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Über amerikanische Außenpolitik

©2016 70 Seiten

Zusammenfassung

Wer mit dem Denken Fromms ist, den überrascht es nicht, dass Fromm zeitlebens aktiv am politischen Leben Anteil nahm und entsprechend seinen Möglichkeiten als Psychoanalytiker und Sozialpsychologe dabei selbst politische Verantwortung übernahm. Dies zeigen eindrücklich die Beiträge dieses Sammelbandes ‚Über amerikanische Außenpolitik‘. Fromms Hauptanliegen ist dabei die Entspannungspolitik im Kalten Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion.

Dem deutschen Leser fällt auf, wie informiert der regelmäßige ‚Spiegel‘-Leser auch in Mexiko über die politischen Verhältnisse in Deutschland war und wie kritisch er die deutsche Politik beurteilte. Er sah durchaus die Gefahr, dass sich die Machtkonstellation von Militär und Wirtschaft neu formieren könnte, die zum Nationalsozialismus führte. Gerade die Beiträge gegen Ende des Bandes machen deutlich, dass gerade der Emigrant Fromm sehr sensible Antennen für die Entwicklungen in der deutschen Nachkriegspolitik hatte.

Aus dem Inhalt:
Was soll mit Deutschland geschehen?
Anmerkungen zu einer realistischen Außenpolitik
Russland, Deutschland, China – Bemerkungen zur Außenpolitik
Die Zukunft eines Neuen Europas
Tatsachen und Fiktionen über Berlin
Andere Stimmen aus Deutschland
Die Spiegelaffäre – ein altes Muster?
Die amerikanische Außenpolitik nach der Kuba-Krise
Kennedys Mörder
Außenpolitik nach dem Verbot von Atomwaffenversuchen
China und der Krieg in Vietnam
Die deutsche Frage
Marschiert Deutschland bereits wieder?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was soll mit Deutschland geschehen?

(What Shall We Do with Germany?)

(1943c)[2]

Psychoanalytiker und Psychiater haben immer wieder versucht, Nationen sowie religiöse und politische Bewegungen zu „analysieren“.[3] Hierbei werden fast immer die gleichen methodologischen Fehler gemacht: Zunächst entdeckt der Psychoanalytiker eine gewisse Ähnlichkeit zwischen einem klinischen Symptom und einem kulturellen Phänomen. Dann wird eine Analogie konstatiert und versucht, das kulturelle Phänomen als von eben jenen Faktoren verursacht zu erklären, die dem individuellen Symptom zugrunde liegen. So werden religiöse Kontroversen etwa als Symptome von Zwangsneurosen, politische Bewegungen als Ergebnis eines ungelösten „Ödipuskomplexes“ und sozio-ökonomische Systeme als durch neurotische Charakterbildungen verursacht „erklärt“. Soziale und politische Faktoren betrachtete man nur insofern als „real“, als man darin den rationalisierten Ausdruck gewisser neurotischer Symptome sah. Die Irrtümer dieser Methode waren für viele Sozialwissenschaftler so entmutigend, dass die meisten von ihnen es nicht mehr der Mühe wert hielten, psychoanalytische und sozio-ökonomische Erkenntnisse miteinander in Verbindung zu bringen.

Der Wunsch der Psychiater, auch ihrerseits einen Beitrag zum Sieg über den Kriegsgegner zu leisten, hat zu einer Reihe von Artikeln und Büchern geführt, die sich mit dem Charakter der Deutschen beschäftigen. Zu den besten Versuchen dieser Art gehört das Buch Is Germany Incurable? von R. M. Brickner (1943). Für jeden Sozialpsychologen, der davon überzeugt ist, dass die Psychologie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Gruppenverhaltens liefern kann, sollte das neuerwachte Interesse an diesem Problem, wie es in diesem Buch zum Ausdruck kommt, ermutigend sein. Um so mehr ist zu bedauern, dass der Autor wiederum in den methodologischen Irrtum verfällt, der auch schon für frühere Veröffentlichungen von Psychiatern und Psychoanalytikern typisch war. Auch er bedient sich der Methode der Analogie, wo eine gründliche Analyse des Charakters der Deutschen angebracht gewesen wäre. Seine klinische Beschreibung des paranoiden Charakters ist vorzüglich. Aber die Art und Weise, wie er zeigt, dass die Deutschen – oder doch die meisten von ihnen – in dieses klinische Bild hineinpassen, ist nicht haltbar. Er versucht seine These hauptsächlich damit zu beweisen, dass er deutsche Schriftsteller zitiert, deren Äußerungen [V-010] die paranoide Färbung besitzen, die er in seiner klinischen Schilderung paranoider Patienten dargestellt hat. Aber ganz abgesehen davon, dass es zweifelhaft erscheint, dass man den Charakter irgendeiner Nation aufgrund literarischer Zitate analysieren kann, lässt auch die Auswahl, welche der Autor unter den deutschen Schriftstellern getroffen hat, jegliche Objektivität vermissen. Mit wenigen Ausnahmen zitiert er nur nationalistische und reaktionäre Schriftsteller, die für Deutschland nicht repräsentativer sind, als es reaktionäre Schriftsteller für jedes beliebige andere Land wären. Tatsächlich wenden ja die Nationalsozialisten bei ihren Angriffen gegen Juden, Franzosen und Engländer die gleiche Methode an, dass sie bestimmte Schriftsteller als Beweis für die Schlechtigkeit eines ganzen Volkes zitieren. Der Autor trifft nicht nur eine einseitige Auswahl unter den Schriftstellern, er zitiert auch besonders häufig aus Büchern, die während des Ersten Weltkriegs oder in früheren Kriegen geschrieben wurden, was die mangelnde Objektivität seiner Auswahl noch verstärkt. Das Goethe-Zitat: „Du musst (...) Amboß oder Hammer sein“[4] setzt er als Motto über das Kapitel über das Bedürfnis der Deutschen zu herrschen, obgleich Goethe als vorzügliches Beispiel für das genaue Gegenteil dieser „paranoiden“ Weltanschauung dienen könnte. Zu den wenigen Beispielen, in denen der Autor sich auf eine politische Bewegung anstatt auf literarische Zitate bezieht, gehören seine häufigen Nennungen des Alldeutschen Verbandes. Hier aber ist Dr. Brickner über die Popularität dieser kleinen Gruppe deutscher Konservativer im Vor-Hitler-Deutschland einfach falsch informiert.

Es wäre in der Tat äußerst wichtig für unsere Kriegführung, wenn wir über den Charakter der Deutschen richtig informiert wären. Aber diese Aufgabe erfordert mehr Wissen über die Deutschen und eine bessere Methode, als die, welche Dr. Brickner in seinem Buch anwendet. Es ist zwar richtig, dass die Nationen einen bestimmten „Gesellschafts-Charakter“ haben. Sie haben gewisse gemeinsame Charakterzüge, weil sie gewisse grundlegende gemeinsame Erfahrungen haben, die alle Mitglieder dieser Gruppe erlebt haben. Um den Gesellschafts-Charakter irgendeiner Nation zu analysieren, muss man ihre gesellschaftliche, ökonomische, politische und kulturelle Situation in allen Einzelheiten untersuchen und dann zu verstehen versuchen, wie diese Gesamtsituation die Charakterstruktur der meisten Mitglieder dieser Nation geformt hat. Man muss die komplizierte Wechselwirkung von sozio-ökonomischen, ideologischen und psychologischen Faktoren untersuchen, die in der Geschichte einer jeden Nation wirksam sind. Das aber kann man nur, wenn man über gründliche Kenntnisse der Geschichte eines Volkes verfügt und ein echtes Interesse daran hat, wie ja auch der Psychiater die individuelle Lebensgeschichte seines Patienten genau kennen muss.

Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass eine solche ernsthafte Untersuchung ergeben wird, dass große Nationen sich durch bestimmte Charakterzüge voneinander unterscheiden, jedoch nicht in dem Sinn, dass die einen ihrer Natur nach gut und andere ihrer Natur nach böse sind; auch nicht in dem Sinn, dass die einen „gesund“ und die anderen „krank“ sind. Wahrscheinlich wird bei einer solchen Untersuchung herauskommen, dass die charakterologischen Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb eines Volkes signifikant sind. Deutschland ist hierfür ein [V-011] Musterbeispiel. Man kann einiges aus der Beschreibung, die Dr. Brickner vom paranoiden Charakter gibt, sehr gut auf die deutsche untere Mittelschicht anwenden, die den Kern der nationalsozialistischen Partei bildet, und eine weitere Analyse könnte zeigen, dass die Gründe für diese Entwicklung in der sozio-ökonomischen Situation dieser Klasse zu suchen sind. Es würde sich dabei auch herausstellen, dass die paranoiden Tendenzen für die große Mehrheit der deutschen Arbeiter und Bauern und für die obere Mittelschicht nicht charakteristisch sind.

Die wachsende Zahl von Veröffentlichungen, die mit psychiatrischen Methoden den deutschen Nationalcharakter begreifen wollen, birgt eine zweifache Gefahr in sich: Einerseits besteht die Gefahr, dass die psychiatrischen Begriffe als Rationalisierungen für politische Schlagworte benützt werden und uns so daran hindern, jene gründlichen Kenntnisse zu erwerben, die wir zur Kriegsführung und für eine realistische und vernünftige Friedensplanung brauchen. Andererseits besteht die Gefahr, dass diese Begriffe zu einem Ersatz für tragfähige ethische Aussagen werden. Sie können unseren Sinn für moralische Werte dadurch beeinträchtigen, dass sie mit einem Begriff aus der Psychiatrie das bezeichnen, was man schlicht „böse“ nennen sollte.

Anmerkungen zu einer realistischen Außenpolitik

(Remarks on a Realistic Foreign Policy)

(1990j)[5]

Die Situation der Welt ist seit dem Ende des Ersten Weltkriegs durch verschiedene Merkmale gekennzeichnet:

  • durch die politische Machtverschiebung von Europa weg auf die Vereinigten Staaten hin;
  • durch den Aufstieg der Arbeiterklasse in Europa und Nordamerika sowie deren wirtschaftliche und politische Teilhabe an der Mittel- und Oberschicht;
  • durch die Umgestaltung des westlichen Industriesystems auf immer noch größere Großunternehmen hin, die von Managern geleitet werden und bei denen die Manager nicht mehr die Besitzer sind;
  • durch die Niederlage der revolutionären Arbeiterbewegung im Westen und den Erfolg eines zentralisierten Staatskapitalismus (unter dem Namen Sozialismus) in Russland;
  • durch den Erfolg eines revolutionären China, das durch Methoden umfassender Mobilisierung und Manipulation seiner Bevölkerung einer der mächtigsten Staaten der Welt wird;
  • durch das wirtschaftliche und militärische Wiedererstarken Deutschlands nach seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg, wodurch es zur beherrschenden Macht in Westeuropa wird;
  • durch das Fortschreiten der Revolution in den unterentwickelten Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas;
  • durch den offenen Konflikt zwischen den „kommunistischen“ und den „kapitalistischen“ Ländern sowie den versteckten, aber wachsenden Konflikt zwischen der Sowjetunion (und den meisten ihrer europäischen Verbündeten) und dem kommunistischen China;
  • durch die Entwicklung von Waffensystemen, die es China und einer Reihe anderer Länder in wenigen Jahren möglich machen wird, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen, und ein Wettrüsten, das aller Wahrscheinlichkeit nach durch einen Fehler oder durch Torheit zu einem Atomkrieg führen und damit unsere demokratische Zivilisation zerstören wird.

Jede realistische amerikanische Außenpolitik muss diese Tatsachen zur Grundlage [XI-414] ihres Handelns machen. Während einige dieser Tatsachen allgemein anerkannt werden, gibt es bezüglich einiger anderer Sachverhalte eine große Verwirrung: vorwiegend über das, was die Sowjetunion will, über den grundlegenden Konflikt mit China, über den Weg, welchen die koloniale Revolution möglicherweise nehmen wird und über die Gefahr eines wiederbewaffneten Deutschlands für den Westen als auch für die Sowjetunion. Die folgenden Überlegungen gehen auf diese Fakten ein.

Lenin und Trotzki waren Revolutionäre, die glaubten, dass Russland zusammen mit einem kommunistischen Deutschland eine sozialistische Gesellschaft aufbauen könnte, die nach einer diktatorischen Übergangszeit schließlich zu einer klassenlosen Gesellschaft führen würde, in welcher das nicht-entfremdete Individuum seine größtmögliche Selbstverwirklichung finden könnte. Ihnen unterliefen mehrere schwere Fehler. Sie erkannten nicht, dass die Arbeiter im Westen in keiner revolutionären Stimmung waren, sondern zu einem integrierten Teil ihres jeweiligen Systems geworden waren. Außerdem erkannten sie nicht, dass gerade ihre Methode der Diktatur, bei der sie eine kleine Elite an die Stelle der Mehrheit der Arbeiter und Bauern setzten, zur Niederlage ihrer sozialistischen Hoffnungen führen würde.

Als nach Lenins Tod Stalin an die Macht kam, „säuberte“ er Russland von der sozialistischen Revolution. Mit der Parole vom „Sozialismus in einem Land“ begann Stalin, in Russland einen Staatskapitalismus aufzubauen. Durch Ausrottung derer, die noch die Ideen der Revolution vertraten, schaffte er sich diese vom Hals. Das Ziel einer schnellen Kapitalanhäufung erforderte enorme Opfer seitens der Bevölkerung, die nur mit Hilfe von Terror aufgebracht wurden. Da er weder eine religiöse noch irgendeine andere Ideologie hatte, um die Massen an sein System zu binden, bediente er sich (zusammen mit einer nationalistischen) der traditionellen kommunistischen Revolutionsideologie; ebenso machte er sich das Ansehen von Lenin und Marx zunutze, um sich die Stellung eines „Führers in eine sozialistische Zukunft“ widerrechtlich anzueignen. Auch nahm er die Tatsache hin, dass es keine Aussicht auf eine revolutionäre Bewegung unter den Arbeitern des Westens gab, und er gab nicht nur die Hoffnung auf eine kommunistische Revolution im Westen auf, sondern versuchte sogar, wenn auch nicht mit vielen Worten, alles, was an echter kommunistischer Revolutionsbewegung noch übriggeblieben war, klein zu halten. Stalin handelte so, nicht nur weil er dem Erfolg solcher Revolutionsbewegungen misstraute, sondern auch, weil ein Sieg der Revolution im Westen eine Gefahr für den in Russland entstehenden autoritären Staatskapitalismus dargestellt hätte. Dennoch sprach Stalin weiterhin von „Sozialismus“ und „Weltrevolution“, und er unterstützte dem Anschein nach die kommunistischen Parteien in Europa, Amerika und anderen Teilen der Welt. Für die meisten Beobachter des Westens scheint es sehr schwierig zu sein, diese Erklärungen nicht für bare Münze zu nehmen, obwohl es in der Geschichte genügend Beispiele gibt für den Gebrauch religiöser, philosophischer oder politischer Ideologien, mit denen Tatsachen, die der Ideologie genau entgegengesetzt waren, abgedeckt wurden.

