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Gesellschaftsentwürfe und Sozialismus

©2016 73 Seiten

Zusammenfassung

Erich Fromms lebenslanges Interesse galt der Frage, wie die Gesellschaft organisiert sein muss, damit es dem Menschen psychisch und geistig gut geht. Anders als in den Büchern ‚Wege aus einer kranken Gesellschaft‘ oder ‚Haben oder Sein‘ geht es in den Beiträgen des Bandes ‚Gesellschaftsentwürfe und Sozialismus‘ gezielt um die positiven und negativen utopischen Entwürfe von der Utopia des Thomas Morus über Karl Marx und die sozialistischen Utopien bis hin zu Bellamy, Huxley und Orwell.

Einen besonderen Platz nehmen Fromms eigene utopischen Ideen ein, die er in dem Projekt eines „Sozialistischen Humanismus“ und in der Utopie einer am Sein orientierten Gesellschaft entwickelt hat. Hier ist besonders auf das umfangreiche Interview über Fromms Buch ‚Haben oder Sein‘ hinzuweisen, das viele Fragen und Anfragen an die Alternative „Haben oder Sein“ beantwortet und den realutopischen Charakter dieses Buches unterstreicht.

Die Beiträge im Einzelnen
- Vorwort in: Edward Bellamy „Looking Backward“
- Nachwort in: George Orwell (Eric Blair) „1984“
- Vorwort in: Karl Marx: „Selected Writings in Sociology and Social Philosophy“
- Einleitung in: Erich Fromm „Socialist Humanism“
- Probleme der Marx-Interpretation
- Marxismus, Psychoanalyse und „wirkliche Wirklichkeit“
- Interview mit Adelbert Reif über „Haben oder Sein“
- Marx und die Religion
- Vorwort in: Raya Dunayevskaya „Philosophy and Revolution“
- Die Vision unserer Zeit

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Gesellschaftsentwürfe und Sozialismus
  • Inhalt
  • Vorwort in: Edward Bellamy „Looking Backward“
  • Nachwort in: George Orwell (Eric Blair) „1984“
  • Vorwort in: Karl Marx „Selected Writings in Sociology and Social Philosophy“
  • Einleitung in: Erich Fromm „Socialist Humanism“
  • Probleme der Marx-Interpretation
  • Marxismus, Psychoanalyse und „wirkliche Wirklichkeit“
  • Interview mit Adelbert Reif über „Haben oder Sein“
  • Marx und die Religion
  • Vorwort in: Raya Dunayevskaya „Philosophy and Revolution“
  • Die Vision unserer Zeit
  • Literaturverzeichnis
  • Der Autor
  • Der Herausgeber
  • Impressum

Vorwort in: Edward Bellamy „Looking Backward“

(Foreword in: Edward Bellamy „Looking Backward“)

(1960f)[2]

Besonders unter den jungen Lesern dieses Buches[3] werden sich nur wenige darüber klar sein, dass Edward Bellamys Looking Backward eines der bemerkenswertesten Bücher ist, die jemals in Amerika veröffentlicht wurden. Dabei war es, was seine Popularität betrifft – nach Onkel Toms Hütte [von Harriet Beecher-Stowe, 1853] und Ben Hur [von Lew Wallace, 1880] um die Jahrhundertwende das beliebteste Buch, das in vielen Millionen von Exemplaren in den Vereinigten Staaten gedruckt und in über zwanzig Sprachen übersetzt wurde. Aber dass es zu den drei größten Bestsellern seiner Zeit gehörte, bedeutet noch wenig im Vergleich zu dem geistigen und emotionalen Einfluss, den dieses Buch nach seiner Veröffentlichung im Jahre 1888 hatte. Es regte das utopische Denken so sehr an, dass von 1889 bis 1900 in den Vereinigten Staaten sechsundvierzig weitere utopische Romane neben einer ganzen Anzahl in Europa erschienen. Drei bekannte Persönlichkeiten, Charles Beard, John Dewey und Edward Weeks, die unabhängig voneinander eine Liste der fünfundzwanzig einflussreichsten, seit 1885 erschienenen Bücher aufstellten, setzten alle Bellamys Werk auf den zweiten Platz, während sie Das Kapital von Karl Marx (MEW 23-25) an die erste Stelle setzten.(Vgl. J. H. Franklin, 1938, sowie E. Sadler, 1944.)

Von besonderer Bedeutung ist der Einfluss, den dieses Buch auf Männer wie John Dewey, William Allen White, Eugene V. Debs, Norman Thomas und Thorstein Veblen hatte. (Vgl. J. Schiffman,1956, S. XXXV[4], sowie S. Bowman,1958.) Es ist kaum [V-274] übertrieben, wenn man behauptet, dass sich das Leben einiger dieser Männer und vieler anderer durch die Lektüre von Bellamys Buch änderte. Nicht nur eine Reihe von Intellektuellen wurde von ihm beeinflusst – es gehört auch zu den wenigen Büchern, die je veröffentlicht wurden, welche fast unmittelbar nach ihrem Erscheinen eine politische Massenbewegung hervorriefen. 1890 und 1891 schossen hundertfünfundsechzig „Bellamy Clubs“ überall in den Vereinigten Staaten aus dem Boden, die sich für Diskussion und Verbreitung der in Looking Backward verkündeten Ziele engagierten. Die „Populist-Party“, die auf ihrem Höhepunkt in den Vereinigten Staaten über eine Million Stimmen bekam, war weitgehend von Bellamys Ideen beeinflusst und bekam viele ihrer Stimmen von dessen Anhängern.

Der Einfluss von Looking Backward ist weitgehend auf den bemerkenswerten Weitblick dieses Buches, auf seine treffende Kritik an der Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts und auf seinen ansprechenden Stil zurückzuführen, doch erklärt das allein noch nicht seinen Erfolg. In den neunziger Jahren war Amerika aufgeschlossen und bereit für Visionen von einer „guten Gesellschaft“. Während Romane aus dem Zwanzigsten Jahrhundert, die wie Aldous Huxleys Brave New World (1946) oder George Orwells 1984 (1949) ein Bild der Zukunft zu zeichnen versuchen, eine entmenschlichte Gesellschaft beschreiben, die von einer hypnotisierenden Massensuggestion oder vom Terror beherrscht wird, waren die Amerikaner gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gewillt und in der Lage, an eine Gesellschaft zu glauben, welche die Versprechungen und Hoffnungen, die der gesamten westlichen Tradition zugrunde liegen, erfüllen würde.

Gehört Looking Backward als fiktiver Roman auch ganz zur amerikanischen Tradition, so enthält er doch wie alle Utopien charakteristische Elemente der westlichen Zivilisation. Während die jüdisch-christliche Tradition viele grundlegende religiöse und ethische Ideen mit den anderen humanistischen Weltreligionen gemeinsam hat, ist die Utopie fast ausschließlich ein Erzeugnis des westlichen Geistes.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang das Wort „Utopie“? Es hat zwar seinen historischen Ursprung in Thomas Morus’ Utopia (1516), doch heute begreift man eine Gesellschaft dann als utopisch, wenn der Mensch in ihr eine solche Vollkommenheit erlangen kann, dass er ein soziales System errichten kann, das in Gerechtigkeit, Vernunft und Solidarität gründet. Diese Vision hat ihren Ursprung in den messianischen Vorstellungen der alttestamentlichen Propheten. Ihr Kerngedanke ist, dass der Mensch, nachdem er seine ursprüngliche, vorindividuelle Einheit mit der Natur und seinen Mitmenschen verloren hat (wie dies symbolisch in der Geschichte vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies zum Ausdruck kommt), anfängt, seine eigene Geschichte zu gestalten. Der Akt des Ungehorsams war ein erster Akt der Freiheit. Er wird sich seiner selbst als eines abgesonderten Individuums und seiner Abgetrenntheit von der Natur und allen anderen Menschen bewusst. Diese Erkenntnis ist der Anfang der Geschichte; aber die Geschichte hat Zweck und Ziel: dass der Mensch, getrieben von seiner Sehnsucht nach neuer Einheit mit der Natur und seinen Mitmenschen, seine humanen Fähigkeiten zu Liebe und Vernunft so vollkommen entwickelt, dass er schließlich eine neue Einheit, eine neue Harmonie mit der Natur und den Menschen erreicht. Er wird sich dann nicht länger abgetrennt, allein und isoliert [V-275] fühlen, sondern er wird sein Einswerden mit der Welt, in der er lebt, erfahren; er wird sich in seiner Welt wahrhaft zu Hause und nicht länger als Fremdling fühlen. Nach Vorstellung der Propheten ist es der Mensch, der seine Geschichte schafft; weder Gott noch der Messias ändern seine Natur oder „erlösen“ ihn. Er selbst wächst, entfaltet sich und wird zu dem, was er seiner Anlage nach ist. Dieser neue Zustand der Gesellschaft wird als die „Messianische Zeit“ bezeichnet.

