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Judentum und Religion

©2016 82 Seiten

Zusammenfassung

Neben den Religionsschriften ‚Psychoanalyse und Religion‘ und ‚Ihr werdet sein wie Gott‘ gibt es zahlreiche kleinere Beiträge zu Fragen der Religion, die alle in diesem Band enthalten sind. Den Beginn machen die frühesten Veröffentlichungen Fromms von 1918 bis 1927, die sich alle mit Fragen des Judentums beschäftigen. In ihnen geht es vor allem um die soziale und politische Dimension des Religiösen, wie sie in den zionistischen Jugendorganisationen diskutiert wurden, deren Mitglied Fromm für ein paar Jahre war.

Die Abkehr von der jüdischen Vaterreligion im Jahr 1926 besagt nicht das Ende von Fromms Interesse am Religiösen – trotz der massiven Kritik, die Fromm von da an an der Religion übte. Das Interesse artikuliert sich nun in einem Humanismus, der säkular und nicht-theistisch ist, und doch in der Tradition der mystischen Religiosität steht. Und es äußert sich im Kontakt mit großen humanistischen Persönlichkeiten wie etwa Rumi, Adolf Leschnitzer, Albert Schweitzer oder Danilo Dolci.

Die Beiträge im Einzelnen
- Zur Tagung der Agudas-Jisroel-Jugendorganisation
- Nachruf auf Adolf Lissauer
- Verbindung Jüdischer Studenten „Achduth”, Frankfurt am Main
- Traditionelles Judentum und Zionismus
- Die Amsterdamer Weltkonferenz des Misrachi
- Zum Misrachi Delegiertentag
- Ein prinzipielles Wort zur Erziehungsfrage
- Rabbiner Nobel als Führer der Jugend
- Wohin führt der Weg?
- Brief an den außerordentlichen Kartell-Tag des Kartells Jüdischer Verbindungen (KJV)
- Der Sabbat
- Glaube als Charakterzug
- Zum Geleit. Festgabe für Adolf Leschnitzer
- Vorwort in: A. R. Arasteh „Rumi the Persian“
- Einige post-marxsche und post-freudsche Gedanken über Religion und Religiosität
- Die Zwiespältigkeit des Fortschritts. Zum 100. Geburtstag von Albert Schweitzer
- Die Bedeutung des Ehrwürdigen Nyanaponika Mahathera für die westliche Welt
- Über Danilo Dolci
- Religion und Gesellschaft
- Gibt es eine Ethik ohne Religiosität? Antworten Erich Fromms auf ein Referat von Alfons Auer

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zur Tagung der Agudas-Jisroel-Jugendorganisation

(1918a)[2]

Vor kurzem fand in Würzburg der Bundestag der Agudas-Jisroel-Jugendorganisation statt.[3] Ein Hauptthema der Verhandlungen bildete die Stellung der Agudoh zum Zionismus und die spezielle Frage, ob Zionisten Vorstandsmitglieder von Agudoh-Jugendgruppen werden könnten. Als die Zionisten sahen, dass ein diese Frage bejahender Antrag abgelehnt würde, verzichteten wir auf die Abstimmung und entgingen so der Notwendigkeit, den Bruch mit der Agudoh zu vollziehen. Es könnte nun aber auf zionistischer Seite diese Politik missbilligt werden und der Gedanke auftauchen, dass bei der antizionistischen Stimmung der Agudoh nun der Kampf gegen diese beginnen müsse. Ich halte es für notwendig, vor einer solchen Auffassung aufs Eindringlichste zu warnen und die Taktik der Agudoh-Zionisten auf dem Bundestag zu verteidigen.

Da ist zunächst zu sagen, dass für uns gesetzestreue Zionisten die Agudoh eine viel zu wichtige und auch notwendige Institution ist, als dass uns ihr Schicksal gleichgültig sein könnte oder wir ihren Untergang mitansehen möchten. Denn so sehr der Zionismus für die äußere Politik des jüdischen Volkes notwendig ist, ist für uns Gesetzestreue die Agudoh für die innere kulturelle Arbeit ein unbedingtes Erfordernis. Wir können und wollen keinen Augenblick darauf verzichten, die gesetzestreue Jugend in gleichgesinntem Kreise in den Geist der Thora einführen zu lassen und sie zu wappnen gegen die Gefahren, die ihr überall, nicht zum mindesten leider auch im Zionismus drohen. Wenn uns so die Agudoh, weil sie großen Einfluss auf das Geschick des gesetzestreuen Judentums überhaupt zu nehmen imstande ist, aufs Allernächste angeht, wollen wir auch, dass sie in den Anschauungen geleitet wird, die wir für die richtigen halten, und nicht in dem radikal-separatistischen Sinne der jetzigen Führer, insbesondere des gegenwärtigen Vorsitzenden, Direktor Dr. Lange, Frankfurt a.M. Diese Leitung würde jedoch unbedingt an der Herrschaft bleiben, wenn die Opposition, das sind wir Zionisten und eine Anzahl Nicht-Zionisten, die in diesem Punkte auf unserem Standpunkt stehen, aus der Agudoh austreten würde. Es ist im Gegenteil die begründete Aussicht vorhanden, dass bei weiterer kräftiger Opposition die heutige Leitung in absehbarer Zeit einer weit gemäßigteren, [X-002] dem Zionismus mehr Verständnis entgegenbringenden weichen wird. Es muss selbstverständlich auch für die nicht gesetzestreuen Zionisten von höchstem Interesse sein, welchen Weg die Organisation eines großen Teiles des jüdischen Volkes einschlägt.

Endlich ist noch ein letzter Punkt zu beachten. Würde der Zionismus und auch das K. J. V. [Kartell Jüdischer Verbindungen] eine Kampfstellung zur Agudas-Jisroel-Jugendorganisation einnehmen, so müssten wir fast ganz auf den Zuzug aus orthodoxen Kreisen verzichten. Es würde den Kindern orthodoxer Eltern die Gegnerschaft zum Zionismus, wie etwa die zur Neologie, schon anerzogen werden, und diese Kinder würden vor die Alternative Zionismus oder gesetzestreues Judentum gestellt werden. Ganz abgesehen davon, dass diese Alternative schon an und für sich äußerst traurig ist, würde sie die Mehrzahl der Gesetzestreuen am Eintritt ins K. J. V. und an der Zugehörigkeit zum Zionismus hindern.

Es sei noch erwähnt, dass die Stellung der gesetzestreuen Zionisten und Kartellsmitglieder bei einer Kampfstellung des Zionismus und des Kartells gegen die Agudoh außerordentlich erschwert, ja fast unhaltbar würde.

Ich richte also an alle Bundesbrüder die dringende Bitte, nicht in einen Kampf gegen die Agudoh einzutreten, sondern es den gesetzestreuen Zionisten zu überlassen, in ihr für eine Besserung zu sorgen. Zur Verbreitung des Zionismus in gesetzestreuen Kreisen und damit als Keilmittel für das Kartell, schlage ich die Gründung und tatkräftige Unterstützung von Misrachi-Jugendgruppen seitens der gesetzestreuen Bundesbrüder und Zionisten vor. Damit können wir Kreise, die dem Zionismus hauptsächlich deshalb ablehnend gegenüberstehen, weil er „die Religion für Privatsache erklärt“, und die dieses Argument dem Misrachi gegenüber nicht zur Anwendung bringen können, für uns gewinnen. Es soll damit selbstverständlich keine Spaltung oder gar Konkurrenz gegen schon bestehende zionistische Jugendgruppen bewirkt werden, sondern die Misrachi-Jugendgruppen sollen mit den zionistischen Jugendgruppen zusammenarbeiten und an deren Kursen, Vorträgen usw. teilnehmen. Sie brauchen durchaus nicht viel gesonderte Arbeit zu leisten, sie sollen nur mehr rein äußerlich das Vorhandensein eines gesetzestreuen Zionismus dokumentieren und so auf weiteste Kreise der Orthodoxie einwirken.

Nachruf auf Adolf Lissauer

(1918b)[4]

Wenn man mir noch vor zwei Monaten, als wir fröhlich zusammen im Hamburger Kurpark saßen, gesagt hätte, dass ich auf dich, geliebter Freund[5], so bald einen Nachruf schreiben müsste, ich hätte eher an das Unmöglichste glauben können; und nun ist es zur Wahrheit geworden, in unfassbarem Schmerze stehen alle, die dich gekannt, dem unbegreiflichen Geschicke gegenüber. Noch glaube ich dein freundliches, liebes Lachen zu hören, noch unser eifriges Diskutieren über Judentum, Zionismus und Kartell.

In kurzen Strichen will ich Adolf Lissauers Grundansichten über Judentum und Zionismus hier niederlegen. Der Grundzug seines Wesens war seine Religiosität, sein tiefer, unerschütterlicher Glaube. Damit verband er tiefstes Verständnis für das Wesen der jüdischen Religion, mit all ihren Gesetzen und Vorschriften. Er wusste, dass sie alle dazu bestimmt sind, unser Leben zu versittlichen, es mit dem Rhythmus des Gottesgedankens, des Wahren und Edlen zu erfüllen; und so hielt er alle Vorschriften aufs Genaueste, war er einer der Gesetzestreuen, denen das Gesetz nicht leere Form, sondern von heißer Inbrunst erfülltes Mittel zum Höherstreben und für Vollendung ist. Noch in seinem letzten Briefe schrieb er mir:

Die Einheit, die mir vorschwebt, brauche ich nicht zu suchen, nur zu verstehen und begreifen. Es ist die göttliche Einheitsidee. Alles sei gerichtet auf diese Idee, jede Tat ihr untergeordnet, jedes Handeln zu ihrer Erfüllung, jeder Gedanke von ihrem Geist. Gott ist eins, und der Mensch, der sich ihm nähert, muss von dem Glanze dieser einzigen einen Einheit erfüllt werden. Eins ist Gott, eins ist die Thora und eins kann der Mensch werden. Hat der Mensch den Geist Gottes aufgenommen, der in der Thora glänzt, so wird er seine Aufgabe erfüllt haben und dem Gotte, in dessen Ebenbilde er geschaffen, im Wesen, im Sein auch ähnlich werden. Dann schließt sich der Kreis der dreifachen Einheit zu der höchsten, ursprünglichen Gotteseinheit auf Erden. Gott, Thora, Mensch!

