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Politik im Kalten Krieg

©2016 65 Seiten

Zusammenfassung

Die Beiträge des Bandes ‚Politik im Kalten Krieg‘ beginnen 1961 in der Hochphase des Kalten Krieges und enden mit einer Expertise, die Erich Fromm 1975 für ein Hearing im US-Senatsausschuss für Auswärtige Beziehungen gemacht hat. Alle Beiträge zeigen nicht nur eine für einen Psychoanalytiker ungewöhnliche politische Informiertheit und Sensibilität, sie dokumentieren auch Fromms mutiges und psychologisch gut begründetes Engagement für eine am Humanismus orientierte Politik, die den öffentlich favorisierten Argumenten Paroli bietet.

Die Zuspitzung der weltpolitischen Lage 1961 durch die Kuba-Krise und die atomare Hochrüstung im Kalten Krieg hatten einen atomar geführten Krieg der Großmächte USA und UdSSR nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich gemacht. Was ein Atomkrieg für das Leben auf der Erde und für das Überleben der Menschheit bedeutet, thematisiert Fromm ebenso wie die Frage der Zivilverteidigung. Die Beiträge lassen auch die später Geborenen spüren, wie sehr der Kalte Krieg Anfang der Sechziger Jahre die Menschheit bedrohte und warum atomare Rüstungskontrolle und Abrüstung heute immer noch überlebensnotwendig sind.

Aus dem Inhalt:
Chruschtschow und der Kalte Krieg
Das neue kommunistische Programm
Kommunismus und Koexistenz
Die Herausforderung durch Castro
Die Frage der Zivilverteidigung (zusammen mit Michael Maccoby)
Entspannung durch Stärke
Die globale Verantwortung der Vereinigten Staaten
Vorwort in H. Brandt „Ein Traum, der nicht entführbar ist“
Anmerkungen zur Entspannungspolitik

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Chruschtschow und der Kalte Krieg

(Khrushchev and the Cold War)

(1990k [1961])[2]

Es wird behauptet, die Russen wollten zum einen den Kalten Krieg deshalb nicht beenden, weil sie den kommunistischen Einfluss und seine Macht erweitern wollten, zum anderen weil sie davon überzeugt seien, dass die westlichen Staaten ängstlich einen Krieg vermeiden, so dass die friedenswillige, westliche Politik es Chruschtschow ermögliche, aggressiv zu sein. Diese Annahmen lassen eine Reihe von Fakten außer Acht.

Chruschtschow hat gute Gründe, den Kalten Krieg beenden zu wollen,

  • weil die mit dem Ende des Kalten Krieges einhergehende Abrüstung erhebliche, für die Wirtschaft benötigte Ressourcen freisetzen würde;
  • weil ihm eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten viel mehr Handlungsfreiheit auf China hin geben würde, während ein Konflikt mit den Vereinigten Staaten ihn zu einer stärkeren Allianz mit China führt;
  • weil er sich sehr bewusst ist, dass die Fortsetzung des Kalten Krieges zwischen den beiden mit Atomwaffen aufgerüsteten Blöcken die ernste Gefahr eines echten Krieges beinhaltet, der etwa aus Versehen oder auf Grund von Fehlberechnungen zustande kommt.

Was begründet eigentlich die Annahme, dass Chruschtschow weniger um die Vermeidung eines thermonuklearen Krieges bemüht ist als der Westen? Hat er weniger zu verlieren, oder sind die westlichen Bomben zu unwirksam? Wenn man die heute gängige Argumentation nachvollzieht, wären die Chancen eines Friedens größer, wenn der Westen weniger darauf erpicht wäre, einen Krieg vermeiden zu wollen, und wenn man keine Friedensstrategie hätte. Ist die Annahme wirklich realistisch, dass eine nicht auf Frieden ausgerichtete Politik zur Vermeidung eines Krieges geeigneter sei?

Ich habe den Eindruck, dass diese Argumentationslinie auf der allgemein akzeptierten Annahme beruht, dass Chruschtschow die Welt für den Kommunismus erobern will und dass er immer noch Lenins und Trotzkis Ziele verfolgt.

Die Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Spätestens ab 1923 haben die russischen Kommunisten jegliche Hoffnung auf eine Revolution in den industrialisierten Ländern aufgegeben. Sie haben die kommunistischen Parteien Europas in solch einem Maße geschwächt und korrumpiert, dass diese, wiewohl immer noch als Schachfiguren [XI-428] für die russische Politik einsetzbar, als Instrumente für die Revolution vollkommen unbrauchbar wurden. Am Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch, zu dem Zeitpunkt, an dem möglicherweise die größte Chance für eine revolutionäre Bewegung in Westeuropa bestand, als nämlich die Kommunisten in Frankreich und Italien sowohl Waffen als auch großes Prestige besaßen, da wurde ihnen befohlen, ihre Waffen niederzulegen und eine bürgerliche Koalition einzugehen. Seit 1925 haben Stalin und seine Nachfolger ihre ganzen Energien darauf verwandt, einen totalitären, bürokratischen Industriestaat aufzubauen; sie mussten dies im Namen des „Sozialismus in einem Land“ tun, weil ihr Einfluss auf die Völker Russlands außer mit Terror mit der kommunistischen Ideologie geltend gemacht wurde und mit dem Anspruch, dass Stalin und Chruschtschow die legitimen Nachfolger der charismatischen Gestalten Marx und Lenin waren. Stalins Eroberungen der osteuropäischen Satellitenstaaten waren keine kommunistischen Revolutionen, sondern strategisch und wirtschaftlich begründete militärische Eroberungen (vgl. die Analyse von Z. K. Brzezinski, 1960, S. 4 ff.), die zweifelsohne auch durch Stalins persönlichen Ehrgeiz und durch sein Streben nach Ruhm verursacht waren. (Man vergleiche Stalins Übertretung des Abkommens von Jalta mit der Verletzung von Clemenceaus, Lloyd Georges und Orlandos früherer Übereinkunft zu den 14 Punkten von Präsident Wilson im Versailler Vertrag.) Das aus dem revolutionären Lenin und dem reaktionären, staatskapitalistischen Stalin zusammengesetzte Bild „des“ kommunistischen Führers ist ein gefährliches und irriges Propagandaklischee.

