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Buchbesprechungen

©2016 58 Seiten

Zusammenfassung

Das E-Book ‚Buchbesprechungen‘ enthält insgesamt 36 Buchbesprechungen aus der Feder von Erich Fromm, die – mit Ausnahme der letzten – alle ursprünglich in deutscher Sprache verfasst wurden. Sie umfassen den Zeitraum von 1932 bis 1950. Die chronologisch sortierten Buchbesprechungen dokumentieren für die erste Schaffensphase von Fromm, was für sein gesamtes Leben Gültigkeit hatte: dass er ein sehr fleißiger Leser war und sich sein Interesse auf ein breites Spektrum der wissenschaftlichen Literatur bezog.

Die besprochenen Bücher im Einzelnen

- „Gabe. Herrn Rabbiner Dr. Nobel zum 50. Geburtstag dargebracht“
- Siegfried Bernfeld: „Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf“
- Fedor Vergin: „Das unbewusste Europa. Psychoanalyse der europäischen Politik“
- Sir Galahad: „Mütter und Amazonen. Umriß weiblicher Reiche“
- Otto Heller: „Der Untergang des Judentums“
- Maria Dorer: „Historische Grundlagen der Psychoanalyse“
- Wilhelm Reich: „Der Einbruch der Sexualmoral. Zur Geschichte der sexuellen Ökonomie“
- Lord Raglan: „Jocasta’s Crime. An Anthropological Study“
- Willy Hellpach: „Elementares Lehrbuch der Sozialpsychologie“
- Sandford Fleming: „Children and Puritanism“
- S.M. and B.C. Grünberg: „Parents, Children and Money“
- E. Heidbreder: „Seven Psychologies“
- Jeoffrey Gorer: „The Revolutionary Ideas of the Marquis de Sade“
- Louis Berg: „The Human Personality“
- Alexander Kerensky: „The Crucified Liberty“
- I.S. Wile: „The Sex Life of the Unmarried Adult. An Inquiry into and an Interpretation of Current Sex Practice“
- Gerhard Adler: „Entdeckung der Seele“
- Carl Gustav Jung: „Wirklichkeit der Seele“
- Heinrich Meng: „Strafen und Erziehen“
- Peter Browe: „Beiträge zur Sexualethik des Mittelalters“
- John Dollard: „Criteria for the Life History“
- Margaret Mead: „Sex and Temperament in Three Primitive Societies“
- George Britt: „Forty Years – Forty Millions“
- Conrad Aiken: „King Coffin“
- Margaret Mead: „Cooperation and Competition Among Primitive Peoples“
- Harold D. Lasswell: „Politics: „Who Gets What, When, How“
- R. Osborn: „Freud and Marx“
- F. Brown: „Psychology and the Social Order“
- Carl J. Warden: „The Emergence of Human Culture“
- Paul Thomas Young: „Motivation of Behavior. The Fundamental Determinants of Human and Animal Activity“
- Roger W. Babson: „Actions and Reactions. An Autobiography“
- Wilhelm Stekel: „Die Technik der analytischen Psychotherapie“
- L. Ron Hubbard: „Dianetik“. Die Heilslehre der Scientology-Church“
- u.a.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Buchbesprechung von
„Gabe“.
Herrn Rabbiner Dr. Nobel zum 50. Geburtstag dargebracht

(1922c)[2]

Das Prinzip dieser Festschrift mag zunächst eigenartig anmuten. Ihre Anordnung geht nicht von einem objektiven Einteilungsprinzip des Stoffes aus, sondern ist nur zu verstehen aus der persönlichen Beziehung der Mitarbeiter zu Rabbiner Nobel. Aber gerade aus der Mannigfaltigkeit der behandelten Themen, die aus religiösen, philosophischen, ästhetischen, historischen und politischen Gebieten jüdischer und nichtjüdischer Sphäre geschöpft sind, ist zu erkennen, von wie verschiedenen Gebieten her Männer und Jünglinge zu ihm als Repräsentanten des sie alle bindenden und einenden Judentums kamen. Die Festschrift wird eingeleitet durch ein Sonett, das deutlicher Ausdruck der Wirkung dieser Persönlichkeit auf den ganzen Kreis ist. Im Rahmen einer Besprechung ist es nicht möglich, die 16 Beiträge einzeln zu charakterisieren. Hervorgehoben sei nur Folgendes:

Hermann Cohen, den mit Rabbiner Nobel innige persönliche Freundschaft verband, ist in der Gabe mit den aus seinem Nachlass zum ersten Mal gedruckten Briefen über Gottfried Keller vertreten, die, wie der Herausgeber Franz Rosenzweig mit Recht hervorhebt, nicht nur viel Wesentliches und Neues über Keller aussagen, sondern auch „in die letzten Tiefen der Persönlichkeit Cohens hineinleuchten“. Außerdem aber beschäftigen sich noch zwei andere Beiträge der Festschrift mit diesem Großen, beide von Rabbiner Nobel selbst: sein Glückwunsch zu Cohens 70. Geburtstag sowie die tief und warm kennzeichnenden Hexameter, die dem Grabstein des Denkers eingegraben sind.

Siegried Kracauers „Gedanken über Freundschaft“ bringen eine verstehende, begrifflich klare und doch ganz gefühlte Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten, Freundschaft zu empfangen und zu geben. Die bei derartigen soziologischen Untersuchungen bestehende Gefahr, über dem notwendigen Systematisieren und dem Herausstellen der Begriffe die lebendige Selbständigkeit des Gefühls zu vergessen, ist hier glücklich vermieden.

Ernst Simon versucht in seiner kleinen Abhandlung „Platon und die Tragödie“ den Widerspruch zwischen diesen beiden Haupttatsachen der antiken Kultur durch eine neue Deutung zu lösen: Die Tragödie des Sokrates sei in ihrer Einwirkung auf den jugendlich liebenden Schüler ihm der Anstoß gewesen, vom ästhetischen Pessimismus der Tragödie zum ethischen Optimismus seines „Staates“ fortzuschreiten.

Die uns am bedeutendsten erscheinende Arbeit ist „Das Dämonische“ von Leo Löwenthal deshalb, weil hier [X-029] stark metaphysische Intuition unmittelbar zu spüren ist, selbst dann noch, wenn gelegentlich die Reste philosophischer Schulsprache allzu deutlich sind. Der Verfasser führt uns in jenes Zwischenreich, das, von Gott verlassen, für die Dämonen frei bleibt, die in den Gestalten der unverstandenen und gefürchteten Natur, der Engel, Teufel, Amouretten des auf Antwort verzichtenden Selbst, Antwort gewordenen Problems oder bestenfalls einer auf Sinndeutung verzichtenden unmittelbaren Erfassung der Erscheinungswelt an uns vorüberziehen. Ihr Reich ist da und nur da, wo Gott nicht ist, doch nur, weil er ist, kann ihr Reich sein.

Leichter fassliche, wenn auch nicht minder tiefe Einblicke in das Gebiet des Religiösen gewähren die fünf kurzen Predigten, von denen zwei Eugen Meyer und drei chassidische Martin Buber mitteilt. Etwas über deren herrlichen Inhalt zu sagen, unterlassen wir – hier kann man nur selbst lesen.

Zum Schluss sei noch auf die temperamentvolle Abrechnung mit einer heute als Goluserscheinung[3] vorkommenden, doch unjüdischen Art von „Rechtgläubigkeit“ hingewiesen, die Eugen Meyer in seinem Beitrag „Räumet, räumet, machet Bahn!“ vornimmt. Wir spüren eine warme Liebe, die nicht nur das Alte erneuern, sondern auch seine Verfälschung niederreißen will. – Dies alte und ewig Junge soll uns in schönen Übersetzungen häuslicher Gebete vermittelt werden, die zum Eindringen in das „heilige Original“ selbst führen sollen und können. Mit diesem Beitrag schließt Franz Rosenzweig das wertvolle Buch.

Buchbesprechung von Siegfried Bernfeld:
„Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf“

(1930c)[4]

Bernfeld untersucht in dieser Schrift nicht die pädagogische Bedeutung von Schulgemeinde und Schulheim „im allgemeinen“, sondern vom Standpunkt des sozialistischen Pädagogen die Rolle, die beide Institutionen im Kampf des Proletariats mit der herrschenden Klasse spielen, und speziell das Problem, welchen Nutzen das Proletariat im revolutionären Kampf aus der Verwirklichung von Schulheim und Schulgemeinde ziehen könnte. Bernfeld setzt eine Begriffsbestimmung an den Anfang. (Schulheim = ein neuer Typus höherer Schulen [Landerziehungsheime, Schulgemeinde im weiteren Sinn], Schulgemeinde = jene besondere Form der Verwaltung und Organisation des Schülerlebens, die sich in erster Linie in den Schulheimen entwickelt hatte.) Es folgt dann eine historische Darstellung der Entwicklung des Schulheimgedankens in den oppositionell radikalen Kreisen der Schülerschaft, wie sie im akademischen Komitee für Schulreform bis zu seiner Auflösung kurz vor dem Kriege zum Ausdruck kam, und wie sie nach einem kurzen Sieg nach der Revolution durch gemeinsame Sabotage von Schüler- und Lehrerschaft diskreditiert wurde. Auf diesen historischen Abriss folgt die prägnant formulierte Problemstellung:

Die oberste Frage jeder sozialistischen Politik – also auch der Schul- und Erziehungspolitik ist die nach der Bedeutung einer Maßnahme für die Situation des Klassenkampfes.

Bernfeld gibt eine Analyse der Funktion der bürgerlichen Schule im Klassenkampf. Sie dient dazu, die Bindung des Kleinbürgertums an die herrschende Klasse zu fördern und die Möglichkeit seines Bündnisses mit dem Proletariat zu zerstören. Das Schulheim hat dieselbe Funktion für die Kinder, die infolge einer besonderen Gefährdung der ökonomischen, sozialen, ideologischen Situation ihrer Familie in der allgemeinen Schule ihrer Klasse entfremdet werden könnten. „Es ist sozusagen die bürgerliche Form der Verwahrlosung, die durch das Schulheim erfolgreich bekämpft wird.“ Die Kinder der Kleinbourgeoisie leben dort ebenso vollkommen ökonomisch gesichert, wie nur die Großbourgeoisie, „und entwickeln daher – als Überbau über diese ihre Situation – deren Ideologie“. Das Schulheim kann also keine Forderung sozialistischer Schulpolitik sein.

Eine positivere Einstellung vom Standpunkt der sozialistischen Schulpolitik nimmt der Verfasser zur Schulgemeinde ein. Es kommt der bürgerlichen Schule nicht in erster Linie darauf an, Wissen und Bildung zu vermitteln, sondern diese geistigen [X-039] Waffen werden den ihrer Klassenlage nach dem Proletariat nahestehenden Schichten des Bürgertums nur unter einer Bedingung ausgeliefert:

sie müssen eine psychische Struktur mit ins Leben nehmen, die verhindern wird, dass sie diese kostbaren Waffen je anders denn als Leib- und Geisteigene des Kapitals benutzen könnten.

Dieser Unterrichtserfolg wird vermittelt durch die für die bürgerliche Schule typische Disziplin. Bernfeld sieht in der die ganze Schülerschaft umfassenden Schulgemeinde einen Ansatzpunkt für eine revolutionäre Schulpolitik, wenn die Schülerbewegung sich mit der proletarischen verbindet und die Pädagogik als ein Stück Klassenkampf verstanden wird.

Die Bernfeldsche Schrift ist weit über den Rahmen der Spezialfrage, die sie untersucht, hinaus außerordentlich lesenswert, weil hier einer der bisher noch seltenen Versuche vorliegt, ein gesellschaftliches Problem in seiner sozialen und psychologischen Struktur mit den Methoden zu verstehen, deren gleichzeitige Anwendung allein ein volles Verständnis ermöglicht: der marxistischen Soziologie und der Freudschen Trieblehre. (Dr. Erich Fromm, Heidelberg)

Buchbesprechung von Fedor Vergin:
„Das unbewusste Europa. Psychoanalyse der europäischen Politik“

(1932c)[5]

Dieses Buch[6], das die geheimen, unbewussten Triebfedern und Hintergründe der europäischen Politik aufzeigen und sogar ein praktischer Wegweiser für die Politik sein will, mutet wie eine Karikatur einer falschen, psychologistischen Soziologie an. Karikatur deshalb, weil die von dieser Methode gemachten Fehler, soziales Geschehen ohne Zusammenhang mit seinen wirtschaftlichen Wurzeln als Produkt irgendwelcher an der rechten Stelle auftauchender Triebe zu „erklären“, hier bis zum grotesken Extrem übertrieben werden. Der Autor meint einleitend:

Hinsichtlich der Politik muss jedoch zuerst ernsthaft die Forderung erhoben werden, dass die politischen Erscheinungen in ihren übertriebenen Symptomen als seelisch krankhaft erkannt und anerkannt werden.

Er gibt dann weiter an:

Von Wichtigkeit (...) sind allerdings alle rein materiellen, rein wirtschaftlichen Ursachen. Dies wurde, wenn auch vielfach stillschweigend, in Rechnung gestellt.