Sein gesetzestreues Judentum ging ihm über alles, und nur Mittel zu diesem Zweck war ihm der Zionismus. Er sollte nach seiner Ansicht, rein praktisch-politisch, [X-004] nur die äußeren Grundlagen für das Fortbestehen des jüdischen Volkes schaffen, dessen Aufgabe es ist, ein heiliges, ein Gottesvolk zu sein, ohne sich selbst in die kulturelle Entwicklung einzumischen. Für das Kartell war er immer gegen eine Übertreibung des Korporativen und vor allem auch ein Gegner der Satisfaktion. Vieles hätte er uns noch geben können, doch Gott hat es anders bestimmt. Nur die Erinnerung ist uns geblieben und sie ist herrlich und unvergesslich. Wisst ihr noch, wie er so fröhlich lachen konnte, wie er immer so hilfsbereit und freundlich einem jeden Menschen gegenübertrat mit fast übertriebener Bescheidenheit und Rücksichtnahme? Das Judentum und der Zionismus haben einen ihrer Treuesten, das Kartell eines seiner liebsten Mitglieder, ich habe meinen besten, über alles geliebten Freund verloren. Sein Andenken sei zum Segen!

Verbindung Jüdischer Studenten „Achduth”, Frankfurt am Main

(1919a)[6]

Bei der Gründung der V[erbindung] J[üdischer] St[udenten] Achduth[7] handelte es sich nicht um eine Trennung aus sachlichen und persönlichen Differenzen, sondern um eine Teilung aus arbeitstechnischen Gründen. In Anbetracht der großen Anzahl von Bundesbrüdern in Frankfurt (etwa 80) erschien es ratsamer, die schon jüdisch vorgebildeten zu einem besonderen Arbeitsprogramm in der Achduth zu vereinigen. Es soll uns eine lebendig wirkende Einheit mit dem K[artell] J[üdischer] V[erbindungen] und besonders mit der Saronia verbinden. Jedes Zerstören dieser Einheit würde das Zerstören des höchsten zionistischen Prinzips bedeuten, wäre der Beginn des Unterganges der national-jüdischen Jugendbewegung in Deutschland.

Mit der Saronia sollen uns nicht nur die engsten persönlichen Beziehungen verknüpfen, sondern auch die Arbeit soll soweit als möglich gemeinsam sein. Für unsere Arbeit haben wir das Prinzip einer streng durchgeführten Individualisierung angenommen. Es wird in kleinen Arbeitsgruppen zusammen gearbeitet, die aus Bundesbrüdern bestehen, die auf dem betreffenden Gebiet etwa gleiche Kenntnisse aufweisen. Wir haben eine hebräische Arbeitsgruppe für Anfänger (Leiter: Liebrecht), für Fortgeschrittene (Leiter: Herr Porath innerhalb der hebräischen Sprachschule), für hebräische Lektüre und Konversation (Liebrecht); eine Gruppe für hebräische Grammatik (Dr. Rabin) soll in allernächster Zeit eingerichtet werden. Ferner haben wir eine Arbeitsgruppe für Jiddisch (Kinder), und für Geschichte des Zionismus (Fromm). Mit der Saronia gemeinsam haben wir einen Palästinakurs (Nürnberg) und Turnen im J. T. V. ([Jüdischer Turnverein] S. Levy). Samstag Mittag sind wir bei Kaffee und Kuchen alle auf unserer Wohnung und besprechen die Sidrah und Haftarah oder unterhalten uns über ein anderes interessantes Gebiet.

Im Ganzen arbeiten etwa 25 Bundesbrüder in der Achduth mit. Leiter der Verbindung sind David Liebrecht und Erich Fromm. Aktiv haben sich gemeldet: stud. rer. pol. Benno Kohn, stud. med. Manfred Stern. – Erich Fromm

Traditionelles Judentum und Zionismus

(1920a)[8]

Das Problem des traditionellen Judentums[9] ist nicht das der Religion, sondern das der Nation. Man kam erst dazu, den Begriff „jüdische Religion“ einzuführen, als man das wahre Wesen der jüdischen Nation vergessen hatte. Während wir bei europäischen Völkern Land und Sprache als sogenannte Objektivkriterien anzusehen gewöhnt sind, ist bei den Juden ein anderes Moment ein noch wesentlicheres Kriterium der Nation: das Gesetz. Die jüdische Nation wird durch den Einzelnen bindende Normen konstituiert, die viel engere und zentralere Bindungen sind als Land und Sprache. Ob das jüdische Volk heute noch die psychologischen Voraussetzungen einer „jüdischen Renaissance“ besitzt, ist nicht zu entscheiden; darüber aber kann kein Zweifel bestehen, dass von einer jüdisch-nationalen Renaissance nur dann die Rede sein kann, wenn die Wiederbelebung der historischen Realität einer durch Land, Sprache, Gesetz und Rhythmus geformten und gebundenen Nation erreicht ist. Unter Rhythmus ist nicht Inhalt und Anschauung, sondern Form und Einstellung verstanden. Er tritt uns bei jedem Volk als das sich gleichbleibende konstitutive Moment aller Manifestationen des Volksgeistes entgegen. Er ist der gleiche z.B. bei griechischer Philosophie, Poesie, bildender Kunst, untrennbar verknüpft mit jeglicher Lebensäußerung des griechischen Volkes, und gegenüber anderen Kulturen das unterscheidende Moment selbst bei Gleichheit des Stoffes.

Dass Übernahme fremdnationaler Kulturen unmöglich ist, liegt nicht an der Schwierigkeit der Übermittlung der Inhalte, sondern an der Unfähigkeit, im fremden Rhythmus mitzuschwingen. Als Israel noch ein gesundes Volk war, waren Definition wie Analyse seines Wesens gleichermaßen unnötig; mit Abnahme der Lebenskräfte trat Zersetzung ein und die Bestandteile, die die Nation gebildet hatten, fielen auseinander. Gesetz und Rhythmus aber, zu Eigenleben nicht geschaffen, wurden verselbständigt und unter die Kategorie „Religion“ gefasst. Was zum Begriff der Religion noch fehlte, wurde in Analogie mit dem Wesen anderer Religionen ergänzt. Quantität und Qualität dieser Ergänzungen waren wesentlich für die nun entstehenden religiösen Richtungen.

Die eine Richtung hielt die Summe der Normen für weiterhin verbindlich, empfand die Zerstreuung im Galuth als „Aufgabe“ und vergaß völlig, dass ein „heiliges Volk“ eben auch ein Volk ist und kein blutloses Schemen, [X-007] empfand nicht, dass dieses ganze Gesetz eben nur dann einen Sinn hat, wenn es die Lebensnorm eines lebendigen Volkes ist. Sie vergaß die Realität des Volkslebens und glaubte, die Realität vergessen bedeute eine Stärkung der Idee. Sie erstarrte, wurde „rechtgläubig“ und nannte sich Orthodoxie.

Die andere Richtung bewies besondere Verständnislosigkeit. Sie leugnete die Realität des Volkes und statuierte dafür die Realität (d.h. Behaglichkeit) des Einzelnen. Sie brachte es fertig, den wesentlichsten Teil der sogenannten Religion aus dieser zu entfernen, das Gesetz außer Kraft zu setzen und das Spärliche, was man noch von der Religion übrig ließ, in Verbindung mit dem zu einer Anschauung objektivierten Rhythmus (der doch nur Sinn als Einstellung des lebendigen Volkes hat), mit der Aufschrift „jüdischer Liberalismus“ zu versehen und obendrein noch zu erklären, diese „Religion“ sei die Religion der Propheten, sei Gegenstand der jüdischen Mission, ebenso wie sie auch das Bindeglied zwischen den zerstreuten Teilen der Judenheit sei.

Volksnorm war zur Religion geworden; was blieb denen, die diese „Religion“ ablehnten, anderes übrig, als das, was man ihnen gelassen hatte: die Nation? Auch ihr mussten in Analogie mit der europäischen Nation die noch fehlenden Momente hinzugefügt resp. die scheinbar überflüssigen genommen werden, und man kam zum formalen Nationalismus, der so weit geht, dass er ganz die petitio principii vergisst, die darin steckt, Land und Sprache als Objektivkriterium den Subjektivkriterien der Inhaltsnationalisten beweiskräftig entgegenstellen zu wollen, während doch offenbar für das jüdische Volk im jetzigen Augenblick Land und Sprache ebenso subjektiv wie Inhalte sind, und nur dann die Beweisführung richtig wäre, wenn zuvor der Beweis erbracht würde, dass der Begriff der Nation überhaupt nur durch Land und Sprache definiert werden kann.

Andere wieder empfanden die zentrale Bedeutung des Volkes. Aber sie suchten, es mit bestimmten Inhalten (meistens auch objektiviertem Rhythmus) zu verknüpfen und diese als Kriterien des Volkes hinzustellen, und sahen nicht, dass Inhalte niemals Kriterien sein können, soll nicht der Begriff national-schöpferischer Kultur überhaupt geleugnet werden.