Die Messianische Epoche kennzeichnet das Ende des Kampfes zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Natur. Universaler Friede und Gerechtigkeit gelten, und die Grenzen zwischen den Völkern werden aufgehoben sein, wie der Prophet Micha (4,3-5) formuliert:

Er spricht Recht im Streit vieler Völker,
er weist mächtige Nationen in die Schranken.
Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern
und Winzermesser aus ihren Lanzen.
Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk,
und übt sich nicht mehr für den Krieg.
Jeder sitzt unter seinem Weinstock
und unter seinem Feigenbaum,
und niemand schreckt ihn auf.
So hat der Mund des Herrn der Heere gesprochen.
Denn alle Völker gehen ihren Weg,
jedes ruft den Namen seines Gottes an;
wir aber gehen unseren Weg im Namen Jahwes
unseres Gottes für immer und ewig.

Das messianische Denken war geschichtliches Denken: Die Brüderlichkeit aller Menschen sollte durch die eigenen Anstrengungen des Menschen innerhalb der Geschichte erreicht werden. Im Christentum wurde diese Sicht zu einer rein spirituellen und nicht-historischen Erlösung verengt. Für das mittelalterliche Denken ist Erlösung vor allem etwas, das sich nicht in geschichtlicher Zeit, sondern erst jenseits der Geschichte, in einer eschatologischen Zukunft ereignen wird.

Viele Jahrhunderte lang blieb die prophetische Vision einer guten Gesellschaft verborgen – bis zu jener entscheidenden Epoche in der westlichen Geschichte, die mit der Renaissance ihren Anfang nahm, als der Keim rationalen und theoretischen Denkens, der von Griechenland nach Europa gelangt war, aufbrach. Nach Jacob Burckhardt (1928) war die Renaissance die Zeit, in welcher der Mensch die Natur und das Individuum entdeckte, die Zeit, in der eine neue Naturwissenschaft begründet wurde, in der er sich seiner eigenen Kraft und seiner Fähigkeit bewusst wurde, die Natur durch die Kraft seines Denkens zu verwandeln. Ein neues Machtgefühl entstand, und der Mensch begann, sich als der potenzielle Herr der Welt zu fühlen. An diesem Punkt trafen sich zwei Tendenzen der westlichen Zivilisation: die prophetische Vision von der guten Gesellschaft als Ziel der Geschichte und der griechische Glaube an Vernunft und Wissenschaft. So wurde die Idee der Utopie wiedergeboren – die Idee, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu wandeln und eine neue Welt [V-276] aufzubauen, die von einer gerechten, vernünftigen Gesellschaft bevölkert sein würde, eine Welt, in der Gerechtigkeit, Liebe und Solidarität verwirklicht würden. Jede Epoche – die Renaissance, die englische Revolution, das Zeitalter der Aufklärung und das neunzehnte Jahrhundert – schuf eine eigene Utopie. (Vgl. M. L. Berneri, 1950.) Das neunzehnte Jahrhundert entwickelte eine neue Form utopischen Denkens, die sich von der herkömmlichen, künstlerischen Form unterschied. Es entstanden Schriften, die die messianische Idee in philosophische und soziologische Gedanken umsetzten. Fourier, Robert Owen, Kropotkin, Hegel und Marx sind die wichtigsten Vertreter dieser neuen Form wissenschaftlich-utopischen Denkens. Auf diesem Boden entstanden die amerikanischen Utopien – auch Bellamys Looking Backward.

Edward Bellamy, der Autor dieser klassischen amerikanischen Utopie, wurde 1850 in einer traditionsreichen New-England-Familie geboren. Die Vorfahren väter- wie mütterlicherseits waren Geistliche, die sich durch ihre unkonventionelle und unabhängige Art auszeichneten. (Vgl. J. Schiffman, 1956, S. XI ff.) Sein Großvater mütterlicherseits musste sein Pfarramt aufgeben, das er in Salem (Massachusetts) ausübte, weil er sich den Freimaurern angeschlossen hatte. Sein Vater verlor nach vierunddreißig Dienstjahren seine Kanzel in Chicopee Falls. Edward Bellamy wurde zwar im calvinistischen Glauben erzogen, doch hielt er nicht lange an ihm fest. Nach einer Europareise kehrte er den Lehren der Kirche den Rücken und arbeitete an Gedanken über die „Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen“. Nach einem juristischen Examen wurde er aus dem Wunsch, an der Veränderung der Gesellschaft mitzuwirken, Journalist. Mit zweiundzwanzig Jahren hielt er seine erste Rede über die „Barbarei der Gesellschaft“. Ausgehend von der christlichen Lehre, von der Idee der Liebe zum Menschen und der menschlichen Solidarität schrieb er mit vierundzwanzig Jahren The Religion of Solidarity (1874), ein Werk, das zu seinen Lebzeiten nie veröffentlicht wurde. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes, der auch zu seinem frühen Tod mit achtundvierzig Jahren führte, musste er seine redaktionelle Tätigkeit aufgeben und arbeitete fortan als freier Schriftsteller. Mit sechsunddreißig Jahren begann er an Looking Backward zu schreiben, das 1888 erstmals im Druck erschien. Auch als er schon landesweit berühmt geworden war, verlor er doch nie seine tiefe Bescheidenheit und Demut, seine bedingungslose Hingabe an seine Ideale und seine Liebe zu den Menschen. Trotz seiner Krankheit und trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten ließ er sich die Vorlesungen zur Verbreitung seiner politischen Ideen nicht bezahlen.

Welcher Art ist die Gesellschaft, die Bellamy in Looking Backward beschreibt? Ihm schwebt eine Gesellschaft vor, die weniger durch technische Erfindungen als durch eine vernünftige Organisation soviel produzieren kann, dass jedermanns Bedürfnisse befriedigt werden. Die Menschen besitzen nicht unbegrenzte Mengen an Gütern, und sie werden nicht dazu angeregt, immer mehr zu konsumieren. Wenn sie zum Beispiel Reisen machen wollen, müssen sie sich damit abfinden, dass sie weniger für ihre Wohnung oder ihre Kleidung ausgeben können, aber keinem fehlt die Grundlage für ein würdiges, reiches menschliches Leben. Jeder bekommt gleichviel Geld, ohne [V-277] Rücksicht darauf, wie viel Arbeit er leistet. Jeder hat Anspruch auf ein gesichertes Leben, nicht weil er sich hier und dort besonders hervortut, sondern einfach, weil er ein Mensch ist.

Verdienst ist eine moralische Frage, und wie viel bei der Arbeit herauskommt, ist eine materielle Angelegenheit. Es wäre eine merkwürdige Logik, wollte man versuchen, eine moralische Frage nach materiellen Maßstäben zu beantworten. (...) Der Anspruch eines jeden Menschen gründet sich auf die Tatsache, dass er ein Mensch ist.

Alle Produktionsmittel befinden sich in den Händen des Staates. Es gibt kein privates Kapital und keine Privatunternehmen. Was und wie viel jeder tut, bestimmt nur er allein. Bellamys „gute Gesellschaft“ strebt nicht nach Luxus und Konsum als Selbstzweck, sondern nach einem guten Leben. Die Arbeit ist frei gewählt, jedoch kein Lebensziel. Mit fünfundvierzig Jahren ist man nicht mehr verpflichtet, zur Wirtschaft des Landes beizutragen, ausgenommen in hochspezialisierten Berufen und Verwaltungsposten, die Freude machen und sehr viel Erfahrung erfordern. Bellamy geht es prinzipiell um ein „völlig freiwilliges“ System, „um das logische Ergebnis der Betätigung der menschlichen Natur unter vernünftigen Umständen“.

In Bellamys Utopie geht es den Menschen nicht nur in materieller Hinsicht besser. Sie unterscheiden sich auch in psychologischer Hinsicht. Statt Streitigkeiten gibt es Solidarität und Liebe unter den Menschen. Prinzipiell nimmt man von anderen nur Dienstleistungen an, die man auch selbst zu leisten bereit ist. Die Menschen sind offenherzig und lügen nicht; die Geschlechter sind völlig gleichberechtigt. Es gibt keinen Grund, den anderen zu betrügen oder ihn zu manipulieren. Kurzum, Bellamy stellt eine Gesellschaft vor, in der die Religion der brüderlichen Liebe und Solidarität verwirklicht ist.

Die Utopie Bellamys wurde häufig angegriffen, und zwar nicht nur – wie zu erwarten – von jenen, die gegen eine sozialistische Gesellschaft waren, sondern auch von vielen, deren Sympathie durchaus einer Gesellschaft gehört, in der es keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln gibt und stattdessen Solidarität gelebt wird. Zwei wichtige Einwände scheinen mir durchaus berechtigt.