Als Quelle seiner Orientierung über diese Frage gibt der Verfasser Lewinsohns (Morus), „Geld in der Politik“ an. Er kommt zu dem Schluss, die Weltfinanz sei „dem Seelenleben des Einzelnen wie den kollektiven Größen ebenso untertan, als ob das Geld nicht existiere“. Auf diesem Niveau geht es das ganze Buch hindurch weiter. Es sei nur bemerkt, dass der Verfasser auch von der Psychoanalyse nur die oberflächlichsten Kenntnisse zu haben scheint, dass es sich also durchaus nicht etwa um eine psychoanalytische Untersuchung handelt. (Erich Fromm, Berlin)

Buchbesprechung von Sir Galahad:
„Mütter und Amazonen. Umriss weiblicher Reiche“

(1932d)[7]

Die Verfasserin will in diesem Buch eine „erste weibliche Kulturgeschichte“, einen „Umriss weiblicher Reiche“ geben. Unter Zugrundelegung der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, vor allem von Bachofen, Briffault, Frobenius, aber auch vieler anderer, will sie ein zusammenfassendes Bild jener Gesellschaften geben, in denen die Frau mehr oder weniger ausschließlich herrschte und mütterliche Züge die Kultur bestimmten. Es wird zunächst eine schöne Darstellung der Bachofenschen Theorie und speziell seiner Symboldeutung gegeben; dann werden die verschiedenen Kulturen behandelt, von denen mutterrechtliche Züge bekannt sind (besonders ausführlich hierbei Nordamerika, Mittel- und Südamerika, Afrika, Ägypten). Endlich wird eine kritische Darstellung der verschiedenen Theorien über das Mutterrecht gegeben, der am Ende die kurze Darstellung des Amazonenproblems folgt.

Inwieweit im einzelnen das von der Verf. herangezogene Material wissenschaftlich gesichert ist, kann der Ref[erent] nicht entscheiden. Es kommt bei diesem Werke wohl auch weniger auf die Richtigkeit von Einzelheiten an als darauf, dass in einer sehr geistreichen, graziösen und lebendigen Weise dem Leser ein Bild der viel vernachlässigten mütterlichen Elemente der Kultur gegeben wird, wobei die Verfasserin sich durch ein feines Verständnis für Unbewusstes und Symbolik als besonders geeignet für diese Aufgabe erweist.

Obwohl die Verf. am Schlusse erklärt, dass von einer „Wiederkehr des Gleichen“ in der Geschichte keine Rede sein könne, ist sie durchaus undialektische Romantikerin, und ihre Polemik gegen den historischen Materialismus, den sie mit dem bürgerlichen Rationalismus verwechselt, ist oberflächlich. (Erich Fromm, Berlin)

Buchbesprechung von Otto Heller:
„Der Untergang des Judentums“

(1932e)[8]

Auf den ersten 48 Seiten versucht der Verfasser eine Analyse der jüdischen Entwicklung in der Antike.

Sie (die Juden) sind durch den natürlichen Produktionsfaktor des geographischen Raumes, innerhalb dessen sie sich zur Nation entwickelten, durch die Produktionsverhältnisse des gesamten damaligen, um das östliche Mittelmeerbecken gelagerten Wirtschaftskreises, zu einem Handelsvolk geworden. (...) Die Auflösung verhinderte den Untergang der Juden, die fortan eine durch die Reste ihrer Nationalität, vor allem und entscheidend durch ihre Religion gekennzeichnete Kaste waren. (...) Verlor die Religion mit dem Erlöschen jener Funktion ihre soziale Kraft, musste auch die Schicksalsstunde der jüdischen Kaste schlagen.