Da ertönte eine neue Stimme – allen merkwürdig und vielen unverständlich –, die sagte: Es gibt keine jüdische Religion, es gibt nur eine jüdische Nation. Das Gesetz Gottes ist durch Volksbeschluss angenommen, und wie auch immer der Einzelne innerlich zu ihm steht, solange er sich zur Nation rechnet, ist er wie jeder andere Sohn seines Volkes an das Gesetz gebunden. Diese Anschauung musste deshalb so starken Eindruck machen, weil sie scheinbar von der oben festgestellten Alleinherrschaft der an das Gesetz gebundenen Nation ausgeht und durch ihre völlige Ablehnung des Zionismus die Passiven und nur Geschäftigen für sich gewinnen kann.

Doch nur scheinbar ist die „Religionsnation“ mit der oben als Vereinigung von Volkskörper mit Form und Rhythmus dargestellten historischen Realität des jüdischen Volkes identisch. Hatten die Orthodoxie Hirschs und ganz und gar die Reform nur den einen Bestandteil jüdischen Volkstums, das Gesetz resp. den Rhythmus zur Religion gemacht und damit assimiliert, hatten die andern dasselbe mit der Nation unternommen, so nahm man nun beide [X-008] Begriffe nicht in ihrer ursprünglichen Eigenart als Volkskörper und Norm, sondern assimiliert und abgewandelt als „Nation“ und „Religion“, und kam zum Begriff der „Religionsnation“. Die Konsequenz des prophetischen Nationalismus, des prophetischen Bundesbegriffes war die Forderung der moralischen Politik. Die Konsequenz der Breuer’schen „Religionsnation“ ist die Forderung der Vereinigung von Staat und Kirche.

Vielleicht ist es auch mehr Verbundenheit mit der „Kirche“ als Nachwirkung alter Anschauung und Konzession an die Terminologie des Lesers, wenn Breuer der durch Gott erfolgten sinaitischen Gesetzgebung als historischem Faktum so wesentliche Bedeutung zumisst, während doch offenbar dieses Moment in seinem ganzen System keinen irgendwie passenden Platz finden kann. Denn kommt es darauf an, dass das Gesetz für den Einzelnen verbindlich ist, weil es das Volk durch Volksbeschluss angenommen hat und nicht, weil er persönlich an irgendetwas glaubt, ist es zunächst auch gleichgültig, wer Verfasser und Urheber des Gesetzes ist.

Breuer betrachtet das objektive Verhältnis des Volkes und des Einzelnen zum Gesetz und kommt zum Resultat der unlösbaren Verknüpftheit des Volkes mit der Volksverfassung, d.h. dem Gesetz. Er übersieht aber, dass hiermit nur eine Frage bearbeitet ist, dass aber die zweite, die für das Leben und für die Entscheidung des Einzelnen die viel wichtigere ist, unbeantwortet bleibt, nämlich das subjektive Verhältnis zum Gesetz. Er vergisst, dass niemals der Einzelne oder das Volk an die Göttlichkeit oder Verbindlichkeit des Gesetzes glauben würde, wenn es nicht mit seinem Inhalt primär verbunden wäre und dass im Gesetz selbst die Gründe für seine formal objektive Stellung liegen müssen, es sei denn, dass es mit Gewalt erzwungen werden kann.

Breuer statuiert das, was als Ziel zu fordern ist, als Voraussetzung, und er verneint damit den Begriff der Nation im Innersten. Er sieht nicht, dass es allen Dingen gegenüber zwei Betrachtungsweisen gibt, eine, die die Erscheinungen „letzten Endes“ betrachtet, d.h. vom Standpunkt des Menschen, der einen Augenblick von seiner Arbeit ausruht und neue Kraft in dem Bewusstsein und der Hoffnung auf ein glückliches Ende schöpft, und eine zweite, die vom Standpunkt des aktiven, schaffenden Menschen ausgeht, der sieht, dass „das letzte Ende“ durch „vorletzte Mittel“ erreicht werden muss. Beide Betrachtungsweisen können nebeneinander vorhanden sein. Ein verhängnisvoller Fehler ist es jedoch, sie zu vertauschen, aktuelle Aufgaben „letzten Endes“ zu betrachten und umgekehrt. Diesen Fehler begehen Breuer und die ganze Orthodoxie, wenn sie ihre Mitarbeit im Zionismus deshalb verweigern, weil er die Voraussetzungen nicht erfüllt, die doch gleichzeitig auch letzte Ziele sind. Sie nehmen für sich den prophetischen Gedanken des schear jaschub [der Rest Israels wird zurückkehren] in Anspruch und sehen nicht, dass das Resultat letztlich ein Rest sein wird, dass unsere Arbeit von vornherein aber sich auf alle erstrecken muss. Die Orthodoxie entfernt sich damit weit, weit von den Wegen, die unser Volk und seine Großen immer geschritten sind, für die der Jude, wie er auch immer zum Gesetze stand, Jude und Bruder blieb. Und wenn heute unserm Volk eine Generation erwächst, [X-009] die mit der ganzen Glut ihrer Seele zum Ziele der Erlösung unseres Volkes hinarbeitet und nur deshalb zum großen Teil losgelöst von den Normen unseres Volkes lebt, weil sie in Entfremdung vom Judentum aufgewachsen ist, so heißt es, jeden jüdischen Gefühls bar sein, wenn man sie teilnahmslos ihren Weg ziehen lässt und sein Interesse in Bannflüchen bekundet. Die Orthodoxie sieht, dass der zionistische Nationalismus dem wahrhaft jüdischen Nationalismus in vielem nicht gerecht wird. Sie besitzt aber nicht mehr die Elastizität, mitzuwirken und zu ändern, und so zieht sie sich grollend zurück. Die Orthodoxie glaubt, „den jüdischen Weg“ zu haben. Die zionistische Jugend glaubt, dass es auf den jüdischen Willen ankommt und dass es nur Mutlosigkeit und Feigheit sein kann, wenn einer daran zweifelt, einer jüdischen Jugend, die als Voraussetzung nichts als den heißen jüdischen Willen hat, auch den jüdischen Weg zeigen zu können.

Orthodoxie und Reform kämpften gegeneinander und waren doch füreinander unangreifbar. Hatten sie doch beide gleichmäßig Unrecht und gleichmäßig Recht. Wenn die Reform sagte, dass die jüdische Religion und vor allem das Gesetz in seinem gegenwärtigen Zustand nicht auf die Dauer wie eine Mumie konserviert bleiben kann, und wenn sie mit viel Scharfsinn und Kenntnis bewies, dass das Gesetz immer einer Entwicklung unterlegen war, wenn die Orthodoxie glaubte, dass das ganze Gebäude krachend zusammenstürzen müsse, wollte man nur ein winziges Steinchen herausnehmen, – so mussten beide irren, weil sie nicht erkannten, dass das Gesetz nur dann allein Sinn und Berechtigung hat, wenn es die Norm eines lebendigen Volkes ist, dass Reform nicht heißen darf, einen toten Körper sezieren und ihm ein Glied nach dem anderen abschneiden, sondern dem Wachsen eines lebendigen Körpers aufmerksam zu folgen. Das Gesetz musste über kurz oder lang zugrunde gehen und alle Konservierungsversuche, die sich in das krampfhafte Dogma der Entwicklungslosigkeit kleideten, und alle Reform, die zur Sonntagskirche führen musste, konnte nichts helfen, wenn es nicht gelang, dem Gesetz, den Normen wieder das Subjekt zu geben, sie wieder herauszureißen aus ihrer unerträglichen Objektivierung „zu Religion“, das Volk wieder mit Leben zu füllen, und es so wieder organisch mit seinen Normen zu verbinden.

In diesem Augenblick höchster Gefahr entstand der Retter – im Zionismus. Zionismus ist keine Theorie und keine Anschauung. Er ist Leben, Einstellung, Formung. Er ist die Revolution des jüdischen Volkes, das plötzlich von der Erkenntnis durchschauert wurde, dass es zugrunde gehen müsse, wenn es sich nicht machtvoll zu neuer Tat aufraffe, und erkannte, dass es jetzt nicht auf Theorien ankommt, sondern allein auf Frische, Leben, Aktivität. Gerade die, die dem Abgrund schon am nächsten gestanden hatten, sahen ihn umso deutlicher und gerade aus ihnen erwuchsen die Führer. Man erkannte, dass nur Erez Israel das Land sein kann, wo das alt-neue Volk sein Leben wieder beginnen wird, und man verwandelte in die Tat, was der sehnsüchtige, gestammelte, geweinte Wunsch der Generationen des Galuth[10] war. Und die, die an die Bedeutung des Gesetzes glaubten, sie erkannten plötzlich: [X-010] Nur der Zionismus, nur das zu neuem Leben erwachte Volk ist imstande, das Gesetz zu verwirklichen, weil dieses Gesetz eben nur um des Volkes willen gegeben ist. Sie wussten, dass das Geschlecht, das außerhalb Erez Israels wohnt, nicht nur, wie der Talmud sagt, keinen Gott hat, sondern dass auch in Wirklichkeit Israel bald ein verlorenes heidnisches Volk sein müsste, und sie glaubten an die belebende Kraft Erez Israels, wie daran, dass, wenn wirklich dieses Gesetz Aufgabe und Sinn des Volkes bedeutet, es wieder wie Land und Sprache unlösbarer Bestandteil des zu neuem Leben erwachten Volkes werden muss.

Andere waren ungläubiger. Sie hatten sich in die vier Ellen der Halacha eingesponnen, sahen nicht die Not ihres Volkes, sahen nicht den Abgrund, weil sie noch etwas weiter von ihm entfernt waren, und alles Lebendige war schon so erstorben in ihnen, dass sie das neue Leben fürchteten und es mit dem Bann belegten. Sie glauben nicht mehr an die Kraft des Gesetzes, denn sonst könnten sie es nicht ertragen, abseits vom Volk zu stehen und es dem Zufall anheimzugeben, ob die, die heute noch fernstehen, auch morgen noch „Abtrünnige“ sein werden, wie man so selbstsicher und selbstgerecht sagt. Sie haben den Zusammenhang mit dem Volke verloren, und verzweifeln an seiner Zukunft. Ganz konnte sich die Orthodoxie den Wirkungen des Zionismus nicht entziehen, aber er löste in ihr nicht Aktivität, sondern nur Geschäftigkeit aus, und tote Ideen und tote Menschen wird sie nach Palästina bringen und sie dort begraben müssen, wenn nicht andere sie beleben.

