Lade Inhalt...

Locarneser Interviews

©2016 66 Seiten

Zusammenfassung

Die in dem Band ‚Locarneser Interviews‘ gesammelten Beiträge entstanden, nachdem sich Erich Fromm und seine Frau Annis entschieden hatten, ihren Alterswohnsitz in Muralto bei Locarno im schweizerischen Tessin zu nehmen. Das erste und das letzte Interview haben Leben und Werk von Fromm im Blick. Einige Interviews entstanden im Vorfeld seines 80. Geburtstags, der am 23. März 1980 gewesen wäre, den Fromm aber nicht mehr erlebte, weil er am 18. März an seinem vierten Herzinfarkt starb. Bei der Lektüre der ‚Locarneser Interviews‘ Bandes sollte man den fragilen gesundheitlichen Zustand Fromms ab 1978 im Auge behalten.

Alle Texte der Interviews entstanden aus Transkripten der Mitschnitte, die sprachlich mehr oder weniger stark bearbeitet werden mussten. Ziel war es dennoch, möglichst nah am gesprochenen Wort zu bleiben, um die menschliche Atmosphäre zu erhalten, die für die Gespräche mit Fromm so typisch war. Auch deshalb vermitteln die „letzten“ Interviews ein eindrucksvolles Bild des großen Humanisten Erich Fromm.

Die Beiträge im Einzelnen
- Interview mit Heiner Gautschy
- Das Undenkbare denken und das Mögliche tun. Interview mit Alfred A. Häsler
- Wir leiden an schleichender Schizophrenie. Interview mit Heinrich Jaenecke
- Wir sitzen alle in einem Irrenhaus. Interview mit Heinrich Jaenicke
- „Ich habe die Hoffnung, dass die Menschen ihr Leiden erkennen: den Mangel an Liebe.“ Interview mit Heinrich Jaenecke
- „Wer hat Interesse an der Wahrheit?“ Interview mit Robert Neun
- „Die Kranken sind die Gesündesten.“ Interview with Micaela Lämmle and Jürgen Lodemann
- „Das Ziel ist die optimale Entfaltung des Menschen.“ Interview mit Jürgen Lodemann
- Interview mit Veio Zanolini
- Mut zum Sein. Interview mit Guido Ferrari

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Locarneser Interviews
  • Inhalt
  • Interview mit Heiner Gautschy
  • Das Undenkbare denken und das Mögliche tun. Interview mit Alfred A. Häsler
  • Wir leiden an schleichender Schizophrenie. Interview mit Heinrich Jaenecke
  • Wir sitzen alle in einem Irrenhaus. Interview mit Heinrich Jaenecke
  • „Ich habe die Hoffnung, dass die Menschen ihr Leiden erkennen: den Mangel an Liebe.“ Interview mit Heinrich Jaenecke
  • „Wer hat Interesse an der Wahrheit?“ Interview mit Robert Neun
  • „Die Kranken sind die Gesündesten.“ Interview mit Jürgen Lodemann und Micaela Lämmle
  • „Das Ziel ist die optimale Entfaltung des Menschen.“ Interview mit Jürgen Lodemann
  • Interview mit Veio Zanolini
  • Mut zum Sein. Interview mit Guido Ferrari
  • Literaturverzeichnis
  • Der Autor
  • Der Herausgeber
  • Impressum

Interview mit Heiner Gautschy

(1984a)[2]

Gautschy[3]: Seit wenigen Jahren sind Sie in Locarno ansässig, und jetzt habe ich die große Freude, Ihnen hier in Hinterzarten gegenüberzusitzen. Ich war ganz überrascht, als ich erfuhr, dass Sie in Locarno seit einigen Jahren wohnen. Haben Sie eine besondere Beziehung zu Locarno oder vielleicht auch zum Schwarzwald?

Fromm: Zu beiden. Der Schwarzwald und auch die Südschweizer Seen waren schon immer meine Lieblingsplätze. Ich war als Kind viel im Schwarzwald, weil ich in Frankfurt aufwuchs.[4]

Gautschy: Sie haben viele Jahre in den USA und auch in Mexiko gelebt, vielleicht noch an anderen Orten. Gibt es für Sie eine Heimat und welche wäre das?

Fromm: Das ist schwer zu sagen. Es klingt pathetisch, wenn ich das sage, aber es ist die Wahrheit: Ich fühle mich eigentlich überall in der Welt in einer bestimmten Weise zu Hause, wo ich ein aktives Interesse an dem Land, am Volk nehmen kann, selbst wenn sich dies praktisch nicht äußert. Das hängt vielleicht auch mit meiner Gesamteinstellung zusammen, der das Nationale und die Betonung des Nationalen fehlt. Ich habe eher eine weltbürgerlich-humanistische Einstellung. Für mich sind die Menschen eigentlich überall ziemlich gleich. [X-354]

Gautschy: Waren Sie in den USA und dann in Mexiko noch als Psychoanalytiker in eigener Praxis tätig oder waren Sie nur Dozent?

Fromm: Nein, nein, ich war, bis wir von Mexiko weggingen, im wesentlichen als Psychoanalytiker tätig. Ich habe die Tätigkeit eigentlich erst mit der Übersiedlung in die Schweiz aufgegeben.

Gautschy: Bis dahin gingen also das Schreiben und das Denken mit der praktischen psychoanalytischen Arbeit immer nebeneinander einher?

Fromm: Ja, und zwar nach einer Regel, die schon seit 20, 30 Jahren gilt: Niemals den Morgen zu einer professionellen, also bezahlten Arbeit zu benutzen. Selbst wenn mir am Morgen nichts einfiel oder ich nicht in der Stimmung war, habe ich keine Patienten gesehen. Der Morgen war, wenn Sie so wollen, heilig als die Zeit, wo ich denke und schreibe. Auch wenn nichts dabei herauskam, bin ich doch nicht der Versuchung erlegen, einen Patienten zu sehen, auch nicht für eine Stunde.

Gautschy: Wie war das mit den Sprachen? Wie kann man, wenn man in der deutschen Sprache aufgewachsen ist, plötzlich Englisch und vielleicht sogar Spanisch?

Fromm: Das hatte zum Teil einen sehr einfachen Grund: Ich hatte, solange ich noch in Deutschland lebte, von Anfang an auch amerikanische Patienten. Ob die von meiner Analyse etwas profitiert haben, weiß ich nicht. Ich habe auf jeden Fall profitiert; ich habe gelernt, Englisch zu verstehen, und zwar amerikanisches Englisch. Ich konnte von der Schule her ganz gut Englisch, weil wir einen englischen Lehrer hatten, den ich sehr mochte. Noch mehr aber habe ich von amerikanischen Patienten gelernt, die ich noch in Deutschland analysiert habe.

Gautschy: Ihre Werke erscheinen ja in englischer Sprache und wurden eigentlich erst spät ins Deutsche übersetzt. So wurde Die Kunst des Liebens zwar bereits 1956 veröffentlicht, eine Übersetzung habe ich erst 1979 gelesen.[5]

Fromm: Es gab tatsächlich in Deutschland viel weniger Interesse [X-355] für meine Bücher als in Amerika oder in Italien oder Spanien. Warum das so war, ist mir nie klar geworden.

Gautschy: Ich habe noch eine ähnliche Frage. New York ist – das darf man vielleicht sagen – die Hochburg der Psychoanalyse. Es gibt verschiedene Schulen: vor allem Freudianer, aber auch Jungianer, Adlerianer, etc. Gibt es auch Frommianer?

Fromm: Nein. Ich habe es immer vermieden, so etwas wie eine Schule zu bilden und meine Studenten auf bestimmte Lehren sozusagen einzuschwören, wie wenn es eine Frommsche Psychoanalyse gäbe. Das habe ich glücklicherweise mit Erfolg vermieden.

