduktivität. In diesem Sinn hat Marx die Freizeit als die größte Produktivkraft bezeichnet, die ihrerseits ihren Einfluss auf die Produktivkraft der Arbeit geltend macht. So sind Freizeit und Arbeitszeit miteinander eng verbunden und voneinander abhängig. (G. Prudenski, zit. nach E. Goldhagen, 1960, S. 18).

(Nebenbei bemerkt ist diese Berufung auf Marx eine zynische Verfälschung. Marx spricht von der Freizeit klar als von einem „Reich der Freiheit“, das erst da beginnt, „wo das Arbeiten (...) aufhört (...): die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt“ und nicht als Produktionsmittel. Vgl. K. Marx, MEW 25, S. 828.) Wie weit ein Sowjetführer wie Chruschtschow sich auch ideologisch von der marxistischen Vorstellung des Sozialismus entfernt hat, geht deutlich aus einer Unterredung Präsident Sukarnos mit Chruschtschow hervor. Sukarno vertrat auf einfache, aber im wesentlichen zutreffende Weise die traditionelle sozialistische Auffassung, wenn er (nach The New York Times vom 2. März 1960, zit. nach E. Goldhagen, 1960, S. 10) sagt: „Der indische Sozialismus (...) erstrebt ein gutes Leben für alle ohne Ausbeutung.“ Darauf Chruschtschow: „Nein, nein, nein. Sozialismus sollte bedeuten, dass jede Minute kalkuliert ist, ein auf Kalkulation gegründetes Leben.“ Sukarno: „Das ist das Leben eines Roboters.“ - Er hätte noch hinzufügen können: „Und Ihre Definition des Sozialismus ist in Wirklichkeit die Definition des kapitalistischen Prinzips“.

Marcuse hat dargelegt, in welcher Hinsicht die Sowjetmoral der calvinistischen Arbeitsmoral ähnelt:

Die beiden Ethiken (...) reflektieren die Notwendigkeit, große Massen ‚rückständiger’ Menschen einem neuen Gesellschaftssystem einzugliedern, die Notwendigkeit, eine gut ausgebildete, disziplinierte Arbeitskraft zu schaffen, die es vermag, der ewigen Routine des Arbeitstages ethische Gesetzeskraft zu verleihen und auf immer rationellere Weise stets ansteigende Gütermengen zu erzeugen, wobei die vernünftige Anwendung dieser Güter für individuelle Bedürfnisse durch die ‚Umstände’ stets mehr hinausgezögert wird. (H. Marcuse, 1958, S. 239; dt. S. 223.) (Vgl. auch meine Analyse der gesellschaftlichen Funktion der calvinistischen Ethik in Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, GA I, S. 266-277.)

Gleichzeitig jedoch bedient sich die Sowjetunion der modernsten Technologien, Maschinen und Produktionsmethoden, sodass die sowjetische Ethik die Notwendigkeit „primärer“ Disziplinierung der arbeitenden Klassen mit der Notwendigkeit individueller Initiative und Verantwortung vereinigen muss. In seinen Organisationsmethoden wie auch in seinen psychologischen [V-082] Zielsetzungen kombiniert das Sowjetsystem ältere mit sehr neuen Phasen, und es ist eben jene Kombination, die es dem westlichen Beobachter so schwer verständlich macht - ganz abgesehen von der zusätzlichen Schwierigkeit, dass dieses System in den ideologischen Begriffen des marxistischen Humanismus und der Aufklärungsphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts ausgedrückt wird.

Während die Sowjetideologie Marx’ Ideal von der „allseitigen“ Persönlichkeit, die nicht ihr ganzes Leben lang an ein und dieselbe Beschäftigung gekettet ist, ihren Lippendienst leistet, legt die Erziehung alles Schwergewicht auf die „Ausbildung“ - die Ausbildung von „Spezialisten auf der Basis einer engen Zusammenarbeit von Studium und Produktion“ - und verlangt, „die Verbindung der wissenschaftlichen Einrichtungen des Landes mit der Produktion, den konkreten Anforderungen der Volkswirtschaft“ zu festigen (Beschluss des 20. Kongresses der KPdSU, zit. nach H. Marcuse, 1958, S. 183; dt. S. 175).

In der Sowjetkultur dreht sich alles um die intellektuelle Entwicklung, während die Entwicklung der affektiven Seite des Menschen vernachlässigt wird. Letzteres drückt sich in dem niedrigen Standard der Sowjetliteratur, der Malerei, der Architektur und der Filmkunst aus. Im Namen des „sozialistischen Realismus“ wird ein viktorianisch-bürgerlicher Geschmack von niedrigem Niveau kultiviert, und das in einem Land, das besonders auf dem Gebiet von Literatur und Film einmal zu den kreativsten der Welt gehörte. Während das russische Volk in gewissen traditionellen Kunstarten, wie dem Ballett und der Wiedergabe von Musik, noch immer die gleiche Begabung wie seit vielen Generationen aufzuweisen hat, ist in den Künsten, die etwas mit Ideologie zu tun haben und das Denken der Menschen beeinflussen - besonders im Film und in der Literatur - nichts mehr von Kreativität zu spüren. Hier herrscht der Geist eines extremen Utilitarismus, es handelt sich um billige Ermahnungen zur Arbeit, zur Disziplin, zum Patriotismus usw. Das Fehlen eines jeden echten Gefühls, wie Liebe, Traurigkeit oder Zweifel, verrät einen Grad der Entfremdung, der kaum irgendwo sonst auf der Welt übertroffen wird. In diesen Filmen und Romanen sind die Männer und Frauen in für die Produktion nützliche Gegenstände verwandelt und sich selbst und einander entfremdet. (Natürlich muss sich erst noch herausstellen, ob die Wandlung vom Stalinismus zum System Chruschtschows schließlich zu einer deutlichen Verbesserung des künstlerischen Niveaus in der Sowjetkultur führen wird. Dies würde zugleich eine Verminderung der jetzt herrschenden Entfremdung bedeuten. Eine solche Entwicklung dürfte aber nur möglich sein, wenn im gesellschaftlichen System der Sowjetunion fundamentale Veränderungen stattfinden.)

Zu diesen Tatsachen scheint die Vielfalt „guter“ Literatur im Widerspruch zu stehen, die in der Sowjetunion veröffentlicht und vermutlich auch gelesen wird (Dostojewski, Tolstoi, Balzac usw.). Manche Autoren, für die das System Chruschtschows vielleicht das Fundament bilden könnte, auf dem sich ein echter humanistischer Sozialismus entwickelt, haben diese sowjetischen Buchpublikationen oft als Argument für ihre Hoffnung vorgebracht. Sie meinen, wenn die Menschen von dieser Art Literatur so durchdrungen seien wie in der Sowjetunion, dann würden sie auch in ihrer Entwicklung von dem Geist dieser Literatur beeinflusst werden. Für mich klingt dieses Argument nicht sehr überzeugend. Es ist nur logisch, dass eine Bevölkerung, die in eine [V-083] ständig wachsende Entfremdung getrieben wird, nach echtem menschlichen Erleben, wie es in der „guten“ Literatur dargestellt wird, geradezu ausgehungert ist. Aber die Tatsache, dass die Romane von Dostojewski, Balzac oder Jack London in fremden Ländern oder in Kulturen spielen, welche völlig anders sind als die sowjetische Wirklichkeit, lässt sie zu einer Literatur werden, in die sich die Oberschicht flüchten kann. Diese Literatur befriedigt den unlöschbaren Durst nach echtem menschlichen Erleben, den das Alltagsleben im heutigen Russland nicht zu stillen vermag. Da sie aber ohne jede Beziehung zu dieser Wirklichkeit ist, kann sie sie auch nicht gefährden.

Sehen wir uns nach einer parallelen Erscheinung in der westlichen Kultur um, so brauchen wir nur daran zu denken, dass die Bibel noch immer das am häufigsten verkaufte und vermutlich auch am meisten gelesene Buch im Westen ist und dass sie trotzdem keinen merklichen Einfluss mehr auf das wirkliche Erleben des modernen Menschen hat, weder auf sein Fühlen noch auf sein Handeln. Kurz, auch die Bibel ist zur Literatur geworden, in die man sich flüchtet, um sich vor dem Abgrund der Leere zu retten, den unsere moderne Lebensweise vor uns aufreißt, ohne dass jedoch dabei viel herauskäme, weil zwischen der Bibel und dem Leben in unserer Wirklichkeit keine Verbindung mehr besteht.

3. Ist Weltherrschaft das Ziel der Sowjetunion?

In den Vereinigten Staaten gründen sich Politik und öffentliche Meinung auf die beiden Voraussetzungen, dass die Sowjetunion a) ein sozialistischer Staat und b) ein revolutionäres und/oder ein imperialistisches System mit dem Ziel der Welteroberung sei. Jede dieser Voraussetzungen ist einer sorgfältigen Überprüfung wert. Gleichzeitig ist der Zusammenhang zu beachten, der zwischen der inneren gesellschaftlichen Struktur der Sowjetunion und ihren revolutionären bzw. imperialistischen Tendenzen zur Weltherrschaft besteht.

a) Ist die Sowjetunion sozialistisch?