Weiterhin wird behauptet, dass Russland immer noch kein reiches Land sei. Dieses Argument stützt den oben genannten Punkt, dass nämlich Chruschtschow gute Gründe hat, den Kalten Krieg zu beenden. Russland als „unterentwickeltes Land“ zu bezeichnen stünde aber im Widerspruch zu den derzeit gültigen wirtschaftlichen Analysen über das russische System. Tatsächlich hat sich seit 1928 der Prozentsatz der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung gegenüber der nicht in der Landwirtschaft tätigen (76,5 % zu 23,3 %) bis 1958 zu einem Verhältnis von 52 % zu 48 % gewandelt. Die meisten amerikanischen Wirtschaftsexperten stimmen darin überein, dass die jährliche industrielle Wachstumsrate zwischen 1950 und 1958 in Russland doppelt so hoch wie die amerikanische Wachstumsrate ist und dass die Russen vor allem im Ernährungs- und Bekleidungssektor demnächst große Fortschritte machen werden. Zur Zeit steigert sich der Verbrauch, wenn man die Bevölkerungsschwankungen miteinbezieht, jährlich um 5 %. Gerade weil Malenkow und Chruschtschow schließlich den materiellen Bedürfnissen der russischen Bevölkerung gerecht werden konnten, gelang es ihnen, das stalinistische Terrorsystem durch einen reaktionären Polizeistaat zu ersetzen. Aus den Berichten von Amerikanern, die Russland in den letzten Jahren besucht haben, lässt sich schließen, dass die wichtigsten psychologischen Faktoren, die für die Regierung sprechen, gerade die Beendigung des Terrors, die materielle Besserstellung und die Hoffnungen auf noch bessere materielle Bedingungen sind. Die große Mehrheit der russischen Bevölkerung hat nur vor einem Angst: vor dem Krieg. Angesichts all dieser Tatsachen entbehrt meiner Meinung nach die Behauptung, Chruschtschow brauche und wolle die Kriegsgefahr in Russland, jeder Begründung. [XI-429]

Ein anderes Argument lautet, die Sowjetunion verlöre ohne das Militär ihre Vorherrschaft über die Satellitenstaaten. Das ist zweifellos so. Gerade deswegen hat Chruschtschow immer von einer Abrüstung „auf Polizeiniveau herunter“ gesprochen, was im Klartext bedeutet, dass ausreichend starke Polizeistreitkräfte erhalten werden, die die eingesetzten Regierungen stützen. Aber solche Polizeistreitkräfte sind etwas ganz anderes als die zur internationalen Kriegsführung ausgerüsteten und trainierten Armeen. (Die meisten lateinamerikanischen Armeen haben zum Beispiel nur diese Polizeifunktion und wären bei einem internationalen Konflikt ziemlich wirkungslos.) Sobald der Kalte Krieg beendet ist, das heißt ab dem Augenblick, ab dem beide Seiten den Status quo anerkennen und vor allem, sobald Westdeutschland die Existenz Ostdeutschlands und die internationale Oder-Neiße-Grenze anerkennt, könnte Russland wirtschaftlich und politisch gesehen Liberalisierungen in den Satellitenstaaten in größerem Maße zulassen.

Die ganze Problematik um Berlin dreht sich eigentlich nur um die Frage, ob die westlichen Alliierten die russische Interessensphäre akzeptieren; ich zweifle deshalb nicht daran, dass sich die Berlinfrage in dem Augenblick lösen lässt, in dem Ostdeutschland durch den Westen anerkannt wird. Wenn es etwas gibt, das die russische Politik seit Beginn der Revolution kennzeichnet, dann ist es vor allem das Misstrauen und die Angst vor einem Angriff durch die westlichen Verbündeten; seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es darüber hinaus dann noch Russlands absolute Weigerung, die aus dem Krieg resultierenden territorialen Gewinne aufzugeben.