Stalin hatte hauptsächlich zwei Gründe für sein Verhalten: Erstens benutzte er die kommunistischen Parteien des Westens, die ja für die anderen ein Ärgernis bedeuteten, als einen Verhandlungspunkt seiner Außenpolitik. Zweitens musste er dem Kommunismus das Wort reden (später ergänzt durch einen russischen Nationalismus), da [XI-415] die kommunistische die einzige Ideologie war, die die Massen verband und mit der er sie an sich binden konnte. Vielleicht hat er sogar selbst geglaubt, dass sein reaktionärer Staatskapitalismus den marxistischen Sozialismus heraufführen werde. (Die Frage seiner eigenen „Aufrichtigkeit“ ist allerdings geschichtlich ebenso belanglos wie die Frage, ob einige der Renaissance-Päpste an die von Christus vertretenen Vorstellungen von Demut, Armut und Liebe glaubten.)

Für den westlichen Beobachter ist es besonders schwierig, die eigentlich nur rituelle Bedeutung der sowjetischen Ideologie zu verstehen, weil er eine nur geringe oder – noch schlimmer – nur eine total verzerrte Kenntnis des marxistischen Sozialismus hat. In Wirklichkeit war der Sozialismus von Marx ganz vom Humanismus des Achtzehnten Jahrhunderts beeinflusst und tief anti-materialistisch wie dessen Geist. Er trachtete nach der Befreiung des Menschen von den Fesseln wirtschaftlicher Interessen und nach dem Aufbau einer gesellschaftlichen Grundlage, die die volle Entwicklung des nicht-entfremdeten, wahrhaft selbst-bewussten Individuums ermöglichen sollte – eines Menschen also, um mit den Worten von Marx zu sprechen, der reich ist, weil er viel ist, nicht weil er viel hat. Stalins Verwendung marxistischer Begriffe war ein großer historischer Betrug. Statt das Scheitern der revolutionären Hoffnungen zuzugeben, baute er einen autoritären Staatskapitalismus auf und nannte ihn „Sozialismus“.

Stalin hatte „Erfolg“ damit. Wahrscheinlich wäre er auch mit einem viel geringeren Maß an Einschüchterung erfolgreich gewesen, wäre er nicht ein krankhaft misstrauischer und machthungriger Mann gewesen, hätte er die Tatkraft der Menschen auf konstruktivere Wege leiten können, und wäre er beim Tempo der Kapitalanhäufung nicht so unnachgiebig gewesen. Aber wie immer dies auch gewesen sein mag: Als Stalin starb, hinterließ er ein Land, in welchem die industrielle Grundlage für einen weiteren Ausbau der Industrie, für Rüstung und für eine wachsende Konsumgüterproduktion geschaffen war.

Nach Stalin entstand das Russland Chruschtschows. Chruschtschow verkörpert das neue Gesicht Russlands, nicht das eines sozialistischen Russlands, auch nicht das eines revolutionären Russlands, sondern eines Russlands des Staatskapitalismus, eines Systems der Zentralisierung und Industrialisierung, regiert von einer politischen und militärischen Bürokratie: Dieses System ist durchdrungen von einem Geist, dessen Ziel eine höhere Produktion und eine größere materielle Befriedigung der Gesellschaft ist. In ihm werden die Arbeiter – wie alle anderen Bürger – ihres kritischen Denkens und Handelns wie auch jener ganz gewöhnlichen Freiheiten beraubt, die im Westen schon selbstverständlich sind. Immerhin hat Chruschtschow Russland immer mehr vom Terror des Stalin-Regimes befreit und diesen ersetzt durch Manipulations- und Suggestionsmethoden mit Hilfe politischer Parolen und verbunden mit den Praktiken eines Polizeistaates.

Das sowjetische Russland zur Zeit Chruschtschows ist ein Staat, der keineswegs dem marxistischen Sozialismus entspricht. Denn dieser zielte auf die Kontrolle der Wirtschaft durch die Arbeiter und auf das Verschwinden des Staates, während das System Chruschtschows den Arbeiter durch eine den Staat beherrschende Bürokratie kontrolliert. Der Umstand, dass die Industrie Russlands verstaatlicht und zentral gelenkt [XI-416] ist, macht noch kein sozialistisches System. Die Bezeichnung „Staatskapitalismus“ oder „Superkartell“ wäre passender. Damit wird der derzeitige Trend in der westlichen Industriegesellschaft auf die Spitze getrieben: die Entwicklung hin zu riesigen Unternehmen und zu einem totalen Zentralismus.

Der „Chruschtschowismus“ von heute ist eine Mischung aus modernsten Methoden eines Riesenunternehmens und Monopols, dem Geist eines konservativen Viktorianismus und den Methoden eines Polizeistaates, verbunden mit einer sozialistischen Ideologie. Tatsächlich nähern sich – trotz vieler Unterschiede – Chruschtschows System und das der Vereinigten Staaten einander an, es sei denn, es kommt bei uns zu einer Renaissance des Individualismus. Beide Systeme stellen Maschinenkulturen dar und basieren auf dem Prinzip maximaler Produktion und größter wirtschaftlicher Effizienz. Beide haben eine materialistische Zielsetzung, ungeachtet einer christlichen Ideologie im Westen und eines säkularisierten Messianismus im Osten. In beiden Systemen wird das Individuum mehr und mehr zu einem Rädchen in der großen Maschine. Vermutlich wird das sowjetische System, je mehr es sich wirtschaftlich entwickelt, die Einschüchterung durch Methoden psychologischer Manipulation ersetzen können. Wie dem auch sei – heute gehört die Sowjetunion zu den Staaten des „Habens“ und sie ist in vielerlei Hinsicht konservativer als die Vereinigten Staaten. Außerdem fühlt sie sich durch das kommunistische China bedroht, welches die Rolle für sich beansprucht, bei den früheren Kolonialvölkern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die Revolutionen anzuleiten.

Der rasche Erfolg des kommunistischen China verursachte einen bedeutenden Wandel in der Politik der Sowjetunion gegenüber den kommunistischen Parteien Chinas und gegenüber anderen unterentwickelten Ländern. China, das äußerst drastische Methoden anwendet, um Gedanken und Gefühle von Hunderten von Millionen zu aktivieren und zu manipulieren, hat einen unglaublich schnellen Fortschritt in der Industrialisierung gemacht und droht zu einer bedeutenden Militärmacht zu werden. Es bietet anderen unterentwickelten Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika seine Methoden und seine Hilfe an und droht zum Führer aller Völker, die nichts haben, zu werden. So wird China nicht nur für Russland – als einer Nation des „Habens“ (zumal eines Volkes mit weißer Hautfarbe, was, psychologisch gesehen, kein unwichtiger Punkt ist) – zu einer Bedrohung, sondern China wird auch zum Rivalen Russlands als Führer der nationalen Revolutionen in den unterentwickelten Ländern.