Angesichts des fast völligen Fehlens von Vorarbeiten wird man vom Verfasser gewiss nicht eine überzeugende historisch-materialistische Analyse der jüdischen Antike auf 48 Seiten verlangen können. Seine Thesen sind schematisch und geben eine Reihe von Behauptungen (wie etwa die der originären Handelsfunktion der Juden) mit einer Sicherheit, die durch Umfang des zugrunde liegenden Materials und Gründlichkeit seiner Bearbeitung nicht gerechtfertigt wird. Es wäre besser, wenn der Verf. dies selbst erkannt und betont hätte. Je näher er aber der Gegenwart kommt, desto ausführlicher, gründlicher und fesselnder wird das Buch. In ganz ausgezeichneter Weise und dokumentarisch ausführlich belegt, gibt der Verf. nach einer Schilderung der Lage der Juden im Osten bis zur Revolution eine Darstellung der theoretischen und praktischen Grundlagen der Behandlung der Judenfrage durch die Sowjetregierung. H[eller] gibt ein Bild der in schnellem Tempo vor sich gehenden Berufsumschichtung der etwa drei Millionen Juden der Sowjetunion, wobei bemerkenswert ist, dass der ursprüngliche Zweig des Produktivierungsprozesses, die landwirtschaftliche Ansiedelung der Juden, heute bereits durch die Industrialisierung eingeholt ist. Der Jude wird Arbeiter und Bauer, und die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung lebt schon jetzt von Lohnarbeit. Das Buch bringt auf den letzten hundert Seiten einen sehr fesselnd geschriebenen Bericht einer Reise durch die jüdischen Siedlungen.

Unverständlich bleibt der Titel des Buches. Die vom Verf. dargestellte Politik der Sowjetunion geht ja davon aus, dass die Juden als Nationalität, auch nach Erlöschen ihrer Funktion als Handelskaste, die Möglichkeit des Fortbestandes haben. Der Titel ist [X-043] der Ausdruck einer theoretischen Inkonsequenz und Unklarheit des Verf. in Bezug auf eine wichtige Seite des Juden- und Nationalitätenproblems. Es wäre erfreulich, wenn Verf. in einer nächsten Auflage zur Aufhellung der Widersprüche käme. (Erich Fromm, Berlin)

Buchbesprechung von Maria Dorer:
„Historische Grundlagen der Psychoanalyse“

(1932f)[9]

Die Arbeit unternimmt den Versuch einer geistesgeschichtlichen Einordnung der Freudschen Theorie durch den Nachweis der geistigen Einflüsse, die auf Freud eingewirkt haben. Es werden zunächst die psychologischen Grundbegriffe Freuds an Hand seiner – vor allem früheren – Schriften herausgearbeitet, dann versucht, ein Bild der wissenschaftlichen Persönlichkeit Freuds, der wissenschaftlichen Welt Wiens 1870-1900 und speziell von Freuds Lehrern und Freunden zu geben. Die Verf. kommt zu folgendem Resultat (S. 170):

Das wichtigste Resultat (...) lässt sich (...) dahin formulieren, dass zwischen der Psychologie Freuds und jener Herbarts tatsächlich ein konkreter, ein realer Zusammenhang besteht. Und zwar geht die historische Linie, schematisch gesprochen, von Herbart über Griesinger zu Meynert, von Meynert aber zu Freud.

So wichtig die Fragestellung, von der die Arbeit ausgeht, ist und so gründlich und korrekt auch vorgegangen wird, so kann das Ergebnis im Ganzen doch nicht überzeugen; es erscheint zu sehr aus einzelnen Äußerungen konstruiert und zu wenig die großen Zusammenhänge berücksichtigend. (Erich Fromm, Berlin)

Buchbesprechung von Wilhelm Reich:
„Der Einbruch der Sexualmoral. Zur Geschichte der sexuellen Ökonomie“

(1933b)[10]

Reich ist einer der wenigen Autoren, die bei der Anwendung der Psychoanalyse auf gesellschaftliche Probleme keine Umbiegung der Theorie ins Idealistische vornehmen und damit mehrere Schritte zurück hinter die Ausgangsposition von Freud tun, sondern die im Gegenteil, auf den Ergebnissen der Freudschen Personalpsychologie und der Marxschen Soziologie aufbauend, zu neuen und fruchtbaren Ergebnissen für Soziologie und Psychologie kommen.[11]

Im 115 Seiten umfassenden ersten Teil des Buches erörtert Reich die Herkunft der Sexualverdrängung am Beispiel einer Gesellschaft mit noch stark mutterrechtlichen Zügen, der Trobriander, die durch B. Malinowski (1930/1979) hervorragend beschrieben worden ist. Auf dessen Angaben fußend, gibt Reich zunächst eine Darstellung des Sexuallebens der Jugendlichen bei den Trobriandern.

Mit Ausnahme des engen Kreises, in dem das Inzestverbot gilt, besteht keine sexualverneinende Moral, vielmehr entwickelt sich ein eindeutig bejahendes Ich und (...) ein sexualbejahendes Ich-Ideal (W. Reich, 1932/1972, S. 32).