Es stimmt zwar, dass es viele Änderungen und Kehrtwendungen hinsichtlich der kommunistischen Einstellung zur Sozialdemokratie gegeben hat. Aber ich möchte auf Folgendes hinweisen: In der Zeitspanne zwischen 1917 und 1922, als Lenin und Trotzki auf eine kommunistische Revolution in Deutschland und Westeuropa abzielten, sahen sie die Sozialdemokraten als ihre Feinde an. Aus ihrem Blickwinkel war das wohlbegründet, denn in gewisser Hinsicht war es die Haltung der sozialdemokratischen Führer in Deutschland, die eine kommunistische Revolution verhinderte. Freilich war dies nicht der einzige Grund. Seit 1923 war die Einstellung gegenüber den Sozialdemokraten ganz von der russischen Außenpolitik abhängig. Bis 1927, als die Russen freundschaftliche Beziehungen mit der westlichen Welt und insbesondere mit England herstellen wollten, waren Arbeitsbündnisse mit der Zweiten Internationalen erwünscht. Ab 1927 änderte sich die russische Einstellung, und es begann der sogenannte revolutionäre Kurs, der bis 1934 dauerte. Diese Kehrtwendung hatte mehrere Gründe. Zunächst hatte Großbritannien seine Beziehungen mit Sowjetrussland am 26. Mai 1927 abgebrochen. Dann war Trotzki, der bedeutendste Repräsentant der Revolutionspolitik, von der Partei ausgeschlossen worden. Stalin begann damals mit viel Druck ein industrielles und landwirtschaftliches Produktionsprogramm, das der Bevölkerung unerhörte Opfer abverlangte. Aus diesen Gründen musste Stalin seine Rolle als Erbe Lenins festigen und dem Westen das Störpotenzial der kommunistischen Parteien zeigen, wenn der Westen seinen Wunsch nach freundschaftlichen Beziehungen abwies. George F. Kennan (1960, S. 80) zitiert G. Hilger (G. Hilger und A. G. Meyer, 1953, S. 225), der damals Botschaftsrat bei der Deutschen Botschaft in Moskau war:

So konnte ein kompetenter Moskauer Beobachter jener Zeit später, als er die Sowjetpolitik während [XI-430] der Periode des Ersten Fünfjahresplans beschrieb, sagen, dass „die Sowjetunion einen starren Isolationismus hinter der Fassade einer intensivierten Tätigkeit des Komintern verbarg, die teilweise dazu diente, die Aufmerksamkeit von ihren inneren Schwierigkeiten abzulenken“.

Dass die Politik der kommunistischen Parteien nur der russischen Außenpolitik diente und dass die harte Linie von 1927/28 bis 1934 kein echter, auf Revolution ausgerichteter Versuch war, wird auch durch die Tatsache sehr deutlich, dass die Direktiven des Komintern an die ausländischen Parteien sich nur auf die Verteidigung gegen die kapitalistische Offensive bezogen und nie in Richtung revolutionäre Aktion gingen.

Weil Chruschtschow das Ende des Kalten Krieges wünscht, schlägt er die Formel freundschaftlicher Beziehungen mit den Sozialdemokraten vor und kommt somit auf die Linie der frühen zwanziger Jahre bis 1934 zurück. Ein Merkmal haben all diese Einstellungsänderungen gemeinsam, die Tatsache nämlich, dass Moskau seit 1923 alle ernsthaften revolutionären Aktivitäten in Europa zurückgehalten hat und dass „revolutionäre“ Phasen ausschließlich Drohgebärden waren, die im Dienste sowjetischer Außenpolitik oder für den internen Bedarf gedacht waren.

Ein letztes Wort über Kuba. Es ist ganz deutlich erkennbar, dass eine direkte militärische Intervention nie wirklich beabsichtigt war. Es scheint aber auch keinen Zweifel daran zu geben, dass die Vereinigten Staaten Castro-Gegner, die das Castro-Regime umstürzen wollen, moralisch unterstützen. Folgt man den Berichten der New York Times über Trainingslager und Fluglandeplätze in Guatemala, die von den Vereinigten Staaten bezahlt werden und in denen amerikanische Offiziere mitarbeiten, erweckt das unweigerlich den Eindruck, dass die Unterstützung einer Konterrevolution gegen Castro mehr als nur eine moralische ist, auch wenn ich annehme, dass diese Unterstützung nicht direkt von der Regierung der Vereinigten Staaten ausgeht. Bedenkt man jedoch, dass die Castro-feindlichen Kräfte erst in jüngster Zeit erklärt haben, dass sie jetzt vereint sind und, sobald sie auf kubanischem Boden sind, die legale kubanische Regierung bilden werden, dann ist die Angst der kubanischen Regierung für mich nachvollziehbar, dass, wenn einmal die Castro-feindlichen Führer in das Land eingedrungen sind und sich als die rechtmäßige Regierung erklärt haben, sie auch offen die Vereinigten Staaten um Anerkennung und militärische Unterstützung bitten und somit erfolgreich ihren Plan durchsetzen werden. Ich hoffe, dass solch ein Verdacht unbegründet ist, aber ich kann ihn auch nicht einfach als hysterische Idee abtun.

Ich wünschte, dass die Presse der Vereinigten Staaten und unsere Regierung in einer günstigeren Weise auf die neueste Note des kubanischen Außenministers an die lateinamerikanischen Regierungen geantwortet hätten, in denen er um ihre Hilfe beim Aushandeln einer Regelung mit den Vereinigten Staaten bat. Er setzte dabei nur die eine Bedingung, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr die gegen Castro gerichtete Revolution unterstützen. Sicherlich hat das Versagen der Vereinigten Staaten, darauf zu antworten, dazu geführt, dass sich Castros Verdacht bezüglich unserer Absichten verstärkt hat.