Nach den Aussagen der Führer der Sowjetunion ist die „Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“ nicht nur dem Namen nach, sondern tatsächlich sozialistisch. Bereits 1936 hat Stalin (1947, S. 548) „den vollständigen Sieg des sozialistischen Systems in allen Bereichen der Volkswirtschaft“ proklamiert, und heute behauptet die Sowjetideologie, die Sowjetunion schreite rasch voran auf dem Weg zur Verwirklichung des Kommunismus - entsprechend der berühmten Devise von Marx: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (K. Marx, 1962, S. 1191)

Man kann die Frage nach dem sozialistischen Charakter der Sowjetunion nur entscheiden, wenn man Marx’ Vision des Sozialismus mit der Wirklichkeit des Sowjetsystems vergleicht. Mit welcher Begründung bezeichnen die Sowjetführer von Stalin bis Chruschtschow ihr System als Sozialismus? Sie stellen diese Behauptung hauptsächlich auf Grund ihrer Definition des marxistischen Sozialismus auf, in der zwei Faktoren als von entscheidender Bedeutung für eine sozialistische Gesellschaft angesehen werden: die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Planwirtschaft. Aber man kann den Sozialismus im Sinne von Marx oder auch im Sinne von Owen, Hess, Fourier, Proudhon usw. nicht auf diese Weise definieren.[13]

Was aber war der Kern der Gedanken von Marx und des marxistischen Sozialismus? Es ist erstaunlich, wie sehr die Marxsche Theorie verfälscht und herabgesetzt wird, [V-085] und das nicht nur aus Unkenntnis, sondern auch von vielen, die es besser wissen sollten und könnten. Wie Robert L. Heilbronner richtig bemerkt, verschleiern unsere Zeitungen und Bücher

die Tatsache, dass die Literatur des sozialistischen Protests zu den bewegendsten und moralisch engagiertesten Chroniken der menschlichen Hoffnung und Verzweiflung gehört. Diese Literatur ungelesen beiseite zu legen, sie zu verleumden, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, was sie repräsentiert, ist nicht nur empörend, sondern zeugt auch von einer gefährlichen Dummheit. (R. L. Heilbronner, 1960, S. 113 f.)

Das Verständnis der Schriften von Marx ist bereits im Ansatz blockiert durch das weit verbreitete unsinnige Klischee vom „Materialismus“. (In Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus (1932a, GA I, S. 46 f.) habe ich auf diesen Irrtum hingewiesen; dieselbe Ansicht vertritt auch J. Schumpeter, 1962.) Man nimmt an, dieser Materialismus bedeute, dass des Menschen wichtigstes Motiv sein Streben nach materiellem Gewinn - im Gegensatz zu den spirituellen, moralischen oder religiösen Werten - sei. Abgesehen davon, dass es ziemlich paradox klingt, wenn diejenigen, die Marx wegen seines angeblichen Materialismus attackieren, den Kapitalismus gegen den Sozialismus mit der Behauptung verteidigen, dass nur der Anreiz des Gewinns eine genügend starke Motivation sein könne, damit der Mensch sein Bestes gebe, ist die Theorie von Marx genau das Gegenteil dieses angeblichen Materialismus. Seine Hauptkritik am Kapitalismus lautet, dass dieser ein System darstelle, das egoistische und materialistische Motivationen belohne; und unter Sozialismus verstand er eine Gesellschaft, die Menschen, welche etwas sind, höher wertet als solche, die viel haben. Marx’ historischer Materialismus spricht niemals vom ökonomischen Faktor als von einer psychologischen Motivation, sondern stets als von einer sozio-ökonomischen Bedingung, die zu einer bestimmten Lebensweise führt und hierdurch den Charakter des Menschen formt. Idealismus und Materialismus sind bekanntlich philosophische Begriffe und haben mit dem Gegensatz von idealistischer und materialistischer Motivation nichts zu tun, wie jeder Gebildete eigentlich wissen sollte. Der Unterschied zum Idealismus Hegels liegt aber darin, dass nicht ausgegangen wird

von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklichen tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. (K. Marx, Die deutsche Ideologie, MEGA I, 5, S. 15 f. = MEW 03, S. 26; Hervorhebungen E. F.)

Oder wie Marx es an anderer Stelle in Die deutsche Ideologie formuliert:

Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion. (MEGA I, 5, S. 10 f. = MEW 03, S. 21.)

Die Entdeckung von Marx bestand darin, dass die Lebenspraxis, so wie sie durch die ökonomischen Systeme bestimmt wird, das Fühlen und Denken der Betreffenden bestimmt. Seiner Auffassung nach kann das eine System zur Entwicklung materialistischer Tendenzen führen, während ein anderes das Überwiegen asketischer Tendenzen bedingen kann. (Mit dem Begriff des „Gesellschafts-Charakters“ habe ich den Zusammenhang zwischen der sozio-ökonomischen Struktur einer [V-086] Gesellschaft und den vorherrschenden emotionalen und intellektuellen Haltungen zu analysieren versucht. Vgl. Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, GA I, S. 379-392, sowie die ältere Abhandlung Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus, 1932a, GA I, S. 37-57.)

Das Hauptanliegen von Marx war genau wie bei Hegel die volle Entwicklung der menschlichen Möglichkeiten: dass der Mensch sich aus der Nacht der Möglichkeit in den Tag der Tatsächlichkeit hinüberführt. Nach Marx entwickelt der Mensch seine Möglichkeiten im historischen Prozess. Er sollte das sein, was er sein könnte, aber noch nicht ist. Mit der modernen Industriegesellschaft hat der Mensch nach Marx den Höhepunkt der Entfremdung erreicht. Im Produktionsprozess wird die Beziehung des Arbeiters zu seiner eigenen Tätigkeit als etwas erlebt, das nicht zu ihm gehört. Während der Mensch hierdurch sich selbst entfremdet wird, wird das Produkt seiner Arbeit zu einem fremden Objekt, das ihn beherrscht. Der Arbeiter existiert „für den Produktionsprozess, nicht der Produktionsprozess für den Arbeiter“ (K. Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 514). Der Mensch wird aber nicht nur beherrscht von den Dingen, die er produziert, er wird es auch von den gesellschaftlichen und politischen Umständen, die er schafft:

Dieses Sich-Festsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung. (Die deutsche Ideologie, MEGA I, 5, S. 22 = MEW 03, S. 33.)

(Man könnte sich kaum ein drastischeres Beispiel für diese Macht der Dinge über den Menschen ausdenken als die Atomwaffen, die der Mensch geschaffen hat und die ihn jetzt zu beherrschen scheinen.)

Dass der Mensch, der voll entwickelte, produktive Mensch zum Subjekt, und nicht zum Objekt der Geschichte wird, dass er aufhört, „in eine Abnormität (...) verkrüppelt“ zu sein (K. Marx, Das Kapital, 1. Band, MEW 23, S. 381) und ein voll entwickeltes menschliches Wesen wird, dies ist nach Marx das Ziel des Sozialismus.

Nach der Auffassung von Marx ist das Ziel des Menschen Unabhängigkeit und Freiheit. „Ein Wesen“, sagt Marx in Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (MEGA I, 3, S. 124 = MEW Erg. I, S. 544 f.),

gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eignen Füßen steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines anderen lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen.

Nach Marx ist der Mensch nur dann unabhängig, wenn er „sich ein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art“ aneignet, und so „ein totaler Mensch“ wird.

Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz alle Organe seiner Individualität (sind) die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit. (...) Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz gebraucht wird. (...) An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten. Auf diese absolute Armut musste das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen innern Reichtum aus sich herausgebäre. (Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEGA I, 3, S. 118 = MEW Erg. I, S. 539.)

Marx’ Idee von der vollen Selbstverwirklichung des Menschen impliziert, dass diese [V-087] Selbstverwirklichung nur in der Bezogenheit des Menschen zur Welt, zur Natur, seinen Mitmenschen und in der Beziehung zwischen Mann und Frau zu realisieren ist. Dass der Sozialismus für Marx, wie Paul Tillich (1952, S. 6) formuliert hat, „eine Widerstandsbewegung gegen die Zerstörung der Liebe in der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ war, geht sehr deutlich aus folgendem Zitat von Karl Marx hervor:

Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst, musst du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du Einfluss auf andre Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregend und fördernd auf andre Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen - und zu der Natur - muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, das heißt, wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück. (Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEGA I, 3, S. 149 = MEW Erg. I, S. 567.)

Das produktive, freie, unabhängige, liebende Individuum - das war die Vision Marx’ vom Menschen. Es ging ihm nicht um maximale Produktion und maximalen Konsum, obwohl er dafür war, einem jeden ein wirtschaftliches Niveau zu ermöglichen, welches die Grundlage für ein menschenwürdiges Dasein bildet. Es ging ihm auch nicht in erster Linie um eine Nivellierung der Einkommen, obwohl er gegen eine Ungleichheit gewesen wäre, welche die Menschen daran hindert, die gleichen Grunderfahrungen des Lebens zu machen. Sein Hauptanliegen war die Befreiung des Menschen von der Art von Arbeit, die seine Individualität zerstört, ihn in ein Objekt verwandelt und ihn zum Sklaven der Dinge, die er selbst geschaffen hat, macht.

Marx’ Vorstellungen wurzeln im prophetischen Messianismus, im Individualismus der Renaissance und im Humanismus der Aufklärung. Die seinen Auffassungen zugrunde liegende Philosophie ist die des tätigen, produktiven, beziehungsreichen Individuums, eine Philosophie, für die Namen wie Spinoza, Goethe und Hegel die repräsentativsten sind.

Dass die Idee von Marx sowohl von den Kommunisten wie auch von den kapitalistischen Gegnern des Sozialismus entstellt und in ihr direktes Gegenteil verzerrt wurde, ist ein bemerkenswertes - wenn auch keineswegs einzigartiges - Beispiel für die Fähigkeit des Menschen zu Entstellung und Irrationalität. Um jedoch zu erkennen, ob die Sowjetunion und China den marxistischen Sozialismus repräsentieren und was man von wirklich sozialistischen Gesellschaften erwarten könnte, ist es wichtig, sich eine Vorstellung davon zu machen, was der Marxismus bedeutet.