Gautschy: Ist es nicht so, dass sich durch Schulenbildungen Lehrmeinungen verhärten, erstarren, verkrusten, sobald der Urheber nicht mehr vorhanden ist. Die Jünger können das dann nicht mehr weiterentwickeln, weil man sich unentwegt auf die Schriften beruft.

Fromm: Ja, das ist sicher so. Ich habe sehr bewusst den Versuch gemacht, Schülerschaft – wenn man das so nennen darf – zu verhindern. Ich habe nie darauf bestanden, dass jemand, den ich ausgebildet habe, meine eigenen Meinungen teilt. Ich habe nicht nur nicht darauf bestanden, ich war froh, wenn er authentisch etwas finden konnte, was er nicht aus Loyalität übernimmt und dann weitergibt. Deshalb gibt es keine Schule von Fromm und eigentlich auch kaum Analytiker, die ich im üblichen Sinne als meine Schüler bezeichnen könnte – sehr wenige jedenfalls. Aber das liegt – so rede ich mir wenigstens ein – zum Teil wenigstens an mir und an meiner Abneigung gegen „Schulen“-Bildungen.

Gautschy: Wir haben vorhin von New York gesprochen, und ich habe das Wort „Hochburg“ der Psychoanalyse gebraucht, weil meiner Beobachtung nach dort enorm viele Menschen „in Analyse“ sind. Hat dies seinen Grund vielleicht darin, dass dort der Konkurrenzkampf der Markt- und Industriegesellschaft auf die Spitze getrieben ist und die Menschen völlig „gestresst“ sind? Interessanterweise sagt man dort gegenüber Freunden mit Stolz: „Ich bin in Analyse.“ Bei uns spricht man nur zögernd davon oder man verheimlicht es sogar.

Fromm: Ich kann Ihnen da eine kleine Anekdote erzählen, wobei ich nicht weiß, ob sie wahr ist oder nicht: Ein junges Mädchen bewirbt sich um eine Stelle in einem größeren Unternehmen und bespricht mit dem Chef die ganze Anstellung – Lohn, Arbeitszeiten, Aufgabenbereich, etc. Und dann fragt sie der Chef: „Und wie viele Stunden gehen Sie zur Analyse?“ Das wird also als ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Mit der „Analyse“ wird auch ein großer Missbrauch getrieben. Die Leute stellen sich nämlich vor: Wenn man nur lange genug redet, dann geht es einem besser. Nun – das ist ein Irrtum.

Gautschy: Hat dies nicht auch damit zu tun, [X-356] dass die Menschen in Amerika eher das Gefühl haben, alles sei machbar, ähnlich wie wenn man ein Auto repariert: Mit mir stimmt etwas nicht, deshalb gehe ich zum Analytiker, der das wieder in Ordnung bringen wird.

Fromm: So ist es. Ich würde dabei nur betonen, dass es nicht nur in Amerika so ist, sondern in allen modernen Industriegesellschaften, von denen Amerika nur das fortgeschrittenste Beispiel ist (und ich meine hier „fortgeschritten“ völlig wertfrei).[6] Alles ist machbar! Man ist der Überzeugung: Wenn man intellektuell versteht, warum etwas so ist, wie es ist, dann muss das eigentlich schon von selbst zur Veränderung führen. Dass Veränderung Anstrengung und Opfer verlangt, dass andererseits auch Zielstrebigkeit und die Vision eines anderen, besseren Lebens vorhanden sein muss, das wird einfach außer Acht gelassen. Es kommt nur darauf an, dass der Mensch funktioniert, das heißt, den Regeln der gegebenen Gesellschaft entsprechend das Beste und das Richtige zu tun; dass er sich richtig verhält und keinen Anstoß erregt. Dabei kommt der Mensch aber ziemlich unter die Räder. Es kommt als unglücklicher Faktor noch hinzu, dass Gefühle zer-redet und „zer-dacht“ werden.

Sie finden in Amerika – aber sicher auch in Europa – Leute, die stundenlang von sich erzählen können, über ihre Kindheit, über ihren Vater, über ihre Mutter. Ist jemand schriftstellerisch begabt, kann der Betreffende oder die Betreffende eine schöne Autobiographie schreiben. Alles aber bleibt ganz im Deskriptiven, als ob durch die Darlegung und das Reden darüber sich Dinge veränderten. Dass der Mensch auch eine Vision von dem haben muss, was er erstrebt, von einem Ziel, das ihm vorschwebt und das ihm zugleich die Energie und die Vitalität gibt, sich zu verändern – davon spricht kaum jemand. Die Haltung ist eben sehr oft passiv. Man redet und redet, und wenn man lange genug redet, dann kommt schon etwas dabei heraus. Nicht dass die Analytiker das selbst so vertreten würden oder dass es in allen Fällen so wäre, aber oft ist es doch so, dass der Glaube ans Reden heilen soll.

Gautschy: Eine mir bekannte Analytikerin in New York sagte einmal, ein zentrales Thema in vielen Analysen sei die Identitätskrise – die Frage: Wer bin ich? Ist das nicht auch ein sehr zentraler Punkt in Ihrem Buch Haben oder Sein (1976a): dass der Mensch nicht so sehr der ist, der er ist oder sein könnte, sondern der, der er sein soll, wie ihn die Marktwirtschaft braucht? Gibt es da nicht auch Unterschiede zwischen den Nationen, ich denke zum Beispiel an England oder Frankreich, wo die Menschen doch noch mehr eingebettet sind als in den USA?

Fromm: Ich glaube schon. Ich habe keine Erfahrungen mit England oder Frankreich. Aber ich kann mir vorstellen, dass es Unterschiede gibt. Die Frage: Wer bin ich eigentlich? ist eine beängstigende Frage, der man auszuweichen sucht, in Amerika [X-357] vielleicht noch mehr als in einer traditionell stärker gefügten Gesellschaft. Man setzt sich ins Auto und fährt davon. Auf diese Weise läuft man von sich selbst weg, um zu vermeiden, mit der peinlichen Frage konfrontiert zu werden: Wer bin ich? Hier entsteht sogar ein sprachliches Problem. Manche Leute würden sogar fragen: Was bin ich?

Gautschy: Das kommt ganz in die Nähe dessen, was ich als eine Ihrer wichtigen Thesen betrachte: dass die Menschen sich verdinglichen, also nicht mehr Menschen im eigentlichen Sinne sind, sondern eine Ware, ein Ding.

Fromm: Und sich auch so fühlen. Bei Waren gibt es zwei Arten des Wertes: den Gebrauchswert und den Marktwert. Sie können den schönsten Gegenstand anbieten, wenn keine genügende Nachfrage auf dem Markt vorliegt, weil das Geld eben nicht in dieser Richtung ausgegeben wird, dann ist dieser Gegenstand so, als ob er nicht existierte. Vom Standpunkt des Marktwertes hat nur das Existenz, was verkäuflich ist. Das, was unverkäuflich ist, könnte ebenso weggeworfen werden, denn es hat keinen Wert im Sinne unserer heutigen Marktwirtschaft. Das war vor hundert Jahren noch sehr anders. Für uns heute hat der Wert sehr viel mit dem Profit zu tun. Wenn etwas keinen Profit bringt, dann ist es auch nichts wert, denn was soll man mit dem Zeug tun? Das hat zunächst gar nichts damit zu tun, dass die Menschen unserer Gesellschaft so profitgierig sind. Ich glaube, das überschätzt man sehr. Es ist also nicht die Gier nach mehr Geld, die alles bestimmt (obwohl es das natürlich auch gibt). Vielmehr gibt der Profit Rechenschaft darüber, ob jemand als Geschäftsmann richtig funktioniert. Wenn ich keinen Profit habe, heißt das so viel wie dass ich versagt habe. Und das ist es, wovor jeder Angst hat.

Gautschy: Die Zeitschrift Time brachte unlängst die Titelgeschichte „Psychiatry’s Depression“ – also etwa „Psychiatrie in der Krise“ oder „Psychiatrie auf der Couch“. Befindet sich die Psychiatrie oder besser die Psychoanalyse in einer Art Krise heute?