Die Orthodoxie sieht nicht, dass nur dann Palästina ein Erez Israel werden kann, wenn das ganze Volk wieder gebunden und erfüllt wird von Gesetz und Rhythmus, und dass Beiseite-Stehen und Getrennt-Arbeiten dem Geist der jüdischen Vergangenheit ebenso widerspricht wie der Forderung der jüdischen Zukunft. Priester mögen vor dem Wirken die Wirkung berechnen, Propheten haben gerufen und werden immer rufen, weil sie rufen müssen, unbekümmert, ob man sie hört und wer sie hört. Propheten mussten beim heidnischen Opferfest des Volkes erscheinen und ihm das dröhnende „kehre zurück“ zurufen. Sie konnten nicht schweigen und nicht dem Untergang des Volkes zusehen. Die Orthodoxie kann schweigen. Mögen die, die den jüdischen Weg zu haben glauben, auch über den jüdischen Willen spotten. Wo ein Wille ist, wird auch ein Weg sein. Aber mancher Weg führt in den Abgrund.

Die jüdische Jugend, der es ernst ist mit dem Gesetz und der Zukunft des Volkes, wird erkennen, dass nur die einheitliche vom starken Willen getragene Jugendbewegung die Voraussetzung für die Erneuerung der Tradition bietet. Denn so nötig, wie die aus unjüdischen Milieus stammende Jugend die Inhalte der aus der Orthodoxie kommenden Menschen braucht, so notwendig ist diesen die Aktivität und Frische, die sie nur von jenen erhalten kann.

Denn mit dem Inhalt hat man auch durch die ununterbrochene Kontinuität die Einstellung des Galuth bewahrt und nur die Synthese von altem Inhalt und neuer Einstellung ist die Grundlage der Zukunft. [X-011]

Nicht gesagt zu werden braucht, dass es für junge, das heißt, ganz erfüllte Menschen ein unerträglicher Widerspruch ist, zionistisch organisiert zu sein, aber nicht innerhalb der zionistischen Jugendbewegung (nicht Organisation) zu leben und zu arbeiten. Es sei nicht verkannt, wie viel dafür spricht, in der orthodoxen Jugend zu wirken, aber trotz allem gibt es für den Zionisten nur eine Möglichkeit und eine Aufgabe: das Aufgehen in der zionistischen Jugendbewegung. Denn sonst würde er das tun, was die Orthodoxie zum dauernden Vorwurf erhebt: organisatorisch verantwortlich zu zeichnen für eine Bewegung, auf die man keinen Einfluss nehmen will und nimmt; er würde die Aufgabe des traditionellen Zionismus nicht verstehen.

Die Jugend, die wahrhaft an die Zukunft des Volkes und der Tradition, die an die Einheit von Gott, Israel und Thora glaubt, sie wird nicht nur organisatorisch verbunden, sie wird im Innersten ergriffen mitaufbauen im Kreise der vom gemeinsamen Willen getragenen jüdischen Jugend und der schöpferischen Erneuerung der Vergangenheit, die die Zukunft ist.

Die Amsterdamer Weltkonferenz des Misrachi

(1920b)[11]

Der offizielle Misrachi[12] feiert Amsterdam als Markstein in der Geschichte des Misrachi. Die zionistische Öffentlichkeit könnte darüber leicht vergessen, dass ein junger Misrachi diese Konferenz nicht feiert, da er einen großen Teil ihrer Beschlüsse für ebenso unvereinbar mit dem Geist des Zionismus wie mit Sinn und Aufgabe einer religiös-jüdischen Renaissance hält und er diese Konferenz nur in dem Sinne für einen Markstein in der Geschichte des Misrachi hält, weil sie der jüdischen Welt, und vor allem dem Zionismus, mit aller Deutlichkeit zeigt, dass zwei Geister im Misrachi miteinander ringen, und dass der Misrachi sich heute entscheiden muss, welchen Weg er gehen will, den, der den Zionismus zum aktiven Aufbau eines neuen, lebendigen, jüdischen Lebens führt, oder den, der zur Agudas Jisroel geht und der zur Erstarrung und vom Leben weg führt.

Der gesamte Misrachi sollte endlich erkennen, dass Zionismus die große Revolution des jüdischen Volkes ist, und dass es für eine Partei nichts Verhängnisvolleres und Frevelhafteres geben kann, als revolutionäres Programm und Gesinnung zur Schau zu tragen, Sitz und Stimme im Revolutionsparlament zu beanspruchen, in der neuen, erst durch die Revolution ermöglichten Verfassung mitarbeiten zu wollen — und trotzdem im tiefsten Grund Gegner jeder Revolution, bürgerlich durch und durch zu sein.

Ein seine Aufgabe wahrhaft verstehender Misrachi muss erkennen, dass die schöpferische Erneuerung der historischen Realität jüdischen Volkstums, dass die Wiedervereinigung des Volkes mit dem Gesetz, den ihm adäquaten Normen des Volks- und Individuallebens nur dann möglich ist, wenn man nicht eine bestehende orthodoxe Gruppe „erhalten“, sondern das ganze Volk mit seinem Geist erfüllen und beleben will, dass bei dieser Arbeit alles als Ziel, nicht als Voraussetzung beansprucht werden darf, und dass vor allem politische Mittel und Vereinbarungen, die sosehr an „Zentrum“ erinnern, uns diesem Ziel auch nicht einen Schritt näherbringen. Mag man heute auch mit Hilfe der Agudas Jisroel erreichen, dass in Erez-Israel der letzte „Jui“ des Schulchan Aruch durchgeführt wird, gelingt es aber nicht, die Gesamtheit des Volkes mit dem Wesen des traditionellen Judentums zu erfüllen, so wird das mit diesen mechanischen [X-013] Mitteln einer missverstandenen „Realpolitik“ errichtete Gebäude morgen desto radikaler krachend zusammenstürzen.

Es soll hier nicht versucht werden, das Wesen wahrhaft jüdischen Volkstums und seine Beziehung zum historischen Judentum zu untersuchen; nur soviel sei gesagt, dass ein Misrachi, für den soziale Gerechtigkeit eine „Selbstverständlichkeit“, für den wirtschaftliche Gleichheit nicht realste Forderung, für den Sozialismus außerhalb seines Programms steht und der meint, mit der Berufung auf die „alt-jüdische Zedaka“ seinen Teil für die soziale Gesundung der Gesellschaft beigetragen zu haben, weit, weit sich entfernt hat von den Wegen, die die Großen unseres Volkes immer geschritten sind, vom Wesen lebendiger, jüdischer Vergangenheit.

Der Beschluss, dessen praktische Durchführung zu den verhängnisvollsten Konsequenzen führen könnte, ist das an die zionistische Leitung gerichtete Ultimatum, das besagt, dass, wenn die Leitung dem Misrachi nicht innerhalb zweier Monate zwei voneinander völlig unabhängige Schulwerke konzediert, der Misrachi in Erez-Israel das Schulwerk unabhängig von der zionistischen Organisation in die Hand nimmt, gemeinsam mit anderen gesetzestreuen Organisationen. Es soll hier nicht über die Tatsache den Ultimatums noch auch darüber gesprochen werden, dass eine Trennung im zentralen Punkt des Aufbaus, im Schul- und Erziehungswerk, ein weiteres organisatorisches Verbleiben in der zionistischen Organisation sinnlos und auch wohl unmöglich machen würde. Vielmehr sei ein Wort der Frage des Schulwerks selbst gewidmet.

Zwei Schulwerke, ein orthodox-misrachistisches und ein liberal-zionistisches würden die Vernichtung der misrachistischen Aufgabe bedeuten, würden den Gedanken des traditionellen Judentums auf einen kleinen, heute noch orthodoxen Kreis beschränken, würden das Eingeständnis der eigenen Niederlage bedeuten. Aber auch vom nicht-misrachistischen Standpunkte aus wäre diese Lösung durchaus zu verwerfen. Denn es würde die Entwicklung des neuen Volkslebens mit der Konstituierung zweier Judentümer beginnen, würde die für die Zukunft absolut notwendige Kultureinheit des Volkes zur Unmöglichkeit machen, würde den Kampf zwischen Staat und Kirche, den wir in Europa fürchten gelernt haben, nach Palästina tragen. Aus allen diesen Gründen fordern wir, bei aller Freiheit der Eltern, extreme Schulgattungen ihrer Richtung zu errichten, die von wahrhaft jüdischem Geiste getragene Einheitsschule, die alle die vereinigen wird, die von der Heiligkeit und dem Ernst der jüdischen Aufgabe und von dem Glauben an die Kraft der besonderen Idee, die sie vertreten, erfüllt sind. Dann wird die Einheitsschule zum Einheitsvolk führen!

Keineswegs entsprechen die Amsterdamer Beschlüsse dem einmütigen Willen der Misrachi. Aufs Allerschärfste trat dort der Gegensatz zwischen Ost und West, zwischen den Vertretern unangekränkelten jüdischen Volkslebens und den in den Ländern wirklicher „Zerstreuung“ lebenden Vertretern hervor, und immer wieder suchten sich die polnischen Delegierten gegen die gefassten Beschlüsse zu wehren. Diese Beschlüsse können nicht als Ausdruck der Meinung der Misrachi gelten; denn so, wie sie unvereinbar sind mit dem Geist einer zionistischen Föderation, so geben sie auch tatsächlich nicht die Meinung des Gesamtmisrachi wieder. Der polnische Zeire-Misrachi wie auch die große Reihe der misrachistischen Jugend Deutschlands sind anderen Geistes. Die Amsterdamer Konferenz, die aus ernannten, nicht gewählten Vertretern sich zusammensetzt, auf der die russischen Misrachisten und vor allem die Jugend [X-014] nicht vertreten war, kann nicht als kompetente Sprecherin des Misrachi angesehen werden. Die zionistische Leitung wird das Recht und die Pflicht haben, in dieser so ungeheuer wichtigen, aber augenblicklich nicht akuten Frage, die Vorschläge eines demokratisch gewählten misrachistischen Weltkongresses einem zionistischen Weltkongress vorzulegen. Jede überhastete Entscheidung würde hier mehr noch als sonst zu den unglücklichsten Konsequenzen führen, für die im gegenwärtigen Augenblick keine Leitung die Verantwortung übernehmen kann.