Chruschtschow befindet sich in folgendem Dilemma: Er muss entweder zu einer Verständigung mit den Vereinigten Staaten kommen, was zum Ende des Kalten Krieges und des Wettrüstens führen würde, oder er wird von der pro-chinesischen, stalinistischen Fraktion abgesetzt werden, bzw. er wird dazu gezwungen, ihre Politik auszuüben. In letzterem Fall sind die Friedensaussichten in der Tat sehr gering. Er kämpft um Frieden und um sein eigenes politisches Überleben, indem er versucht, zu einer Verständigung mit den Vereinigten Staaten zu kommen. Aber er kann seine Vorstellungen nicht frei äußern. Er muss in der Sprache des Kommunismus und des Anti-Imperialismus sprechen, da er andernfalls in der Konkurrenz um die Führung bei den Kolonialländern gegen China verlieren würde. Es ist offensichtlich, dass er Versprechungen Chinas in Kuba oder im Kongo ausgleichen muss, aber es bleibt in der [XI-417] Hauptsache beim Sprechen, während er sich aggressiver Handlungen enthält. Die große Schwäche der amerikanischen Position ist, dass sie seine Worte als Taten begreift, das heißt, dass sie den konservativen Charakter von Chruschtschows Russland nicht sieht, das Wesen des Sozialismus nicht begreift und unfähig ist, zwischen Chruschtschows Ideologie und seinen wirklichen Absichten zu unterscheiden.

Es gibt keine wirklichen Konflikte zwischen der Sowjetunion und dem westlichen Block (sieht man von gegenseitigen Verdächtigungen, deren Ursache das Wettrüsten ist, ab), außer dem Problem, das mit der deutschen Frage verbunden ist. Deutschland ist das jüngste der hochindustrialisierten Länder Europas, auf Gebietserweiterungen aus und auf der Suche nach Rohstoffen und Märkten. Dieser Hang zu expandieren führte zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der Militarismus des Kaisers oder die Bösartigkeit Hitlers die „Gründe“ für diese Kriege waren. Sowohl der Kaiser als auch Hitler waren die Vorreiter für das explosive Gemisch aus einer starken deutschen Industrie und militärischem Können. Diese gleichen Kräfte gibt es in Deutschland bis heute und sie werden gestärkt durch ein zunehmend nationalistisches Gefühl hinsichtlich der „geraubten Gebiete“ und der Frage der Wiedervereinigung, die diesmal durch demokratische Politiker vertreten wird. Neben Russland ist Deutschland bereits heute sowohl wirtschaftlich als auch militärisch die stärkste Macht und deshalb imstande, Westeuropa als Führer eines neuen Wirtschafts- und Militärblocks zu beherrschen. Die Russen waren seit Stalin von der Vorstellung besessen, dass Deutschland eine Gefahr sei, und sie sind es – zu Recht oder zu Unrecht – anscheinend immer noch. Das Ende des Kalten Krieges ist nur möglich, wenn sowohl West- als auch Ostdeutschland abrüsten. Auf dieser Grundlage wird es keine Schwierigkeit wegen Berlin geben, da Chruschtschow die Berlin-Frage nur dazu benutzt hat, um den Westen zu Zugeständnissen gegen die Wiederbewaffnung Westdeutschlands zu bringen.

Die Politiker der Vereinigten Staaten und ihre Berater müssen ihre Haltungen zum Sozialismus überdenken. Sind sie grundsätzlich gegen sozialistische Systeme, egal wo in der Welt? Betrachten sie solche Systeme automatisch als politische Verbündete der Sowjetunion und/oder des kommunistischen China und deshalb als Gefahr für die Vereinigten Staaten? Wenn sich die Vereinigten Staaten diese Haltung zu eigen machen, werden sie schließlich die meisten dieser Länder in den chinesischen Einflussbereich treiben. Wenn die Vereinigten Staaten andererseits wirklich sozialistische Regierungen, die nicht von Anfang an mit China verbündet sind, unterstützen, werden diese Regierungen wenigstens neutral bleiben, wenn sie nicht Freunde der Vereinigten Staaten und möglicherweise sogar auch Freunde der Sowjetunion werden. Dies bedeutet aber auch, dass die Vereinigten Staaten ihre Politik der Unterstützung amerikanischer Unternehmen in fremden Ländern in dem Maße aufgeben, wie diese Unternehmen nach einer politischen und wirtschaftlichen Herrschaft in diesen ärmeren Ländern streben; denn eine solche Herrschaft würden ihnen amerikanische Gesetze innerhalb der Vereinigten Staaten nie erlauben.

Die Castro-Revolution ist hierfür ein treffendes Beispiel: Sie wurde weder von den Russen noch von den Chinesen angestiftet. Sie wurde zu einer echten sozialistischen Revolution. Sobald im Verlauf der Revolution die finanziellen Interessen Kubas oder [XI-418] Amerikas berührt wurden, agierte man zunehmend gegen die vermeintliche kommunistische Gefahr, verhängte wirtschaftliche Sanktionen gegen Castro und förderte die kontra-revolutionären Kräfte sowohl in Kuba als auch auf amerikanischem Boden. Dies trieb Castro in immer größere Abhängigkeit von russischer und chinesischer Unterstützung (wobei die russische aus oben genannten Gründen nur widerwillig gewährt wurde). Die Behauptung, die Castro-Revolution habe kommunistischen Charakter, ist eine typische Prophezeiung, die sich selbst zu bestätigen hat. Eine andere Haltung gegenüber einem sozialistischen Regime hätte wahrscheinlich zu einer wesentlich weniger nationalistischen und anti-amerikanischen Haltung auf Castros Seite geführt.

Das Andauern des Wettrüstens ist eine zwangsläufige Begleiterscheinung des fortgesetzten Kalten Krieges. Das Wettrüsten wird aller Wahrscheinlichkeit nach durch Zufall, durch ein Missverständnis oder durch Torheit zum Ausbruch eines Atomkrieges führen, was in jedem Fall das Ende jener Zivilisation, die wir im Westen so wertschätzen, bedeuten wird. Folglich muss eine weltweite kontrollierte Abrüstung angestrebt werden, solange es noch nicht zu spät ist. Eine solche Übereinstimmung erfordert die Beteiligung Chinas, was dann wiederum den Sitz Chinas in den Vereinten Nationen und die Anerkennung der Regierung in Peking durch die Vereinten Nationen erforderlich macht.

Aus den genannten Überlegungen ergeben sich folgende Ziele für die amerikanische Außenpolitik:

  • Verhandlungen mit der Sowjetunion mit der Absicht, den Kalten Krieg zu beenden. Diese Verhandlungen gründen sich auf dem Einvernehmen, dass keine der beiden Mächte versuchen wird, ihre gegenwärtige Machtstellung auszubauen, indem sie andere Länder beherrscht. Eine solche Politik muss sich die Einsicht zu eigen machen, dass Chruschtschow kein unumschränkt herrschender Diktator ist wie Stalin; dass er gegen die Chinesen und ihre stalinistischen Verbündeten verlieren wird, wenn er keine Erfolge vorweisen kann (das heißt, keine Zugeständnisse des Westens); und dass ein Sieg über Chruschtschow nur ein Sieg zugunsten seiner Gegner ist und deshalb eine Niederlage für die Hoffnungen auf Frieden.
  • Verhandlungen für weltweite und kontrollierte Abrüstung unter Einbezug von China; Anerkennung der Regierung in Peking sowie ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen.
  • Entmilitarisierung von West- und Ostdeutschland.
  • Amerikanische Unterstützung für neutrale, demokratische und sozialistische Regierungen bei den früheren Kolonialvölkern; Unterstützung für die „Dritte Kraft“, für Tito, Nasser, Nehru.
  • Gemeinsam mit der Sowjetunion massive wirtschaftliche und technische Hilfe für die unterentwickelten Länder über eine Unterorganisation der Vereinten Nationen.