Fromm: Um hier adäquat zu antworten, müsste man Statistiken über die Zahlen haben, wie viele Menschen zum Analytiker gehen. Ich glaube aber, irgendetwas dieser Art findet statt oder hat stattgefunden und äußert sich auch in anderen Kult-Erscheinungen. So haben auch indische Gurus den Platz eines Analytikers eingenommen. Er wird mit denselben Hoffnungen aufgesucht (und gewöhnlich ist er auch noch billiger, aber das ist nicht das Ausschlaggebende). Angeblich hat dieser Guru, der nicht immer, aber doch in vielen Fällen ein reiner Schwindler ist, vom Himalaya die wirklichen Schlüssel zur Weisheit des Lebens geerbt oder erfahren. Auf der anderen Seite sind da Menschen, die selbst keine Ahnung haben, was Leben, was wirkliches Leben ist und auch keine eigenen Wertkonzepte entwickelt haben. Für diese ist der Guru ein Wundermann, dem man sich anvertraut, [X-358] weil man selbst so hilflos ist.

Es müsste für Menschen, die sich verfangen haben und blockiert fühlen, Berater geben, die nicht selbst Therapeuten sind, die aber die möglichen Hilfen kennen. An sie sollte man sich zunächst einmal wenden können, um ihnen den eigenen Fall vorzustellen und um beraten zu werden, was man unternehmen kann und in welcher Richtung. Die Menschen sind ja oft schon bei der Frage hilflos, wonach sie eigentlich suchen sollen und wo und wie sie das finden können. Dies ist mit ein Grund, warum sie häufig schon damit zufrieden sind, wenn sie sich irgendeinem Kult anschließen können, bei dem dann eine Mischung von psychischen, ethischen, religiösen und allen möglichen anderen Ideen zusammengebraut wird. Aber das hilft meist nicht viel. Wichtig ist hier auch zu sehen, dass die Menschen durch die Popularität der Psychoanalyse vergessen haben, dass vor allem die eigene Anstrengung, und zwar die wirkliche Anstrengung, die Bedingung aller Heilung ist.

Gautschy: Die Psychoanalyse, von der wir bis jetzt gesprochen haben, bezieht sich ja auf den Einzelnen. Sie sagen aber auch – ich denke hier vor allem an Haben oder Sein (1976a) –, dass der Mensch auch, und vielleicht sogar sehr stark, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt ist. Er wird seelisch krank – auch und vielleicht sogar in erster Linie – durch die Gesellschaft, in der zu leben er gezwungen ist. Ist diese Erkenntnis oder dieser Gedanke für Sie bestimmend gewesen, vom Analytiker zum Philosophen zu werden und nicht mehr so sehr über den einzelnen Menschen, sondern vielmehr über die ganze Gesellschaft nachzudenken?

Fromm: Ich glaube, die beiden Interessen waren immer gemeinsam da. Ich bin 1900 geboren und erlebte den Ersten Weltkrieg als junger Mensch zwischen 14 und 18 Jahren. Dieses Erlebnis bestimmte mein Leben grundlegend, weil ich mich fragte: Wie ist das möglich? Als ich 14 Jahre alt war, war ich zu jung und zu unreif, um mir diese Frage ernsthaft vorzulegen. Aber mit 15, 16, 17 habe ich angefangen, ernstlich über diese Schlüsselfrage nachzudenken: Wie ist das möglich, dass Menschen töten und sich töten lassen für Dinge, die im Grunde genommen von beiden Seiten ideologisch aufgebauscht waren?

Gautschy: Sie haben viel über diese Fragen nachgedacht, über die Gesellschaft, über das Zusammenleben der Menschen und über die „real existierende Industriegesellschaft“, und zwar in West wie Ost. Beide lehnen sie scharf ab, weil sie den Menschen krank machen und ihn seiner Arbeit und seiner Bestimmung entfremden. An einer bestimmten Stelle sagen Sie, diese Industriegesellschaft in West oder Ost sei darauf angelegt, mehr zu produzieren, um mehr zu konsumieren, und dies als Selbstzweck. Die Mittel – das Produzieren und Konsumieren – sind zum Zweck geworden. Damit können sich wahrscheinlich viele Menschen einverstanden erklären. [X-359] Aber was sagen kluge Volkswirtschafter zu dieser Ansicht? Wird ein Mann wie Galbraith etwa am Beispiel der Automobilindustrie nicht sofort sagen: Sobald die Leute nicht mehr Auto fahren und nicht immer wieder ein neues Auto kaufen, müssen Tausende von Arbeitern entlassen werden. Was antwortet man darauf?

Fromm: Die Antwort darauf ist, erstens, den Konflikt [dass die Mittel zum Zweck werden] wirklich zu sehen und nicht wegzuschieben und etwa zu argumentieren, so schlimm sei es ja gar nicht, die Menschen kommen beim Autofahren ja auch ins Freie und ins Land und alle die Gründe, die man fürs Automobil anführen kann. Man muss meines Erachtens eine grundsätzliche Änderung der Gesellschaftsbasis und Gesellschaftsform im Auge haben, bei der der Mensch wieder im Mittelpunkt steht und es um – auf Englisch würde man sagen the well-being – das Wohl-Sein des Menschen geht, was mehr ist als nur „Wohlbefinden“ (wellness). Wohl-Sein hat mit einem Gefühl der Lebendigkeit, der Vitalität, des Sich-in-seiner-eigenen-Haut-Wohlfühlens zu tun und mit einem relativen Mangel an Schuldgefühlen und an falscher Scham. Nur so kann der Mensch das Gefühl haben, sagen zu können: „Das bin ich. Ich habe zwar manche Defekte, die ich auch weiterhin versuchen will zu überwinden, aber ich bin ich.“ Es gibt kein Muster, nach dem ich mich richten muss – ausgenommen die Weisheit der großen religiösen und philosophischen und ethischen Systeme. Ich glaube, das Lesen von Spinoza mag eine sehr viel bessere Psychotherapie sein als viele andere psychologischen Therapien – wenn man das Gelesene ernst nimmt.

Gautschy: Es wird gesagt, Arbeit sei in der östlichen wie in der westlichen Industriewelt entfremdet; der Mensch finde keine Erfüllung mehr in der Arbeit. Aber ist das wirklich so? Vielleicht muss man die Arbeit am Fließband gesondert betrachten, weil sie wirklich geisttötend ist. Aber nehmen wir einen Briefboten oder eine Sekretärin oder auch einen kaufmännischen Angestellten: Sind die wirklich alle ihrer Arbeit entfremdet? Finden sie nicht doch eine gewisse Befriedigung in ihrer Arbeit? Dass Pensionsberechtigte oft noch weiterarbeiten, auch in untergeordneten Stellungen, und zwar nicht allein zum Gelderwerb, sondern weil es ihnen eine gewisse Befriedigung verschafft, tätig zu sein, scheint doch darauf hinzudeuten, dass die Entfremdung von der Arbeit längst nicht so vollständig ist wie wir gerne unterstellen.

Fromm: Vielleicht kann man es so formulieren: Nichts ist schlimmer als die Langeweile. Sie ist eines der größten Leiden, die es gibt. Der Mensch versucht ihr wenn immer möglich zu entgehen. Das kann auf verschiedene Weisen geschehen. Er kann in seinem Auto herumrasen, er kann Briefmarken sammeln, er kann [X-360] Liebesaffären immer wieder neu anfangen und abbrechen. All dies hilft ihm wenigstens, sich vor der Gefahr der Langeweile etwas zu schützen, auch wenn dies keine guten Lösungen sind. Die Langeweile kann aber auch durch Arbeit vermieden werden. Ob Arbeit diese Funktion hat, lässt sich daran erkennen, ob jemand mit der Arbeit ein wirkliches Interesse verbindet. Ein solches Interesse hängt sehr wesentlich davon ab, wie viel ich als Arbeitender die Arbeitsbedingungen, meine Aufgaben usw. mitbestimmen kann. Auch zum Beispiel vom Wissenserwerb über die ökonomischen, technischen und finanziellen Probleme des Unternehmens und der gesamten Branche. Nur so ist er nicht einfach nur ein an seinen Platz Gestellter, ein An-gestellter, der seine Funktion zu erfüllen hat, sondern ein aktiv Beteiligter.