Zum Misrachi Delegiertentag

(1920c)[13]

Der Delegiertentag des deutschen Misrachi[14] hat den von manchen noch geforderten Beweis des Lebens und der Existenz des Misrachi erbracht. In organisatorischer Hinsicht zwar war dieser Lebensbeweis wohl von niemandem verlangt worden, und es hätte nicht erst des Delegiertentags bedurft, um zu zeigen, welche Leistung es bedeutete, den fast ganz von der jüdischen Bildfläche verschwundenen Misrachi Ende 1918 neu zu organisieren und in diesen 1 ½ Jahren so auszubauen, dass er heute 25 Orts- und Jugendgruppen in ganz Deutschland besitzt und eine der Zahl nach bedeutsame Gruppe im deutschen Zionismus darstellt. Die spottende Frage der Gegner und die bange Sorge der Freunde eines traditionellen Nationalismus war aber, ob diese Organisation Misrachi auch wirklich eine zionistische Föderation ist, wie sie sich nennt, ob sie in geistigem, ideellem Sinne lebt, ob sie ergriffen ist von dem mächtigen Strome des Zionismus, oder ob sie vielleicht nur eine zweite Aguda mit anderer Taktik ist. In diesem Sinne hat der Delegiertentag die Entscheidung bringen müssen und hat sie gebracht.

Schon aus der lebhaften Opposition, die sich innerhalb des Misrachi gegen einen Teil der Beschlüsse der Amsterdamer Misrachi-Weltkonferenz erhoben hatte, sah auch die weitere zionistische Öffentlichkeit, dass im Misrachi zwei Kräfte miteinander ringen, die in ihrer ganzen Mentalität, in ihrer Auffassung vom Wesen des Zionismus, des traditionellen Judentums und vor allem in der Ansicht über die Mittel und Wege, die der Misrachi zur Erreichung seines Zieles, der Erneuerung des jüdischen Volkes im jüdischen Lande in seiner ganzen nationalen Eigenart und Besonderheit für nötig hält, grundverschieden sind. Diese beiden Gruppen standen sich auch auf dem Delegiertentag gegenüber und kämpften miteinander, und deshalb muss der Delegiertentag als so erfreulich angesehen werden, weil er gezeigt hat, wie diese Opposition, die von der gesamten Jugend und einigen Männern der älteren Generation, vor allem denen, die aus dem Zionismus zum Misrachi gekommen sind, gebildet wurde, aussieht, und dass sie es war, die dem Delegiertentag trotz einer zahlenmäßigen Minderheit um ganz wenige Stimmen den Stempel aufgedrückt hat. [X-016] Diese Gruppe betonte es immer und immer wieder, dass für sie Zionismus und Misrachi keine politische Zweckorganisation, sondern menschliche Einstellung, Weltanschauung ist, dass sie infolgedessen es ablehnt, das Ziel des Misrachi mit den Mitteln einer falsch verstandenen „Realpolitik“ erreichen zu wollen, sondern dies allein durch die innere Beeinflussung der jüdischen Gesamtheit für möglich hält; sie lehnt alles ab, was auch nur im entferntesten die Einheit der jüdischen Gemeinschaft gefährden könnte und ist entschlossen, in Gemeinsamkeit und innerer Verbundenheit mit dem gesamten Zionismus, vor allem der Jugend, das Werk des Aufbaus zu beginnen.

Diese Opposition betonte, dass das jüdische Gesetz in keiner Weise der „Religion“ Europas entspricht, dass es vielmehr nur durch das Galuth zu immer neuen Kompromissen gezwungen wurde, die zu einer Trübung seiner Reinheit führten, und dass nun beim Aufbau Erez-Israels die einzelnen Faktoren des Gesetzes wieder in ein richtiges Verhältnis zueinander gesetzt werden können und müssen. Sie forderte, dass vor allem der wirtschaftliche Aufbau in Bezug auf jedes Gebiet der Wirtschaft im Sinne der sozialen Gerechtigkeit erfolgen muss, und dass der Misrachi als Partei sich hier entscheiden und Stellung nehmen muss im Sinne des historisch-jüdischen Gemeinschaftsideals. Die Opposition wies mit Entschiedenheit darauf hin, dass es nicht angehe, aus dem traditionellen Judentum eine Alibifrage zu machen, sondern dass es Pflicht des Misrachi sei, die Probleme des traditionellen Judentums zu erkennen und aufzuzeigen und an die Fragen der wissenschaftlichen Bibelforschung wie der Wissenschaft überhaupt, der Entwicklung der jüdischen Tradition und manche anderen noch, die heute ein Noli-me-tangere der Orthodoxie sind, in positivem Sinne heranzugehen, denn wissenschaftliche Wahrheit, wie sie die leider oft tendenziöse und antisemitische Bibelkritik nicht immer darstellt, ist unverletzliche Errungenschaft unserer Zeit; nur für den gefährlich, der nicht innerlich mit dem jüdischen Gesetz, d.h. mit der nationalen Eigenart unserer Gemeinschaft verbunden ist.

Dass diese Gruppe es war, die dem Delegiertentag in geistiger Beziehung den Stempel aufdrückte, zeigt sich darin, dass durch sie, wohl zum ersten Male auf einem Misrachi-Delegiertentage, die Fragen der Bibel-Wissenschaft, der Entwicklung und die theoretischen Probleme überhaupt erörtert wurden, und dass die von ihr eingebrachten Resolutionen zur Frage des wirtschaftlichen Aufbaus und zur Kulturfrage (mit nur geringen stilistischen Änderungen) vom Delegiertentag angenommen wurden. Als besonders erfreulich muss die Kulturresolution gelten, die nach den Worten ihrer Einbringer etwas Neues für den Misrachi bedeutet und die als die kulturelle Tendenz des Misrachi „die schöpferische Erneuerung der jüdischen Nation in ihrer ganzen Eigenart“ bezeichnet. Auch die Resolution, die die „Durchsetzung“ (nicht „Berücksichtigung“) der sozialen Gerechtigkeit auf allen Gebieten der Wirtschaft fordert, ist warm zu begrüßen. An erfreulichen Ergebnissen der Tagung wäre noch zu erwähnen, dass die Gründung einer Misrachi-Bibliothek beschlossen wurde, die sich der Herausgabe hebräischer Werke widmen soll, und die Tatsache, dass einen, wenn auch nur kleinen, Teil der Verhandlungssprache das Hebräische bildete.

So stark der Gegensatz zwischen Alten und Jungen auch war, eines muss doch mit Freuden festgestellt werden: auch die alte Generation ist zionistisch. [X-017] Wenn sie im Zionismus zum Teil einen politischen Zweckverbund sieht, so aus ganz anderen Motiven heraus, als sie etwa bei der Gruppe Lewin-Weil vorliegen; wenn sie statt günstiger Einwirkung mechanische politische Mittel anwenden zu müssen glaubt, so deshalb, weil sie einen Teil ihrer Elastizität eingebüßt hat. Aber als alle, Alt und Jung, von der Nachricht über Erez-Israel in gleicher Weise erschüttert waren, da fühlte man, trotz der großen Verschiedenheiten, die herrschen: Ein Ziel eint alle, und niemals wird hier die Agudas Jisroel Freunde werben können. Alles in allem: Der Misrachi hat auf diesem Delegiertentag ein Gesicht gezeigt, das trotz seiner Verschwommenheit deutlich die zionistischen Züge erkennen lässt. Der Delegiertentag hat eine misrachistische Jugend gezeigt, die gewillt ist, innerhalb der zionistischen Jugendbewegung zu arbeiten und auch zu ringen; sie fordert von der zionistischen Jugend, dass sie ihr Misstrauen aufgibt und in brüderlicher Gemeinsamkeit mit ihr arbeitet am alt-neuen Ziel.

Ein prinzipielles Wort zur Erziehungsfrage

Erich Fromm und andere
(1922a)
[15]

Das Bild, das die zionistische Jugendbewegung in Deutschland[16] seit ihrem Bestehen bietet, ist das völliger geistiger (nicht organisatorischer) Anarchie. Es fehlt uns jede klare Zielsetzung für die innere Entwicklung. Wahllos und ohne dass man sich des dauernden Wechsels auch nur bewusst wird, schwanken wir von einer Lösung zur anderen. Vom Missverstehen der Gedankengänge Bubers kommt man zur radikalen Ablehnung alles Religiösen, von blinder Ostjudenvergötterung zur bewussten und ausschließlichen Bejahung deutschen Kulturgutes. Dem sozialistischen Ideal folgt die Forderung: Palästina unter allen Umständen auch kapitalistisch aufzubauen.

Dieser dauernde Wechsel zwischen entgegengesetzten Lösungen ist nur aus einem zu erklären: es fehlte der inneren Entwicklung der objektive Maßstab, der allein sowohl Stetigkeit garantiert hätte, als auch aus einem richtig verstandenen Zionismus hätte folgen müssen: Erkenntnis von Wesen und Eigenart des jüdischen Volkes.