Diese Freiheit im Sexuellen wird ergänzt durch den Mangel einer autoritären Einstellung seitens der Eltern überhaupt:

Mit dem Alter werden die von den Erwachsenen in jeder Hinsicht ermutigten sexuellen Beziehungen immer fester und dauernder und enden schließlich in der festen Dauerbeziehung einer Ehe. Als Folge der mangelnden Sexualeinschüchterung sieht Reich die Tatsache an, dass bei männlichen und weiblichen Trobriandern die volle sexuelle Erlebnisfähigkeit vorhanden ist und dass Neurosen und Perversionen bei ihnen unbekannt sind. Die von Reich auf Grundlage des Malinowskischen Materials hierfür angeführten Beweise scheinen uns allerdings bei weitem nicht ausreichend zu sein.

Eine Skizze der gesellschaftlichen Situation zeigt, dass der wichtigste Faktor im Rechtssystem der Trobriander die Vorstellung ist, dass einzig und allein die Mutter den Leib des Kindes aufbaue und dass der Mann in keiner Weise zu seiner Entstehung beitrage. Innerhalb der Unterklans, die von den engeren Blutsverwandten mütterlicherseits gebildet werden, herrscht ein strenges Inzestverbot. Der Mutterbruder ist das eigentliche Oberhaupt der Familie und die Autorität in der matriarchalischen Gesellschaft. [VIII-094]

Wirtschaftlich glaubt Reich, aus den Angaben Malinowskis das Vorhandensein eines Urkommunismus erschließen zu können, eine Behauptung, die aus dem vorliegenden Material jedoch nicht zwingend zu erweisen ist.

Eheschließung und Ehetrennung sind formlos und unkompliziert. Solange die Ehe aber dauert, bindet das Eheband fest und ausschließlich.

Jeder Bruch der ehelichen Treue wird auf den Trobriand-Inseln ebenso streng verdammt wie durch christliche Lehre und europäisches Gesetz; strenger könnte selbst die puritanischste öffentliche Meinung nicht sein. (B. Malinowski, 1930/1979, S. 93.)

Reich glaubt, dass es das wirtschaftliche Interesse des Mannes ist, dem letzten Endes die „entscheidend begründende Rolle nicht nur an der Eheschließung, sondern auch an der Herstellung und Erhaltung der Ehesituation“ zuzuschreiben ist (W. Reich, 1932/1972, S. 69). Mit der Eheschließung verbunden ist die Heiratsgabe, ein alljährlich zu liefernder Tribut der Verwandten, insbesondere der Brüder der Frau, an den Gatten. Diese Heiratsgabe ist nach Malinowski „das hauptsächlichste und ansehnlichste Erzeugnis der Gartenarbeit“ (B. Malinowski, 1930/1979, S.99). Die gesetzliche, wenn auch praktisch offenbar nicht so sehr häufige Art der Eheschließung ist die sogenannte Kreuz-Vetter-Basen-Heirat, die darin besteht, dass der Sohn des Bruders die Tochter der Schwester heiratet. Den Sinn der Erwünschtheit dieser Heiratsform sieht Reich in ökonomischen Tatsachen. Wenn der Sohn eines Bruders, der seine Schwester mit Heiratsgut versorgen muss, deren Tochter heiratet, so fließt dieses (da ja die Verwandten dieser Tochter deren Mann nun mit Heiratsgut versorgen müssen) wieder zum Bruder zurück.

Die besondere Bedeutung dieser Heiratsart liegt nach Reich in der durch sie erleichterten Vermögensakkumulation des Häuptlings, der durch seine vielen Frauen ein großes Vermögen anhäuft, das an seine Schwestern Weggegebene aber durch die Heiraten seiner Söhne wieder zurückerhält. Reich sieht in dem Rechtssystem der Trobriander die Vorstufe einer Klassenteilung: ein horizontales und ein vertikales „Ausbeutungsverhältnis“; horizontal in der Ausbeutung der Frauenbrüder durch die Gatten, vertikal in der stufenförmigen Zuspitzung der Macht in den „ranghöheren“ oberen Klans, in der Ausbeutung der Männer durch den Häuptling mittels der angeheirateten Frauen. „Die stets aktuelle Triebfeder ist das primitive Gewinnverhältnis durch das Heiratssystem“ (W. Reich, 1932/1972, S. 80).