Das ganze Problem scheint sich mir zuzuspitzen auf die Frage des Interesses: Wie kann der Mensch sich für die Welt draußen, für andere Menschen und für seine Arbeit interessieren? Interesse setzt immer die aktive Mitarbeit und auch bis zu einem gewissen Grad die Mitbestimmung voraus. Es gibt dazu viele Erkenntnisse und Literatur, die auch den Einwand widerlegen, dass die Mitbestimmung die Arbeitsproduktivität senken würde. Richtig ist vielmehr: Je aktiver der Arbeiter selbst beteiligt ist und je mehr er bei den Einzelheiten der Produktionsweise mitsprechen kann, desto produktiver ist er. (Bei den Volvo-Werken in Schweden wurden hierzu interessante Experimente gemacht.) Wenn der Mensch aber kein Interesse hat, dann ist eben auch seine ganze Vitalität herabgesetzt, seine Energie ist gemindert, er ist eigentlich ein gelangweilter Mensch, der froh ist, wenn er der Fron der acht Stunden entronnen ist. Meist ist er dann so müde, dass er als zweites Ideal nur noch die völlige Faulheit kennt.

Gautschy: Die Illustrierte Der Stern veröffentlichte unlängst ein längeres Gespräch mit Ihnen, bei dem Sie zu einem „Propheten des Untergangs“ gemacht wurden. Damit ist natürlich nur die negative Seite dessen angesprochen, wovon Sie schreiben. Aber ist die Bezeichnung Prophet so falsch? Ein Prophet ist doch eigentlich ein Warner, was Sie ja tun. Wer warnt, muss denen, die man warnen will, das vor Augen stellen, was geschieht, wenn sie das nicht tun, was sie tun sollten.

Fromm: Genau! Ich glaube auch, die beste Definition eines Propheten ist die des Warners. Er ist keiner, der die Zukunft voraussagt, was man gewöhnlich unter einem Propheten versteht. Er warnt vielmehr, und seine Warnung ist immer die: Wenn ihr so weitermacht, wie ihr es jetzt tut, dann kommt es zu einem schlimmen Ende. Das haben die Propheten des Alten Testaments getan. [X-361]

Gautschy: Würden Sie sich in diesem Sinne nicht doch auch als Prophet, nämlich als Warner verstehen?

Fromm: Nein, das würde ich nicht. Dazu sind für mich die Propheten des Alten Testaments viel zu große Figuren, als dass ich mich als einen solchen betrachten könnte – vielleicht als einen als Prophetenschüler und eben als Warner in dem sehr beschränkten Sinne meiner eigenen Fähigkeiten. Ich glaube, dass zu warnen etwas Wichtiges ist, wobei zu warnen etwas anderes ist, als zu drohen. Wer droht, erzeugt Gegenreaktionen, weil das Drohen immer ein Stück Feindseligkeit enthält. Der, der warnt, tut dies aus Sorge und Liebe. Die Liebe führt zur Warnung – der Hass führt zur Drohung. Der Hass sagt: Du wirst sehen, was dir passiert – und meist ist dabei eine gewisse Schadenfreude zu spüren. Und meist ist, wer droht, enttäuscht, wenn das Angedrohte nicht eintritt. Die Liebe aber führt zur Warnung.

Gautschy: Sind wir heute nicht eine Art „umgekehrter Dinosaurier“? Ein Dinosaurier ist ein körperliches Ungetüm, das vergleichsweise nur mit einem Spatzenhirn ausgestattet ist und das deswegen zugrunde gegangen ist. Könnte es sein, dass es sich bei uns Menschen vielleicht umgekehrt verhält? Dass wir ein ungeheures Übermaß an Hirn haben – wir spalten Atomkerne und fliegen auf den Mond –, aber dies alles auf Kosten des Gefühls, der Intuition, der Instinkte. Könnte es sein, dass wir an zuviel Hirn im Sinne des reinen Intellekts zugrunde gehen könnten?

Fromm: Sicher hat eine Spaltung zwischen Herz und Hirn stattgefunden und findet noch immer statt, ja steigert sich, so dass man auch von einer chronischen schizophrenen Erkrankung der Gesamtbevölkerung sprechen könnte. Die Menschen fühlen nicht mehr, sondern reagieren rein cerebral. Das Herz ist getrennt davon und reagiert häufig eben überhaupt nicht. Es wird als Sentimentalität abgetan. Und dies, obwohl wir in einer christlichen Kultur leben, in der die Liebe eigentlich ganz oben rangiert. Meist aber wird die Liebe als eine Dummheit angesehen, weil sie einem nichts bringt.

Gautschy: Ihr Verständnis von Liebe, Herr Professor Fromm, ist sehr umfassend. Liebe hat dabei weniger mit sexueller oder erotischer Liebe zu tun als vielmehr mit einer Liebe zum Leben und mit einer Freude am Leben. Lässt sich sagen, dass das, was die Menschen anstreben sollen und sie selbst auch erstreben, eigentlich ein Christentum minus Gott ist? [X-362]

Fromm: Mit einem guten Katholiken, der kein Fanatiker ist – das allerdings ist wesentlich – habe ich kaum Schwierigkeiten mit der Verständigung. Mir geht es um eine Gesellschaft, in der die Menschen den Wunsch nach wirklichem Glücklichsein haben, nach wirklichem Wissen und Wachsein, nach dem, was die Aufklärung mit den Worten Kants sapere aude – wage zu wissen – genannt hat, in der die Menschen keine Konserven mit Weisheit verspeisen, die jemand anderer gekocht hat und die als etwas selbst Erlebtes und Gedachtes ausgegeben werden. Ich glaube, die Menschen sind gar nicht so dumm. Aber es ist gefährlich, nicht dumm zu sein, denn wenn man nicht dumm ist, widerspricht man, kritisiert man, äußert man Meinungen, die unpopulär sind. Aus Sicherheitsgründen ist es deshalb besser, sich dumm zu stellen, auch wenn man sich dessen nicht bewusst ist.

Gautschy: Ich glaube, viele von uns, ich schließe mich hier ein, haben durchaus Mühe, schwierige Dinge zu erfassen.

Fromm: Ja, es gibt viele philosophische Gedanken, wie etwa Gedanken über Ästhetik, die eigentlich nur intellektuell besonders begabten Menschen zugänglich sind. Es gibt vieles, das ich lese, aber nicht verstehe. Warum das so ist, ist eine andere Frage. Wir reden hier aber nicht von sehr komplizierten, schwierigen Gedanken, sondern davon, dass die Realität unter einer Decke von common sense, von gesundem Menschenverstand versteckt wird, weshalb die Menschen Angst haben, von ihrem eigenen Denken Gebrauch zu machen, das sich vom Denken der Mehrheit unterscheidet und von dem die Mehrheit auch nichts wissen will. Der Begriff der Vernunft, ein sehr edler und alter Begriff, wird heute weitgehend als Konsensus, als Übereinstimmung mit der Majorität verstanden. [X-363] Wenn jemand deshalb etwas sagt, was ganz abwegig ist im Vergleich zu dem, was die meisten Menschen denken, dann ist die Reaktion häufig so, dass man ihn für verrückt hält. Das heißt aber: Wer sein Denken nicht der Majorität anpasst, gilt eigentlich als verrückt. Was gibt es denn außer der Meinung der Majorität für Kriterien, die mir sagen, dass das, was du denkst, nicht verrückt ist?