Das neue kommunistische Programm

(The New Communist Program)

(1961f)[3]

Das neue kommunistische Parteiprogramm (der vollständige Text wurde in der New York Times vom 1. August 1961 veröffentlicht) ist ein äußerst aufschlussreiches Dokument, weil es deutlicher als irgendeine der vorhergehenden Veröffentlichungen ein Bild vom Wesen des Systems von Chruschtschow und von seinen Plänen für die Zukunft zeichnet.

Das Programm ist eine seltsame Mischung von unverdautem und vereinfachtem Marxismus, leninistischen Phrasen, Wohlfahrtsstaat-Idealen, kapitalistischem Materialismus, calvinistischer Arbeitsethik und viktorianischer Moral. Es ist gekennzeichnet durch einen verkümmerten Begriff des Sozialismus, durch eine reformistische und evolutionäre Strategie zur Erreichung des Kommunismus und vor allem durch die zentrale Bedeutung, die dem Wunsch nach internationalem Frieden zukommt.

Das Programm kann nur im Zusammenhang mit der kommunistischen Ideologie richtig verstanden werden, im historischen Zusammenhang eines Vergleichs mit früheren kommunistischen Programmen sowie eines Vergleichs mit der chinesischen Position. Jeder, der das Programm ohne Kenntnis dieser verschiedenen Bezugspunkte liest, könnte zum Beispiel Phrasen wie die vom „unvermeidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus“ und vom „Endsieg des Kommunismus“ für aggressive Feststellungen halten oder sogar, wie die Herausgeber der New York Times es ausdrücken, für eine „Kriegserklärung an die freie Welt“. Was derartige Auslegungen übersehen, ist die Tatsache, dass die Theorie des Marxismus (selbst in der im kommunistischen Programm enthaltenen rohen Form) eine geschichtliche Theorie ist, die annimmt, dass Änderungen der Produktivkräfte zu Veränderungen im sozialen und politischen Bereich führen und dass der Kapitalismus ebenso durch den Sozialismus abgelöst werden wird, wie auf den Feudalismus der Kapitalismus folgte. Die Prophezeiung des endgültigen Zusammenbruchs des Kapitalismus ist eine historische Prophezeiung und keineswegs eine Erklärung, dass der Kapitalismus durch Gewalt gestürzt werden soll. Worauf es ankommt, ist nicht die Vorhersage vom Endsieg des Kommunismus, sondern die Methode, durch die das neue Programm dieses Ziel zu erreichen verspricht.

Der in dieser Hinsicht wichtigste Punkt ist die Tatsache, dass das Programm eine [XI-432] Wende von einem revolutionären zu einem evolutionären und beinahe reformistischen Standpunkt darstellt. Natürlich kann dies nicht im Programm angesprochen werden; nichtsdestoweniger ist es eine Tatsache, die bei der Analyse der einschlägigen Formulierungen klar wird. Das Programm betont, dass der Sozialismus durch das Beispiel einer vollkommeneren sozialen Ordnung und besonders der wirtschaftlichen Überlegenheit des Kommunismus gewinnen wird. Es betont, dass ein derartiger Sieg durch „friedliche Mittel“ erreicht werden solle, und zwar, indem eine sichere Mehrheit im Parlament gewonnen wird. Es definiert die Diktatur des Proletariats als die „Diktatur einer überwältigenden Mehrheit“; damit geht es auf Marx zurück und wendet sich von Lenins „substitutionistischer“ Theorie der Avantgarde ab. Wenn das Programm auch den endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus prophezeit, so macht es doch gewisse wichtige Zugeständnisse: Erstens, dass der

Kapitalismus möglicherweise noch zu gewissen Zeiten und in gewissen Ländern gedeihen könnte;

zweitens,

dass die Arbeiterklasse vieler Länder, sogar noch ehe der Kapitalismus gestürzt ist, das Bürgertum zwingen kann, Maßnahmen durchzuführen, die über gewöhnliche Reformen hinausgehen und von ausschlaggebender Bedeutung sowohl für die Arbeiterklasse und den Fortschritt ihres Kampfes für den Sozialismus als auch für den größten Teil der Nation sind;

drittens,

dass, selbst wenn ein Teil der Welt kapitalistisch ist, das Ziel des Weltfriedens erreicht werden kann.

(Die beiden letzten Annahmen stehen in ausgesprochenem Widerspruch zu der überlieferten kommunistischen Lehre.)

Die Haltung des Programms gegenüber den sozialdemokratischen Parteien weist in dieselbe Richtung. Obwohl diese kritisiert werden, wird der Wunsch nach Zusammenarbeit mit ihnen geäußert. Aber die Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den „rechten Flügel des Sozialismus“ – wiederum eine Unterscheidung, die im kommunistischen Denken nicht üblich war.

Es ist besonders wichtig, nachzuprüfen, wie Jugoslawien beziehungsweise China in dem Programm behandelt werden. Jugoslawien wird natürlich kritisiert, aber in außergewöhnlich milder Weise. Es heißt, dass die

jugoslawischen Führer durch ihre revisionistische Politik Jugoslawien, das sozialistische Lager und die internationale kommunistische Bewegung in Gegensatz zueinander bringen und so die revolutionären Errungenschaften aufs Spiel setzen.