Eine Politik der Vernunft sollte auf der Einsicht in jene Entwicklungstrends aufbauen, die die Geschichte der Gegenwart bestimmen; sie sollte sich auf Bewegungen stützen, die notwendige Entwicklungen vorwegnehmen, statt diese einfach ihrem Lauf zu überlassen und in einer Katastrophe enden zu lassen. Noch ist es Zeit für eine solche umsichtige und vorausschauende Politik.

Russland, Deutschland, China – Bemerkungen zur Außenpolitik

(Russia, Germany, China: Remarks on Foreign Policy)

(1961h)[6]

Die Sowjetunion wurde beim Ausbruch der bolschewistischen Revolution 1917 von Revolutionären geführt, die ganz und gar davon überzeugt waren, dass der Sieg der Revolution in Russland und der erwartete Sieg in Deutschland sowie in anderen europäischen Ländern eine neue historische Epoche einleiten würde – so wie es sich Marx und andere Sozialisten vorgestellt hatten. Ihnen unterliefen jedoch eine Reihe schwerwiegender Fehler. Ein erster war ihre Überzeugung, dass sich zumindest Deutschland den revolutionären Kräften anschließen würde; es besteht kein Zweifel daran, dass sie die Macht in Russland nicht übernommen hätten, wenn sie gewusst hätten, dass dies ein Irrtum war. Abgesehen von diesem Irrtum, der darin bestand, dass sie den Verlauf der Geschichte falsch einschätzten, sahen sie auch nicht die Gefahren, die von Zentralisierung und Bürokratisierung, von der Unterdrückung der Spontaneität und Freiheit unter den Arbeitern und schließlich von der Anwendung von Terror und Gewalt ausgehen.

Mit der Krankheit und dem Tode Lenins und dem Sieg Stalins endete die Revolution in Russland. [...] Stalins Methoden zielten darauf ab, die Grundlage für eine starke Industrie zu schaffen, die nicht nur die Errichtung einer mächtigen Militäreinrichtung erlaubte, sondern die auch die Möglichkeiten bot, die Konsumwünsche in zunehmendem Maße zu befriedigen. [...]

Das sowjetische Russland unter der Führung Chruschtschows ist ein Staat, der keineswegs dem marxistischen Sozialismus entspricht. Dieser war ursprünglich eine Bewegung zur Befreiung des Individuums und zur Selbstverwirklichung der nicht entfremdeten menschlichen Persönlichkeit. Der „Chruschtschowismus“ ist eine neue Form von Staatskapitalismus, die zwar wirtschaftlich effektiv ist, menschlich jedoch verarmend wirkt. Chruschtschow muss zu kommunistischen Parolen von der Weltrevolution, zu den Lehren von Marx und Engels, zu Lenin als Führergestalt usw. greifen, da er keine andere Ideologie hat, die das Denken der Menschen bindet und vereint. Wer aber glaubt, er sei ein Revolutionär oder ein Sozialist, weil er mit deren Worten spricht, der ist ungefähr ebenso naiv, wie jemand, der glaubt, dass die Päpste der Renaissance Christen gewesen seien. Russland wird augenblicklich von einer großen industriellen, politischen und militärischen Bürokratie regiert, die sich mehr und mehr [XI-420] aus ihren eigenen Reihen rekrutiert – mit Ansichten und Interessen, die mit denen der Managergruppen in den Vereinigten Staaten und in anderen kapitalistischen Ländern vergleichbar sind. Dazu zählten: der Anschein einer konservativen und vorsichtigen Haltung, das Streben nach Machtzuwachs und nach einem höheren Status für sich selbst wie für die eigenen Kinder, ein größeres Einkommen zur Befriedigung tatsächlicher oder als Statussymbol dienender Konsumbedürfnisse. Tatsächlich ist Russland heutzutage nicht mehr ein Staat des „Nicht-Habens“, sondern ein Staat des „Habens“, eines der reichsten und wohlhabendsten Länder der Welt und offensichtlich auf dem Weg, noch reicher und wohlhabender zu werden. Hieraus resultieren aber auch seine politischen Ziele.

Die Sowjetunion, die 1917 die Weltrevolution anführte, ist heute eine der konservativsten Mächte. Mehr und mehr gründet ihr System auf einer starren Klassenstruktur, die von einer zentralistisch organisierten Schicht leitender Funktionäre regiert wird. Weil sie ihre Massen mit traditionellen kommunistischen Parolen bindet, muss sie oft die Sprache Lenins und des Kommunismus zu Hilfe nehmen. Doch jene im Westen, die glauben, dass Russland für das, was es sagt, einsteht, fallen nur auf Worte herein, statt Tatsachen zu sehen. Es besteht kein Zweifel, dass Chruschtschow heute den führenden Industriellen der Vereinigten Staaten näher steht als Marx oder Lenin, allerdings mit dem Unterschied, dass er es wahrscheinlich besser weiß als die führenden Industriellen der Vereinigten Staaten. Wie Nehru kürzlich sagte, sind sich die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten heute in Wirklichkeit ähnlicher als sonst noch zwei andere Länder der Welt, ja er sagte voraus, dass sie sich in Zukunft noch ähnlicher würden, denn sie beide seien von Maschinen geprägte Zivilisationen. (Vgl. hierzu die New York Times vom 10. Oktober 1960.)

Für Chruschtschows Außenpolitik folgt daraus, dass Russland als einer der „Haben-Staaten“ Angst vor den „Nicht-Haben-Staaten“ hat, an deren Spitze heute China steht. Er schaut auf China genau so, wie die kapitalistischen Völker vor vierzig Jahren auf Russland schauten: als einen möglichen Führer für Revolutionen in den Kolonialvölkern und, nebenbei bemerkt, von Revolutionen der Menschen mit dunkler Hautfarbe gegen die wohlhabenden weißen Völker.

Wiederum darf man sich durch Parolen nicht täuschen lassen. Chruschtschow kann seine Befürchtungen im Hinblick auf China nicht offen aussprechen (obwohl bei näherer Betrachtung diese Gründe in den vergangenen Monaten fast auf der Hand lagen). Er muss weiterhin dem Kommunismus und der Revolution das Wort reden, obwohl er zur gleichen Zeit verzweifelt ein Bündnis mit dem anderen großen und konservativen „Haben-Staat“ – den Vereinigten Staaten – sucht. Er wetteifert zur Zeit mit China um die Freundschaft der neutralen Länder Asiens, Afrikas und sogar Kubas, und er muss sich den Anschein geben, dass er sich für ihre Befreiung ebenso sehr einsetzt, wie es die Chinesen tun. Sein wirkliches Interesse liegt aber vor allem in einer Konsolidierung der Weltlage durch ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten.

Ich möchte für diese Behauptung einige Beispiele geben: Chruschtschow versuchte im Kongo Fuß zu fassen, aber wahrscheinlich ging es ihm mehr darum, die Chinesen daran zu hindern, sich dort festzusetzen, als selbst neue Eroberungen zu machen. [XI-421] In Wirklichkeit unternahm er kaum etwas. Er schickte fünfzehn Transportflugzeuge, vielleicht auch einige Waffen (die Chinesen sollen Waffen im Werte von 2,5 Millionen Dollar geschickt haben) und nach Lumumbas Niederlage zog er sich zurück. Seine ganze Reaktion auf diese politische Niederlage bestand darin, dass er ein wenig laut wurde und Drohungen ausstieß. Das Gleiche, denke ich, gilt auch für Kuba. Auch hier muss Chruschtschow die Konkurrenz Chinas abwehren und betonen, wie sehr er den Kolonialvölkern hilft. Meiner Überzeugung nach ist die Tatsache, dass er seinen groß angekündigten Besuch in Kuba nicht unternahm, ein klarer und symbolischer Ausdruck für seine Abneigung, Kuba zu einem Satellitenstaat werden zu lassen oder gar zu einem Militärstützpunkt, denn sein politisches Ziel ist noch immer ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten. Kürzlich wurde dies völlig klar, als er erklärte, das Angebot von sowjetischer Militärhilfe an Kuba sei nur „symbolisch“ gemeint gewesen. Auch seine zögernde Haltung, der Regierung Castros die ganze wirtschaftliche Hilfe, die sie eigentlich bräuchte, zu geben, verdeutlicht dies.