Dass Marx selbst die Sowjetunion oder China nicht als sozialistische Staaten angesehen hätte, geht aus seiner folgenden Äußerung zum „rohen Kommunismus“ hervor, wobei er sich auf gewisse exzentrische kommunistische Denker seiner Zeit bezieht, die mit dem Kommunismus die Gesellschaftsvorstellung einer Kommune verbanden, deren Mitglieder alles gemeinsam haben sollten:

Dieser Kommunismus - indem er die Persönlichkeit des Menschen überall negiert - ist eben nur der konsequente Ausdruck des Privateigentums, [V-088] welches diese Negation ist. Der allgemeine und als Macht sich konstituierende Neid ist nur die versteckte Form, in welcher die Habsucht sich herstellt und nur auf eine andre Weise sich befriedigt. Der Gedanke jedes Privateigentums als eines solchen ist wenigstens gegen das reichere Privateigentum als Neid und Nivellierungssucht gekehrt, sodass diese sogar das Wesen der Konkurrenz ausmachen. Der rohe Kommunismus ist nur die Vollendung dieses Neides und dieser Nivellierung von dem vorgestellten Minimum aus. Er hat ein bestimmtes begrenztes Maß. Wie wenig diese Aufhebung des Privateigentums eine wirkliche Aneignung ist, beweist eben die abstrakte Negation der ganzen Welt der Bildung und der Zivilisation, die Rückkehr zur unnatürlichen Einfachheit des armen und bedürfnislosen Menschen, der nicht über das Privateigentum hinaus, sondern noch nicht einmal bei demselben angelangt ist. Die Gemeinschaft ist nur eine Gemeinschaft der Arbeit und die Gleichheit des Salärs, den das gemeinschaftliche Kapital, die Gemeinschaft als der allgemeine Kapitalist, auszahlt. Beide Seiten des Verhältnisses sind in eine vorgestellte Allgemeinheit erhoben, die Arbeit, als die Bestimmung, in welcher jeder gesetzt ist, das Kapital als die anerkannte Allgemeinheit und Macht der Gemeinschaft. (Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEGA I, 3, S. 111 = MEW Erg. I, S. 534 f.)[14]

Es war nicht Marx, der die Negation der Persönlichkeit wollte und der die Meinung vertrat, dass Sozialismus die Nivellierung aller Menschen bedeute. Seine Irrtümer waren anderer Art und haben mit der Unterschätzung der Individualität nichts zu tun. Er unterschätzte die Komplexität und Stärke der irrationalen Leidenschaften des Menschen und seine Bereitwilligkeit, Systeme hinzunehmen, die ihm Verantwortung und die Last der Freiheit abnehmen konnten. Er unterschätzte die Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus und sah die vielen neuen Formen nicht voraus, zu denen dieses System sich weiterentwickeln konnte und die bewirkten, dass es nicht zu dem von ihm erwarteten Zusammenbruch auf Grund seiner inneren Widersprüche kam. Ein weiterer Irrtum von Marx bestand darin, dass er mit dem Glauben an die entscheidende Bedeutung des Eigentums noch zu sehr im Denken des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet war. Damals hielt man rechtliche Eigentümerschaft für gleichbedeutend mit Management und gesellschaftlicher Kontrolle. Hieraus schloss Marx, dass die Arbeiter ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen würden, wenn man nur dem privaten Kapitalisten seine Besitzrechte wegnähme und der Gesellschaft übertrüge. Er sah nicht, dass ein Wechsel der Eigentümer nur einen Wechsel in der Ausübung der Kontrolle bedeuten kann, wobei diese von den Eigentümern an eine Bürokratie übergeht, welche im Namen der Aktionäre oder des Staates handelt, und dass dieser Wechsel auf die reale Situation des Arbeiters innerhalb des Produktionsprozesses wenig oder überhaupt keine Wirkung haben kann.

Generationen später zeigte sich dies sehr deutlich bei der Verstaatlichung von [V-089] Industrien in England, Frankreich und Russland. Theoretisch haben die Gildensozialisten in England und auch die jugoslawischen Kommunisten den zweideutigen Charakter der Verstaatlichung erkannt, und letztere haben ein System aufgebaut, das Besitz und Kontrolle der Fabriken in die Hände der Arbeiter legte, anstatt in die des Staates und seiner Bürokratie.

Wie schon zuvor dargelegt, wurden die spirituellen, humanistischen Ziele des Sozialismus mit der zunehmenden Entwicklung des Kapitalismus nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im psychologischen Bereich durch die des siegreichen kapitalistischen Systems ersetzt - durch die Ziele einer maximalen ökonomischen Effizienz, maximaler Produktion und maximalen Konsums. Diese falsche Interpretation des Sozialismus als einer rein ökonomischen Bewegung ist genau wie die Auffassung, dass die Verstaatlichung der Produktionsmittel Selbstzweck sei, sowohl auf dem rechten wie auch auf dem linken Flügel der sozialistischen Bewegung zu finden. Dabei war das primäre Ziel der reformistischen Führer der sozialistischen Bewegung in Europa die Anhebung des wirtschaftlichen Status des Arbeiters innerhalb des kapitalistischen Systems. Ihre radikalste Maßnahme im Zuge dieses Bemühens war die Verstaatlichung einiger Großindustrien. Erst neuerdings hat man sich klargemacht, dass die Verstaatlichung eines Unternehmens als solche noch keine Verwirklichung des Sozialismus bedeutet und dass es für den Arbeiter keinen grundsätzlichen Unterschied macht, ob er von einer öffentlich oder von einer privat eingesetzten Bürokratie geleitet wird. Auch die Führer der Sowjetunion beurteilen den Sozialismus nach den Maßstäben des Kapitalismus, und ihr Hauptargument für das Sowjetsystem ist, dass der „Sozialismus“ effizienter ist und mehr produzieren könne als der „Kapitalismus“.

Beide Flügel des Sozialismus vergessen, dass Marx eine menschlichere Gesellschaft anstrebte und nicht nur eine wohlhabendere. Seine Vorstellung vom Sozialismus war trotz gewisser Änderungen seiner eigenen Auffassung im Laufe seiner Entwicklung die von einer nicht-entfremdeten Gesellschaft, in der jeder Bürger ein aktives, verantwortungsbewusstes Mitglied der Gemeinschaft sein sollte, das bei der Kontrolle aller gesellschaftlichen und ökonomischen Einrichtungen mitwirkt, und nicht - wie in der sowjetischen Praxis - eine mit Ideologien gefütterte und von einer kleinen bürokratischen Minderheit kontrollierte „Nummer“ ist. Für Marx bedeutete Sozialismus die Kontrolle der Gesellschaft von unten, durch ihre Mitglieder, und nicht von oben durch eine Bürokratie. Man kann die Sowjetunion als Staatskapitalismus oder wie auch immer bezeichnen; eines jedoch kann dieses bürokratische Managersystem von sich nicht behaupten: „Sozialismus“ im Marxschen Sinne zu sein. Man kann auf eine solche Behauptung keine bessere Antwort geben als J. Schumpeter (1962, S. 3):

(...) zwischen der wirklichen Bedeutung der Marxschen Botschaft und der bolschewistischen Praxis und Ideologie klafft mindestens eine ebenso große Kluft wie zwischen der Religion demütiger Galiläer und den Praktiken und der Ideologie der Kirchenfürsten oder Kriegsherren des Mittelalters.

Wenn auch das Sowjetsystem den Begriff der Verstaatlichung der Produktionsmittel und der Gesamtplanung aus dem marxistischen Sozialismus entlehnt hat, so hat es doch viele Merkmale mit dem heutigen Kapitalismus gemein. [V-090]

Die Entwicklung des Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert hat in der industriellen Produktion zu einer ständig wachsenden Zentralisierung geführt. Die großen Unternehmen werden immer mehr zu Produktionszentren in der Stahl-, Automobil- und chemischen Industrie, auf den Gebieten von Öl, Nahrungsmitteln, Film, Fernsehen und Bankwesen. Nur in bestimmten Produktionszweigen, wie z.B. in der Textilindustrie, finden wir noch das Bild des neunzehnten Jahrhunderts von einer großen Anzahl kleiner und untereinander stark konkurrierender Unternehmen. Die heutigen Großunternehmen werden von riesigen hierarchisch strukturierten Bürokratien gelenkt, die das Unternehmen nach den Prinzipien der Maximierung des Profits führen, aber von den Millionen von Aktionären, die die rechtlichen Eigentümer sind, relativ unabhängig sind. Zur gleichen Zentralisierung ist es auch in der Regierung, der Armee und sogar im Forschungsbereich gekommen.

Während die „Privatunternehmen“ ideologisch alle sozialistischen Tendenzen bestreiten, streben sie danach, große direkte und indirekte Zuwendungen vom Staat zu erhalten. Dieselbe Entwicklung hat zu wichtigen Veränderungen in Bezug auf den freien Wettbewerb und den freien Markt geführt. Der freie Markt und der freie Wettbewerb im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts sind Erscheinungen, die der Vergangenheit angehören.

Wenn auch in den westlichen Systemen noch einiges vom Wettbewerb übriggeblieben ist, so haben doch offene und versteckte Preisabsprachen zwischen den großen Firmen, staatliche Zuwendungen usw. (trotz der Antimonopolgesetze in den Vereinigten Staaten) den Wettbewerb und die Funktion des freien Marktes stark eingeschränkt. Nehmen wir mal an, dass sich die Tendenz zur Zentralisierung weiter verstärkt und dass es schließlich jeweils nur noch einen einzigen großen Konzern gäbe, der Automobile, Stahl, Filme usw. produziert, so würde das Bild der „kapitalistischen“ Wirtschaft und das der russischen „sozialistischen“ keine so drastischen Unterschiede mehr aufweisen. Freilich ist im westlichen Kapitalismus in zunehmendem Maße ein Element staatlicher Planung zu beobachten, und dies nicht nur durch die massive staatliche Intervention, sondern auch in dem Sinne, dass die Atomenergie-Kommission das größte Industrieunternehmen der Vereinigten Staaten ist und dass die Rüstungsindustrie sich zwar noch in privaten Händen befindet, aber sehr viele Waffen nach vom Staat aufgestellten Plänen produziert. Das heißt nicht, dass es über die Rüstungsproduktion hinaus in den Vereinigten Staaten eine Gesamtplanung oder auch nur einen Plan für die Übernahme dieses Modells für den zivilen Bereich gäbe.