Unmittelbar nach diesem Satz wird im Programm China durch folgende zehn Worte erwähnt: „Der Sieg der Revolution in China war von besonderer Bedeutung.“ In Anbetracht der Ansprüche Chinas ist dieser Ausspruch geradezu ein Schlag ins Gesicht. Bezeichnend für dieselbe Haltung China gegenüber ist es, dass an späterer Stelle der jugoslawische „Revisionismus“ in ähnlicher Weise kritisiert wird wie „Dogmatismus und Sektierertum“, denn dieses sind die in Bezug auf China gewöhnlich verwandten Ausdrücke.

Aus der Sicht der amerikanischen Politik ist besonders zu beachten, welchen Nachdruck das Programm auf Frieden und Koexistenz legt. Das Programm behauptet, dass seine Ziele in Friedensverhältnissen erreicht werden können und dass die Verhütung eines neuen Weltkrieges das „Kernproblem der Gegenwart“ ist. Es ist sehr interessant und steht im Gegensatz zu einigen chinesischen Äußerungen, dass ein Aufruf erlassen wird, „die Menschheit vor einem Vernichtungskrieg zu bewahren“, und dass der [XI-433] „alles zerstörende“ Charakter eines Atomkrieges an anderen Stellen erwähnt wird, ohne dass es heißt, hauptsächlich das kapitalistische Lager würde getroffen werden. Nur einmal wird eine derartige Anspielung gemacht: Nachdem es geheißen hatte, „friedliche Koexistenz oder Vernichtungskrieg – dieses ist die Alternative, vor die uns die Geschichte stellt“, geht es im Programm weiter:

Sollten es die imperialistischen Angreifer trotzdem wagen, einen neuen Weltkrieg zu beginnen, wird das Volk nicht länger ein System dulden, das es in Vernichtungskriege hineinzieht. Es wird den Imperialismus hinwegfegen und ihn begraben.

„Allgemeine, vollständige Abrüstung unter strenger internationaler Kontrolle“ wird mehrmals als sicherster Weg zu einem dauerhaften Frieden herausgestellt. Die Haltung des Programms gegenüber den jungen selbständigen Staaten und gegenüber der kolonialen Revolution ist auch sehr interessant. An erster Stelle erklärt das Programm, dass „die jungen selbständigen Staaten weder zum System der imperialistischen Staaten noch zum Block der sozialistischen Staaten gehören“. Auf diese Weise bestätigt das Programm den von Chruschtschow vorher vertretenen Grundsatz der freundschaftlichen Anerkennung der blockfreien Staaten. Außerdem fordert das Programm nur die

Ausmerzung der Überreste des Kolonialismus, die Ausrottung der imperialistischen Herrschaft, die Entfernung ausländischer Monopole, den Aufbau einer nationalen Industrie, die Abschaffung des Feudalsystems und seiner Überreste, die Durchführung radikaler Bodenreformen im Interesse und mit der Beteiligung des gesamten Bauernstands, die Verfolgung einer unabhängigen, auf Erhaltung des Friedens gerichteten Außenpolitik, die Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens und die Stärkung der politischen Unabhängigkeit. Die Lösung nationaler Probleme liegt im wohlverstandenen Interesse aller patriotischen und fortschrittlichen Kräfte der Nation.

Dieses ist ein verhältnismäßig bescheidenes Programm für die Kolonialvölker, es ist tatsächlich ein Programm, mit dessen Grundzügen die Vereinigten Staaten einverstanden sein könnten. Zudem macht das Programm Zugeständnisse für die Teilnahme der „nationalen Bourgeoisie an der Politik der Kolonialvölker“ und analysiert den Doppelcharakter dieser Bourgeoisie. Weiterhin wird die positive Rolle, die die neutralen Staaten spielen können, durch folgende Stelle des Programms betont:

Die Nationalstaaten werden als eine unabhängige Kraft auf der politischen Weltbühne immer wirksamer. (...) Den Ländern und Völkern, die jetzt frei von kolonialer Unterdrückung leben, kommt eine hervorragende Rolle bei der Verhütung eines neuen Weltkrieges – dem Kernproblem der Gegenwart – zu.

Die Tatsache, dass das Programm „gerechte anti-imperialistische Befreiungskriege“ von Kolonialvölkern billigt, bedeutet nichts weiter als den Ausdruck traditioneller Sympathie der Sowjets für koloniale Freiheitsbewegungen wie die algerische und kann unmöglich als Teil einer „neuen Kriegserklärung“ ausgelegt werden.

Das Programm spricht ausführlich von der letztlich angestrebten Abschaffung der kommunistischen Partei, vom Absterben des Staates und von vollkommen entwickelten demokratischen Prozessen. Während dies in völligem Gegensatz zum totalitären Charakter des gegenwärtigen russischen Regimes steht, deutet die [XI-434] nachdrückliche Betonung dieser Punkte sowie die Hervorhebung der Dezentralisierung – die in Anbetracht der gegenwärtigen Situation Russlands der Wirklichkeit schon näher kommt – zumindest auf eine größere Freiheitstendenz hin, die ohne Rücksicht auf die Wünsche Chruschtschows ein Zugeständnis ist, das an das russische Volk gemacht werden muss und das ebenso dringend ist wie die verbesserte Befriedigung materieller Bedürfnisse.