Der größte Fehler der amerikanischen Außenpolitik sowie der Außenpolitik der Länder in Europa, die unserem Beispiel folgen, ist der, dass wir das Wesen des Kommunismus von Chruschtschow völlig fehlgedeutet haben. Wir sehen seinen konservativen und reaktionären Charakter nicht; wir nehmen Worte für Taten; wir verstehen nicht die dialektische Beziehung zwischen politischen Ideologien und politischen Tatsachen; schließlich erkennen wir nicht, dass Chruschtschow den konservativen und hauptsächlich friedlich-gesinnten Flügel Russlands verkörpert und dass er um sein politisches Überleben gegen die Chinesen und den aggressiven stalinistischen Flügel, den es in Russland noch immer gibt, kämpft. Wir meinen, dass jede Niederlage Chruschtschows ein Sieg für uns ist, und vergessen dabei, dass dies eigentlich ein Sieg für die Chinesen und ihre russisch-stalinistischen Verbündeten ist. Wir vergessen, dass Chruschtschow keineswegs die unumschränkte Machtposition Stalins hat, und dass er entweder zurücktreten oder – opportunistisch, wie er ist – die politische Linie seiner Gegner übernehmen muss, wenn er mit seinen Zielen scheitert. Dann werden wir in der Tat einem aggressiven China gegenüberstehen, das auf Expansion aus ist, sowie einer ebensolchen russischen Führung, und beide werden eng miteinander verbündet sein.

Ein Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland wird eine Übereinkunft zweier konservativer Mächte schaffen, was einem vielleicht ebenso unlieb ist, wie es ein Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten und dem zaristischen Russland gewesen wäre. In Anbetracht der Tatsache, dass der heutige Mensch vor allem einen neuen Krieg vermeiden will, ist eine russisch-amerikanische Verständigung eine Notwendigkeit, da sie die Bedingung für ein Ende des Wettrüstens ist. Damit wird auch ein atomarer Holocaust unwahrscheinlicher. Ein solches Abkommen nährt auch die Hoffnung, dass die blockfreien Länder, besonders die früheren Kolonialvölker, Formen eines demokratischen Sozialismus annehmen werden, welche sie weder dem russischen oder dem chinesischen Lager noch dem der Vereinigten Staaten oder ihrer Verbündeten zuordnen.

Was steht einer russisch-amerikanischen Verständigung im Wege? Wie bereits erwähnt, steht an erster Stelle ein Missverständnis der politischen Struktur Russlands im [XI-422] Wege, und zwar die falsche Annahme, dass Russland als eine revolutionäre Macht die Welt für den Kommunismus erobern möchte. Jede Bürokratie einer imperialistischen Macht will für sich einige Vorteile in der Welt gewinnen; dies gilt für die russische Bürokratie heute ebenso wie für die britischen, französischen und russischen Staatsmänner des 19. Jahrhunderts. Allerdings waren diese Staatsmänner sehr vorsichtig und unternahmen keinen Schritt, der zu Krieg hätte führen können. Auch waren sie intelligent genug, um zwischen politischen Parolen und Tatsachen zu unterscheiden; und sie wussten, dass öffentliche Erklärungen in den Ohren der Regierten nicht zwangsläufig irgendwelche ernsthaften Absichten oder Ideen der Regierenden ausdrücken. Zweifellos ist Chruschtschow nicht weniger intelligent oder realistisch, als es die Staatsmänner im 19. Jahrhundert waren. Folglich weiß er auch, dass es nicht nur wünschenswert, sondern notwendig ist, einen Atomkrieg zu vermeiden.

Es ist für unsere politischen Führer vor allen Dingen wichtig, den Unterschied zwischen Ideologien und Tatsachen verstehen zu lernen und etwas über die groben marxistischen Begriffe zu wissen, die die Russen verwenden. Dann wären sie nämlich von der Erklärung Chruschtschows: „Wir werden euch begraben!“ nicht so schockiert; diese Erklärung ist eine herkömmliche, wenn auch grobe Formulierung der marxistischen Geschichtsphilosophie, die sich auf die „Gesetze der Geschichte“, und nicht auf den Krieg bezieht.

Aber selbst wenn diese Missverständnisse geklärt werden können, gibt es noch ein sehr ernsthaftes Problem, das eine Übereinkunft zwischen den Vereinigten Staaten und Russland blockiert und somit die Gefahr eines Krieges in sich birgt: die Wiederbewaffnung Deutschlands.

Wir machen hier den gleichen Fehler wie im Hinblick auf die Sowjetunion, dass wir Worte mit Taten gleichsetzen. Deutschland trat als großes Land Europas erst in Erscheinung, als die Welt schon unter den alten Kolonialmächten verteilt war. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich in Deutschland eine äußerst mächtige Wirtschafts- und Industriemaschinerie, und dieses Potenzial – zusammen mit der feudalen Militärtradition Deutschlands – schuf eine dynamische Mischung mit dem Ziel, zu expandieren und neue Gebiete, teils als Märkte und teils als Quellen für Rohstoffe, zu erwerben. Deutschland unternahm diesen Versuch erstmals zu Zeiten des Kaisers. Es hatte beinahe Erfolg damit, scheiterte jedoch, weil die deutschen Führer die Macht der Vereinigten Staaten unterschätzten.

Nach seiner Niederlage und dem Versailler Vertrag brauchte Deutschland nur einige Jahre, um nicht nur dorthin zu kommen, wo es vor der Niederlage gewesen war, sondern ein moderneres und wirksameres Industriesystem sowie eine fortschrittliche militärische Organisation zu errichten. Die gleichen auf Expansion ausgerichteten Kräfte sowohl der Industrie als auch der Junker machten sich nur einige Jahre nach der deutschen Niederlage wieder ans Werk. Die Industriellen und die Generäle Deutschlands wurden jedoch bei ihren Expansionsplänen behindert durch die Macht der Arbeiterklasse und durch einige Gruppen der liberalen Mittelklasse, die zusammen nur knapp die Mehrheit im Parlament besaßen. Ein halbverrückter Mann mit seinen sozial abgestiegenen und aufgebrachten Anhängern aus der unteren Mittelklasse bot seine Dienste nicht nur an, um die linken und liberalen Parteien und die [XI-423] Gewerkschaften zu zerstören, sondern auch um die Ideologie und Leidenschaft zu stärken, die für den neuen Versuch militärischer Ausweitung nötig waren. Wiederum hätte Deutschland beinahe Erfolg gehabt; wieder beging es den gleichen Fehler: die Macht der Vereinigten Staaten zu unterschätzen, abgesehen von anderen militärisch und politisch dummen Fehlern, die nicht überraschten, wenn man bedenkt, dass sein Führer talentiert, doch halb verrückt war. Heute, nur fünfzehn Jahre nach einer vernichtenden Niederlage, ist Deutschland, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, das mächtigste Land und baut gerade den mächtigsten Militärapparat in Westeuropa auf.