Der erste und wichtigste Einwand richtet sich gegen das hierarchische und bürokratische Verwaltungsprinzip, das in der Gesellschaft des Jahres 2 000 herrscht. Es handelt sich nicht um wirkliche Demokratie: Wählen darf nur, wer über fünfundvierzig Jahre alt ist und nichts mit der Industrie zu tun hat! Die Verwaltung ist nach den Grundsätzen der Armee organisiert. Zwar sind Geschicklichkeit, Bildung und nachgewiesene Befähigung die Vorbedingungen für einen Aufstieg in dieser Hierarchie, aber es handelt sich trotzdem um eine Gesellschaft, in der die meisten Bürger sich nach den Befehlen der „Industrieoffiziere“ zu richten haben und wo sie kaum eine Chance besitzen, eine eigene Initiative zu entwickeln. Bellamys Staat ist stark zentralisiert. Der Staat besitzt nicht nur die Produktionsmittel, er dirigiert auch sämtliche öffentlichen Tätigkeiten.

Wenn sich diese Kritik schon zu Bellamys Lebzeiten gegen seine Utopie richtete, wie viel gerechtfertigter kommt sie uns heute um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Gesellschaft vor, die sich mehr und mehr zu einer Manager-Gesellschaft entwickelt! Wir haben sowohl in der Sowjetunion als auch in den großen Industriestaaten des Westens die Entwicklung einer Klasse von Managern miterlebt, die nicht die [V-278] juristischen Besitzer der Unternehmen sind, jedoch faktisch die Eigentumsrechte ausüben und nicht der Kontrolle derer unterworfen sind, deren Arbeit sie leiten. Der Einzelne wird immer mehr in ein Zahnrädchen in einem riesigen Verwaltungsapparat, in ein von Bürokraten dirigiertes „Ding“ verwandelt.

Bellamy hat die Gefahren einer Manager-Gesellschaft und der Bürokratisierung nicht erkannt. Er hat nicht gesehen, dass der Bürokrat Dinge und Menschen verwaltet, und mit den Menschen so in Beziehung tritt, als ob es sich um Dinge handelte. Bellamy hat nicht erkannt, dass in einer Gesellschaft, in der der Einzelne nicht verantwortlich an seiner Arbeit beteiligt ist, die wesentlichen Elemente der Demokratie fehlen, und dass es sich um eine Gesellschaft handelt, in welcher der Mensch seine Individualität und Initiative einbüßt. Er sah nicht, dass das bürokratische System schließlich dazu führt, dass Maschinen produziert werden, die sich wie Menschen benehmen, und Menschen, die sich wie Maschinen verhalten. Diese nachdrückliche Forderung einer bürokratischen, zentralisierten Regierung scheint mir tatsächlich die schwächste Stelle in Bellamys Utopie zu sein (ein Irrtum, der in einer anderen wichtigen Utopie, nämlich in News from Nowhere von William Morris (1912) deutlich erkannt und beschrieben worden ist). Allerdings muss man einräumen, dass zu einer Zeit, in der gleichgültige und verantwortungslose Privateigentümer die Produktion leiteten, die Gefahr einer Manager-Klasse noch nicht so deutlich zu erkennen war wie heute, in einer Zeit, in der die Manager die Gesellschaft beherrschen.

Auch ein anderer kritischer Einwand ist nicht ohne weiteres abzutun. Es hat den Anschein, dass Bellamys gute Gesellschaft sich in einem vollkommenen Gleichgewichtszustand befindet, dass es keiner weiteren Entwicklung bedarf, dass es keine Konflikte und menschlichen Probleme mehr gibt, die jenseits der bestehenden Ordnung liegen. Aber auch hier muss man bedenken, in welcher Zeit Bellamy lebte und schrieb. Es war eine Epoche großen Reichtums und großen Mangels, eine Zeit der Verwahrlosung und Armut. Bellamy war nicht in erster Linie Philosoph und Psychologe; ihm ging es um die Abschaffung eben jener Zustände, die dem menschlichen Leben seine Würde und dem Menschen die Fähigkeit nehmen, sich seines Lebens zu freuen. Er wollte zeigen, was das Leben sein könnte, wenn es vernünftig organisiert wäre; doch er kümmerte sich nicht darum, wie die Zukunft des Menschen beschaffen sein würde, nachdem der erste Schritt zu einer wahrhaft humanen Gesellschaft getan war.

Ein dritter kritischer Einwand gegen Bellamy scheint mir weniger gerechtfertigt, da er auf einer mangelnden Kenntnis seiner Ideen zu beruhen scheint, denen er in anderen, zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Werken Ausdruck verliehen hat. Diese Kritik hat ein Zeitgenosse folgendermaßen formuliert: „Es ist sicherlich eine neue Idee, dass die Tugend ein Kind des Wohlstands ist.“ Damit wird kritisiert, dass in Bellamys Gesellschaft der materielle Komfort das Hauptlebensziel ist und dass daneben die humane und geistige Entwicklung der Menschen vernachlässigt wird. Heute scheint mir diese Kritik noch mehr Aufmerksamkeit zu verdienen als am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.

Die westliche Gesellschaft ist in ihrem Kern materialistisch geworden. Im Gegensatz zum Neunzehnten Jahrhundert, als Sparen noch eine Tugend war, hat das Zwanzigste Jahrhundert den Konsum zu seiner Haupttugend erhoben. Das Lebensziel hat sich [V-279] dahingehend geändert, dass der Konsum von immer mehr und immer besseren Dingen an die Stelle der messianischen Vision von einer Gesellschaft der Solidarität und Liebe getreten ist. Man erweist den traditionellen religiösen Ideen zwar noch seinen Lippendienst, aber diese Ideen sind in Wirklichkeit zu einer leeren Hülse geworden. Nicht die Vervollkommnung des Menschen, sondern die Vervollkommnung der Dinge ist das Ziel unserer gegenwärtigen Gesellschaft, und das in den Ländern des Westens genauso wie im kommunistischen System. Der gut gekleidete, gut ernährte und gut unterhaltene Mensch ist unser Ziel – ein Mensch, der viel hat und viel verbraucht – der aber wenig ist. Viele nachdenkliche Menschen ahnen heute, dass die Massenproduktion, die uns anfangs als Mittel für ein besseres menschliches Leben erschien, inzwischen zu einem Endzweck geworden ist. Wie Emerson sagte: „Die Dinge sitzen im Sattel und reiten die Menschheit.“

Dieser letztgenannte Einwand gegen Bellamy unterscheidet sich jedoch von den zuvor erwähnten. Auf diesem Gebiet hat Bellamy Probleme und Gefahren noch nicht gesehen, die sich erst in den folgenden sechzig Jahren voll entwickelt haben. Man kritisiert hier an Bellamy einen flachen Materialismus, der seiner Weltanschauung noch fremd war. Wenn es auch zutrifft, dass er in Looking Backward Männer und Frauen von einem weit höheren psychologischen und geistigen Niveau schildert als es die seiner – oder unserer – Zeit waren, so hat er das doch nicht sosehr in den Vordergrund gestellt, wie er es hätte tun können. Vielleicht fürchtete er, dass eine stärkere Betonung der moralischen und geistigen Aspekte seinen Roman weniger populär machen könnte. Aber worum es ihm in Wirklichkeit ging, kommt in seinen anderen Schriften deutlich zum Ausdruck. Bellamy sah in der Liebe zum Menschen das Wesen der Religion. In The Religion of Solidarity (1874) schreibt er:

Das Hauptmotiv des menschlichen Lebens ist ein Streben, das Leben anderer und das gesamte Leben zu absorbieren, von ihm absorbiert zu werden oder sich damit zu vereinigen... Die Durchführung dieses Gesetzes in den großen und kleinen Dingen, in der Liebe des Mannes zur Frau, zur Menschheit, zur Natur und zu den großen Ideen, welche die Solidarität symbolisieren, prägt schon von jeher das Gewebe der menschlichen Leidenschaft. (...) Als Einzelne sind wir zweifellos auf einen engen Raum im Heute beschränkt, aber als Universalisten sind wir die Erben von Zeit und Raum. (zit. nach J. Schiffman, 1956, S. XVIII.)