Das neue kommunistische Programm unterscheidet sich nicht nur von den aggressiven Merkmalen älterer kommunistischer Taktiken; es unterscheidet sich auch grundlegend vom Geist des marxistischen Sozialismus. Nichts könnte aufschlussreicher sein als die Feststellung, die das „sozialistische Prinzip“ definiert als „ein Prinzip, dass die Mitglieder der Gesellschaft ein materielles Interesse an den Früchten ihrer Arbeit haben“. Tatsächlich ist dieses Prinzip während vieler Jahrzehnte vom westlichen Kapitalismus akzeptiert worden und kann deshalb nicht als Prinzip des Sozialismus bezeichnet werden. Der einzige typisch sozialistische Begriff des Programms ist der einer vom Staat gelenkten und staatseigenen Wirtschaft, die wirksamer ist als der Kapitalismus und deren letztes Ziel die bessere wirtschaftliche Leistung für das Volksganze ist. In diesem Programm ist der Sozialismus nicht, wie für Marx, eine neue Gesellschaft, die über den Kapitalismus hinausgeht, sondern er ist im wesentlichen ein Wohlfahrtsstaat, der erfolgreicher als der Kapitalismus, aber im selben Geiste wirkt.

Die ökonomischen Versprechungen des Programms, die als das Resultat einer weiteren erfolgreichen Entwicklung hingestellt werden, übersteigen im wesentlichen nicht die Errungenschaften der kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten. Kostenlose ärztliche Behandlung, Schulbesuch, Bücher, höhere Bildungseinrichtungen, öffentliche Verkehrsmittel und sogar die Abschaffung von Mieten können kaum utopische Ziele genannt werden. Einige davon sind längst in England und Skandinavien verwirklicht worden. (Diese Tatsache wird im Programm strikt übergangen.) Vor der Veröffentlichung des Programms drehten sich zahlreiche Gerüchte um die angeblich bevorstehende kostenlose Ausgabe von Brot; im Programm ist davon nicht die Rede. Während die wirtschaftlichen Ziele des Programms die eines vollentwickelten Wohlfahrtsstaates sind, sind die menschlichen Ziele reaktionärer als die der meisten kapitalistischen Länder. Dies wird besonders deutlich in der Beschreibung der kommunistischen moralischen Prinzipien. Die Partei vertritt die Ansicht, dass der Moralkodex der Schöpfer des Kommunismus die folgenden Grundsätze enthalten sollte:

Hingabe an die kommunistische Sache, Liebe zum sozialistischen Vaterland und zu anderen sozialistischen Ländern; gewissenhafte Arbeit zum Wohle der Gesellschaft – wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen; Anteilnahme jedes Einzelnen an der Erhaltung und dem Wachstum des allgemeinen Wohlstandes; ein hochentwickeltes Gefühl für öffentliche Pflichten und Unduldsamkeit gegenüber solchen Handlungen, die das öffentliche Interesse schädigen; Kollektivismus und freundschaftliche gegenseitige Hilfe; einer für alle und alle für einen; menschliche Beziehungen und gegenseitige Achtung; der Mensch ist dem Menschen ein Freund, Genosse und Bruder; Redlichkeit und Wahrhaftigkeit, moralische Lauterkeit, Bescheidenheit und Aufrichtigkeit im gesellschaftlichen und privaten Leben; gegenseitige Achtung in der Familie und eine verantwortungsvolle [XI-435] Erziehung der Kinder; kompromisslose Haltung gegenüber Ungerechtigkeit, Schmarotzertum, Unehrlichkeit und Strebertum (Karrierismus); Freundschaft und Brüderlichkeit zwischen allen Völkern der UdSSR; Ablehnung jedes Völker- und Rassenhasses; kompromisslose Haltung gegenüber den Feinden des Kommunismus; Frieden und Freiheit der Völker; brüderliche Solidarität mit den Werktätigen aller Länder und mit allen Völkern.

Dieses sittliche Programm mit seiner Betonung von Familie, Arbeit, Patriotismus, Pflicht hat Ähnlichkeit mit dem Programm Pétains oder Salazars, aber zweifellos nicht die geringste mit dem marxistischen Denken. Es deckt unbekümmert die kulturelle Wirklichkeit hinter den revolutionären Phrasen Sowjetrusslands auf, die sich aus calvinistischer Arbeitsmoral, der Muffigkeit viktorianischen Kleinbürgertums und aus moralischen Prinzipien der Diktatur zusammensetzt. Man kann sich gut vorstellen, dass irgendein sehr konservativ oder sehr reaktionär eingestellter Besucher der Sowjetunion, der Russisch kann, sich mit Ausnahme der Begriffe „Gott“ und „Kommunismus“ in dieser kulturellen Umgebung sehr zu Hause fühlen würde.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass das Programm ein klares Bild der derzeitigen Verhältnisse in der Sowjetunion und der Absichten ihrer Führer vermittelt. Die Sowjetunion ist erfolgreich in der Organisation einer zentral gelenkten Staatswirtschaft und in der Steigerung der materiellen Zufriedenheit ihrer Bewohner. Sie braucht Frieden und möchte Frieden haben und erwartet, dass sich die sozialistische Ideologie schließlich durchsetzen wird ohne gewaltsame Revolutionen oder einen internationalen Krieg. Sie verkörpert jedoch kein revolutionäres, sondern im Gegenteil ein konservatives System, das Tendenzen der zunehmenden Liberalisierung in dem Maße erkennen lässt, in dem die Möglichkeiten für einen höheren Lebensstandard wachsen.