Die Kräfte, die dem Expansionismus der deutschen Monarchie und Hitler zugrunde lagen, sind noch immer die gleichen, und sie erstarken von neuem. Diesmal wird die Zündschnur nationalistischer Sentimentalität ebenso wirksam vorbereitet, wie der Kaiser die patriotischen Gefühle und die Gefühle des Kampfes gegen die russische Autokratie benutzte, und wie Hitler den Groll gegen den Versailler Vertrag ausnutzte. Die deutsche Regierung hat die Oder-Neiße-Linie nie offiziell anerkannt, und erst kürzlich erklärte ein Mitglied der deutschen Regierung, dass die deutsche Bevölkerung ein Recht habe, die „gestohlenen Gebiete“ zurückzuerhalten, und fügte lediglich hinzu, dass Deutschland nicht versuchen werde, dies gewaltsam zu erreichen. Eine solche Formulierung wurde auch von Hitler bis kurz vor Kriegsausbruch verwendet. Sie ist bedeutungslos, da es auf der Hand liegt, dass weder Russland noch Polen diese Gebiete den Deutschen freiwillig zurückgeben werden. Die Forderung nach der Rückgabe dieser Gebiete lässt sich nicht einmal unter realistischen oder moralischen Gesichtspunkten rechtfertigen. Ist ein Vertrag, der Millionen von Menschen dazu zwang, das Land zu verlassen, in dem sie jahrhundertelang gelebt hatten, eine unmoralische und unberechtigte Forderung, so wäre es ebenso ungerecht und unmoralisch, diejenigen, die jetzt dort leben, ihrerseits zum Verlassen zu zwingen. In Wirklichkeit wollen die früheren Bewohner in diese unterentwickelten Teile des ehemaligen Deutschen Reiches in Schlesien und Ostpreußen gar nicht mehr zurückkehren. Sie sind so gut in die heute blühende deutsche Wirtschaft integriert, dass Arbeiter aus Italien und anderen Ländern nach Deutschland geholt werden müssen. Das ganze Gerede von der Wiedergewinnung der „gestohlenen Gebiete“ gleicht dem Gerede von der Vereinigung Deutschlands; es ist nicht ernst gemeint, aber es wird als emotionale Zündschnur genutzt, um die deutsche Bevölkerung hinter ihre militärischen und industriellen Führer zu bringen.

Wir machen noch immer denselben Fehler: Wir glauben, dass das, was 1914 falsch war, die schlechten Absichten des Kaisers gewesen seien, und dass das, was 1939 falsch war, der Rassismus und die Irrationalität Hitlers gewesen seien. Wir erkennen nicht, dass Kaiser Wilhelm II. und Hitler, historisch gesehen, nur verschiedene äußere Aufmachungen der gleichen grundlegenden Wirklichkeit waren: des Expansionsdrangs der Deutschen unter Führung der Industrie und der Generäle. Genauso wie wir glauben, dass Chruschtschow ein Revolutionär ist, weil er so spricht, glauben wir, dass Adenauer für Frieden ist, weil er davon spricht. Worüber könnte Adenauer denn sonst sprechen, solange er die militärische und wirtschaftliche Stärke Deutschlands noch nicht unangreifbar gemacht hat? Es ist ein Fehler zu glauben, die Hinrichtung der Nazi-Führer [XI-424] und die Entnazifizierung (die viele Nazis in führenden Positionen gelassen hat) bedeuteten, Deutschland sei jetzt eine „friedliche“ Nation. Alle diese Vorgänge (einschließlich der Reparationszahlungen an den Staat Israel sowie die offizielle Einstellung gegen den Antisemitismus) sind lediglich Versuche, die nationalsozialistische Fassade eines auf Expansion ausgerichteten Deutschlands in eine friedliche „demokratische“ Fassade zu verwandeln. Aber die Fassade ändert in Wirklichkeit noch nichts. Selbst ein Land mit einer demokratischen Regierungsform kann Expansionspolitik betreiben, wenn seine grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Kräfte auf Gebietserweiterung ausgerichtet sind.

Die meisten Amerikaner, die Deutschland beobachten, begehen den Fehler, dass sie kein dynamisches Verständnis von Deutschland haben, das heißt den Prozess und die Bewegung der deutschen Gesellschaft nicht begreifen, sondern Deutschland statisch, jeweils nur auf einen Augenblick bezogen, betrachten. Man kann ein lebendiges Geschehen (und diese Einsicht war Hegels großer Beitrag zum Verständnis des Menschen und der Geschichte) nur verstehen, wenn man es als Prozess zu begreifen versucht, das heißt, wenn man untersucht, von welchem Punkt es ausgeht und woraufhin es sich zubewegt.

Deutschland ist im Begriff, sich von der Position der Niederlage aufzuwerfen in die Position neuer Stärke. Es wird dabei von den gleichen industriellen und militärischen Kräften wie schon zu Beginn dieses Jahrhunderts angetrieben. Um dieses Ziel zu erreichen, reden deutsche Politiker von Frieden und Demokratie und brauchen sie die Hilfe der Vereinigten Staaten, indem sie sich (wie schon Hitler) als den unverzichtbaren Bündnispartner im Kampf gegen den „Kommunismus“ anbieten. Mittlerweile ist der Prozess des militärischen Wiedererstarkens in Deutschland schon so weit fortgeschritten, dass manche demokratische Attrappe fallengelassen werden kann. Hierfür einige Beispiele aus jüngster Zeit: das „Memorandum“ der deutschen Generäle, die von der Regierung die atomare Aufrüstung und die allgemeine Wehrpflicht „fordern“; die Änderung der militärischen Vorschriften, die verlangten, dass ein Soldat nur die Offiziere seiner eigenen militärischen Einheit grüßen und ihnen gehorchen muss; ein wachsender Nationalismus, angestiftet sowohl von der Partei Adenauers als auch von den Sozialdemokraten, um für die Wahlen auf Stimmenfang zu gehen. Wenn man diese Veränderungen nicht als Teil eines Prozesses sieht, wird man der Frage gegenüber, wohin Deutschland geht, ebenso blind sein, wie es die Welt zwischen 1930 und 1937 in Bezug auf Nazi-Deutschland war.

All das bedeutet jedoch nicht, dass Adenauer lügt, wenn er sagt, er sei für Frieden. Er ist sich vielleicht nicht voll des historischen Prozesses bewusst, den er unterstützt. (Freilich ist es historisch kaum ein Unterschied, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht.) Ebenso wenig bedeutet es, dass Adenauer zwangsläufig versuchen wird, einen Krieg zu beginnen. Seine wirtschaftliche Stellung sowie seine militärische Überlegenheit in Westeuropa, die ihm von der westlichen Politik auferlegt wurde, werden bald so überwältigend sein, dass er den Westen nach Art großer Unternehmen wird dirigieren können. Es wird „Fusionen“ geben und freundlich aussehende „Verträge“ und keinen Marsch der Infanterie und keinen Bombenflug.