Die Produktionsweise des modernen Kapitalismus ist die einer großen Zusammenballung von Arbeitern und Büroangestellten, die entsprechend den Anordnungen der Manager-Bürokratie arbeiten. Sie sind Teil einer großen Produktionsmaschinerie, die - um überhaupt laufen zu können - glatt, reibungslos und ohne Unterbrechung arbeiten muss. Der einzelne Arbeiter oder Angestellte wird zu einem Rädchen in dieser Maschine. Seine Funktion und Tätigkeit wird durch die Gesamtstruktur der Organisation, in der er arbeitet, bestimmt. In den Großunternehmen ist der eigentliche Besitz der Produktionsmittel von deren Management abgetrennt worden, sodass die Frage nach dem Besitz der Produktionsmittel an Bedeutung verloren hat. Die Manager haben nicht mehr die Eigenschaften der früheren Eigentümer - individuelle [V-091] Initiative, Wagemut und Risikofreudigkeit -, sondern die Eigenschaften eines Bürokraten - Mangel an Individualität und Phantasie, Unpersönlichkeit und Vorsicht. Sie verwalten Dinge und Personen und treten zu den Personen wie zu Dingen in Beziehung. Die Riesenkonzerne, welche das wirtschaftliche - und weitgehend auch das politische - Schicksal des Landes kontrollieren, verkörpern absolut das Gegenteil eines demokratischen Prozesses; sie repräsentieren Macht, ohne von denen, über die sie herrschen, kontrolliert zu werden.

Die große Mehrheit der Bevölkerung wird außer von der industriellen Bürokratie noch von anderen Bürokratien beherrscht. Zunächst ist da die Regierungsbürokratie (einschließlich derjenigen des Militärs), welche das Leben von Millionen von Menschen in der einen oder anderen Form beeinflusst und lenkt. Die industrielle, die militärische und die Regierungsbürokratie werden sowohl in ihrer Tätigkeit als auch zunehmend personell miteinander verflochten. Im Zuge der Entwicklung immer größerer Unternehmen haben sich auch die Gewerkschaften zu riesigen Bürokratien entwickelt, in denen das einzelne Mitglied nur noch sehr wenig zu sagen hat. Viele Gewerkschaftsführer sind Manager-Bürokraten, genau wie die Industriebosse.

Alle diese Bürokratien besitzen nur wenig echten Weitblick, und das kann auf Grund des Wesens der bürokratischen Verwaltung auch gar nicht anders sein. Sie funktionieren wie elektronische Computer, in die alle Daten eingefüttert wurden, und die - nach bestimmten Prinzipien - ihre „Entscheidungen“ treffen. Wenn der Mensch in ein Ding verwandelt und wie ein Ding gemanagt wird, werden auch seine Manager selbst zu Dingen; und Dinge besitzen keinen Willen, haben keine visionäre und planende Weitsicht. (Ein „alter“ Kapitalist, J. Paul Getty, schrieb hierzu im Playboy [Februar 1960, S. 135]: „Meiner Ansicht nach kann die Sucht nach Konformität der Sache der freien Welt größeren Schaden zufügen als ein Dutzend Nikita Chruschtschows.“)

Mit der bürokratischen Verwaltung von Menschen verwandelt sich der demokratische Prozess in ein reines Ritual. Ob es sich um eine Aktionärsversammlung, um eine politische Wahl oder um ein Gewerkschaftstreffen handelt, stets hat der Einzelne fast alle Möglichkeiten verloren, selbst und aktiv an der Beschlussfassung mitzuwirken. Besonders im politischen Bereich werden die Wahlen immer mehr zu Entscheidungen, bei denen der Wähler lediglich der einen oder der anderen von zwei Kandidatenlisten mit professionellen Politikern den Vorzug geben kann. Bestenfalls kann man sagen, der Wähler werde mit seiner Zustimmung regiert. Aber die Mittel, die dazu benützt werden, eine solche Zustimmung zustande zu bringen, sind Suggestion und Manipulation. Und bei all dem werden die wichtigsten Entscheidungen - die außenpolitischen, die über Krieg und Frieden entscheiden - von kleinen Gruppen getroffen, über die der Durchschnittsbürger kaum etwas weiß.

Der Einzelne wird nicht nur im Bereich der Produktion verwaltet und manipuliert, sondern auch im Bereich des Konsums, der angeblich gerade das Gebiet ist, in dem er frei wählen kann. Ob es sich um den Konsum von Nahrungsmitteln, Kleidung, Alkohol, Zigaretten oder von Filmen und Fernsehprogrammen handelt, stets wird ein machtvoller Suggestionsapparat zu zwei Zwecken eingesetzt: einmal um den Appetit nach neuen Verbrauchsgütern ständig zu vergrößern, und zweitens um diesen Appetit [V-092] in diejenigen Kanäle zu leiten, die der Industrie den größten Profit bringen. Die Höhe des investierten Kapitals in der Konsumgüter-Industrie und der Wettbewerb zwischen ein paar Riesenunternehmen machen es notwendig, den Konsum nicht dem Zufall zu überlassen und dem Verbraucher nicht die freie Wahl zu lassen, ob er mehr kaufen und was er kaufen will. Sein Appetit muss ständig neu gereizt werden; sein Geschmack muss manipuliert, gemanagt und voraussehbar gemacht werden. Der Mensch wird in den „Verbraucher“ verwandelt, in den ewigen Säugling, dessen einziger Wunsch es ist, mehr und „Besseres“ zu verzehren.

Die Sowjetunion sollte dem Westen als warnendes Beispiel dafür dienen, wohin wir gelangen werden, wenn wir diese Richtung weiterverfolgen. Im Westen haben wir einen Manager-Industrialismus entwickelt und uns dabei den „organisierten Menschen“ eingehandelt. Russland hat die Zwischenstufe, in der wir uns im Westen noch befinden, übersprungen und die Entwicklung - unter den Bezeichnungen Marxismus und Sozialismus - bis zu ihrem logischen Ende geführt. Die Verstaatlichung (Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln) ist kein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen „Sozialismus“ und „Kapitalismus“. Es handelt sich bei dieser Art Sozialismus nur um eine technische Variante, mit der noch effizienter geplant und produziert werden kann. Das Sowjetsystem ist ein effizientes, vollkommen zentralisiertes System, das von einer industriellen, politischen und militärischen Bürokratie beherrscht wird; es ist die vollendete „Manager-Revolution“ - und keine sozialistische Revolution. Das Sowjetsystem ist nicht das Gegenteil des kapitalistischen Systems, sondern vielmehr das Abbild dessen, wozu der Kapitalismus sich entwickeln wird, wenn wir nicht zu den Grundsätzen der westlichen Tradition von Humanismus und Individualismus zurückkehren.

Stellen die Konzentration des Eigentums, die Bürokratisierung des Produktionsprozesses und der manipulierte Konsum wesentliche Elemente des Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts dar, so ist offensichtlich der Unterschied zum sowjetischen Kommunismus kein qualitativer, sondern nur ein quantitativer. Wenn der Kapitalismus nach Keynes nur durch ein bestimmtes Maß an Sozialisierung überleben kann, so kann man mit der gleichen Berechtigung sagen, dass der sowjetische Kommunismus dadurch überlebt hat, dass er sich Elemente des Kapitalismus einverleibt hat. In Wirklichkeit stehen ja das Sowjetsystem und das westliche System vor den gleichen Problemen der Industrialisierung und des ökonomischen Wachstums in einer hochentwickelten, zentralisierten Managergesellschaft. (Vgl. W. W. Eason, 1959, S. 93; sowie C. Kerr et al., 1960.) Beide Systeme bedienen sich der Methoden einer verwalteten, bürokratisch regierten Massengesellschaft, die durch eine ständig wachsende menschliche Entfremdung, durch Anpassung an die Gruppe und eine Überbewertung der materiellen gegenüber den geistigen Interessen gekennzeichnet ist. Beide produzieren den organisierten Menschen, der von Bürokratien und Maschinen beherrscht wird und trotzdem von sich glaubt, er verfolge das hohe Ziel humanistischer Ideale.

Die Ähnlichkeiten zwischen dem Sowjetsystem und dem Kapitalismus zeigen sich deutlich in der Klassenschichtung und den Bildungszielen der Sowjetunion. Ein Vergleich beider Systeme zeigt, dass das Sowjetsystem in vielen Punkten dem kapitalistischen System des neunzehnten Jahrhunderts ähnlich ist, während es in anderer [V-093] Hinsicht moderner und „fortschrittlicher“ ist als das des Westens. Diese Ähnlichkeiten werden noch deutlicher, wenn wir den einen Faktor anschauen, der nach westlicher Ansicht der Eckstein des Kapitalismus ist: den materiellen Anreiz. Wie sieht es damit in Sowjetrussland aus?