Es gibt eine bestimmte Art von seelischer Erkrankung, die man im Französischen foliè á deux genannt hat, die Verrücktheit von Zweien. Hier sind zwei Menschen in ein Verhältnis getreten, in dem sie beide in derselben Art des verrückten Denkens verfangen sind und sich also sehr gut verstehen. Sie sind davon überzeugt, die Einzigen zu sein, die nicht verrückt sind, während der Rest der Welt verrückt ist. Es gibt aber auch eine foliè à million; auch das haben wir in der Geschichte erlebt.[7]

Gautschy: Mich beschäftigt noch immer die Frage, wie der Einzelne den echten vom falschen Propheten oder Warner unterscheiden kann. Es gab [1978] diese entsetzliche Selbstmordszene in Guyana, wo sich über 900 Menschen selbst entleibt haben auf Befehl und Wunsch des Sektenführers Jim Jones. Die Leute konnten offenbar nicht den falschen Propheten erkennen. Oder – in ganz großem Maßstab – ist ein ganzes Volk Hitler während 13 Jahren doch im Großen und Ganzen gefolgt. [X-364]

Fromm: Ob Hitler ein ganzes Volk gefolgt ist, dahinter möchte ich nur der Ordnung halber ein Fragezeichen setzen. Es wird oft vergessen, dass ein Grund für die Vernichtung der Juden war, dass sie nicht weggegangen sind, als sie noch konnten, und zwar genau deshalb, weil die Bevölkerung im Großen und Ganzen den Juden nicht feindlich gegenüberstand. Abgesehen von Dörfern und kleinen Städten, die ihrer ganzen Struktur nach gewöhnlich reaktionär und bis zu einem gewissen Teil sehr reaktionär waren, ist den Juden in Deutschland von der Bevölkerung überhaupt nichts geschehen. Ich habe mich hierzu sehr kundig gemacht, weil mich das Thema natürlich sehr interessiert. Die Juden sind zu lange geblieben, weil sie von Feindseligkeiten im Großen und Ganzen nichts gespürt haben.[8] Sie sind freundlich behandelt worden. Ich habe mich damals, als ich die Reden Hitlers im Radio hörte – und ich lebte damals nicht mehr in Deutschland – gefragt: Wenn ich das hören würde und nicht sehr viel über die Juden weiß, wie kann man diesen Reden überhaupt widerstehen.

Gautschy: Meine Frage, Herr Professor Fromm, war eigentlich, wie man angesichts des Massenselbstmords in Guyana den echten vom falschen Warner unterscheidet (und vielleicht war es keine gute Idee, jetzt dieses riesige Thema Deutschland ins Spiel zu bringen).

Fromm: Ja, nun komme ich auf die Frage zurück. Es gibt die Möglichkeit der Hypnose. In der hypnotischen Trance verliert der Mensch alle Reaktionen auf die Realität; die Stimme des Hypnotiseurs ist die einzige Realität. Es gibt außerdem hypnoseartige Haltungen, die nicht dieselbe Intensität haben wie die echte Hypnose, die aber doch eine ähnliche Wirkung haben. Wenn es einer bestimmten Person gelingt, die Rolle zu spielen, die der Hypnotiseur spielt, und sie sich also zu einer mächtigen oder liebenden Figur aufspielt, dann lässt sich damit die eigene Denkfähigkeit, die eigene Aktivität lähmen. Es kommt zu dem, was in einer Hypnose geschieht. Das Wort des Gurus wird zum Ersatz für die Realität. Sein Wort scheint dem Menschen die Stimme der Realität zu sein. Um dies an einem ganz einfachen Beispiel wie bei einer „Vaudeville-Show“ zu verdeutlichen: Da sitzen zehn Leute auf der Bühne und werden in einen ganz leichten hypnotischen Zustand gebracht. Dann sagt der [X-365] Hypnotiseur: Es ist eiskalt, und jeder zittert und friert; dann sagt er: Es ist unerträglich heiß, und jeder zieht seine Jacke aus. Der Hypnotiseur vertritt die Realität. Wir reagieren dann nicht mehr auf die sinnliche Realität, wie das der Organismus normalerweise tut, sondern die Stimme des Hypnotiseurs wird zum Vertreter der Realität, so dass wir auf seine Stimme reagieren, auf das was er sagt, so wie der normale Mensch auf das reagiert, was er mit seinen Sinnen sieht und hört und fühlt.

Gautschy: Wir haben davon gesprochen, dass Sie eigentlich von den Menschen und von der Gesellschaft eine Art Umkehr verlangen, eine Abwendung vom Haben-Modus, also vom Besitzenwollen im weitesten Sinne, um sich selbst zu verwirklichen. Nun gibt es Erscheinungen wie Kommunen, es gab die Blumenkinder, es gibt den Club of Rome, es gibt Bürgerinitiativen. Das sind immerhin Anzeichen, dass es eine gewisse Umkehr im Denken und in den letzten zehn Jahren eine größere Rücksicht auf die Natur gibt. Sind Sie bezüglich einer gesamtgesellschaftlichen Umkehr zuversichtlich?

Fromm: Da kann ich nur sagen: Zuversichtlich bin ich nicht. Wenn ich zu wetten hätte, dann würde ich nicht auf Chance setzen; aber ich bin nicht hoffnungslos. Ich glaube, dass es schon biologisch gesehen im Menschen eine Tendenz gibt, sein Leben nicht nur als Einzelner, sondern auch als Gattung zu erhalten. Und erhalten kann man das Leben nur, wenn man es entfaltet, wenn man Interesse hat und wenn man – im weitesten Sinne –die Welt liebt. Ich kann an diesem Punkt die Hoffnung nicht aufgeben.

Gautschy: Herr Professor Erich Fromm, ich bedanke mich aufs Herzlichste dafür, dass wir heute mit Ihnen sprechen durften.

Fromm: Und ich danke Ihnen auch.

Das Undenkbare denken und das Mögliche tun.
Interview mit Alfred A. Häsler

(1977b)[9]

Häsler[10]: Im Zusammenhang mit der Psychoanalyse sprechen Sie, Herr Professor Fromm, von der Entdeckung der unbewussten Konflikte, vom Konflikt zwischen Denken und Sein. Sie sagen, dass zum Beispiel ein Mensch denke, er liebe einen anderen Menschen, etwa die Mutter oder den Vater, in Wirklichkeit aber hasse er ihn. Vom „Sein“ sprechen Sie als einer „inneren Realität“, von einer neuen Dimension, nach der der Mensch in die Lage versetzt werden soll, nicht mehr nur das zu sagen, was er denkt, sondern das, was in ihm Wirklichkeit ist, auch oder gerade in Bezug auf seine eigene Person. Wie kann der Mensch, der nicht zum Psychoanalytiker geht, der sogenannte „normale“ Mensch, seine innere Realität erkennen und zu jener Ehrlichkeit sich selber gegenüber vorstoßen, von der Sie sprechen?

Fromm: Das ist tatsächlich sehr schwer. Die Idee, dass wir Dinge fühlen, deren wir uns nicht bewusst sind, die aber trotzdem real sind, wurde nicht von Freud entdeckt, aber von ihm zum ersten Mal systematisch behandelt. Er hat Wege gezeigt, wie wir dieses Unbewusste in uns entdecken können. Es gibt viele Möglichkeiten.

Wenn Sie zum Beispiel träumen, dass Sie einen Menschen, den Sie anscheinend recht gerne mögen, umgebracht haben oder dass er Sie betrügt. Wenn man Träume ernst nimmt – und man muss sie ernst nehmen –, dann sollte man sich fragen: Waren meine bisherigen Gefühle für diesen Menschen vielleicht eine Täuschung?

Oder: Es gibt Menschen, die hinter einer zur Schau getragenen Demut und Bescheidenheit eine ungeheure Arroganz verbergen. Unbewusst fühlen sie sich als die demütigsten Menschen der Welt und halten sich deshalb für besonders edel. In Wirklichkeit geben sie sich demütig vor Menschen, um deren Gunst zu erwirken.

Häsler: Da handelt es sich um Selbsttäuschung und um Täuschung anderer. Aber daneben gibt es doch auch die echte Liebe.