Der eigenartige Vorgang, dass eine Jugend, die die nationale Erneuerung auf ihre Fahne geschrieben hat, sich in Wirklichkeit um die Forderung der Nation nicht kümmert, ist zwar psychologisch verständlich, aber deshalb nicht weniger verhängnisvoll. Für uns junge Menschen, die zum größten Teil aus einem dem Judentum völlig entfremdeten Milieu kamen, bestand (wie für einen großen Teil der deutschen Jugend, vor allem der Nachkriegszeit) der starke Drang nach Befreiung „aus unserer Gesellschaft“. Da man den Anschluss an die nichtjüdische Jugendbewegung nicht fand, ergriff man den zionistischen Gedanken, der Befreiung aus dem gesellschaftlichen Milieu und ein eigengesetzliches Leben in Palästina versprach, mit Hingabe und Begeisterung. Der Zionismus war Ausdruck einer negativen Loslösungstendenz von Familie und Schule, Palästina das Land, wo diese Loslösung sich am besten bewerkstelligen lasse, aber zum jüdischen Volk als einer in allen Farben konkreten Lebens schillernden Realität war keine Beziehung gewonnen, außer der im Grunde gleichgültigen, dass man zur ideologischen Begründung der Palästinaforderung die zionistische nationale Begründung übernahm. Diese Ideologie bildete in der Tat nie den Inhalt, den man vor der deutschen „inhaltslosen“ Jugendbewegung vorauszuhaben glaubte. Sie war nicht mehr als eine „Überschrift“. Diese negative Loslösungstendenz war psychologischer Antrieb zur nationalen Einstellung und ist so zu bewerten wie jede psychologische Verursachung eines zu bejahenden Erfolges. [X-019] Was aber verhängnisvoll werden musste, ist die Tatsache, dass man über diese aus der zufälligen, durch unsere gesellschaftliche und geistige Situation bedingten Anfangshaltung nicht hinauskam, dass der psychologische Antrieb selbständiges Ziel wurde, dass man nicht Mut, Kraft und Willen hatte, die Konsequenzen des ersten Schrittes auf dem Weg zum eigenen Volk hin zu ziehen.

Die zionistische Jugendbewegung ist an einem Punkte angelangt, wo nur gründliche, ernste Selbstbesinnung jedes Einzelnen über den Sinn seines jüdisch-nationalen Weges davor retten kann, den Weg für immer und endgültig zu verlieren. Diese Selbstbesinnung will und kann nur von denen vorgenommen werden, die den nationalen Weg wenigstens schon so weit gegangen sind, dass sie wissen, dass nicht die aus der Assimiliertheit eines jeden Einzelnen herrührenden individuellen Bedürfnisse, sondern nur eine Instanz über Zielrichtung und Eigenart der nationalen Jugendbewegung entscheiden kann: das jüdische Volk in seiner – physischen und geistigen – Totalität. Nur zu denen, die diese Vorbedingung aller nationalen Einstellung erfüllen, denen Schicksal des jüdischen Volkes und Beziehung zu ihm brennendes Lebensproblem ist, seien folgende Worte der Klärung gesprochen.

Zuvor jedoch muss einer Ansicht, die viele von diesen teilen, widersprochen werden, nämlich der, das jüdische Volkstum sei zwar oberstes Gesetz, habe auch ganz ihm spezifischen Inhalt und Formung, nur könne niemand wissen, was eigentlich diese Eigenart sei, so dass man nun glaubt, es könne alles sein. Nur völlige – kenntnismäßige oder seelische – Fremdheit der jüdischen Geschichte gegenüber kann zu diesem Relativismus führen, dem sich dieser Gegenstand so verbietet wie jeder andere, der nur ernster Bemühung zugänglich ist.

Bis gegen Ende des Achtzehnten Jahrhunderts bildeten die Juden aller Länder trotz lokaler Verschiedenheiten im Tiefsten eine Einheit, die durch eine eigentümliche Vereinigung religiöser und nationaler Verbindung bestimmt war und die den jüdischen „tragbaren Staat“ möglich machte. Der aus hier nicht mehr zu untersuchenden Ursachen erfolgte Zusammenstoß mit der europäischen bürgerlich-kapitalistischen Kultur endete mit der Niederlage der nationalen Position und führte zu einem immer rascher und intensiver vor sich gehenden Zerstörungsprozess der nationalen Eigenart und Substanz. Wenn Zionismus Überwindung der Assimilation und nationale Erneuerung sein soll, so kann dies nur prinzipielle Weiterentwicklung d e r Situation bedeuten, wo die Nation noch eigengesetzlich lebte und schuf, wobei, wie wir hoffen, nicht nur die äußere, sondern auch die innere Situation sich durch den Zionismus in entscheidenden Punkten, vor allem gegen die letzten Jahrhunderte vor der Emanzipation, verändern wird.

Die jüdische Nation weist in ihrer ganzen Geschichte eine prinzipielle Grundstruktur auf. Diese ist bestimmt durch die Tatsache der gleichzeitig blutsmäßigen, jetzt „national“ genannten, und der religiösen Einheit der Gemeinschaft. Durch die Tatsache eines selbständig bestehenden Volkskörpers wurde der „Religion“ die Aufgabe abgenommen (die etwa die katholische Kirche übernehmen musste), für die Erhaltung und Ausbreitung der gesellschaftlichen Gruppe, von der sie getragen wurde, zu sorgen. Vielmehr war der Bestand der Gruppe durch die Tatsache ihrer völkisch blutsmäßigen Bildung gewährleistet, Dogmatik und Kirche waren unnötig als gruppenerhaltende Faktoren. Der religiöse Inhalt konnte seinem Wesen entsprechend individuell bleiben. [X-020] Zwar wurde im Mittelalter von einzelnen Rabbanim der Versuch gemacht, allgemein verbindliche Glaubensnormen aufzustellen, aber keine von diesen hat es auch nur im geringsten vermocht, sich im Leben der Nation Geltung zu verschaffen.

Gegenüber vielen Missverständnissen muss hier betont werden, dass das „Religiöse“ gegenwärtige Beziehung und Haltung, nicht aber das Gegenteil bedeutet: Glauben, d.h. Scheinwissen von einem prinzipiell Unerkennbaren, das Gegenstand – nicht seelischer Erfahrung, sondern rationaler Spekulation wird. Wenn irgendeine Gemeinschaft, so hat die jüdische gegen diesen Abfall von wahrer Religiosität gekämpft. Sie ist keine „Glaubensgemeinschaft“, sondern die Gemeinschaft der Generationen und Menschen, die die Tatsache gemeinsamer religiöser Sehnsucht und Beziehung eint. Hieraus erklärt sich sowohl die Tatsache des Verbotes, den Namen Gottes auszusprechen oder sich von ihm ein Bild zu machen als auch die der Dogmenlosigkeit des Judentums.

Das Gesetz ist nicht Ausdruck gemeinsamen Glaubens, sondern der jeder Generation lebendigen Erfahrung, von dem ausschließlichen und einheitlichen Sinn des Gesetzes als Ausdruck religiöser Beziehung. Es ist das Bindeglied zwischen der blutsmäßigen und religiösen Einheit des Volkes und soll diese Korrelation zu einer dauernden und unzerreißbaren vertiefen. Es ist der Ausdruck der Heiligung des Menschen. Alles Weltanschauliche, das seinem Wesen nach prinzipiell vom religiösen unterschieden ist, ist sowohl unter den jüdischen Menschen einer Generation als auch zwischen den verschiedenen Generationen verschieden. Es ist bedingt von der jeweiligen allgemeinen geistigen Struktur der Zeit und unabhängig von der dem Volke dauernd eigenen Grundhaltung.

Auch für uns, als Kinder Europas, ist die Weltanschauung des naiven Juden, das heißt, des von der Kultur Europas unberührten Juden ebenso wenig erreichbar, als zu erreichen notwendig und wesentlich. Alle Weltanschauung ist bedingt durch den allgemeinen Stand der Gesellschaft, der Zugang zum Religiösen aber ist jedem zu jeder Zeit und an jedem Orte möglich. Es scheint, dass dieses Problem für uns junge Menschen nicht nur von der jüdischen Seite wichtig ist, sondern dass es für jeden Einzelnen von uns auch ohne dies von brennender Aktualität ist.

Es wäre wunderbar, wenn wir Juden unberührt bleiben sollten von der immer stärker werdenden Sehnsucht der europäischen Menschheit (vor allem der „Jugend“) nach Befreiung aus einer sinnentleerten, aller religiösen Beziehung baren Kultur und Gesellschaft, deren Ideal wirtschaftliche Höchstleistung ist, deren Menschen sich freiwillig unter das ertötende Joch der Versklavung durch Wirtschaft und Beruf begeben haben. Hier – in der europäisch-kapitalistischen Kultur – ist an die Stelle der durch wahre Beziehung verbundenen Gemeinschaft die durch Wirtschaft, Technik und Wissenschaft gebundene Gesellschaft getreten. Was sich in ihr an Anstand, Moral, Sitte usw. findet, sind nur Reste vergangener sinnerfüllter Kulturen, die in steigendem Maße verschwinden müssen und tatsächlich verschwinden, da sie von ihren lebendigen Wurzeln abgeschnitten sind.

Insbesondere wenn der „Anstand“ aus einer Selbstverständlichkeit, über die man nicht spricht, zu einer Zuflucht für die metaphysische Feigheit des Bürgers wird, der sich in ihr vor der Beantwortung und Lösung der eigentlich brennenden Fragen seines Menschentums herumdrückt, entsteht jene Anarchie der Wertungen, für welche die Rolle der [X-021] Staatsbürgerideologie in der zionistischen Jugendbewegung tief bezeichnend ist. Auch hier ist eine unantastbare Selbstverständlichkeit mit jener einseitigen Ausschließlichkeit proklamiert worden, die nur in der Sphäre der religiösen Werte einige Berechtigung hat. Die edelsten und stärksten Kräfte der Menschen, die alle großen Kulturen bestimmt und umgeformt haben, werden hier ertötet. Rückkehr zum Judentum als sinnerfüllter, starker Gemeinschaft bedeutet für jeden Einzelnen Rückkehr zu sich selbst. Nur wenn nationale Erneuerung ein persönliches Problem wird, kann sie sich in uns und durch uns wahrhaft vollziehen; nur wenn der „Stoff“ des Volkes aus einem toten Bildungsstoff zu einem aktuellen und lebendigen Stoff der Seele transponiert wird, kann er wahrhaft ergriffen werden.