Bellamy vertritt eine spirituelle Philosophie, in der das Erlebnis einer vollkommenen Vereinigung das grundlegende Ziel einer nicht-theistischen Mystik ist. Außerdem war Bellamy von der Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Seele zutiefst überzeugt. Er glaubte, der Mensch mache in seiner Geschichte eine Entwicklung durch, in der neue seelische Kräfte und Erfahrungen auftauchen, und dass eben diese Kräfte zu seiner Vervollkommnung führen. „Diese Tendenz der menschlichen Seele“, schreibt er in The Religion of Solidarity (1874),

zu einer vollkommeneren Verwirklichung ihrer Solidarität mit dem Universum (...) ist bereits (...) geschichtliche Tatsache. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass die sentimentale Liebe zum Schönen und Erhabenen in der Natur, zum Zauber, den die Bergwelt, die See und die Landschaft so mächtig auf den modernen Geist aufgrund eines tiefen Sympathiegefühls ausüben, eine verhältnismäßig neue Entwicklung des menschlichen Geistes darstellt. [V-280]

Die Alten wussten oder sagten zumindest nichts davon. Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass man bei keinem klassischen Autor Emotionen und Gefühle findet, die in der modernen Literatur einen so breiten Raum einnehmen. Diese Aufnahmebereitschaft der Seele scheint sich in kaum mehr als einem Jahrhundert entwickelt zu haben. (...) Wenn die Kultur die menschliche Natur innerhalb eines Jahrhunderts so erweitern kann, dann ist es sicher keine bloße Einbildung, wenn man mit einer noch vollkommeneren zukünftigen Entwicklung von subtilen körperlichen Fähigkeiten der gleichen Gruppe rechnet. (Zit. nach J. Schiffman, 1956, S. XVII.)

Bellamys Denken weist unverkennbar eine enge Verwandtschaft mit der großen amerikanischen Tradition eines Whitman, Thoreau und Emerson auf, aber auch mit den Ideen des großen – wenn auch weniger bekannten Denkers Richard M. Bucke (1954). Bellamys religiöse Erfahrung beruht auf dem Erlebnis von Liebe und Solidarität, auf der Vereinigung und dem Einswerden von Mensch und Mensch oder Mensch und Natur, auf der Liebe zur ganzen Menschheit und auf einem übernationalen Universalismus. Er glaubte, dass „es keine stärker ausgeprägte Eigenschaft der menschlichen Natur gibt, als ihr Verlangen nach Freundschaft und gegenseitigem Vertrauen“. Bellamys Philosophie war tief im Geist des Christentums verwurzelt. Er wandte sich nur deshalb von der christlichen Religion ab, weil er das Gefühl hatte, dass

es der Kirche nicht gelang, die Betonung bei der Religion dorthin zu verlegen, wo sie hingehörte, nämlich auf die Verwirklichung der Goldenen Regel in den menschlichen Beziehungen; dass sie immer nur die Herrlichkeit des Himmels besang und dass sie nicht das Schlechte und Böse hier unten anprangerte und zu bessern suchte. (A. E. Morgan, 1948, S. 84 f., zit. nach J. Schiffman, 1956, S. XXXVIII.)

War das Ziel von Bellamys Utopie der Sozialismus? Zweifellos ist Bellamys Utopie in ihren wesentlichen Teilen eine sozialistische Utopie, die in vieler Hinsicht dem Sozialismus von Marx entspricht. Bellamy beschreibt eine Gesellschaft, in der sich sämtliche Produktionsmittel in den Händen des Staates befinden, in der völlige Gleichheit in Bezug auf das Einkommen herrscht und in der es keine Klassen mehr gibt. Genau wie Marx war auch Bellamy der Ansicht, dass der Kapitalismus zu einer immer stärkeren Konzentration des Kapitals und zur Bildung von Riesenunternehmen geführt und so den Weg für ein neues Stadium bereitet hatte, in dem die gesamte Wirtschaft ein vom Staat und den von ihm ernannten Managern gelenktes Super-Unternehmen war.

In anderen Punkten weichen Bellamys Ansichten von der Marxschen Theorie jedoch ab. Zum einen glaubt Bellamy, dass die neue Gesellschaft ohne Klassenkampf und ohne Emanzipation der Arbeiterschaft zustande kommt. Zum anderen gibt es einen Unterschied in der Auffassung vom völlig zentralisierten Staatswesen ohne wirkliche Demokratie. Hier dürfte Bellamys Utopie mehr Gemeinsamkeiten mit dem System Chruschtschows haben als mit dem Marxschen Sozialismus, allerdings mit dem grundlegenden Unterschied, dass Bellamys Ziel nicht der automatisierte Massenmensch mit stets wachsendem Konsum ist, wie das beim System Chruschtschows der Fall ist, sondern ein Mensch, der zur brüderlichen Liebe und zur Vereinigung von Mensch und Natur fähig ist. Während Marx gewisse zentralistische Tendenzen aufwies und glaubte, man müsse den Staat erobern und müsse seine Macht sogar [V-281] während einer Übergangsperiode noch stärken, sah doch seine Zukunftsvision des Sozialismus deutlich so aus, dass der Staat absterben und durch eine Gesellschaft von frei zusammenarbeitenden Individuen ersetzt würde.

Obwohl Bellamys Utopie im wesentlichen sozialistisch ist, hat er doch selbst das Wort „Sozialismus“ nie in seinem Buch gebraucht. Auch in der politischen Bewegung, die sich im Anschluss an dieses Buch entwickelte, wurde es nicht gebraucht. Für Bellamy selbst ist diese Bewegung „nationalistisch“, wobei er mit diesem Wort sich einerseits auf die Nationalisierung der Produktionsmittel bezog und andererseits darauf hinweisen wollte, dass nur diese Form der Gesellschaft zu einem reichen blühenden Leben der Nation führen könne. Trotzdem war er kein Anti-Sozialist. Er hat eine Einführung zu der amerikanischen Ausgabe der Fabian Essays (1889) geschrieben, in der er sagt, dass „der Sozialismus dem amerikanischen Volk in der Form des Nationalismus nähergebracht werden könnte“ (zit. nach E. Sadler, 1944, S. 539). Er bekannte sich zum Glauben der Fabianer, dass Industrie und Handel verstaatlicht werden müssten, und kritisierte sie insofern, als sie ihm – vor allem bei der Frage der völligen Gleichheit – nicht weit genug gingen. Die Frage, ob Bellamy ein Sozialist war, ist jedoch nicht nur hinsichtlich seines Selbstverständnisses interessant.

Wer heute sein Buch liest, stößt nicht nur auf Probleme, welche die Entwicklung der Industriegesellschaft in den letzten siebzig Jahren mit sich gebracht hat, sondern auch auf das Problem, was in dieser Zeit aus dem Sozialismus geworden ist. Man versteht Bellamy nicht, wenn man nicht begreift, was der Sozialismus nach Auffassung von Marx und anderen war und wie er seitdem verändert und entstellt worden ist.

Nach Auffassung von Marx war der Sozialismus keineswegs in erster Linie eine Bewegung, bei der es um die Abschaffung der wirtschaftlichen Ungleichheit ging. Sein Ziel war ganz wesentlich die Emanzipation des Menschen, die Wiederherstellung des nicht entfremdeten und unverkrüppelten Individuums, das zu seinen Mitmenschen und zur Natur in eine neue, reiche, spontane Beziehung tritt. Das Ziel des Sozialismus war, dass der Mensch die ihn fesselnden Ketten – seine Fiktionen und seine unrealistische Einstellung – abwerfen und sich in ein Wesen verwandeln solle, das in der Lage sei, seine Kräfte des Fühlens und Denkens schöpferisch zu gebrauchen. Der Sozialismus wollte, dass der Mensch unabhängig würde, das heißt, dass er auf eigenen Füßen stünde, und er glaubte, dass der Mensch nur dann auf eigenen Füßen stehen könne, wenn er sich – wie Marx sich ausdrückt – „sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art“ aneignet, also „als ein totaler Mensch“. Er glaubte, dass er es nur dann könne, wenn er „jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz alle Organe seiner Individualität“ bejaht und voll zum Ausdruck bringt (MEW Erg. I, S. 539).

Das Ziel des Sozialismus war Individualität und nicht Uniformität; es war die Befreiung von den wirtschaftlichen Banden. Es ging ihm nicht darum, materielle Ziele zum Hauptanliegen des Lebens zu machen. Sein Grundsatz lautet, dass jeder Mensch Selbstzweck sei und niemals anderen Menschen als Mittel dienen dürfe. Der Sozialismus wollte eine Gesellschaft schaffen, in der jeder Bürger aktiv und verantwortlich an allen Entscheidungen beteiligt ist, bei denen er mitwirken kann, weil er ein Mensch [V-282] ist, weil er Überzeugungen und nicht künstlich erzeugte Meinungen besitzt. Er wollte eine Gesellschaft errichten, in welcher der Mensch die Umstände beherrscht, anstatt von ihnen beherrscht zu werden. Im neunzehnten Jahrhundert und bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wurzelte der Sozialismus noch in der Tradition des prophetischen Messianismus. Der moderne Rationalismus war die bedeutsame humanistische und geistige Bewegung in Europa und Amerika.