Fromm: Natürlich, wo die echte Liebe vorliegt, ist es nicht so. Aber was ist denn echte Liebe? Wie häufig finden wir sie? Wie oft ist sie nur eine Form der Faszination, eine Leidenschaft? Wie oft nichts anderes als ein sexueller Wunsch, [X-261] der wiederum nicht einmal echt sein mag, sondern Ausdruck einer Eitelkeit: Man will die schönste Frau, die jeder andere haben möchte, besitzen. Vielleicht werden mehr Kinder aus Eitelkeit als aus echten sexuellen Wünschen geboren.

Häsler: Die Psychoanalyse will also die Echtheit unserer Gefühle prüfen. Sie betreibt eine Entmythologisierung dessen, was wir Liebe nennen, und was in vielen Fällen gar keine Liebe ist. Ernüchterung an Stelle von Illusionen. Nicht immer eine angenehme Sache.

Fromm: Trotzdem ist es notwendig, wenn wir uns selber kennen lernen wollen. Denn nur dann können wir bewusst leben. Nehmen Sie das Phänomen der Hass-Liebe, auf die auch Freud hingewiesen hat. Man liebt einen Menschen aus bestimmten Gründen und man hasst ihn aus anderen, vielleicht unbewussten Gründen. Man findet das häufig dort, wo ein Mann sich an eine Mutterfigur bindet, eine Mutterfigur heiratet. Da ist eine große Liebe für die Frau als Mutter und zugleich ein großer Hass, weil er sich von der Mutter eingeengt und abhängig fühlt. Wäre er sich dieser Situation voll bewusst, bestünde die Möglichkeit einer vernünftigen Lösung des Problems. Wenn er sich der Situation nicht bewusst ist, versucht er die eine Seite zu verdrängen, weil es für uns schwer erträglich ist, gegen den „gesunden Menschenverstand“ zu leben. Und den gleichen Menschen zugleich zu lieben und zu hassen, ist gegen den gesunden Menschenverstand. Aber die Verdrängung der einen Seite ist ebenfalls auf die Dauer kaum zu ertragen. Und so geschieht dann das, was wir alle kennen: Zwei Menschen heiraten, um nach kürzerer oder längerer Zeit zu entdecken, dass ihre Liebe eine Illusion war und dass sie sich gegenseitig etwas vorgemacht haben.

Häsler: Inwiefern beeinflusst die Gesellschaft unser Tun und Denken?

Fromm: Unsere Gesellschaft verlangt von uns, gewisse Dinge zu denken und andere nicht zu denken. In jeder Gesellschaft gibt es einen sozialen Filter, durch den Gedanken und Gefühle durchgehen müssen, um überhaupt denkbar, fühlbar oder sprechbar zu werden.

Häsler: Einen sozialen Filter?[11]

Fromm: Seine Eltern zum Beispiel nicht zu lieben, war zumindest bis vor gar nicht langer Zeit undenkbar. Seine Eltern lieben war eine Konvention, auch wenn man sie in Wirklichkeit nicht geliebt hat. Aber noch viel mehr war es eine Konvention, dass Eltern ihre Kinder lieben, auch wenn sie sie rücksichtslos, egozentrisch und ohne jeden Respekt gegenüber dem Willen der Kinder behandelten. Sieht man sich die Geschichte der Kindererziehung an, dann kann man schon fragen, ob zum Beispiel die „Mutterliebe“ nicht doch vielleicht ein Mythos ist und dass man mit mehr Recht sagen könnte, es komme viel häufiger vor, dass Mütter ihre Kinder hassen. Natürlich geben sie das nicht zu, weil der soziale Filter es nicht erlaubt, einen solchen Hass zu spüren. Die Mutter ist im Gegenteil davon überzeugt, dass sie ihr Kind liebt, selbst wenn sie es zu Tode prügelt und das Prügeln damit schönredet, dass Prügel eben gut für das Kind sei.

Häsler: Und wie steht es mit den Müttern, die ihre Kinder geradezu [X-262] abgöttisch lieben, ihnen alles und mehr geben, was sie wünschen, jede Gefahr von ihnen abzuwenden versuchen?

Fromm: Das würde ich eine Affenliebe nennen. Tatsächlich handelt es sich um den egoistischen Wunsch der Mutter, ihr Kind als Eigentum zu betrachten, es an sich zu fesseln, einerseits mit Bestechung und anderseits mit Drohungen, mit denen sie Schuldgefühle im Kind weckt. Das war schon bei den alten Römern so: Die Kinder waren das Eigentum des Vaters, so wie auch die Frau sein Eigentum war. So ganz an sein Ende ist dieses Eigentumsdenkens noch nicht gekommen: Für viele Eltern sollen Kinder das erfüllen, was sie sich selber nicht erfüllen konnten.

Häsler: Was ist Liebe?

Fromm: Liebe meint die lebendige Bejahung des andern, das Verstehen, die Sorge für sein Wohl. Sie weiß zu unterscheiden, was gut für den andern und was gut für einen selbst ist. Es gibt ein altes französisches Volkslied: L’amour est l’enfant de la libertè (Die Liebe ist ein Kind der Freiheit). Ohne Freiheit gibt es keine Liebe. Man kann vieles erzwingen, nur nicht Liebe. Sie gedeiht nur in der Freiheit. Wo man glaubt, sie erzwungen zu haben, hat man in Wirklichkeit Furcht, Abhängigkeit, Hörigkeit erzwungen.

Häsler: In Ihrem Buch Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a) verdeutlichen Sie, dass auch politisches Handeln eine psychische Komponente hat. Jeder Diktator versichert und ist vielleicht sogar überzeugt, dass er aus Liebe zum Volk diktatorisch regiert. Das war bei Stalin so, bei Hitler, den griechischen Obristen, bei Pinochet usw. Die Psychoanalyse hat auch hier bloßgelegt, wie sehr Politik psychische Motive einschließt. Trotzdem ist diese Tatsache kaum ins Bewusstsein der Politiker eingedrungen. Ihr Misstrauen gegen die Ergebnisse der Wissenschaft von der Seele ist evident. Warum eigentlich?

Fromm: Wenn die Politiker sich ihrer Motivation voll bewusst wären – es gibt immerhin Ausnahmen, aber wenige, und meistens kommen sie nicht an die Macht –, dann könnten sie gar nicht so handeln, wie sie es tun. Um ein drastisches Beispiel zu nennen: Die atomare Aufrüstung und der Verkauf und die Verbreitung von atomarer Technik. Trotz aller Versprechungen und Klauseln in Verträgen haben heute schon viele Länder die Möglichkeit, Atomwaffen herzustellen. Es ist ganz klar, dass das höchstwahrscheinlich zu einer Katastrophe führen wird. Auch sind derzeit kaum Fortschritte erkennbar beim Versuch, eine solche Katastrophe abzuwenden. Verhandlungen und Verträge in dieser Richtung haben doch nur die Funktion, sich selbst etwas vorzumachen und die Bevölkerung zu täuschen. Das einzige echte Resultat wäre die völlige atomare Abrüstung.

Man fragt sich: Wie können Politiker so handeln? Wie können sie, ganz abgesehen von ihrem eigenen Leben, das Leben ihrer Kinder, ihrer Enkel und Urenkel mit der Gefahr dieser fast unvermeidbaren Katastrophe belasten? Das Gleiche gilt für die Vergiftung der Welt, der Luft, der Meere, der Ströme usw. Wir plündern, vergiften, zerstören die Erde und sind uns kaum bewusst, dass wir unsern Nachkommen eine vergiftete und zerstörte Welt hinterlassen. Welch phantastischer Egoismus! Welch phantastischer Mangel an Vorsorge!