Hier muss gesagt werden, dass das Ideal eines „hebräischen Humanismus“, das manchen von uns vorschwebt, keine innere Berechtigung hat. Es wird dabei übersehen, dass jeder Stoff seine Melodie in sich trägt und dass der Stoff der hebräischen Literatur usw. mit anderer Methode ergriffen zu werden verlangt, als der des klassischen Altertums. Gerade an dieser Unfähigkeit, die dem jüdischen Stoff adäquate Methode zu finden, sind die nichtjüdische Bibelwissenschaft und ihre jüdischen Epigonen trotz großen Fleißes und großer Kenntnis so traurig gescheitert. Eine solche Erfassung des Stoffes ist Sache der Wissenschaft, hat aber nichts mit nationaler Erziehung zu tun.

Unser Versagen als jüdische Erziehungsgemeinschaft kann aber nicht beurteilt werden, ohne dass man gleichzeitig die im Zionismus herrschende, nationale Ideologie einer eingehenden Prüfung und Kritik unterzieht. Davon sei in Kürze nur folgendes angedeutet: Die zionistische Idee entstand in assimilierten Juden, die die Unfreiheit der Juden als unerträglich empfanden, die einen Weg zur Freiheit in der Ansiedlung in Palästina und als notwendig dazu die Sammlung aller Juden unter dem Banner der Nation sahen. Man wollte die Assimilation durch Rückkehr zur nationalen Idee überwinden; aber da man selbst assimiliert war, keine Beziehungen zum eigenen Volk als physischer und geistiger Realität mehr hatte und haben konnte, war man nicht imstande, das Problem der Assimilation und der nationalen Einstellung tiefer als nur als eines des schlechten oder guten Willens und nicht als eines des Inhaltes und Wesens von Volk und Einzelnen zu sehen.

Da man zur Geschichte des Volkes keine Beziehung hatte, setzte man sich entweder selbst ohne Rücksicht auf die Historie als Anfangspunkt des nationalen Daseins oder aber man glaubte, die ganze Geschichte der Diaspora überspringen zu können, und beging damit prinzipiell denselben Fehler unnationalen, weil unhistorischen Denkens wie Karäismus oder liberale Reform. Da man Palästina als Lösung der eigenen individuellen Judennot empfand, vergaß man die Diaspora, die durch Palästina nicht verschwinden, ja nicht einmal wesentlich verkleinert wird. Man übersah dabei die wichtigsten Dinge: dass der Wille zur Überwindung der Assimilation nur Vorbedingung der Überwindung, nicht aber diese selbst ist.

Man übersah, dass die jüdische Nation, aus dem orientalischen Geschichtskreis nach Europa herüberragend, prinzipiell anders konstruiert ist als die europäische Nation, die man kannte, und dass die Tendenz zur Anpassung an diese an die Stelle der Assimilation des Einzelnen, [X-022] die des ganzen Volkes setzt. Man leugnete damit (wenn auch oft nur unbewusst und unausgesprochen) den Sinn aller bisherigen jüdischen Geschichte, machte die Propheten, Tannaim, die Meister der Kabbalah und die Führer des Chassidismus zu Fremden im eigenen Volke, und die, welche die Nation verlassen hatten und sich Europa verschenkt, Männer wie Spinoza und Marx, zu den Repräsentanten des Volkes. Nur ein, aber ein entscheidender Punkt in dieser Ideologie, bewies die Legitimität des Zionismus im Namen des Volkes sprechen zu dürfen: Erez-Israel. Dies bedeutet Fortsetzung wahrhaft nationaler Gedanken und Tradition, Erfüllung nationaler Hoffnung.

So erklärlich und notwendig die Entstehung des zionistischen Gedankens war, so verhängnisvoll wäre es, wenn er im Stadium der Entstehung hängen bleiben würde. Gerade der jüdische Nationalismus, der sich nicht auf gemeinsame Sprache und Territorium als gegenwärtigen Besitz des Volkes berufen kann, der Palästina nur auf Grund des historischen Rechtes von den Völkern verlangen darf, würde sich selbst verneinen, wollte er auf die Dauer den Widersinn begehen, seine eigenen Grundlagen durch Ignorierung der nationalen Vergangenheit zu zerstören. Es ist richtig, dass der Zionismus ein Geschenk Europas an das jüdische Volk ist; aber hüten wir uns mit dem Golde Europas ein goldenes Kalb zu errichten!

Nichts liegt uns ferner, als unsere Beziehung zu Europa gewaltsam zerstören oder gar ignorieren zu wollen: wir sind keine Romantiker! Aber sie muss in unsere individuelle Entwicklung zur Nation sinnvoll eingeordnet werden.

Der assimilierte jüdische Nationalismus hat die Grundlage allen nationalen Lebens – gegen seinen eigenen Willen – zerstört: die Brücke zwischen den Generationen. Die nationaljüdische Jugendbewegung hat gerade diesen Grundfehler mitgemacht. Sie hat die Autonomie der Jugend proklamiert und diese Jugend (oder auch den „Bund“) als oberstes Ziel gesetzt. Sie folgte damit dem Beispiel der deutschen Jugendbewegung. Aber was hier die Konsequenz einer a-nationalen Haltung war, die sich wiederum aus dem nationalen Zersetzungsprozess Europas erklärt, muss bei einer Jugend, deren Ziel die Erneuerung der Nation ist, gefährlichster Angriff auf die nationale Entwicklung sein. Zwar ist es richtig, dass die vorige deutsch-jüdische Generation uns – von Ausnahmen abgesehen – nicht Führer auf dem jüdischen Weg sein kann; dies enthebt uns aber nicht der Pflicht, in Demut wieder Schüler der wahrhaften Führer jener schon dahingegangenen Generationen unseres Volkes, die wir uns wieder lebendig machen können, und der lebenden Führer der uns vorangehenden Generation, vor allem in den nationalen Zentren, zu werden.

Der Zusammenhang zwischen den Generationen und der tiefe Respekt der Jugend vor dem Alter ist Bedingung und Ausdruck aller echten nationalen Kultur. Deshalb ist Voraussetzung jeder jüdisch-nationalen Jugendbewegung die entschiedene Abkehr von dem in der Jugendbewegung herrschenden Prinzip des Führertums. Die Rückkehr zur nationalen Gemeinschaft ist nur möglich, wenn die ganze Jugend, einschließlich ihrer heutigen „Führer“, wieder zu Lernenden wird, zu Menschen, die sich mit Hingabe um den Weg zum eigenen Volk, um die Erfassung seiner Eigenart, wie sie sich in Sprache, Literatur, Form und Lied ausdrückt, bemühen.

Die gewaltige Aufgabe der nationalen [X-023] Erneuerung und des Aufbaues unseres Landes kann nur gelöst werden, wenn wir als innerlich Gewandelte und Erneuerte den Boden unserer Heimat betreten. Diese Wandlung von irgendwelchen Bedingungen abhängig zu machen, ist sinnlos und unerlaubt. Denn die Wahl und die Freiheit sind uns zu jeder Stunde gegeben. Das Werk wird uns nur gelingen, wenn wir uns zu einer ganz bestimmten Haltung erziehen; aber nicht angängig und verhängnisvoll ist es, wenn man „Haltung“ mit einem Verhalten verwechselt, wie das bei uns oft geschieht. Es gibt nur eine nationale „Haltung“, kein nationales „Verhalten“, zu dem man Menschen erziehen kann.

Denn ihrem Wesen nach kann alle Erziehung nur auf eine bestimmte „Haltung“ gehen, die dann in einer bestimmten Situation ein bestimmtes „Verhalten“ hervorruft. Der menschlichen „Haltungen“ gibt es außerordentlich wenige, der Arten des Verhaltens unzählig viele. Das Ideal des Pioniertums ist ein typisches Ideal des „Verhaltens“. Es bewährt sich nur in einer ganz bestimmten Situation des Lebens, und gibt keine Garantie für ein entsprechendes Verhalten in anders gearteten Situationen oder auch in ähnlichen Situationen kommender Geschlechter. Die zionistische Jugendbewegung ahmt auch hierin einen Grundfehler Europas nach, der seine warnende Sühne schon im Versagen großer Teile des sozialistischen Proletariats gefunden hat. Auch dort erzog man die Menschen nur zu einem „revolutionären Verhalten“, und als die allgemeine Situation die Revolution im Augenblick unmöglich machte, wurden diese selben Revolutionäre zu „Mussolinis“. Auch die Geschichte unserer eigenen palästinensischen Kolonisation sollte ihre warnende Stimme erheben. Denn was ist aus den Bilu-Menschen[17] geworden und aus ihren Söhnen?! Deshalb, weil alles auf die neue Haltung ankommt, geht es nicht an, dass man Chaluziut[18] zum Zwecke macht, für den alle Mittel recht sind. An vielen Beispielen lässt sich leider zeigen, wie wir bereit waren, die menschliche Ganzheit und Reinheit preiszugeben für den – scheinbar kürzesten – Weg nach Palästina.