Doch dieser Sozialismus ist dem Geist des Kapitalismus erlegen, den er ersetzen wollte.[5] Anstatt den Sozialismus als eine Bewegung zur Befreiung des Menschen zu verstehen, haben ihn viele seiner Anhänger wie auch viele seiner Gegner so verstanden, als ob es sich hier ausschließlich um eine Bewegung zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterklasse handele. Die humanistischen Ziele des Sozialismus gerieten in Vergessenheit, oder man leistete ihnen nur noch Lippendienst, wobei – wie beim Kapitalismus – das Ziel in der Erreichung wirtschaftlicher Gewinne lag. Ebenso wie die Ideale der Demokratie ihre geistigen Wurzeln eingebüßt haben, hat auch die Idee des Sozialismus ihre tiefste Wurzel verloren – den prophetisch-messianischen Glauben an Friede, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit unter den Menschen.

Der Sozialismus wurde so zum Mittel, mit dessen Hilfe die Arbeiter ihren Platz innerhalb der kapitalistischen Struktur erlangen konnten, ohne über sie hinauszugehen. Anstatt den Kapitalismus zu verändern, wurde der Sozialismus von dessen Geist absorbiert. Zu einem völligen Scheitern der sozialistischen Bewegung kam es, als seine Führer 1914 auf internationale Solidarität verzichteten und sich für die wirtschaftlichen und militärischen Interessen ihres jeweiligen Landes einsetzten anstatt für die Ideen des Internationalismus und des Friedens, die sie auf ihr Programm gesetzt hatten.

Dieses Missverständnis des Sozialismus als einer rein wirtschaftlichen Bewegung, deren Hauptziel die Verstaatlichung der Produktionsmittel war, finden wir sowohl auf dem rechten wie auf dem „linken“ Flügel der sozialistischen Bewegung. Die reformistischen Führer der sozialistischen Bewegung in Europa sahen ihr Hauptziel darin, den wirtschaftlichen Lebensstandard der Arbeiter innerhalb des kapitalistischen Systems anzuheben, und sahen die Verstaatlichung bestimmter Großunternehmen als ihre radikalsten Maßnahmen an. Erst in neuerer Zeit ist es vielen klargeworden, dass die Verstaatlichung eines Unternehmens allein noch keine Verwirklichung des Sozialismus bedeutet und dass es für den Arbeiter keinen grundsätzlichen Unterschied ausmacht, ob die Bürokratie, die ihn managt, von einem Privatmann oder von der Öffentlichkeit eingesetzt wurde.

Die Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion interpretierten den Sozialismus auf die gleiche Weise rein wirtschaftlich. Da sie aber in einem Land lebten, das erheblich weniger weit entwickelt war als Westeuropa und das keine demokratische Tradition hatte, bedienten sie sich des Terrors und der Diktatur, um auf diese Weise eine rasche Kapitalanhäufung zu erreichen, zu der es in Westeuropa bereits im neunzehnten Jahrhundert gekommen war. Sie entwickelten eine neue Form des Staatskapitalismus, der sich als wirtschaftlich erfolgreich und als menschlich destruktiv erwies. Sie bauten eine bürokratisch gelenkte Gesellschaft auf, in welcher die Klassenunterschiede – sowohl im wirtschaftlichen Sinn, als auch bezüglich der [V-283] Befehlsgewalt über andere – tiefer und schärfer ausgeprägt sind als in irgendeinem unserer heutigen kapitalistischen Länder. Sie bezeichnen ihr System als „sozialistisch“, weil sie die gesamte Wirtschaft verstaatlicht haben, aber in Wirklichkeit ist ihr System die völlige Negierung all dessen, was der Sozialismus anstrebt – der Bejahung der Individualität und der vollen Entwicklung des Menschen. Um die Unterstützung der Massen zu gewinnen, die unerträgliche Opfer um der raschen Kapitalanhäufung willen bringen mussten, bedienten sie sich sozialistischer Ideologien, die sie mit nationalistischen kombinierten, was ihnen die widerwillige Kooperation der Beherrschten einbrachte.

Das System des freien Unternehmertums ist dem kommunistischen System insofern weit überlegen, als es eine der größten Errungenschaften des modernen Menschen, die politische Freiheit und damit die Achtung vor der Würde und Individualität des Menschen bewahrt hat, die uns mit der grundlegenden geistlichen Tradition des Humanismus verbindet. Die politische Freiheit gibt uns Möglichkeiten zur Kritik und erlaubt es uns, Vorschläge für konstruktive soziale Veränderungen zu machen, was im sowjetischen Polizeistaat praktisch unmöglich ist. Sobald aber die Sowjetländer das gleiche wirtschaftliche Entwicklungsniveau wie Westeuropa und die Vereinigten Staaten erreicht haben – d.h. wenn auch sie das Verlangen nach einem komfortablen Leben erfüllen können –, werden ihre Führer den Terror nicht mehr nötig haben und die gleichen Manipulationsmittel anwenden, deren sich der Westen bedient, nämlich Suggestion und Überredung. Die weitere Entwicklung wird dazu führen, dass der Kapitalismus und der Kommunismus des zwanzigsten Jahrhunderts konvergieren. Beide Systeme gründen sich auf die Industrialisierung; ihr Ziel ist eine ständig wachsende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und immer größerer Reichtum. Es handelt sich um Gesellschaften, die von einer Managerklasse und von Berufspolitikern gelenkt werden. Beide sind in ihrer Weltanschauung durch und durch materialistisch eingestellt, gleichgültig, ob sie sich zur christlichen Ideologie im Westen oder einem weltlichen Messianismus im Osten bekennen. Sie organisieren die Massen in einem zentralisierten System, in großen Fabriken, in politischen Massenparteien. Wenn sie so fortfahren, werden beide Systeme an die Stelle des schöpferischen, denkenden und fühlenden Massenmenschen, den entfremdeten Menschen setzen – einen gut genährten, gut gekleideten und gut unterhaltenen Automatenmenschen, der von Bürokraten gelenkt wird, die ebenso wenig ein Ziel haben wie der Massenmensch. Die Dinge werden den ersten Platz einnehmen, und der Mensch wird tot sein; er wird von Freiheit und Individualität reden, und er wird nichts sein.

Man muss diese Entwicklung des Sozialismus verstehen, wenn man Bellamys Zukunftsvision würdigen will. Trotz gewisser Mängel und Oberflächlichkeiten ist seine Utopie die gleiche wie die des humanistischen Sozialismus: Auch ihm geht es um die Umwandlung der Gesellschaft in eine vernünftige Gesellschaft, in der es keine Ungleichheit und Ungerechtigkeit mehr gibt. Aber diese wirtschaftliche und soziale Umwandlung ist nur ein Mittel zum Zweck. Das eigentliche Ziel ist die Emanzipation des Menschen und die Überwindung der Entfremdung. Es ist die Erfüllung des Humanismus unter den Bedingungen der Industriegesellschaft. Es ist die Verwirklichung der geistigen Ideale, auf denen unsere gesamte westliche Zivilisation beruht. [V-284]

Es ist für uns heute ganz gewiss wichtig, dass wir Bellamys Looking Backward lesen, nicht nur deshalb, weil es uns eine phantasievolle Vision vor Augen stellt, wie eine vernünftige Gesellschaft aufgebaut sein könnte, sondern auch weil es uns die Probleme aufzeigt, mit denen wir heute konfrontiert sind. Sollen wir uns in einem leeren Materialismus verlieren, in dem nicht mehr wie früher die Gefahr besteht, dass die Menschen zu Sklaven werden, sondern dass sie zu Robotern werden? Oder sollen wir nach einer Neubelebung der grundlegenden Sehnsüchte des westlichen Menschen streben, ohne die die westliche Gesellschaft trotz all ihres Reichtums Gefahr läuft, aus Mangel an Vitalität und an Lebenssinn zugrunde zu gehen?

Der heutige Mensch ist fasziniert von technischen Zukunftsvisionen, von Reisen zum Mond und zu den Planeten. Mir scheint diese Art einer wissenschaftlichen Utopie ein armseliger Ersatz zu sein für die humanistische Utopie, die vom prophetischen Messianismus bis zu Bellamy reicht: für die Vision von der „guten Gesellschaft“, in welcher der Mensch die Welt zu seiner wahrhaft humanen Heimat macht. Doch ist es sicher nicht schwieriger, Pläne für eine vernünftig organisierte und wirklich menschliche Gesellschaft zu entwerfen, als Atombomben und Interkontinentalraketen zu bauen und Reisen zum Mond zu unternehmen.