Nehmen wir ein ganz anderes Gebiet, [X-263] das der Reklame. Da werden Dinge angepriesen, die in Wirklichkeit für die Menschen schädlich, ja tödlich sein können.[12] Man fragt gar nicht, ob das gut oder schädlich für den Menschen sei. Vielmehr gilt unhinterfragt, dass man richtig handelt, wenn man profitgerecht handelt. Man nennt das Handeln rational, obwohl es der Substanz nach ganz irrational ist. Dabei sind jene, die es tun, gar keine bösen Menschen, nicht einmal besonders geldgierige Menschen. Sie verhalten sich unserem gesellschaftlichen Denken, unserem System entsprechend, für das das Ziel der Produktion eben Profit ist. Das ist ein Dogma, an dem niemand zweifelt. Wenn jemand anfinge zu produzieren, ohne nach maximalem Profit zu streben, würde man ihn als Dummkopf bezeichnen.

Häsler: Ein hartes Urteil, das zu begründen wäre.

Fromm: Ich kann es an einem Beispiel illustrieren, das ich einigermaßen kenne: dem Verlagswesen. Vor fünfzig Jahren geschah es nicht selten, dass ein Verleger ein Buch auch dann herausbrachte, wenn er wusste, dass er damit kaum einen Profit erzielen würde. Aber er liebte das Buch und genoss die Freiheit, wenn er nicht ganz arm war, mit ihm sogar einen Verlust zu riskieren. Gewiss gibt es solche Verleger auch heute noch, aber sie sind seltene Ausnahmen. Heute handeln die meisten Verleger genau nach dem kalten Prinzip des maximalen Profits. Sie gehen nicht vom Inhalt des Buches und der Qualität der Sprache aus, sondern von seiner Verkäuflichkeit, die den höchsten Wert darstellt. Manche große Schriftsteller, deren Werke vor hundert Jahren veröffentlicht worden sind und heute zum klassischen Bestand der Weltliteratur gehören, würden heute nie zum Zuge kommen. Das eben liegt in der Logik des Wirtschaftssystems. Niemand aber will „unlogisch“ handeln.

Häsler: Auf der einen Seite sind wir sehr wissenschaftsgläubig, vertrauen fast blind den Antworten, die der Computer auf unsere Fragen gibt; auf der andern Seite haben wir Angst, die tieferen Ursachen unseres Denkens und Handelns – also das, was Sie die „innere Realität“ nennen – kennenzulernen. Kaum ein Politiker, der doch eine große Verantwortung für das Volk trägt und der seine körperliche Gesundheit untersuchen lässt, wagt es, Auskunft über seine seelische Gesundheit einzuholen. Würde er es tun, und würde es bekannt, wäre es mit seiner politischen Karriere wohl zu Ende. Wie erklären Sie das?

Fromm: Viele Politiker sind pathologisch ehrgeizig. Sie wollen nicht, dass man die Wahrheit um sie weiß. Sie machen für ihre Politik genau so Propaganda wie ein Geschäftsmann für eine Ware, von der er weiß, dass sie nicht so gut ist, wie er sie anpreist. Das gilt vor allem für Politiker von Großmächten, wo Politik eine phantastische Macht verspricht. Politiker kleinerer Staaten, wo alles noch überschaubarer und durchsichtiger ist, dürften im allgemeinen eine gesündere psychische Struktur haben. Macht blendet und sie ist das Anziehendste für alle, die ihre Gefahren nicht sehen und – das ist das Wichtigste – die nicht wissen, was Liebe ist.

Häsler: Würde sich das ändern, wenn sie zum Psychiater gingen?

Fromm: Theoretisch wäre eine [X-264] psychiatrische Untersuchung einflussreicher Politiker von Vorteil. Aber da stellt sich gleich die Frage: Was bedeutet das Urteil eines Arztes? Müsste da nicht ein ganzes Gremium von Ärzten beteiligt sein? Auch ist davon auszugehen, dass die meisten Psychiater in den Kategorien der Gesellschaft denken. Deshalb werden sie den Machthunger eines Politikers als ganz natürlich beurteilen. Es fällt ihnen nicht auf, dass Machthunger das genaue Gegenteil von dem ist, was das Christentum meint, zu dem sie sich bekennen ...

Häsler: ... und was Jacob Burckhardt meinte, als er sagte: „Macht an sich ist böse“[13]. Sie haben in Ihrem Buch auch eine eindrückliche Analyse von Hitler gegeben.

Fromm: Hitler war ein schwer pathologischer Mensch. Das hätte 1923, als er noch keine Macht hatte, wahrscheinlich jeder Psychiater feststellen können. Aber 1933, als Hitler vor der Machtübernahme stand, hätte kaum ein Psychiater den Mut gehabt zu erklären, dieser Mann leide an einem Mangel an Realitätssinn, an krankhaftem Narzissmus und sei ein durch und durch zerstörerischer Mensch? Es ist eher umgekehrt anzunehmen, dass viele Psychiater beeindruckt waren von dem Erfolg, von der äußeren Forschheit, von dem magnetischen Einfluss, der von ihm ausgegangen ist, so wie viele hochintelligente Wissenschaftler tatsächlich beeindruckt waren. Psychiater sind auch nur Menschen, die von Sympathien und Antipathien ihrer Klasse nicht frei sind. Wir sollten also von ihnen nicht das Heil der Welt erwarten.

Häsler: Wir müssen uns also damit abfinden, dass Machthungrige an die Macht kommen.

Fromm: Und doch gibt es plötzlich eine so aufregende Tatsache wie die, dass in der Person von Papst Johannes XXIII. ein guter Mensch an den Platz der Macht kam und von ihr nicht korrumpiert wurde. Dieser Mann hat die ganze Welt beeindruckt. Ich möchte fast sagen: Alle haben ihn geliebt, egal, welcher Religion sie angehörten; er wurde auch von jenen geliebt, die sich zu keiner Religion bekennen.

Häsler: Er hat so vieles in Bewegung gesetzt, das erstarrt und verhärtet war, viel mehr als der Institution Kirche lieb gewesen ist. Manches ist nicht mehr rückgängig zu machen. Das ist doch ein Zeichen der Hoffnung. Was können wir tun, damit mehr solche Menschen an die Macht kommen?

Fromm: Ich glaube, das hängt vom Grad der „Aufklärung“ der Menschen ab. Das ist wichtiger als die psychiatrische Untersuchung der Politiker. Die Aufklärung müsste schon in der Schule beginnen. Es müsste ein Fach Menschenkenntnis eingeführt werden. Das ist die Wissenschaft vom Charakter, die man schon vom siebten Lebensjahr an lernen kann, Schritt für Schritt. Man kann lehren, was eine Geste bedeutet, was die Art des Gehens aussagt. Das Gesicht ist die wichtigste und zugleich am schwierigsten zu interpretierende Quelle der Kenntnis vom Menschen, weil der Mensch die unglückselige Fähigkeit besitzt, sein Gesicht verstellen zu können. Ein guter Schauspieler – und viele Menschen sind gute Schauspieler – kann sein Gesicht so verstellen, dass ein Scheusal wie ein Engel aussieht.

Es ist gerade das große Verdienst von Freud, dass er die Kenntnis vom Charakter zu [X-265] einem wesentlichen Teil seiner Forschungen gemacht hat, so dass es heute auch für den Menschen ohne besondere psychologische Ausbildung durchaus möglich ist, den Charakter des Menschen – das Sein im Unterschied zur Maske – einigermaßen richtig zu erkennen. Wenn das gelehrt würde – und das Fernsehen könnte da eine wichtige Rolle spielen, weil es uns Gesichter von Menschen so nahe bringt, dass wir sie genau beobachten können –, dann wäre meines Erachtens schon der größte Teil dessen, was heute in der Demokratie nicht funktioniert, weil allzu viele auf schauspielerisch begabte Demagogen hereinfallen, beseitigt. Wir könnten dann echte Kompetenz von Scheinkompetenz unterscheiden. Jetzt ist es meist so, dass Kompetenz im Titel und in der Uniform verdinglicht wird – wie etwa beim Hauptmann von Köpenick.