Das Programm ist eine Herausforderung an den Kapitalismus, sich erfolgreich mit der Leistung des Kommunismus zu messen, und es ist das genaue Gegenteil einer Kriegserklärung.

Kommunismus und Koexistenz.
Das Wesen der totalitären Bedrohung heute.
Eine Analyse des Manifests der 81 Kommunistischen Parteien

(Communism and Co-Existence. The Nature of the Totalitarian Threat Today: An Analysis of the 81-Party Manifesto)

(1961g)[4]

Die im November 1960 in Moskau von 81 Kommunistischen Parteien abgegebene „Erklärung“ ist ein langes, etwa 20 000 Worte umfassendes Dokument, das ganz im ritualistischen Stil solcher „marxistisch-leninistischen“ Erklärungen geschrieben ist. Will man die Bedeutung dieser Erklärung richtig einschätzen, so muss man beachten, (1) dass sie auf dem Hintergrund der russisch-chinesischen Kontroverse verfasst wurde; (2) dass fast drei Wochen ununterbrochener Verhandlungen notwendig waren, um zu dieser Erklärung zu kommen; und (3) dass die Erklärung ganz im Stil und gemäß dem Ritual der kommunistischen Ideologie geschrieben ist.

Zum letzten der drei Punkte, der dem westlichen Beobachter die größten Schwierigkeiten machen dürfte, möchte ich ganz allgemein bemerken: Die kommunistischen Gesellschaften werden durch ein ideologisches System zusammengehalten, das mehrere Funktionen hat. (1) Es enthält Gedanken wie die der klassenlosen Gesellschaft und des Friedens, die auf die Menschen einen tiefen Eindruck machen und ihnen daher Befriedigung gewähren. (2) Die Ideologien werden zu einem Dogma, das einen gemeinsamen Bezugs- und Orientierungsrahmen abgibt, und außerdem sind sie ein Symbol der Treue und des politischen Zusammengehörigkeitsgefühls. (3) Da die Autorität der Partei und die Chruschtschows sich auf die Legitimität seiner Nachfolge von Marx und Lenin und deren Theorien gründet, muss die Ideologie eine „korrekte“ Wiederholung der ursprünglichen Gedanken oder Formeln sein. (4) Die Folge ist, dass gewisse Formulierungen und Worte in einer ritualistischen Form gebraucht werden müssen und dass Änderungen innerhalb des ideologischen Bezugsrahmens durch eine andere Betonung und durch leichte Begriffsverschiebungen bewirkt werden müssen. (5) Weil Chruschtschow die Zustimmung der Spitzen der russischen politischen Bürokratie und einer Mehrheit anderer wichtiger Führer der Kommunistischen [V-200] Partei braucht, muss er seine Neuerungen in der vorschriftsmäßigen orthodoxen Sprache und stets als korrekte Interpretation der „Schriften“ (von Marx und Lenin) formulieren. Diese ideologische Kontinuität braucht er als Grundlage für seine politische Legitimität. (Nebenbei sei bemerkt, dass dies auch für viele andere Situationen in der Geschichte zutrifft, wenn eine Bürokratie sich gezwungen sieht, sich verändernde Ideen in der Begrifflichkeit einer angeblich unveränderlichen Ideologie auszudrücken.) Dies ist umso wichtiger, als sich das Sowjetsystem tatsächlich aus einem revolutionären System in einen konservativen Staatskapitalismus verwandelt hat, der von einer Elitebürokratie verwaltet wird und in völligem Widerspruch zu den ursprünglichen revolutionären und sozialistischen Ideen steht. Aufgrund dieses Ritualismus müssen gewisse Erklärungen in jeder kommunistischen Verlautbarung auftauchen.

Kurz nach den Einleitungsabschnitten steht folgende Erklärung (sämtliche Zitate sind, sofern nicht anders vermerkt, der Zeitung Neues Deutschland vom 6. Dezember 1960 entnommen, in der das Dokument veröffentlicht wurde; Hervorhebungen E. F.):

Das Hauptergebnis dieser Jahre ist das stürmische Wachstum der Macht und des internationalen Einflusses des sozialistischen Weltsystems, der aktive Prozess des Zerfalls des Kolonialsystems unter den Schlägen der nationalen Befreiungsbewegung, das Anwachsen der Klassenkämpfe in der kapitalistischen Welt, der weitere Niedergang und die weitere Zersetzung des kapitalistischen Weltsystems. In der Weltarena tritt das Übergewicht der Kräfte des Sozialismus über den Imperialismus, der Kräfte des Friedens über die Kräfte des Krieges immer stärker zutage.