Die Arbeiter in Russland werden vom Bargeld angespornt. Dieser Anreiz eines höheren Lohnes für höhere Leistung wird auf zweierlei Weise geboten. Einmal beruht der Lohn im wesentlichen auf dem Akkord-Prinzip. Die Löhne werden festgesetzt „anhand der vorgegebenen Stückleistung, die für den betreffenden Auftrag eingeplant ist. Wenn der Arbeiter diese Stückleistung übertrifft, so gibt es bei diesem System gemäß einer ansteigenden Skala Akkordprämien. Für den Arbeiter, der seine Akkordleistung im Bereich zwischen 1 und 10 Prozent steigert, erhöht sich der Akkordlohn im Verhältnis zur Stückzahl“ (B. A. Javits, 1959, S. 343). Wenn er sein Soll beständig verdoppelt, hat er am Monatsende fast doppelt soviel als sein regulärer Lohn beträgt. Die zweite Art des Leistungsanreizes für den Arbeiter ist ein Bonus, der aus dem Gewinn des Unternehmens bezahlt wird. „In vielen Fällen macht der Bonus den größeren Teil des Jahreslohns eines russischen Arbeiters aus“ (B. A. Javits, 1959, S. 343).

Was die sowjetischen Manager betrifft, so ist für sie der größte Leistungsanreiz der für ein Übersoll ausgezahlte Bonus.

Das in Form von Sonderzulagen verdiente Einkommen ist beträchtlich. 1947 (...) verdiente das Manager-Personal in der Eisen- und Stahlindustrie Zulagen, die im Durchschnitt 51,4 Prozent des Grundeinkommens betrugen. In der Nahrungsmittelindustrie, die am unteren Ende der Skala steht, waren es 21 Prozent. Da es sich hier um Durchschnittswerte handelt, dürften viele Manager noch beträchtlich mehr verdient haben. Zulagen von dieser Höhe müssen wahrlich ein mächtiger Leistungsanreiz sein. (J. S. Berliner, 1959, S. 356. - Vgl. auch den gesamten Beitrag im Hinblick auf die Frage der Leistungsanreize für Manager sowie ders., 1957.)

Auch das Statussymbol und die Spesenrechnung sind nach B. A. Javits, 1959, für den Sowjetmanager zu einem wichtigen Leistungsansporn geworden. J. S. Berliner resümiert, dass

der private Gewinn in den letzten 25 Jahren zum Fundament des Management-Leistungssystems“ geworden ist, sodass wir „wohl mit Recht sagen (dürfen), dass der Privatgewinn mindestens noch in den nächsten Jahrzehnten der zentrale wirtschaftliche Leistungsansporn in beiden Systemen sein wird. (J. S. Berliner, 1959, S. 355.)

Auch für die Bauern ist das Bargeld wirtschaftlich der wichtigste Anreiz zu Leistung. So sagt B. A. Javits:

Es gibt einen Leistungsanreiz, der insofern paradoxe Züge aufweist, als in der Sowjetunion eine Lockerung des staatlichen Leistungsansporns zu beobachten ist, während man ihn in den Vereinigten Staaten stark propagiert und immer weiter damit experimentiert, indem der Staat den Farmern Subventionen anbietet, die diesen als Privatgewinn zufallen (...) In der Sowjetunion (...) dürfen die Mitglieder von Kollektiven, wenn sie der Regierung ihr Erntesoll abgeliefert haben, ihren Überschuss auf der Basis von Angebot und Nachfrage frei verkaufen. Dieser Bereich der Sowjetökonomie ist so ziemlich der einzige, auf dem so etwas wie ein ‚freier Markt’ zu finden ist. (B. A. Javits, 1959, S. 346.)

Russland ist noch immer ein reaktionärer, und wir ein liberaler Wohlfahrtsstaat. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Dinge sich in der Sowjetunion langsam ändern [V-094] werden. Je mehr diese die materiellen Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen kann, umso weniger wird sie die Methoden eines Polizeistaates nötig haben. Auch das Sowjetsystem wird zu den Massenmitteln übergehen, die im Westen angewandt werden: zu den Methoden der psychologischen Suggestion und Manipulation, die dem Einzelnen die Illusion geben, er habe eigene Überzeugungen und folge ihnen, während in Wirklichkeit „seine“ Entscheidungen von der Elite der „Entscheidungsträger“ getroffen werden.

Die Russen glauben, sie repräsentierten den Sozialismus, weil sie sich der Begriffe der marxistischen Ideologie bedienen, und sie erkennen nicht, wie ähnlich ihr System der am weitesten entwickelten Form des Kapitalismus ist. Wir im Westen glauben, wir repräsentierten das System des Individualismus, der Privatinitiative und der humanistischen Ethik, weil wir an unserer Ideologie festhalten und nicht sehen, dass unsere Institutionen tatsächlich in vielen Punkten dem verhassten System des Kommunismus immer ähnlicher werden. Wir glauben, das Wesen des russischen Systems bestehe darin, dass der Einzelne dem Staat dienstbar sei und daher keine Freiheit habe. Aber wir erkennen nicht, dass der Einzelne in der westlichen Gesellschaft der ökonomischen Maschinerie, den großen Unternehmen und der öffentlichen Meinung mehr und mehr dienstbar wird. Wir erkennen nicht, dass der Einzelne, angesichts der Riesenunternehmen, einer Riesenregierung und der riesigen Gewerkschaften Angst hat vor der Freiheit, dass er kein Zutrauen mehr zu der eigenen Kraft hat und Schutz sucht, indem er sich mit diesen Riesen identifiziert.

Unsere Art der industriellen Organisation braucht Menschen, die denen ähnlich sind, die das Sowjetsystem braucht: Menschen, die das Gefühl haben, sie seien maßgebend in ihrer Gesellschaft (sowohl der Kapitalismus wie auch der Kommunismus stellen diese Behauptung auf), und die trotzdem bereit sind, sich kommandieren zu lassen, zu tun, was man von ihnen erwartet, sich reibungslos in die soziale Maschinerie einzupassen, und die sich ohne Gewaltanwendung führen lassen, Geführte ohne Führer, vorangetrieben ohne Ziel - außer dem einen, ihre Sache gut zu machen, ständig auf Trab zu sein, voranzukommen. Wir versuchen dieses Resultat durch die Ideologie des freien Unternehmertums, die individuelle Initiative usw. zu erreichen; die Russen versuchen es durch die Ideologie des Sozialismus, der Solidarität und der Gleichheit.

Die Frage, ob das Sowjetsystem ein sozialistisches System sei, haben wir bereits verneint. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es ein Staats-Managertum ist, das sich der am weitesten fortgeschrittenen Methoden einer totalen Monopolisierung, der Zentralisierung und Massenmanipulation bedient und das langsam von gewaltsamer Beeinflussung zur Manipulation durch Massensuggestion übergeht. Es ähnelt zwar hinsichtlich gewisser ökonomischer Merkmale dem Sozialismus, ist aber in sozialer und menschlicher Beziehung sein genaues Gegenteil. Es wird in Wirklichkeit dem gleichen Ziel zutreiben wie die am weitesten fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, falls diese ihren gegenwärtigen Kurs nicht ändern. Ökonomisch gesehen ist es ein sehr erfolgreiches System. Auch wenn es der Entwicklung echter Freiheit und Individualität nicht förderlich ist, so hat es doch - was Planung und soziale Wohlfahrt betrifft - viele Merkmale aufzuweisen, die nur als positive Leistungen anzusehen sind. [V-095]

b) Ist die Sowjetunion revolutionär-imperialistisch?

Die These, dass es das Ziel der Sowjetunion sei, die Welt zu beherrschen, gründet sich auf zwei Annahmen. Die Hauptannahme lautet, dass Chruschtschow als Kommunist und Nachfolger Lenins die Welt revolutionieren wolle, um den Kommunismus zum Sieg zu führen. Sodann wird angenommen, dass Chruschtschow als Nachfolger der Zaren der Führer des russischen Imperialismus sei, der die Weltherrschaft zum Ziel habe. Gelegentlich werden heute beide Annahmen auch kombiniert, manchmal heißt es sogar:

Es ist darum müßig, zu streiten, ob die Sowjetunion „wirklich“ an der Weltherrschaft interessiert ist. Denn das Problem kann auch so liegen, dass das Streben nach sowjetischer Sicherheit zur Unterminierung aller anderen Staaten führt. (H. A. Kissinger, 1960, S. 149; dt. S. 182.)

Auch darüber sind die Meinungen geteilt, auf welche Weise die Sowjetunion zur Weltherrschaft zu gelangen sucht. Die bis vor kurzem - und möglicherweise auch noch heute - vorherrschende Meinung lautet, dass die Sowjetunion die Welt mit Waffengewalt erobern wolle, während man angesichts der russischen Friedensgesten auch häufig die Meinung hört, wenn die Sowjetunion die Weltherrschaft nicht mit Gewalt erkämpfen wolle, so versuche sie, sie mit wirtschaftlichen Mitteln und gewaltlosem Umsturz zu erreichen.

Wir wollen nun diese verschiedenen Ansichten über das Streben der Sowjetunion nach Beherrschung der Welt erörtern und die Gültigkeit der zu dieser These vorgebrachten Argumente überprüfen.

1. Die Sowjetunion als revolutionäre Macht und die Rolle der Komintern

Die älteste und vielleicht populärste Auffassung ist die von der Kontinuität des Regimes unter Lenin, Stalin und Chruschtschow, also der des revolutionären Kommunismus von 1917-1921 bis zur Sowjetmacht vierzig Jahre danach. Wenn Chruschtschow tatsächlich der legitime Nachfolger Lenins und ein Kommunist nach marxistisch-leninistischer Tradition wäre, so wäre sein Hauptinteresse ganz gewiss, die Welt kommunistisch zu machen, denn Lenin hat ohne Zweifel auf eine internationale Revolution gehofft und darauf hingearbeitet und hat sich um den Sieg des Kommunismus - und nicht um den des russischen Staates - über die Welt bemüht.