Freunde, wir glauben, dass wir irregegangen sind und dass nur ernste Selbstbestimmung davor retten kann, den Weg zu unserem Volke für immer zu verlieren. Sinn und Zweck dieser Erklärungen sollte sein, zu versuchen, den Weg freizumachen für die Aussprache über all die Dinge, die es nun für uns zu tun gibt. Wir sind dabei der völligen Unzulänglichkeit des hier Gesagten bewusst. Der Unzulänglichkeit, die in doppelter Hinsicht besteht: einmal in der Person derer, die es sagen: denn über all diese Dinge zu sprechen ist Sache der Lehrer und Führer, nicht der Lernenden und Schüler; dann aber auch darin, dass hier nur Andeutungen über einen Gegenstand gemacht werden können, dessen vollständige Erörterung ein Vielfaches an Raum und Zeit erfordern würde. Trotzdem schien es nötig, einmal mit den Formulierungen aufzuhören, die so allgemein sind, dass sich jeder etwas anderes – oder gar nichts – darunter vorstellen kann. Es sollte hier alles andere als eine dogmatische Fixierung „des“ Judentums durch jede einzelne hier geäußerte Ansicht erfolgen: es sollte aber einerseits unsere Grundeinstellung zur Frage jüdischer Erziehung deutlich und klar werden, andererseits wollen wir die, die [X-024] zwar den nationalen Weg prinzipiell bejahen, aber die Frage, wie dieser Weg denn aussieht und aussehen muss, aus irgendwelchen Gründen unbeantwortet lassen, zu einer Diskussion über diese Frage veranlassen, damit wir endlich zum wichtigsten kommen, zur Erörterung der Frage, wie wir im Einzelnen mit einer wirklich nationalen Erziehung einen Anfang machen können.

Wir müssen nun darüber sprechen, wie wir wieder hebräisch ganz verstehen (nicht plappern) lernen und der „heiligen“ Sprache ihre Geheimnisse ablauschen. Wie wir die Bibel wieder ganz erfassen mit der Einstellung, die alleine den Zugang zu ihr öffnet als der „Heiligen“ Schrift, die das Leben unseres Volkes geformt und bestimmt hat; wie wir wieder das Lied unseres Volkes verstehen lernen, das, wie ein Großer sagte, „die Sprache der Seele“ ist, und uns vom Volke erzählt und den Weg zu ihm bahnt. Wir müssen darüber sprechen, wie wir unserer Leben wieder ganz in das unseres Volkes einreihen können, vor allem durch Vorbereitung auf das Leben in unserem Lande, das prinzipiell anders sein wird, als das im großstädtisch gegliederten Europa und das eine neue positive Beziehung zur Natur, eine veränderte Grundhaltung verlangt. Wir werden darüber zu sprechen haben, wie wir wieder das in den Mittelpunkt unseres Gemeinschaftslebens rücken, was immer im Mittelpunkt des Lebens unseres Volkes stand: den Sabbath. Denn er ist wie nichts anderes Ausdruck der jüdischen Gemeinschaft – unsere Rückkehr zu ihr muss Rückkehr zu ihm sein.

Dieses und vieles andere ist noch zu besprechen. Die Schwierigkeit darf uns nicht schrecken, denn wir sind Zionisten, die sich nicht mit der einmal gegebenen Situation entschuldigen können. Die Größe der Schwierigkeit muss unsere Kraft steigern! Aber wenn wir erst den Anfang gemacht haben, werden wir wieder zu Menschen werden, deren Rückkehr zum Volk nicht ein schmerzlicher Verzicht oder bloße Phrase ist, sondern ein reiches Geschenk.

Wir glauben an die jüdischen „Substanz“ der meisten von uns. Deshalb sind wir Zionisten, deshalb aber auch glauben wir, dass dieser Weg nicht der Weg irgendeiner kleinen Gruppe ist, sondern der Weg all derer, die mit Hingabe und Ernst den Weg zum Volke gehen wollen, die die Konsequenzen aus ihrer zionistischen Entscheidung zu ziehen gewillt sind. Es ist kein Leichtes, aus der Fremde heimzukehren, und wer es sich leicht machen will, der muss es ganz lassen.

Unser Volk wird in seinem Rhythmus, in dem es bisher geschritten ist, weiter schreiten – oder es wird untergehen. Wir werden in diesem Rhythmus mitschreiten und uns ihm einfügen, – oder wir werden nie zum Volke kommen, werden für immer Abgesplitterte, Draußenstehende bleiben. Nur ein einheitliches Volk kann leben; der Riss, der heute durch das jüdische Volk geht, der zwei Manifestationen der jüdischen Seele, den „Chaluz“ und den chassidischen Rebben, einander nicht mehr verstehen lässt, muss verschwinden. Er wird verschwinden durch unseren Willen zur Rückkehr zu ihm. Wir haben den ersten Schritt getan, sollten wir erlahmen, wo es gilt, den zweiten zu tun?!

Unser Volk befindet sich in einer unerhört [X-025] ernsten und gefährlichen Lage: es kann keinen Menschen entbehren und es nicht dulden, dass irgendeiner mit dem ernsten Versuch wirklicher Rückkehr zögert. Das Werk wird nur gelingen, wenn wir wieder das Gefühl des „Bitachon“, des unbedingten Vertrauens haben. So wie sich unsere Palästinahoffnung trotz der unendlichen Schwierigkeit erfüllen wird, wenn wir diesen unbedingten Glauben an ihre Erfüllung haben, so wird auch das nicht minder schwere Werk unserer inneren Rückkehr zum Volk nur dann gelingen, wenn wir daran glauben.

Wir müssen alle wieder Lernende werden, die sich abmühen, wieder die Beziehung zu Wesen und Eigenart unseres Volkes zu gewinnen. Unsere „Führer“ können nur die wirklich legitimierten, uns an Wissen und Jahren überlegenen Führer des Volkes sein. Wir haben das Recht, von ihnen zu verlangen, dass sie in Fortsetzung alter nationaler Tradition wieder unsere Lehrer werden.

Freunde! Wir müssen den Anfang machen! Es geht nicht um etwas, was man „auch“ tun kann – und deshalb auch lassen kann. Wir wollen als gemeinsame Lernende nun darüber sprechen, wie wir wieder zur Sprache, Literatur, Form und Lied lebendige Beziehung gewinnen können. Wir bitten deshalb alle die, die mit uns den gleichen Willen haben, Wesen und Eigenart der Nation als obersten Maßstab ihrer Arbeit anzuerkennen und die aus diesem Willen alle Konsequenzen zu ziehen bereit sind, mit uns in eine Aussprache über alle Angelegenheiten einzutreten und sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Frankfurt a. M., Chanukkah 5683
Erich Fromm – Fritz Goithein – Leo Löwenthal
Ernst Simon – Erich Michaelis (Hamburg)
Zuschriften: Unterlindau 21.

Rabbiner Nobel als Führer der Jugend

(1922b)[19]

Übertönt wurde der Schrei der Propheten nach Wahrheit von der kalten Stimme machthungriger Priester[20]; vernichtet wurde Sehnsucht und Wirkung volkliebender Lehrer von der brutalen Gewalt fremder Nationen und Staaten. Abgelöst wurde die aus der Gemeinschaft strömende Sehnsucht und Freude von priesterlichem Mittlertum.

Dunkler und dunkler werden die Schatten, dichter der Schleier, der den Kern verdeckt. Noch aber sind junge jüdische Menschen, die um das Vorhandensein des Kerns wissen. Sie selbst aber können ihn nicht mehr schauen, doch sehnen sie sich nach ihm mit der ganzen Glut ihrer Seele, die jener platten oder durch Verfeinerung verdeckten Aufklärerei übersatt ward. Ihnen ist nur die historische Form gegeben – und an sie tragen sie ihr eigenes Sehnen heran -, aber selber die Brücke zu schlagen, bleibt ihnen versagt.

Dies war Rabbiner Nehemia Zwi Nobel der Jugend: dass er um diese unsere Not wusste – um sie und ihre Lösung. Er wusste um den Sinn und den Kern, wusste, dass er verkörpert ist in der historischen Form, wusste auch um Verdunklung und Verschleierung und darum, dass man den Schleier lüften kann. Er ließ uns die Seele des Judentums schauen und ihre Verknüpftheit mit der Form, dem historisch-national Gegebenen; er ließ Propheten und Tannaim vor unserem Auge erstehen und ließ uns unsere durch die Dauer der Geschlechter begründete Verbundenheit mit ihnen fühlen. Er zeigte uns, dass wir teilhaben können an der Welt der Wirklichkeit, die die Welt der Liebe, Freude und Schönheit ist, und dass der Sabbat uns das Tor zu ihr erschließt. Er lehrte uns, die Sprache zu lieben, weil sie in sich Heiligkeit birgt, er wies uns zum Lande, weil es der Boden der Propheten und Psalmisten ist. Und er hieß uns, auf sie hoffen, weil nur um ihretwegen unserem Volk zu leben vergönnt und befohlen ist. Er führte uns in den Talmud hinein und ließ ihn uns sehen als Ausdruck der Seele unseres Volkes. Die im Meere des Talmud verborgen fließenden Ströme unserer Geschichte führte er ans helle Licht der Liebe [X-027] und des Verstehens, von denen er wusste und uns lehrte, dass beides eins ist.

Aber nicht das war es, was uns zwang, dass er wusste, sondern dies: dass er lebte, was er sagte, und nur sagte, was er lebte. Er lehrte, dass das Wissen um die Wirklichkeit des Absoluten der Urgrund jüdischen Volkstums ist, und man sah es an ihm, dass er dieses Wissen lebte. Sein Strahlen war Gewissheit. Er war ein Dichter – und deshalb konnte er uns verstehen lassen, dass die Wege der Thora Wege der Schönheit sind. Er lehrte die Liebe als das Band des Volkes – und wir verstanden, weil er uns liebte. In Demut rief er nach Propheten – wir rufen in Trauer nach dem Führer!

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959121972
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Judentum Religion Humanismus Rumi Adolf Leschnitzer Albert Schweitzer Danilo Dolci Adolf Lissauer
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Titel: Judentum und Religion