Die Tatsache, dass die voreheliche sexuelle Freiheit bei den Trobriandern für alle gilt mit Ausnahme derjenigen Kinder, die zu einer Kreuz-Vetter-Basen-Heirat bestimmt sind, deutet Reich folgendermaßen: Von der Voraussetzung ausgehend, dass einerseits die Schädigung der genitalen Sexualität durch Sexualeinschüchterung in der Jugend ehefähig mache, dass andererseits die volle Entfaltung der Sexualität durch befriedigendes Sexualleben vor der Ehe zwar nicht Monogamie für gewisse Zeit, wohl aber die Fähigkeit zu Monogamie im kirchlichen und bürgerlichen Sinne zerstört, führt er die strengeren moralischen Anforderungen an die Kandidaten der bevorzugten Heiratsform auf die ökonomischen Funktionen dieser Eheform zurück.

Reich glaubt, dass so, wie bei den Trobriandern das rituelle Heiratsgut der Grundmechanismus der Verwandlung der mutterrechtlichen in die vaterrechtliche Organisation ist, es überhaupt einen soziologischen Mechanismus darstellt, der in der [VIII-095] Urgesellschaft beim Beginn der Klassenteilung das Ausbeutungsverhältnis zwischen Ausbeutendem und Ausgebeutetem schafft und so eine Vorstufe der Ware darstellt. Im Folgenden wird versucht, eine gleichlaufende Rolle des Heiratsgutes auch für eine große Anzahl anderer Stämme auf Grund von (uns allerdings nicht genügend erscheinenden) Analogieschlüssen zu beweisen.

Der zweite Teil des Buches handelt vom Problem der Sexualökonomie. Reich stellt in der geschichtlichen Entwicklung zwei ineinandergreifende Prozesse fest: einen vom Urkommunismus bis zum kapitalistischen Staat, den anderen von der natürlichen geschlechtlichen Freiheit und der gentilen Blutverwandtschaftsfamilie bis zur lebenslangen monogamen Ehe und der Einengung der genitalen Geschlechtlichkeit. „Mit dem Fortschritt der Produktionsgüter ging also ein Niedergang der sexualökonomischen Moral und Kultur parallel“ (W. Reich, 1932/1972, S. 150). Reich betont, dass nach marxistischer Auffassung die sexuellen Bedürfnisse zur „Basis“ des gesellschaftlichen Prozesses zu rechnen sind und dass es nur die privatwirtschaftliche Gesellschaft ist, die zwecks Aufrechterhaltung der Ehe und patriarchalischen Familie ein Interesse an der Sexualunterdrückung hat. Die seelischen Störungen sind der Ausdruck gestörter sexueller Ökonomie. Nach Wegfall der Warenwirtschaft wird an Stelle der sexualmoralischen eine sexualökonomische Regelung eintreten. In der Klassengesellschaft ist die Sexualmoral ursprünglich eine aus ökonomischen Gründen erfolgende Forderung der herrschenden Klasse an die Massen, wird aber dann von diesen innerlich reproduziert und als eigene Moral empfunden. Die Sexualmoral ist ein Beispiel der ideologischen Verankerung eines Wirtschaftssystems in der psychischen Struktur seiner Angehörigen.

In der konsequenten Hervorhebung dieses Gedankens, in der Überwindung jedes „Psychologismus“, in der klaren Einsicht, dass die Ursachen für eine bestimmte seelische Struktur nur im realen Lebensprozess der Individuen zu suchen und zu finden sind, das heißt also in ihrer sozialen und ökonomischen Situation; in dieser methodischen Grundeinstellung sowohl wie in vielen interessanten und geistreichen Einzelheiten liegt die Hauptbedeutung dieser Arbeit.

Vielem wird man im einzelnen widersprechen müssen. So erscheint es unverständlich, dass als Grundmechanismus der Ausbeutung und Klassenscheidung das Heiratsgut angesehen wird. Der Häuptling erhält zwar sein ökonomisches Übergewicht vor allem infolge des Monopols der Polygamie. Es ist aber nicht einzusehen, wieso das Heiratsgut bei allen übrigen mehr als eine individuelle Vermögensverschiebung darstellen soll, die sich, gesellschaftlich gesehen, ausgleicht und auch individuell betrachtet durch die Kreuz-Vetter-Basen-Heirat wieder wettgemacht wird, was ja Reich gerade sehr geistreich und einleuchtend feststellt. (Auch die moderne Mitgift, die man zum Vergleich heranziehen kann, stellt sehr wohl ein wichtiges ökonomisches Motiv der Ehe dar, aber ein individuelles, und sie ist gewiss nicht der Hebel der Ausbeutung und Klassenbildung.)