Aber, wie ich bereits zu zeigen versuchte, repräsentieren Stalin und Chruschtschow - ungeachtet aller Ideologie - nicht den revolutionären Kommunismus, sondern ein konservatives, totalitäres Managertum und die in diesem System dominierende Klasse. Es erhebt sich die Frage, ob die Repräsentanten dieses Systems und diese Klasse kommunistische Revolutionäre sein können - ob sie im Ausland Revolutionen wünschen oder auch nur damit sympathisieren können, deren Geist dem in Russland herrschenden genau entgegengesetzt wäre.

Die Antwort auf diese Frage hängt von einer politischen Annahme allgemeinerer Art ab, dass nämlich die innere Struktur eines Regimes dessen Haltung gegenüber Revolutionen bestimmt. Eine konservative Macht kann ihrer Natur nach mit revolutionären Bewegungen im Ausland nichts anfangen. Einmal sind die Führer einer [V-096] konservativen Macht Männer, deren Herrschaft auf Autorität und Gehorsam basiert, und Revolutionen sind Bewegungen, die gegen Autorität und Gehorsam ankämpfen. Wer in einem konservativen System an die Macht kommt, wird persönlich nicht mit antiautoritären Einstellungen sympathisieren. Noch wichtiger jedoch ist die Tatsache, dass Revolutionen in anderen Ländern, besonders wenn diese (geographisch und kulturell) nicht allzu weit entfernt sind, eine Bedrohung für die konservativen Länder darstellen. Das bedeutet konkret: Falls es etwa in Berlin, der Bundesrepublik, Frankreich und Italien zu einer Arbeiter-Revolution käme, dann wäre es für die Sowjetbürokratie schwer zu verhindern, dass diese Revolutionen auf die DDR, auf Polen, Ungarn usw. übergriffen. Vielleicht würde das Sowjetregime wieder Panzer und Maschinengewehre einsetzen, so wie es diese gegen die Erhebungen in der DDR, in Polen und Ungarn einsetzen musste, um den Aufstand der revolutionären Arbeiter zu unterdrücken. Könnte oder würde Chruschtschow damit einverstanden sein? Meine These, dass die Sowjetunion ein konservatives, hierarchisches System ist, das gegen Revolutionen eingestellt ist, mag manchen Lesern fast unsinnig vorkommen. Sie werden daran erinnern wollen, dass Lenin und Trotzki auf eine Weltrevolution gehofft haben, dass Stalin und Chruschtschow Erklärungen über den „Sieg des Kommunismus“ abgegeben haben, und sie werden an die Eroberung der baltischen Staaten, Polens, der Tschechoslowakei, Bulgariens und Rumäniens durch Russland erinnern. Wie, so werden sie argumentieren, kann man behaupten, das System Chruschtschows sei kein revolutionäres System angesichts solcher offensichtlichen Gegenbeweise?

Um diese Frage beantworten zu können, wollen wir nun Schritt für Schritt den Wandel aufzeigen von der echten Hoffnung Lenins und seiner Mitarbeiter auf eine Weltrevolution bis zur Umwandlung der Kommunistischen Parteien in Instrumente der stalinistischen Außenpolitik.

Die Beziehung zwischen Russland und der internationalen kommunistischen Bewegung hatte stets etwas Zweideutiges. Aber diese Eigenart hat sich zwischen 1917 und 1925 drastisch geändert. Wie ich bereits darlegte, hatten Lenin und Trotzki geglaubt, dass nur eine Revolution in Deutschland (oder Europa) die russische Revolution retten könnte. Ihre Außenpolitik ordnete sich ihren revolutionären Zielen unter; aber als dann die deutsche Revolution nicht zustande kam und Russland das einzige kommunistische Land blieb, wurde es zum Symbol und zum Mittelpunkt der kommunistischen Hoffnungen. Der Fortbestand von Sowjetrussland wurde zum Ziel an sich, wenn man auch immer noch daran glaubte, dass der Fortbestand Russlands für den endgültigen Sieg des Kommunismus unerlässlich war. Auf subtile Weise ordnete man jedoch nach und nach das Interesse der ausländischen kommunistischen Parteien den Interessen der sowjetischen Außenpolitik unter.

Diese Entwicklung begann bereits 1920. Nachdem die Bedrohung durch den Bürgerkrieg und eine Intervention der Alliierten nicht mehr bestand, wurden erste Versuche unternommen, Verhandlungen mit dem Westen anzuknüpfen und das Interesse am Fortbestand des russischen Staates über das Interesse an der Weltrevolution zu stellen. Tschitscherin appellierte an die Alliierten, Friedensverhandlungen einzuleiten, und sowohl er als auch Radek erklärten zum ersten Mal, dass kapitalistische Staaten [V-097] und Sowjetrussland friedlich nebeneinander existieren könnten, genauso wie „das liberale England ja auch nicht ständig gegen Russland, in dem noch Leibeigenschaft herrschte, gekämpft hatte“ (E. H. Carr, 1951, Band 3, S. 161). Aber der von den Franzosen unterstützte Angriff der Polen auf Russland und die anfänglichen russischen Erfolge machten diesen ersten Anzeichen einer Hoffnung auf Koexistenz ein Ende. Stattdessen führten diese Ereignisse zu einem letzten Höhepunkt der revolutionären Hoffnungen Lenins. Wie bereits dargelegt, bedeutete die Enttäuschung dieser Hoffnungen praktisch das Ende von Moskaus revolutionärer Strategie gegenüber dem Westen.

Die Jahre 1921 und 1922 markieren unmissverständlich dieses Ende. 1921 wurde der Aufstand der deutschen Kommunisten niedergeschlagen, Lenin führte die Neue Ökonomische Politik (NÖP) ein, schloss einen Handelsvertrag mit Großbritannien und unterdrückte den Matrosenaufstand in Kronstadt. Lenin und Trotzki gaben ihre revolutionären Hoffnungen nicht auf, aber sie gaben ihre Niederlage zu. Zum ersten Mal in der Geschichte der Komintern äußerten sowohl italienische wie auch deutsche Kommunisten und Linkssozialisten den Verdacht, dass zwischen den Interessen Russlands und denen der Komintern und ihren Mitgliedsparteien ein versteckter Widerspruch bestehen könnte. (Vgl. E. H. Carr, 1951, Band 3, S. 395 f.)

Eines der ersten Anzeichen für die Unterordnung des Kommunismus unter die russische Außenpolitik könnte in der neuen Linie der Deutschen Kommunistischen Partei (KPD) zur Zeit des Rapallo-Vertrages zu sehen sein. Während die KPD es bis dahin abgelehnt hatte, eine deutsche bürgerliche Regierung zu unterstützen (wie aus ihrer passiven Haltung gegenüber dem reaktionären Kapp-Putsch hervorgeht), entwickelte sie zwischen dem Sommer 1921 und dem Abschluss des Rapallo-Vertrags im April 1922 eine neue Einstellung. Die Kommunisten unterstützten den Vertrag im Reichstag, und die Rote Fahne pries ihn als „den ersten unabhängigen außenpolitischen Akt der deutschen Bourgeoisie seit 1918“ (zit. nach E. H. Carr, 1951, Band 3, S. 415).

Diese Ereignisse bedeuteten,

dass die Einstellung und Politik der fortgeschrittensten kommunistischen Parteien der Welt unterschiedlich sein würde, je nachdem ob die Regierung ihres jeweiligen Landes zu Sowjetrussland in einer feindlichen oder freundlichen Beziehung stand, und dass sie von Zeit zu Zeit geändert werden musste, um die Änderungen in diesen Beziehungen zu berücksichtigen.

Es nahm lange Zeit in Anspruch, bis sich diese Konsequenzen durchgesetzt hatten, und die Politiker, die im Frühjahr 1922 den Rapallo-Vertrag abschlossen, waren sich ganz sicher nicht darüber im Klaren. (E. H. Carr, 1951, Band 3, S. 415.)

Sechs Monate nach Rapallo unternahm die Sowjetunion einen zweiten Versuch, wieder als Weltmacht aufzutreten, indem sie auf der Lausanner Konferenz die Türken unterstützte; die Verfolgung der Kommunisten in der Türkei war kein Hinderungsgrund für eine russisch-türkische Freundschaft.

1922 gab man das Scheitern der revolutionären Hoffnungen offen zu. Radek erklärte auf dem IV. Kongress der Komintern im November und Dezember 1922:

Obwohl die Krise des Weltkapitals noch nicht überwunden ist, obwohl die Machtfrage noch immer im Mittelpunkt aller Fragen steht, ist es für die Zeit, in der wir leben, kennzeichnend, dass die breitesten Massen des [V-098] Proletariats ihren Glauben daran verloren haben, dass es ihnen gelingen werde, in absehbarer Zeit an die Macht zu kommen (...). Wenn dies die Situation ist, wenn die große Mehrheit der Arbeiterklasse sich machtlos fühlt, dann steht die Eroberung der Macht als unmittelbare Aufgabe des Tages nicht mehr auf dem Programm. (Zit. nach E. H. Carr, 1951, Band 3, S. 444.)

Die Reden von Lenin und Sinowjew klangen zwar nicht unbedingt pessimistisch, waren jedoch in der gleichen Tonlage.

Was sich 1922 ereignete, ist für den heutigen Historiker klarer, als es für diejenigen war, die an den Ereignissen unmittelbar beteiligt waren. Die Hoffnung auf die Revolution war gescheitert. Genauso wie Marx und Engels um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Lebenskraft des Kapitalismus unterschätzt hatten, so hatten Lenin und Trotzki zwischen 1917 und 1922 nicht erkannt, dass die Mehrheit der Arbeiter im Westen nicht gewillt war, die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile, die ihnen das kapitalistische System verschafft hatte, für den gefährlichen und unsicheren Kurs einer sozialistischen Revolution aufzugeben.