Wenn genügend Menschen genügend Menschenkenntnis besäßen, dann würden wohl die gröbsten Fälle halbverrückter Politiker ausgeschaltet. Ich betone: Halbverrückte, denn das sind die eigentlich Gefährlichen, nicht die Ganzverrückten, die man leicht erkennt. Die Halbverrückten kämpfen darum, nicht mit ihren bizarren Ideen allein zu stehen, sie kämpfen gegen ihre Isolierung, die ein Moment im Verrücktsein darstellt. Wenn so ein Halbverrückter, der ja ein talentierter Propagandist sein kann, in einer bestimmten historischen Situation plötzlich Hunderttausende für seine Ideen zu gewinnen vermag, wenn zwischen ihnen und ihm ein Konsensus entsteht, wenn Millionen ihm glauben, dann ist er nicht mehr isoliert, dann fühlt er sich gesund.

Häsler: Sein Politisieren ist dann seine Therapie.

Fromm: Genau. Aber das trifft natürlich nicht nur auf Politiker zu, sondern auch auf gewisse Wissenschaftler, Künstler, Philosophen, Theologen usw. Ihr Werk ist auch ihre Therapie.

Häsler: In gewissem Sinne ist wohl jede Arbeit, die wir tun, immer auch ein Stück Therapie. Wir haben bisher vom Einfluss der Gesellschaft auf unser Handeln und Denken gesprochen. Aber es ist ja wohl nicht nur die Gesellschaft, die unser Verhalten bestimmt, sonst würden sich ja in der gleichen Gesellschaft alle völlig gleich verhalten. Es gibt doch auch ein psychisches Erbe, das der Mensch mit auf die Welt bringt und das sein Schicksal mitbestimmt.

Fromm: Dies ist sicher wahr und wird von Psychologen oft unterschätzt. Wenn der Mensch geboren wird, ist er schon ein ganz bestimmter Mensch, er hat schon sein bestimmtes „Gesicht“. Das ist ein Forschungsgebiet, auf dem wir noch keine endgültigen Ergebnisse haben. Eines darf man jedoch nicht übersehen: Vererbt werden nur Dispositionen. Ein Mensch kann eine Disposition haben, die ihn zur Destruktivität oder zur Liebe oder zum künstlerischen Schaffen oder zu Depressionen geneigt macht. Aber das heißt nicht, dass er schizophren oder liebend oder künstlerisch aktiv wird. Es heißt nur: Hier ist eine Disposition, und es hängt von seinem Lebensschicksal und der Umgebung ab, was aus dieser Disposition wird. Die Erziehung sollte dem Menschen helfen, der zu werden, als der er geboren war, aber gewöhnlich will sie ihn zu dem machen, der auf dem Markt am meisten „gefragt“ ist.

Ich habe von Kibbuzim in Israel, wo die Menschen einen starken Gemeinschaftssinn pflegen, gehört, [X-266] dass dort recht destruktiv disponierte Menschen zu einem kameradschaftlichen Verhalten gekommen sind. Ihre Destruktivität ist sozusagen ausgetrocknet, sie wurde nicht gefüttert. Ich glaube, das gilt ganz allgemein. In der Gesellschaft wird eine Disposition entweder gefüttert oder ausgetrocknet. Die Disposition sagt also noch nichts darüber aus, was aus einem Menschen wird. Die gesellschaftliche Komponente bleibt sehr wichtig.

Häsler: Die Geschichte der Wissenschaft sei immer auch die Geschichte ihrer Irrtümer, sagten Sie in einem Vortrag.[14] Das trifft wohl auch auf Marx und Freud zu. Marx zum Beispiel sagte, der dialektische Materialismus sei kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln, eine Methode. Trotzdem haben Jünger von Marx und Freud sozusagen jedes Wort der beiden dogmatisiert und jede Kritik, jeden Zweifel an ihren Lehren als Häresie verdammt. Dabei sprechen sie selbst vom Marxismus und von der Psychoanalyse als einer Wissenschaft, und nicht von einer Glaubenslehre. Wieso auch hier das Bedürfnis nach unabänderlichen Wahrheiten, das doch jeder Weiterentwicklung der Wahrheit zuwiderläuft?

Fromm: Ich würde zunächst einmal sagen: Faulheit des Denkens. Nicht alle, die sich Wissenschaftler nennen, suchen wirklich nach Wahrheit, sondern nach einer Formel, die sie befriedigt und gut schlafen lässt. Sie suchen Sicherheit. Ein echter Wissenschaftler aber muss Unsicherheit ertragen können. Er weiß, dass alles, was er heute denkt, nach einiger Zeit revidiert werden wird. Wer Sicherheit statt Erkenntnis will, braucht ein Dogma, welches das Denken erspart. Wo aber ein Dogma akzeptiert wird, bildet sich eine Bürokratie, die ihre Macht daraus herleitet, ein Gedankengut nicht weiterzuentwickeln, sondern zu verwalten. Die Psychoanalyse und der Marxismus sind instruktive Beispiele dafür. Auf dem Gebiet des Sozialismus haben speziell die Russen sich als die bürokratischen Verwalter der Marxschen Wahrheit etabliert. So konnten sie die Menschen unfrei machen und manipulieren.

Häsler: Muss man nicht ehrlicherweise zugeben, dass Marx selbst nicht unschuldig ist an der Dogmatisierung seiner Lehre? Er war doch sehr intolerant gegen Andersdenkende, zum Beispiel gegen Bakunin.

Fromm: Marx war bei aller Rechthaberei kein dogmatischer Mensch. Er hat einmal von sich selbst gesagt: „Moi je ne suis pas Marxiste“ („Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“). Das war sehr ehrlich gemeint. Er war ein Polemiker. Wenn er von einer Erkenntnis überzeugt war, hat er gegnerische Ansichten mit aller Macht bekämpft. Das war bis zu einem gewissen Grade verständlich und wohl auch notwendig. Als Schöpfer seiner neuen Theorie von der Bedeutung des Wirtschaftlichen in der Geschichte musste er sich gegen viele Widerstände durchsetzen. Deshalb hat er zunächst einmal alle Abweichungen heftig bekämpft, um seine Erkenntnisse von Anfang an vor der Gefahr zu schützen, dass ihre Substanz verwässert wird und verloren geht. Ich glaube, dass das eine natürliche Reaktion bei schöpferischen Menschen ist, die etwas Neues entdecken. Das ist auch in den Naturwissenschaften so. Nicht Marx hat seine Theorie dogmatisiert, sondern seine Nachfolger.

Häsler: Wie war es bei Freud?

Fromm: Es war genauso. Vielleicht noch schlimmer. Die Freudsche Schule hat eine Bürokratie installiert. Sie bestimmte, was ein Student zu denken hatte und was nicht. Das wurde sehr konkret durchgesetzt. [X-267] Wenn ein Student der Freudschen Lehrinstitute nicht glaubte, was man ihn lehrte, konnte er keinen Abschluss machen, er war beruflich ausgestoßen. Die Intrigen, die da gesponnen wurden, waren nicht unerheblich. Tausk, einer der begabtesten Schüler von Freud, hat sich, nicht zuletzt aus Enttäuschung über seinen Lehrer, das Leben genommen. Freud aber schrieb Andrea Lou-Salomé, die mit diesem Schüler befreundet gewesen war, dann aber mit ihm gebrochen hatte, er sei nicht besonders traurig über dessen Selbstmord, denn er sei eine Gefahr für die analytische Bewegung gewesen. Dies sind eher die Worte eines Politikers als die eines Wissenschaftlers. Wenn eine Bürokratie sich einer Idee bemächtigt, dann wird ihre geistige Lebendigkeit paralysiert, die Idee wird entstellt und in ihrer Entwicklung gehemmt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959122016
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Interview Heiner Gautschy Alfred A. Häsler Heinrich Jaenecke Robert Neun Micaela Lämmle Jürgen Lodemann Veio Zanolini Guido Ferrari
Zurück

Titel: Locarneser Interviews