Von hier erhebt sich ein prinzipieller Einwand gegen den Reich’schen Standpunkt. Es ist völlig richtig, in einer Rechtsinstitution wie der Kreuz-Vetter-Basen-Heirat und dem Heiratsgut ökonomische Motive zu vermuten. Es ist aber umgekehrt eine Überschätzung eines Teils des juristischen Überbaus, den Heiratsgut und Eheform darstellen, wenn man sie als den Grundmechanismus der Überleitung [VIII-096] vom Mutterrecht zum Vaterrecht, vom gentilen Urkommunismus zur Anhäufung von Reichtum ansieht. Wenn Reich meint, dass Eheschließung und Heiratsgut in der Urgesellschaft beim Beginn der Klassenteilung ebenso ein Ausbeutungsverhältnis herstellen wie der Kauf der Ware Arbeitskraft den Mechanismus der kapitalistischen Akkumulation bildet, so spricht er einer Erscheinung des gesellschaftlichen Überbaus eine Bedeutung zu, die nur in der Sphäre der Produktionsverhältnisse selbst zu suchen ist. Die Frage nach den Ursachen der Entwicklung zur monogamen Ehe und zur damit verknüpften Sexualverdrängung kann nur aus der Kenntnis der Produktionsverhältnisse und der sich aus ihrer Dynamik mit Notwendigkeit ergebenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen beantwortet werden. Gewiss reicht das von Malinowski in dieser Hinsicht gebotene Material bei weitem nicht aus, um eine Lösung dieser Frage zu ermöglichen.

Noch ein anderer prinzipieller Einwand sei kurz erwähnt: Wenn Reich davon spricht, dass dem Fortschritt der Produktion ein Niedergang der Sexualkultur parallel ging und die „natürliche“ Sittlichkeit der Primitiven rühmt, so scheint uns hier eine gewisse undialektische Vereinfachung vorzuliegen und vor romantischen Tendenzen zu warnen zu sein.

Trotz dieser prinzipiellen Einwände und mancher uns unrichtig oder widerspruchsvoll erscheinenden Einzelheiten machen der Mut und die Konsequenz, mit der Reich seine großen klinischen Erfahrungen und Kenntnisse auf dem Boden der einmal von ihm erkannten materialistischen Grundlinie anwendet, das Buch zu einer wichtigen und anregenden Bereicherung der noch in den Anfängen stehenden analytisch-marxistischen sozialpsychologischen Literatur.

Buchbesprechung von Fedor Vergin:
„Das unbewusste Europa. Psychoanalyse der europäischen Politik“

(1933c)[12]

Der Verfasser behandelt eines der interessantesten und aktuellsten Themen analytischer Sozialpsychologie.[13] Die neugierige Erwartung des Lesers wird noch erhöht, wenn er außer vom Titel auch noch vom Inhaltsverzeichnis Kenntnis nimmt. Militarismus, Monarchismus, religiöse Politik, Parlamentarismus, deutscher Vor- und Nachkriegsnationalismus, Nationalismus anderer Völker, Zionismus, Paneuropa, Bolschewismus, Sozialismus sollen auf ihre verborgenen psychischen Hintergründe hin untersucht werden. Die Analyse Mussolinis, Poincarés, MacDonalds, Masaryks und noch eine Reihe anderer Politiker wird uns versprochen und in einem Schlusskapitel „Prognose und Therapie“ soll ein Ausweg aus allen politischen Schwierigkeiten gezeigt werden.

Wie geht der Verfasser vor? Er beginnt mit einer ganz richtigen Feststellung:

Da die Politik sich mit Menschen beschäftigt, ist es wichtig in Erwägung zu ziehen, inwieweit die Psyche des Menschen in der Politik entscheidend wirkt. (S. 12)

Anschließend an diesen Satz überrascht er uns mit einer fulminanten Feststellung:

Für die Politik ist fast alles aus den Lehren der Psychoanalyse bedeutsam. Sowohl wissenschaftlich, also theoretisch, als auch praktisch wird die Politik gänzlich umlernen müssen, sowie die Psychoanalyse in die politische Betrachtungsweise Eingang gefunden hat. Dies ist in diesem Buch auf verkürzter Basis geschehen. (S. 12)

Und weiter:

Seele, im Sinne der Psychoanalyse, bedeutet die Summe der Kräfte, die den lebenden Zellen des menschlichen Gesamtorganismus entstammen und die sich durch Symptome allein kundgeben (!). (S. 12)

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959121989
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Buchbesprechung
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Titel: Buchbesprechungen