Zunächst traten Lenin und die anderen Führer 1921 und 1922 den Rückzug von der Revolution in gutem Glauben an. Sie betrachteten ihn als einen strategischen und hofften, dass sich irgendwann in der Zukunft eine neue revolutionäre Situation ergeben würde. Aber durch Lenins Krankheit und Tod, durch Trotzkis allmähliche Ausschaltung und durch Stalins Aufstieg wurde aus diesem Rückzug ein reiner Selbstbetrug. Wenn man auch vermutlich keinen bestimmten Punkt angeben kann, an dem sich diese Wandlung vollzog, so kann man doch ihre Entwicklung recht klar anhand der Ereignisse vom Rapallo-Vertrag 1922 bis zum Vertrag mit Hitler im Jahre 1939 verfolgen.

Nach dem Kapp-Putsch in Deutschland im Jahre 1923, durch den „das kommunistische Ansehen einen neuen und diesmal nicht wiedergutzumachenden Schlag erlitt“ (G. F. Kennan, 1960, S. 49), setzte sich Stalins Auffassung immer stärker durch, dass die nationalen Interessen Russlands vor den revolutionären Interessen der kommunistischen Parteien den Vorrang hatten. Er hatte die kommunistischen Parteien im Ausland schon immer verachtet und diese Verachtung auch oft ausgesprochen. „Die Komintern repräsentiert nichts. Sie existiert nur, weil wir sie unterstützen“ (zit. nach I. Deutscher, 1960, S. 392), sagte er in den zwanziger Jahren zu Lominadze. Die gleiche Einstellung brachte er viele Jahre später zum Ausdruck, als er zu dem polnischen Führer Mikolaiczyk sagte (I. Deutscher, 1960, S. 537): „Der Kommunismus passt zu Deutschland wie ein Sattel auf eine Kuh.“ Seine persönliche Verachtung für die chinesischen Kommunisten war unverkennbar. Durch ihn änderte sich die Beziehung zwischen Russland und der kommunistischen Bewegung auf drastische Weise. Sein Ziel war die Macht Russlands, und die kommunistischen Parteien hatten diesem Ziel zu dienen.

1925 gab Stalin zum ersten Mal offiziell zu, dass die akute revolutionäre Periode nach dem Ersten Weltkrieg vorüber sei und dass ihr eine Periode „relativer Stabilisierung“ folgen werde. Erst 1947 veröffentlichte er eine Ansprache an kommunistische Studenten, die er im Jahre 1925 gehalten hatte und die rückblickend Licht auf seine damalige Einstellung wirft:

Ich nehme an, dass die revolutionären Kräfte des Westens groß sind; dass sie wachsen; dass sie wachsen werden und dass sie hier und dort die [V-099] Bourgeoisie überwinden können. Das ist wahr. Aber es wird für sie sehr schwierig sein, ihr Terrain zu halten. (...) Das Problem der Stärke und Bereitschaft unserer Armee wird unausweichlich im Zusammenhang mit Komplikationen in den uns umgebenden Ländern auftauchen. (...) Das bedeutet nicht, dass wir in einer solchen Situation an die Pflicht gebunden wären, aktiv gegen irgendjemanden zu intervenieren. (Zit. nach I. Deutscher, 1960, S. 411.)

Diese Feststellung ist ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen einer ritualisierten Sprache und der realen Politik, der von nun an in allen russischen Äußerungen zu beobachten ist. Die Hoffnung auf das Wachstum der revolutionären Kräfte gehört zum Ritual, ohne das keine kommunistische Behauptung aufgestellt werden konnte. Der praktisch relevante Teil der Feststellung liegt jedoch darin, dass Stalin jede Verpflichtung vermied, die besagt hätte, dass die Rote Armee fremden Revolutionen helfen würde, ihr Terrain zu behaupten. Er ließ dies offen, betonte aber, er fühlte sich nicht „an die Pflicht gebunden“ zu intervenieren.

Russlands Außenpolitik schien eine Zeitlang mit ihrem Versuch Erfolg zu haben, freundschaftliche Beziehungen mit dem Westen, besonders mit Großbritannien anzuknüpfen. Aber die britische konservative Regierung bewegte sich zwischen 1924 und 1927 unverkennbar auf einen Bruch mit Russland zu. Am 12. Mai 1927 wurde die sowjetische Handelsdelegation in London durchsucht, und wenn sich auch aus der Razzia kaum Belastungsmaterial ergab, brach doch die britische Regierung am 26. Mai 1927 alle offiziellen Beziehungen zu Russland ab. (Vgl. G. F. Kennan, 1960, S. 63.) Nach diesem Rückschlag in ihrer Außenpolitik

wandte die sowjetische Regierung noch entschiedener als zuvor allen damaligen revolutionären Aktivitäten im Ausland den Rücken zu, zog sich nahezu in die Isolation zurück und widmete ihre Anstrengungen der Erfüllung von zwei großen internen Programmen. (G. F. Kennan, 1960, S. 77.)

Diese beiden Programme waren die schnelle Industrialisierung Russlands, wie sie im ersten Fünfjahresplan 1928-33 vorgesehen war, und die Errichtung einer strengen Kontrolle über die russische Landwirtschaft. Trotzki wurde aus der Partei ausgeschlossen, und Stalin begann mit dem Aufbau eines russischen Manager-Industrialismus. Wie George Kennan (G. F. Kennan, 1960, S. 79) zeigt, verlangte dieses neue Programm von der russischen Bevölkerung ungeheure Opfer, und Stalin sah sich zur Rechtfertigung dieser Härten genötigt, nachdrücklich auf eine äußere Gefahr hinzuweisen. Auch bediente er sich einer radikalen Ausdrucksweise, um damit zu verschleiern, dass er die revolutionären Ideen endgültig aufgegeben hatte, und um außerdem den Westmächten - als Antwort auf deren feindselige Reaktion nach 1924 - klarzumachen, dass die kommunistischen Parteien eine Gefahr für sie seien.

Diese drei Motive erklären den neuen militanten Kurs der Komintern nach 1927. Stalin erklärte in seinem Bericht vom 3. Dezember 1927: „Die Stabilität des Kapitalismus wird immer brüchiger und unhaltbarer“ (zit. nach G. F. Kennan, 1960, S. 164). Der offizielle Kurs der Komintern wurde dahingehend geändert, dass es nun hieß, die kapitalistische Welt sei jetzt in einen anderen „Zyklus von Kriegen und Revolutionen“ eingetreten. Dieser neue „revolutionäre“ Kurs ist von amerikanischen Sowjetologen oft als Beweis dafür angeführt worden, dass der Stalinismus niemals seine revolutionären Pläne aufgegeben habe. Diese Beobachter sehen nicht, dass [V-100] dieser radikale Kurs ausschließlich der russischen Außen- und Innenpolitik diente und dass darin keine echten revolutionären Pläne zum Ausdruck kamen.

Das beste Gesamturteil über den neuen revolutionären Kurs gibt Gustav Hilger, der damals Botschaftsrat bei der Deutschen Botschaft in Moskau war. G. F. Kennan (1960, S. 80) zitiert G. Hilger (1953, S. 225):

So konnte ein kompetenter Moskauer Beobachter jener Zeit später, als er die Sowjetpolitik während der Periode des Ersten Fünfjahresplans beschrieb, sagen, dass „die Sowjetunion einen starren Isolationismus hinter der Fassade einer intensivierten Tätigkeit der Komintern verbarg, die teilweise dazu diente, die Aufmerksamkeit von ihren inneren Schwierigkeiten abzulenken“.

Außerdem ist zu bemerken, dass trotz aller radikalen Reden die Komintern keinerlei Direktiven aussandte, welche eine Machtergreifung verlangt hätten, sondern dass sie lediglich verlangte, dass der Kampf gegen „die kapitalistische Offensive“ fortgesetzt würde (zit. nach H. Marcuse, 1958, S. 54; dt. S. 67). (Vgl. auch Marcuses Analyse der Parteilinie von 1927: „So widerspricht selbst das ‚linksorientierteste’ Programm der Komintern nicht unserer Annahme, dass die stalinistische Strategie die wirksame Eindämmung des revolutionären Potenzials in der westlichen Welt nach dem Scheitern der mitteleuropäischen Revolutionen stillschweigend unterstellte“ - H. Marcuse, 1958, S. 55; dt. S. 68; Hervorhebung E. F.)

Mit der Konsolidierung von Stalins Macht über alle seine Gegner, mit Hitlers Machtergreifung und dem Beginn der Roosevelt-Ära ordnete Stalin eine weitere Kursänderung an. Er machte keinen Versuch, die deutschen Arbeiter gegen Hitler zu mobilisieren mit dem Ziel, in Deutschland eine linke Regierung einzusetzen. Ganz im Gegenteil wurde der KPD von einem Moskauer Strohmann, der von der Moskauer Regierung mit größter Verachtung behandelt wurde, befohlen, eine Politik zu verfolgen, die sich als reiner Selbstmord erwies. Indem die Kommunistische Partei die Sozialisten als ihre Hauptfeinde behandelte und einen taktischen Pakt mit den Nazis schloss, tat sie alles nur Mögliche, um einen Sieg der Nazis nicht zu verhindern. Es ist undenkbar, dass Stalin die Deutsche Kommunistische Partei so völlig demoralisiert und irregeführt hätte, wäre sein Ziel eine Revolution in Deutschland oder auch nur die Niederlage Hitlers gewesen. Hiermit möchte ich nicht sagen, dass Stalin einen Sieg Hitlers wünschte. Ganz gewiss sah er sich durch Hitler bedroht und versuchte sein Bestes, diese Bedrohung abzuwenden. Aber es gibt viele gute Gründe - wenn auch keinen schlüssigen Beweis - dafür, dass Stalin den Sieg Hitlers einer echten Arbeiterrevolution in Deutschland vorgezogen hätte. Der deutsche Diktator stellte eine militärische Bedrohung dar, bei der Stalin hoffen konnte, ihr mit diplomatischen Manövern und militärischen Vorbereitungen begegnen zu können. Eine deutsche Arbeiterrevolution hätte das Fundament seines gesamten Regimes in Frage gestellt.