Bellamys Looking Backward lässt sich kaum treffender charakterisieren als mit den Worten von William Morris in seinem Gedicht The Earthly Paradise:

Traum-Träumer, nicht in meiner Zeit daheim,
Was sollt’ ich Krummes gradzubiegen wagen?
Lasst mich bescheiden nur mit leisem Reim
Und leichtem Flügel an die Tore schlagen,
Um flüsternd – unaufdringlich das zu sagen,
Was man den Schlafenden wohl sagen mag,
Die eingelullt vom Sänger für den leeren Tag.

Nachwort in: George Orwell (Eric Blair) „1984“

(Afterword to George Orwell „1984“)

(1961c)[6]

George Orwells Roman 1984[7] ist Ausdruck einer Stimmung und zugleich eine Warnung. Die Grundstimmung ist Verzweiflung über die Zukunft des Menschen. Die Warnung lautet: Falls der Lauf der Geschichte nicht geändert wird, werden die Menschen auf der ganzen Welt ihre humanen Eigenschaften verlieren und zu seelenlosen Automaten werden, ohne es selbst zu merken.

Die Stimmung der Hoffnungslosigkeit steht in scharfem Gegensatz zu einem anderen, sehr grundlegenden Merkmal des westlichen Denkens: zum Glauben an den menschlichen Fortschritt und an die Fähigkeit des Menschen, eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens zu schaffen. Diese Hoffnung hat ihre Wurzeln sowohl im griechischen und römischen Denken als auch in der messianischen Vorstellung der Propheten des Alten Testaments. Die Geschichtsphilosophie des Alten Testaments nimmt an, dass der Mensch sich in der Geschichte entfaltet, um schließlich zu dem zu werden, was er potenziell ist. Sie geht von der Annahme aus, dass er die ihm eigenen Kräfte der Vernunft und Liebe voll entwickelt und so in der Lage sein wird, die Welt zu erfassen, eins zu werden mit seinen Mitmenschen und der Natur und gleichzeitig seine Individualität und Integrität zu wahren. Universaler Friede und Gerechtigkeit sind die Ziele des Menschen. Darüber hinaus glauben die Propheten daran, dass trotz aller Irrtümer und Sünden das „Ende der Tage“ schließlich kommen wird – symbolisiert durch die Gestalt des Messias.

Das prophetische Denken war ein innerhistorisches. Es beschrieb einen Zustand der Vollkommenheit, der vom Menschen innerhalb der geschichtlichen Zeit verwirklicht würde. Das Christentum hat diesen Begriff in einen jenseitigen, rein spirituellen Begriff verwandelt, dabei jedoch die Idee des Zusammenhangs von moralischen Normen und Politik nicht aufgegeben. Die christlichen Denker des Spätmittelalters betonten zwar, dass es zum „Königreich Gottes“ nicht in geschichtlicher Zeit kommen werde, doch müsse die Gesellschaftsordnung den spirituellen Prinzipien des Christentums entsprechen und sie verwirklichen. Die christlichen Sekten vor und nach der Reformation gaben diesen Forderungen einen drängenderen, aktiveren und revolutionäreren Charakter. Als dann die mittelalterliche Welt zusammenbrach, gewann der Mensch ein neues Gefühl seiner eigenen Kräfte, und seine Hoffnung nicht nur [V-286] auf eine individuelle, sondern auch auf eine gesellschaftliche Vervollkommnung verstärkte sich und nahm neue Formen an.

Besonders wichtig ist eine neue Form des Schrifttums, die sich seit der Renaissance entwickelte und die ihren ersten Ausdruck in Utopia (wörtlich: „Nirgendland“) von Thomas Morus (1516) fand, eine Bezeichnung, die bald allgemein auf alle Werke ähnlicher Art übertragen wurde. Thomas Morus’ Utopia verband eine höchst scharfsinnige Kritik an seiner eigenen Gesellschaft, ihrer Irrationalität und Ungerechtigkeit mit dem Bild einer Gesellschaft, die – wenn sie vielleicht auch noch nicht vollkommen war – doch die meisten menschlichen Probleme, die seinen Zeitgenossen unlösbar erschienen, gelöst hatte. Kennzeichnend für Thomas Morus’ Utopia und all die anderen Utopien ist, dass sie keine allgemeinen Grundsätze verkünden, sondern ein phantasievolles Bild mit konkreten Einzelheiten von einer Gesellschaft entwerfen, welche den tiefsten Sehnsüchten des Menschen entspricht. Im Gegensatz zum prophetischen Denken entstehen diese vollkommenen Gesellschaften nicht erst am „Ende der Tage“, sondern sie existieren bereits – wenn auch in geographischer anstatt in zeitlicher Ferne.

Auf Thomas Morus’ Utopia folgten zwei weitere Utopien, 1602 La città del Sole („Sonnenstaat“)[8] des italienischen Dominikaners Tommaso Campanella und 1619 Christianopolis („Christenburg“) des deutschen Humanisten Johann Valentin Andreä, die die „modernste“ der drei war. Diese Utopien unterschieden sich hinsichtlich ihres Standpunktes und ihrer Originalität, doch sind ihre Unterschiede gering im Vergleich zu dem, was ihnen gemeinsam ist.

In der Zwischenzeit wurden immer wieder Utopien verfasst bis zum Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts. Die letzte und einflussreichste war Edward Bellamys Looking Backward, die 1888 veröffentlicht wurde. Neben Onkel Toms Hütte [von Harriet Beecher-Stowe (1853)] und Ben Hur [von Lew Wallace (1880)] war Looking Backward zweifellos das populärste Buch um die Jahrhundertwende. Es wurde in den Vereinigten Staaten in vielen Millionen Exemplaren gedruckt und in über zwanzig Sprachen übersetzt. Bellamys Utopie gehört in die große amerikanische Tradition, die im Denken von Whitman, Thoreau und Emerson zum Ausdruck kam. Sie ist die amerikanische Version der Gedanken, die damals ihren stärksten Ausdruck in der sozialistischen Bewegung in Europa fanden.

Diese Hoffnung auf die individuelle und gesellschaftliche Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, die im philosophischen und anthropologischen Bereich in den Schriften der Aufklärungsphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts und bei den sozialistischen Denkern des neunzehnten Jahrhunderts deutlich zum Ausdruck kommt, hielt sich unverändert bis nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser Krieg, in dem Millionen um des territorialen Ehrgeizes der europäischen Mächte willen sterben mussten, während sie die Illusion hatten, für Frieden und Demokratie zu kämpfen, war der Anfang jener Entwicklung, die in relativ kurzer Zeit die zweitausendjährige Tradition der Hoffnung des Westens zerstörte und sie in eine Stimmung der Verzweiflung verwandelte.

Die moralische Skrupellosigkeit des Ersten Weltkriegs war nur der Anfang. Andere Ereignisse folgten: der Verrat an den Hoffnungen der Sozialisten durch Stalins reaktionären Staatskapitalismus; die schwere Wirtschaftskrise am Ende der zwanziger [V-287] Jahre; der Sieg der Barbarei in Deutschland – einem der ältesten Kulturzentren der Welt; der Wahnsinn des stalinistischen Terrors in den dreißiger Jahren; der Zweite Weltkrieg, in dem die kämpfenden Nationen auch jene moralischen Bedenken aufgaben, die sie im Ersten Weltkrieg immerhin noch gehabt hatten; die uneingeschränkte Vernichtung der Zivilbevölkerung, die von Hitler begonnen wurde und in der völligen Zerstörung von Städten wie Hamburg, Dresden, Tokio und schließlich mit dem Einsatz der Atombomben gegen Japan ihre Fortsetzung fand. Seither sieht sich die Menschheit mit einer noch größeren Gefahr konfrontiert – der Vernichtung unserer Zivilisation, wenn nicht der gesamten Menschheit durch die Atomwaffen, so wie sie heute existieren und in immer entsetzlicherem Ausmaß weiterentwickelt werden.

Die meisten Menschen sind sich jedoch dieser Bedrohung und ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit nicht bewusst. Einige sind der Meinung, gerade durch die maßlose Destruktivität der modernen Kriegführung sei der Krieg unmöglich geworden; andere erklären, selbst wenn sechzig oder siebzig Millionen Amerikaner in den ersten ein oder zwei Tagen eines Atomkriegs getötet würden, bestünde noch kein Grund für die Annahme, dass das Leben nach der Überwindung des ersten Schocks nicht weitergehen würde wie zuvor. Die Bedeutung von Orwells Buch liegt eben darin, dass es der neuen Hoffnungslosigkeit Ausdruck verleiht, die uns alle erfüllt, bevor diese Stimmung sich noch offen ausgebreitet und sich des Bewusstseins der Menschen bemächtigt hat.