An anderer Stelle heißt es:

Der Imperialismus jedoch, der seine Positionen halten möchte, sabotiert die Abrüstung. Er ist bemüht, den „Kalten Krieg“ zu verlängern und ihn auf jede Weise zu verschärfen. Er bereitet hartnäckig einen neuen Weltkrieg vor. Darum gebietet das Leben, dass die sozialistischen Länder, die internationale Arbeiterklasse, die nationale antiimperialistische Bewegung, alle friedliebenden Staaten, alle Friedenskämpfer ihre Bemühungen immer fester vereinigen und immer entschlossener handeln, um den Krieg abzuwenden und den Menschen ein Leben in Frieden zu sichern. Das Leben fordert gebieterisch den weiteren Zusammenschluss aller revolutionären Kräfte zum Kampfe gegen den Imperialismus, für nationale Unabhängigkeit, und für den Sozialismus.

Der letzte Abschnitt der Erklärung lautet:

Die Teilnehmer der Beratung sehen im weiteren Zusammenschluss der kommunistischen Parteien auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus und des proletarischen Internationalismus die wichtigste Voraussetzung für die Vereinigung aller Kräfte der Arbeiterklasse, der Kräfte der Demokratie und des Fortschritts, die Gewähr für neue Siege der kommunistischen und Arbeiterbewegung der ganzen Welt in ihrem großen Kampf für eine Zukunft der ganzen Menschheit, für den Triumph des Friedens und des Sozialismus.

Es ließen sich noch weitere, ähnlich aggressiv klingende Äußerungen zitieren, doch halte ich dies nicht für notwendig, weil alle, die diese oder andere kommunistische Erklärungen gelesen haben, sie als üblich voraussetzen.

Der andere Aspekt, von dem aus das Dokument beurteilt werden muss, ist der [V-201] Hintergrund der russisch-chinesischen Kontroverse. Die folgenden Bemerkungen versuchen den Kern des Problems zu treffen:

Die Differenz zwischen Russland und China muss man zunächst als tatsächliche Verschiedenheit zweier Systeme beurteilen. Die Sowjetunion ist die jüngste unter den europäischen Industrienationen; sie hat gegenwärtig ein Stadium hochgradiger Industrialisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft erreicht und ist zum zweitmächtigsten Industriestaat nach den Vereinigten Staaten geworden. Die Sowjetunion gehört zu den reichen Industriestaaten und ist trotz ihrer kommunistischen Ideologie ein konservatives Managersystem mit gesellschaftlichen und ökonomischen Klassenunterschieden, die schärfer ausgeprägt sind als in den demokratischen Ländern des Westens. Demgegenüber gehört China [1961] zur unterentwickelten Welt und hat einen zehn bis zwanzig Mal niedrigeren Lebensstandard als der Westen – ist also zweifellos ein armes Land.

Von Russland übernommen hat China die revolutionäre Ideologie, Zentralisations- und Planungsmethoden, technische Hilfe, diplomatische Unterstützung und eine relativ geringe Wirtschaftshilfe. Doch heute versucht es neue und eigene Wege zu gehen und droht zum Führer einer antikolonialistischen Revolution in Asien, Afrika, ja sogar in Lateinamerika zu werden. Die Sowjetunion befindet sich hierbei in einem Dilemma: Das auf sich allein gestellte China ist als Führer der Entwicklungsländer ein Rivale, der zu einer Bedrohung der Sowjetunion (wie auch Europas und Nordamerikas) werden könnte. Gleichzeitig kann Russland nicht mit China brechen, weil das bedeuten würde, dass es einen wichtigen Verbündeten verlieren und dem überlegenen Westblock gegenüber in eine isolierte Stellung hineingeraten würde. Chruschtschow muss versuchen, sich China als Verbündeten zu erhalten (was auch für China notwendig ist) und seine eigene beherrschende Stellung innerhalb der Sowjetunion wie auch unter den anderen kommunistischen Parteien zu bewahren.

Die objektive Dichotomie der Interessen zwischen Russland und China zeigt sich seit 1958 auf politischem und ideologischem Gebiet, besonders aber seit Chruschtschows Besuch in Peking im Jahre 1959. A. M. Halpern (1960, S. 26 f.) schildert die Ereignisse während und nach diesem Besuch folgendermaßen:

Wir müssen annehmen, dass Chruschtschow bei seiner Ankunft in Peking den chinesischen Führern gegenüber befriedigt geäußert habe, eine Verständigung mit dem Westen sei sowohl wünschenswert als auch erreichbar, und dass er vorhabe, in ernsthafte Verhandlungen einzutreten. Wahrscheinlich hat er ihnen gewisse Beschränkungen bei ihrer zukünftigen militärischen Entwicklung vorschreiben wollen. Ziemlich sicher hat er von ihnen zumindest einen anderen Stil bei ihrer Außenpolitik und gewisse politische Änderungen in wesentlichen Fragen verlangt. Vermutlich hat er ihnen außerdem versichert, er werde bei den Verhandlungen ihre Interessen nicht unberücksichtigt lassen, ihnen aber gleichzeitig zu verstehen gegeben, dass sie sich darauf gefasst machen müssten, dass ihre Maximalforderungen nicht ganz erfüllt würden.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959121958
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Kalter Krieg USA UdSSR Kommunismus Entspannungspolitik
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