Stalins Versuchen, zu einer Anti-Nazi-Koalition mit dem Westen zu kommen, dienten auch neue Weisungen an die kommunistischen Parteien im Ausland. Es wurde ihnen befohlen, einen Kurs der Kooperation mit den liberalen und demokratischen Elementen in ihrem jeweiligen Land einzuschlagen und mit allen Antifaschisten inklusive den Sozialdemokraten eine gemeinsame Front zu bilden. Diese Politik wurde auf dem VIII. (und letzten) Komintern-Kongress 1935 offiziell sanktioniert.

Stalins Außenpolitik hatte trotz des neuen Kominternkurses keinen Erfolg.

In vielen [V-101] Hauptstädten und nicht zuletzt in London hatte man große Hemmungen, mit Sowjetrussland politisch zusammenzuarbeiten, selbst wenn dies dazu dienen sollte, den Faschismus in Schach zu halten. Der Völkerbund, der diese Hemmungen widerspiegelte, erwies sich als ein schwaches und machtloses Instrument. Die endgültige Fassung des Französisch-Russischen Vertrags war in einer komplizierten, unbestimmten Sprache gehalten, und seine Durchführung wurde weitgehend vom Verhalten des Völkerbundes abhängig gemacht. In der Folgezeit kam es (bis 1939, als es viel zu spät dazu war) zu keinen konkreten militärischen Besprechungen. Die französische Regierung schob schließlich die Ratifizierung so lange hinaus und verhielt sich während des ganzen Prozesses immer wieder so zaudernd, dass der Vertrag seinen Wert als politische Demonstration fast völlig einbüßte. Dass die Deutschen nur Verachtung dafür hatten, ging deutlich aus der Wiederbesetzung des Rheinlandes im März 1936 hervor, und dass die Westmächte nicht mit energischen Maßnahmen darauf reagierten, zeigt, wie wirkungslos der Vertrag bezüglich der Ziele war, die Moskau damit im Sinn gehabt hatte. (G. F. Kennan, 1960, S. 86.)

Der Spanische Bürgerkrieg, in dem der Westen durch ein Waffenembargo mithalf, die Niederlage der republikanischen Regierung herbeizuführen, während er gleichzeitig nichts Ernsthaftes dagegen unternahm, dass Hitler und Mussolini Franco militärische Hilfe leisteten, stärkte Stalins Hoffnung auch nicht. Aber selbst hierbei verhielt er sich alles andere als revolutionär. Nach einigem Zögern zu Beginn des Aufstandes von Franco entschlossen sich die Russen zu intervenieren, da Francos Sieg die

Umzingelung Frankreichs durch die Faschisten, den wahrscheinlichen Triumph der faschistischen Tendenzen innerhalb Frankreichs selbst und eine weitere Schwächung des westlichen Widerstandes gegen Hitler bedeutet hätte. Der Weg wäre dann frei gewesen für eine deutsche Aggression gegen den Osten. (G. F. Kennan, 1960, S. 87.)

Russland schickte militärische Hilfe, fand sich aber mit der Niederlage der Republik ab, als sich herausstellte, dass nur eine weit umfangreichere Unterstützung durch Russland ein Gegengewicht gegen die italienisch-deutsche Waffenhilfe hätte bieten können. Während die militärische Unterstützung 1937 auszulaufen begann, rottete Stalin in Spanien weiter die sozialistischen und anarchistischen Bewegungen aus, die er als seine Gegner betrachtete. Als die Vernichtung seiner politischen Gegner (die - entgegen der russischen Auffassung - den Bürgerkrieg in einen Kampf um den Sozialismus umzuwandeln trachteten) mit den Erfordernissen der Kriegsführung in Konflikt geriet, „gab der Kreml völlig skrupellos der Liquidierung den Vorrang, und dies zur Erbitterung der spanischen republikanischen Führer“ (G. F. Kennan, 1960, S. 89).

Die meisten jener kommunistischen Generäle und Funktionäre, die in Spanien gekämpft hatten, wurden bald nach ihrer Rückkehr nach Russland hingerichtet. Stalin wünschte alle Elemente auszurotten, die mit den westlichen revolutionären Ideen Bekanntschaft gemacht hatten und die deshalb der endgültigen Liquidierung der revolutionären Tradition im Wege standen, die er in jenen Jahren der Säuberung unternahm. Kurz, Stalin nahm gegenüber Franco eine ähnliche Haltung ein wie gegenüber Hitler. Eine Niederlage Francos wäre ihm lieber gewesen, aber nicht um den Preis einer Volksrevolution in Spanien, welche zum Signal für revolutionäre Aufstände in anderen europäischen Ländern hätte werden können. [V-102]

Als Stalins Versuche, mit dem Westen zu einem Arrangement zu kommen, fehlgeschlagen waren (und die Spekulation dürfte nicht allzu abwegig sein, dass die Vernichtung fast aller führender Kommunisten der Lenin-Ära seinen endgültigen Versuch darstellte, dem Westen zu zeigen, wie wenig ihn seine revolutionäre Vergangenheit belastete), änderte er wiederum seinen Kurs, indem er diesmal einen Pakt mit den Nazis schloss. Sofort zogen die kommunistischen Parteien nach. Molotow hatte das Stichwort gegeben mit seiner Feststellung, der Nazismus sei „Geschmackssache“. Die Kommunisten änderten ihren antifaschistischen Kurs und fingen an, die „westlichen Imperialisten“ anzugreifen. Als freundschaftliche Geste gegenüber dem Nazismus wurden deutsche kommunistische Flüchtlinge in Russland Hitlers Gestapo ausgeliefert, wenn irgendwelche Zweifel darüber bestanden, ob sie sich loyal an die neue Parteilinie hielten. Die Komintern verhielt sich beiden Lagern gegenüber neutral.

Den Kern dieser neuen Kominternpolitik in der Zeit zwischen dem Pakt mit den Nazis und dem deutschen Angriff auf Russland hat I. Deutscher (1960) sehr prägnant beschrieben:

Beide kriegführenden Lager, hieß es jetzt, verfolgten imperialistische Ziele, und es ging nicht darum, zwischen ihnen zu wählen. Die Arbeiterklassen wurden zum Widerstand gegen den Krieg und zum Kampf für den Frieden aufgefordert. Äußerlich ähnelten diese Appelle der Politik des revolutionären Defätismus, die Lenin im Ersten Weltkrieg verfolgt hatte. Die Ähnlichkeit täuscht jedoch. In Lenins Opposition gegen den Krieg steckte revolutionäre Integrität und Beharrlichkeit, während die Politik der Komintern nur der damaligen Diplomatie Stalins gelegen kam und ebenso unehrlich war wie diese Diplomatie selbst. Gelegentlich hatte die Opposition gegen den Krieg einen unmissverständlich pro-deutschen Zug, zum Beispiel im Oktober 1939, als die Komintern Molotows und von Ribbentrops Aufforderung zu Friedensverhandlungen aufgriff und Frankreich und Großbritannien die Schuld am Krieg in die Schuhe schob. Die Wirkung dieser Politik, besonders in Frankreich, war rein defätistisch und nicht revolutionär. Sie verstärkte nur noch die Niedergeschlagenheit, der die Spitze der französischen Gesellschaft verfallen war, durch eine quasi-populäre Art des Defätismus, die von unten kam. Erst als der Schaden angerichtet war, als Moskau - durch Hitlers Siege alarmiert - anfing, den Widerstand gegen die Besetzung durch die Nazis anzuspornen, ging die Französische Kommunistische Partei zu einer neuen Politik über. Weniger augenfällig, wenn auch nicht unbedeutend, war die Wirkung des Ribbentrop-Molotow-Vertrags auf die antinazistischen Elemente in Deutschland. Sie vergrößerte noch deren Verwirrung, verstärkte ihr Gefühl der Niederlage und veranlasste einige unter ihnen, sich mit dem Krieg Hitlers abzufinden.

Mit dem Angriff der Deutschen auf Russland änderten die kommunistischen Parteien wiederum ihren Kurs und unterstützten nunmehr Russland. Die französischen Kommunisten wurden angewiesen, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen, und die Parolen der Periode nach 1933 lebten wieder auf. Ganz offensichtlich versuchte Stalin nicht, den Krieg als Sprungbrett für eine Revolution im Westen zu benutzen.

Besonders in Italien und Frankreich, wo die Kommunisten durch ihre Beteiligung an der Widerstandsbewegung allgemeines Ansehen und Einfluss gewonnen hatten, tat Stalin ganz im Gegenteil alles, um zu beweisen, dass diese kommunistischen Parteien [V-103] kein revolutionäres Ziel verfolgten. Sie lieferten ihre Waffen aus, und

zum ersten Mal in ihrer Geschichte missachteten sie ihr eigenes Programm, das ihnen verbot, sich an einer bürgerlichen Regierung zu beteiligen. Sie traten in Regierungen ein, die auf breiten nationalen Koalitionen basierten. Obgleich sie damals die jeweils stärksten Parteien in ihren Ländern waren, gaben sie sich mit untergeordneten Positionen in diesen Regierungen zufrieden, von denen aus sie nicht darauf hoffen konnten, jetzt oder später an die Macht zu kommen, und aus denen sie schließlich auch fast mühelos von den anderen Parteien wieder verdrängt wurden. Armee und Polizei blieben in den Händen konservativer oder zumindest anti-kommunistischer Gruppen. Westeuropa sollte die Domäne des liberalen Kapitalismus bleiben. (I. Deutscher, 1960, S. 518.)

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959122078
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
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Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Gesamtwerk Gesamtausgabe
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