Orwell steht mit diesem Versuch nicht allein. Noch zwei andere Schriftsteller haben ganz ähnlich wie er diese Stimmung zum Ausdruck gebracht und vor der Zukunft gewarnt – nämlich der Russe [Jewgeni Iwanowitsch] Samjatin in seinem Buch Wir (1920) und Aldous Huxley in Brave New World (1946). Diese neue Folge, die man die „negativen Utopien“ der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts nennen könnte (Jack Londons The Iron Heel (1907) als Voraussage des Faschismus in Amerika müsste noch hinzugefügt werden), sind der genaue Gegenpol zu den zuvor erwähnten positiven Utopien, die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert verfasst wurden. Die negativen Utopien sprechen die Machtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit des modernen Menschen aus, während die frühen Utopien das Selbstvertrauen und die Hoffnung des nach-mittelalterlichen Menschen belegen. Historisch gesehen kann man sich kaum etwas Paradoxeres vorstellen als diese Wandlung: Zu Beginn des industriellen Zeitalters war der Mensch voller Hoffnung, als er in Wirklichkeit noch nicht die Mittel besaß für eine Welt, in welcher der Tisch für alle, die essen wollen, gedeckt ist; als er noch in einer Welt lebte, in der ökonomische Gründe für Sklaverei, Krieg und Ausbeutung gegeben waren, in der der Mensch die Möglichkeiten der neuen Naturwissenschaft und deren Anwendung auf Technik und Produktion erst ahnte. Heute, vier Jahrhunderte später, sind alle diese Hoffnungen zu realisieren: Der Mensch kann genug für alle produzieren; der Krieg ist überflüssig geworden, weil der technische Fortschritt einem jeden Land einen größeren Reichtum verschaffen kann, als dies durch territoriale Eroberungen möglich wäre; unser Erdball entwickelt sich zu einer Einheit, die der eines Kontinentes vor vierhundert Jahren vergleichbar ist. Doch im selben Augenblick, in dem der Mensch im Begriff ist, seine Hoffnungen zu realisieren, fängt er an, sie zu verlieren. Das Wesentliche an allen drei negativen Utopien ist nicht nur, dass sie die Zukunft beschreiben, auf [V-288] die wir uns zubewegen, sondern dass sie auch eine Erklärung für dieses historische Paradoxon suchen.

Die drei negativen Utopien unterscheiden sich voneinander in Bezug auf Einzelheiten und in ihrer Gewichtung. Samjatins Wir, in den Zwanziger Jahren geschrieben, hat mehr Züge mit Orwells 1984 (1949) gemeinsam als mit Huxleys Brave New World (1946). Wir (1920)und 1984 (1949) schildern die völlig bürokratisierte Gesellschaft, in welcher der Mensch eine bloße Nummer ist und jedes Gefühl für seine Individualität verloren hat. Dies geschieht durch eine Mischung von uneingeschränktem Terror (in Samjatins Buch kommt eine Gehirnoperation hinzu, welche den Menschen schließlich sogar körperlich verändert) in Verbindung mit einer ideologischen und psychologischen Manipulation. In Huxleys Buch ist eine hypnotisierende Massensuggestion das Hauptmittel, mit der man den Menschen in einen Automaten verwandelt, ohne Terror anzuwenden. Man könnte sagen, dass Samjatins und Orwells Beispiele eine größere Ähnlichkeit mit der Diktatur Stalins und der der Nationalsozialisten aufweisen, während Huxleys Brave New World (1946) ein Bild der westlichen Industriewelt ist, wenn diese den gegenwärtigen Trend ohne grundlegende Veränderungen weiter verfolgt.

Trotz dieses Unterschieds stellen die drei negativen Utopien die gleiche grundlegende Frage. Es ist eine philosophische, anthropologische, psychologische und vielleicht sogar eine religiöse Frage. Sie lautet: Kann die menschliche Natur sich so verändern, dass der Mensch seine Sehnsucht nach Freiheit, Würde, Integrität und Liebe vergessen kann – das heißt: Kann der Mensch vergessen, dass er ein Mensch ist? Oder besitzt die menschliche Natur eine innere Dynamik, die auf die Missachtung dieser grundlegenden menschlichen Bedürfnisse mit dem Versuch reagiert, eine unmenschliche Gesellschaft in eine menschliche zu verwandeln? Es ist hierbei zu beachten, dass die drei Autoren nicht die einfache Haltung eines psychologischen Relativismus einnehmen, die heute so viele Sozialwissenschaftler vertreten. Sie gehen nicht von der Annahme aus, dass es eine menschliche Natur oder dem Menschen wesensmäßig eigene Qualitäten gar nicht gibt, und dass der Mensch als ein leeres Blatt Papier geboren wird, auf das die jeweilige Gesellschaft ihren Text schreibt. Sie vertreten vielmehr die Auffassung, dass der Mensch ein intensives Verlangen nach Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit und Solidarität hat. Darin unterscheiden sie sich grundsätzlich vom relativistischen Denken. Sie unterstreichen die Stärke und Intensität dieser menschlichen Strebungen noch dadurch, dass sie beschreiben, welcher Mittel es bedarf, um sie zu zerstören. In Samjatins Wir (1920) muss man eine Gehirnoperation – ähnlich einer Lobotomie – vornehmen, um die Bedürfnisse der menschlichen Natur verstummen zu lassen. In Huxleys Brave New World (1946) sind künstliche Selektion und Drogen hierzu notwendig, und in Orwells 1984 (1949) werden Folter und Gehirnwäsche uneingeschränkt angewendet. Man kann keinem der drei Autoren den Vorwurf machen, er glaube, die Zerstörung der Humanität im Menschen sei nicht schwierig. Dennoch kommen alle drei übereinstimmend zu dem Schluss, dass dies mit Mitteln, die heute allgemein bekannt sind, möglich ist.

Trotz vieler Ähnlichkeiten mit Samjatins Wir (1920) gibt Orwell in 1984 (1949) eine sehr persönliche Antwort auf die Frage, wie man die Natur des Menschen ändern kann. Sie soll Gegenstand der folgenden Überlegungen sein. [V-289]

Orwells wichtigster Beitrag für heute und die nächsten Jahre kann darin gesehen werden, dass er den Zusammenhang zwischen der diktatorischen Gesellschaft des Jahres 1984 und dem Atomkrieg aufzeigt. Nach Orwells Buch kommt es bereits in den vierziger Jahren zu den ersten Atomkriegen. Ein Atomkrieg großen Stils bricht dann zehn Jahre später aus, bei dem einige hundert Bomben auf die Industriezentren des europäischen Russland, Westeuropas und Nordamerikas abgeworfen werden. Nach diesem Krieg kommen die Regierungen aller Länder zur Überzeugung, dass eine Fortsetzung zum Ende der organisierten Gesellschaft und folglich auch zum Ende ihrer Macht führen würde. Aus diesem Grunde werden keine weiteren Bomben mehr abgeworfen. Die drei großen Machtblöcke „produzierten weiter Atombomben und bewahrten sie auf für den letzten großen Entscheidungskampf, mit dem sie alle früher oder später rechneten“. Die jeweils herrschende Partei ist bestrebt herauszufinden, „wie man mehrere hundert Millionen Menschen ohne Vorwarnung innerhalb weniger Stunden töten kann“.

Orwell schrieb 1984 vor der Erfindung der Atomwaffen, so dass die von ihm vorausgesagte Entwicklung bereits in den fünfziger Jahren erreicht wurde. Allerdings scheint die auf die japanischen Städte abgeworfene Atombombe klein und von geringer Wirkung verglichen mit dem Massenmord, den man mit Kernwaffen erreichen kann, die neunzig bis hundert Prozent der Bevölkerung eines Landes innerhalb weniger Minuten auszulöschen vermögen.

Die Bedeutung von Orwells Auffassung des Krieges beruht auf einer Reihe höchst scharfsinniger Beobachtungen. Er weist vor allem auf die wirtschaftliche Bedeutung einer ständigen Waffenproduktion hin, ohne welche unser Wirtschaftssystem nicht funktionieren kann. Außerdem gibt er ein eindrucksvolles Bild davon, wie eine Gesellschaft sich entwickeln muss, die ständig den Krieg vorbereitet, die ständig Angst vor einem Angriff hat und die darauf aus ist, Mittel und Wege zu finden, ihre Gegner völlig auszulöschen. Orwells Bild ist deshalb so treffend, weil es ein eindrucksvolles Argument vorbringt gegen die weit verbreitete Meinung, wir könnten durch eine Fortsetzung des Wettrüstens und eine „dauerhafte“ Abschreckung Freiheit und Demokratie retten. Die Tatsache wird übersehen, dass der immer größere technische „Fortschritt“ (der etwa alle fünf Jahre völlig neue Waffensysteme erzeugt und der bald die Entwicklung von 100- oder 1000-Megatonnenbomben anstelle der bisherigen 10-Megatonnenbomben erlauben wird) die gesamte Gesellschaft zwingen wird, unter der Erde zu leben, dass aber die Zerstörungskraft der Atombomben stets größer sein wird als unsere Höhlen tief sein werden, und dass das Militär – wenn auch nicht de iure, so doch de facto – die Herrschaft übernehmen wird und dass Hass und Angst vor einem möglichen Angreifer die Grundeinstellung einer demokratischen, humanistischen Gesellschaft zerstören werden. Ein weiteres Wettrüsten würde also, selbst wenn es nicht zum Ausbruch eines Atomkrieges führte, doch alle jene Qualitäten unserer Gesellschaft zerstören, die wir als „demokratisch“, als „frei“ oder „der amerikanischen Tradition entsprechend“ bezeichnen. Orwell zeigt, dass es eine Illusion ist anzunehmen, die Demokratie könne weiterbestehen in einer Welt, die sich auf den Atomkrieg vorbereitet, und er tut dies auf eine höchst phantasievolle und glänzende Weise. [V-290]

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Orwells Beschreibung der Auffassung von Wahrheit, die auf den ersten Blick dem zu entsprechen scheint, was Stalin besonders in den Dreißiger Jahren unter Wahrheit verstand. Wer aber in Orwells Schilderung nur eine weitere Verurteilung des Stalinismus sieht, übersieht ein wesentliches Element seiner Analyse. Tatsächlich spricht er von einer Entwicklung, die auch in den westlichen Industrieländern vor sich geht, nur in einem langsameren Tempo als in Russland und China. Die Grundfrage Orwells lautet, ob es so etwas wie „Wahrheit“ überhaupt gibt.

„Die Realität“, so behauptet die herrschende Partei,

ist nicht objektiv; die Realität existiert im menschlichen Geist und nirgends sonst. (...) Was immer auch die Partei für wahr hält, ist die Wahrheit.

Wenn dies stimmt, dann hat die Partei, sobald sie den Geist der Menschen unter ihrer Kontrolle hat, auch die Wahrheit unter ihrer Kontrolle. In einem dramatischen Gespräch zwischen dem Vorkämpfer der Partei und dem geschlagenen Rebellen, einem Gespräch, das eine ebenbürtige Analogie zu Dostojewskis Gespräch zwischen dem Großinquisitor und Jesus ist, werden die Grundprinzipien der Partei erläutert. Im Gegensatz zum Großinquisitor jedoch geben die Parteiführer nicht einmal vor, dass ihr System die Absicht habe, die Menschen glücklicher zu machen, weil die Menschen als schwächliche und feige Kreaturen der Freiheit zu entrinnen trachten und nicht in der Lage seien, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Die Führer sind sich bewusst, selbst nur ein Ziel zu haben, nämlich Macht. Für sie ist Macht kein Mittel; sie ist Selbstzweck. Und Macht haben bedeutet, in der Lage zu sein, anderen menschlichen Wesen unbegrenzt Leiden und Schmerz zufügen zu können. (Vgl. Die Furcht vor der Freiheit, 1941a, GA I, S. 312, wo ich die Macht in dieser Weise definiert habe, sowie Simone Weils Verständnis von Macht als Fähigkeit, einen lebendigen Menschen in einen Leichnam, das heißt in ein Ding zu verwandeln.) Für sie erzeugt Macht demnach Realität und Wahrheit. Man kann die Einstellung, die Orwell hier der Machtelite zuschreibt, als eine extreme Form des philosophischen Idealismus bezeichnen. Meines Erachtens aber ist die in 1984 beschriebene Auffassung von Macht und Wahrheit eher eine extreme Form des Pragmatismus, bei dem die Frage der Wahrheit der Partei untergeordnet wird. Alan Harrington hat in seinem Buch Life in the Crystal Palace (1959) ein subtiles und genaues Bild vom Leben in einem amerikanischen Großunternehmen gezeichnet und dabei mit dem Begriff der „mobilen Wahrheit“ einen treffenden Ausdruck für unseren gegenwärtigen Wahrheitsbegriff gefunden. Für jemanden, der in einem Großunternehmen arbeitet, das behauptet, sein Erzeugnis sei besser als das aller seiner Konkurrenten, wird die Frage, ob diese Behauptung nachweisbar und gerechtfertigt ist, irrelevant. Es kommt nur darauf an, dass diese Behauptung zu „seiner“ Wahrheit wird, solange er in seinem Werk arbeitet, und dass er nicht nachprüfen möchte, ob es sich um eine objektiv gültige Wahrheit handelt. Wechselt jemand die Stelle und tritt er in die Firma ein, die bisher „sein“ Konkurrent war, dann geht es nur darum, dass er jetzt die neue Wahrheit akzeptiert und das Produkt der neuen Firma das Beste sein lässt, und dass er die neue Wahrheit genauso wahr sein lässt, wie es die alte war. Die destruktive Entwicklung in unserer Gesellschaft zeigt sich gerade darin, dass der Mensch immer mehr zum Instrument wird und dabei die Wirklichkeit zu dem macht, was sie seinen eigenen Interessen und [V-291] Funktionen nach sein muss. Der Beweis für die Wahrheit ist der Konsens der Millionen. Dem Schlagwort: „Wie sollen sich Millionen von Menschen irren können!“ fügt er hinzu: „Wie könnte ein Einzelner recht haben!“ Dies zeigt Orwell ganz deutlich: In einem System, in dem der Wahrheitsbegriff als objektives Urteil über die Wirklichkeit abgeschafft ist, muss jeder, der zu einer Minorität gehört, davon überzeugt werden, dass er geisteskrank ist.

Bei der Schilderung der in 1984 herrschenden Denkweise hat Orwell ein Wort geprägt, das bereits zu einem Bestandteil unseres modernen Vokabulars geworden ist: das „Doppeldenken“ (doublethink):

Doppeldenken bedeutet das Vermögen, zwei widersprüchliche Überzeugungen im Kopf zu haben und beide zugleich zu akzeptieren. (...) Dieser Prozess muss bewusst sein, sonst würde er nicht mit zureichender Präzision vollzogen. Aber er muss zugleich auch unbewusst sein, sonst würde er ein Gefühl von etwas Falschem und daher Schuldgefühle hervorrufen. (G. Orwell, 1949, S. 32; dt. 1950, S. 44.)

Es ist eben dieser unbewusste Aspekt des Doppeldenkens, der manchen Leser von 1984 zu der Meinung verleiten wird, die Methode des Doppeldenkens werde von den Russen und Chinesen angewandt, während sie ihm selbst völlig fremd sei. Dies ist jedoch eine Illusion, wie an wenigen Beispielen bewiesen werden kann. Wir im Westen sprechen von der „freien Welt“ und rechnen nicht nur Systeme wie die Vereinigten Staaten und England dazu, die sich auf freie Wahlen und freie Meinungsäußerungen gründen, sondern auch südamerikanische Diktaturen (wenigstens taten wir das, solange sie existierten); und wir rechnen auch andere Formen von Diktatur dazu, wie die Francos und Salazars und die in Südafrika, Pakistan und Abessinien. Wenn wir von der „freien Welt“ sprechen, meinen wir in Wirklichkeit all jene Staaten, die gegen Russland und China sind, und keineswegs, wie man unseren Worten nach annehmen könnte, nur Staaten, in denen politische Freiheit herrscht. Ein weiteres Beispiel aus unserer Zeit dafür, dass man gleichzeitig zwei sich widersprechende Meinungen haben und akzeptieren kann, findet man in unseren Diskussionen über Rüstung. Wir verwenden einen beträchtlichen Teil unseres Reichtums und unserer Energie auf die Herstellung von Kernwaffen und schließen unsere Augen vor der Tatsache, dass sie explodieren und unsere Bevölkerung zu einem Drittel, zur Hälfte oder auch zum größten Teil (ebenso wie die unseres Gegners) vernichten könnten. Einige gehen sogar noch weiter. So stellt Herman Kahn (1960, S. 47) als einer der einflussreichsten Autoren zur Frage der gegenwärtigen Atomstrategie fest:

Mit anderen Worten, Krieg ist etwas Grässliches. Das steht nicht in Frage. Aber das ist auch der Friede. Es ist angebracht, anhand von Berechnungen, wie wir sie heute durchführen, die Schrecken des Krieges mit den Schrecken des Friedens zu vergleichen und zu sehen, wie viel schlimmer jener ist.

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959121996
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Sozialismus Utopie Dystopie Humanismus Edward Bellamy George Orwell Marxismus
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Titel: Gesellschaftsentwürfe und Sozialismus