Dass ein französischer General, der romantisch und eitel ist, diese Wirklichkeiten [XI-425] nicht sieht, ist nicht mehr verwunderlich als die Tatsache, dass die französischen Generäle 1939 nicht sahen, dass eine unvollendete Maginot-Linie ebenso gut war wie überhaupt keine Maginot-Linie. Hat Deutschland einmal seine volle Stärke wieder erreicht, wendet es sich vielleicht gegen England oder gegen die Vereinigten Staaten, am ehesten aber gegen Russland. Davor haben die Russen Angst. Wahrscheinlich muss man ihre Angst ernst nehmen, da ja schon zweimal die gleichen Legionen eines imperialistischen Deutschlands einmarschiert sind. Aber selbst wenn Chruschtschow vor einem wiederbewaffneten Deutschland keine Angst hat, wie er behauptet, so ist doch die fortgesetzte Wiederaufrüstung Deutschlands das Symbol, das über das Scheitern oder den Erfolg seiner Politik bestimmt. Er hat immer wieder ganz klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass die Wiederbewaffnung Deutschlands der entscheidende Punkt ist, der einer russisch-amerikanischen Verständigung im Wege steht. Mit dem Aufbringen der Berlinfrage hat er den einzigen Punkt in Westeuropa, bei dem er – im Gegensatz zu uns – etwas bewegen kann, aufgegriffen, um uns einige Zugeständnisse abzunötigen. Wir [Amerikaner] waren sogar bereit, beim Treffen von Chruschtschow und Eisenhower im vergangenen Jahr [1960] einige symbolische Zugeständnisse zu machen, bis wir unter dem Druck von Adenauer, der die amerikanische Außenpolitik augenblicklich beträchtlich beeinflusst, erklärten, dass alle Zugeständnisse aufgehoben seien. Damit waren wir wieder am selben Punkt wie vor der Genfer Außenministerkonferenz und den Verhandlungen von Camp David angelangt. Als Reaktion auf diese Erklärungen hielt Chruschtschow seine grobe Rede in Baku, die auf der westlichen Seite keinerlei Wirkung zeigte. Unsere Unnachgiebigkeit in der Frage der deutschen Wiederbewaffnung und in der Berlinfrage einerseits, und andererseits die ungeschickte und in der Tat verletzende Art, den U-2-Zwischenfall zu behandeln, ließen Chruschtschow keinen anderen Ausweg, als grob zu sprechen, wenn er nicht sein Ansehen innerhalb Russlands und seinen Kampf gegen seine Gegner im eigenen Land verlieren wollte. Aber selbst nach der [Pariser] Gipfelkonferenz wich er in seiner Berlin-Rede nicht von den Versprechungen, die er in Camp David gemacht hatte, nämlich die Veränderungen in Berlin nicht zu übereilen, ab, und selbst jetzt erklärt er, dass er bereit ist, sie bis zum Frühjahr 1961 zu verschieben.

Aber die Zeit läuft für Chruschtschow ab. Wenn wir weiterhin den Diktaten von Adenauer und Willy Brandt folgen und die unbeschränkte Wiederaufrüstung Deutschlands vorantreiben und weiterhin absolut nicht dazu bereit sind, selbst einige symbolische Zugeständnisse in Berlin zu machen, wird Chruschtschow verlieren, und es wird für uns kaum einen Unterschied machen, ob ihn seine Feinde ersetzen werden oder ob er ihre Politik ausübt, um sein politisches Leben zu retten.

Wenn dies geschieht, dann werden in der Tat die Chancen für einen Frieden auf beinahe Null gesunken sein, und die Chinesen oder Stalinisten werden den Ton angeben. Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Chinesen weniger Angst vor einem Atomkrieg haben als wir und die Russen, und sie haben dazu vielleicht gute und realistische Gründe, wenn wir menschliche Werte außer Acht lassen.

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir die Wahl haben zwischen dem sowjetischen Kommunismus und dem amerikanischem Kapitalismus. Der tatsächliche Konflikt liegt heutzutage zwischen den expansionsbestrebten Ländern unter der Führung [XI-426] Chinas und den konservativen Ländern, vertreten durch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion. Wenn es jedoch zu einer Übereinkunft zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion kommt und wenn außerdem China einen Sitz in den Vereinten Nationen erhalten wird und Anteil an einem allgemeinen Abrüstungsvertrag bekommt, besteht begründete Hoffnung, dass der aggressive Flügel der chinesischen Kommunisten von dem friedlicher gesinnten abgelöst wird, und zwar auf Grund der Tatsache, dass eine Welt ohne Rüstung China solche wirtschaftlichen Möglichkeiten bieten wird, die militärische Expansion überflüssig machen.

Für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten ergibt sich aus dem Gesagten:

  • Noch mehr Siege über Chruschtschow werden schließlich seinen Fall und damit den Sieg der chinesischen und russischen Stalinisten bedeuten.
  • Abrüstung von Deutschland (West und Ost) ist eine notwendige Voraussetzung für den Frieden.
  • Die bündnisfreie Bevölkerung Asiens und Afrikas kann nur durch die Anziehungskraft eines demokratischen Sozialismus gewonnen werden, und nicht dadurch, dass man ihnen die Schönheiten des Kapitalismus vor Augen führt.
  • Massive wirtschaftliche Hilfe für die unterentwickelten Völker ist eine Voraussetzung für die friedliche Entwicklung der Kolonialvölker.
  • Eine weltweite Abrüstung, die China einschließt, ist eine notwendige Voraussetzung, um einen Atomkrieg zu vermeiden; denn selbst wenn man die Bereitschaft sowohl der amerikanischen als auch der russischen Führer, Krieg zu vermeiden, annimmt, gilt doch, dass sein Ausbruch innerhalb der nächsten zehn Jahre (als ein Ergebnis der Fehleinschätzungen der Bewegungen des Gegners und durch die atomare Bewaffnung verzweifelter oder expansionsbestrebter Völker) wahrscheinlich ist.

Chinas Sitz in den Vereinten Nationen und seine diplomatische Anerkennung durch die Vereinigten Staaten ist eine notwendige Voraussetzung für weltweite Abrüstung und für die Verminderung der internationalen Spannungen.

Die Zukunft eines Neuen Europas

(The Future of the New Europe)

(1990o)[7]

Am Ende des Ersten Weltkrieges schien Europa vom Verfall bedroht. Deutschland, die wirtschaftlich stärkste Macht, hatte sich seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts an die Spitze der Wirtschaftsmächte gesetzt und war nun völlig besiegt; Russland war durch den Krieg und den Bürgerkrieg verwüstet. 1938 hatte Deutschland die Folgen seiner Niederlage überwunden, die Sowjetunion begann, eine der ersten industriellen Mächte zu werden. Großbritannien – und mehr noch Frankreich – waren nicht in der Lage gewesen, die Entwicklung aufzuhalten, die von den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis 1914 angehalten hatte. (Die Stahlproduktion Großbritanniens belief sich 1913 auf 7,787 Millionen Tonnen, die Deutschlands auf 15,599 Millionen Tonnen. 1920 war die Stahlproduktion in beiden Ländern ungefähr gleich, rund 9 Millionen Tonnen. 1938 betrug die deutsche Stahlproduktion mehr als das Doppelte der Großbritanniens.)

Die Chance einer wirtschaftlichen und politischen Renaissance Europas schien nach dem Zweiten Weltkrieg definitiv verloren zu sein. Deutschland war zur Hälfte zerstört worden, und die Sieger stimmten darin überein, dass Deutschland nie mehr zu einem mächtigen Land werden sollte. Europa war überdies geschwächt durch die Folgen der kolonialen Revolution, welche die europäischen Mächte der meisten ihrer überseeischen Besitztümer beraubte. Folglich schien es klar zu sein, dass Europa seine zentrale Stellung verloren hatte und dass die wirtschaftliche und militärische Macht auf die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion übergegangen war.

Roosevelts Politik basierte auf dieser Tatsache. Er und – wie wir annehmen können – auch Stalin beabsichtigten, die Kriegsallianz in eine dauerhafte politische Allianz zu verwandeln in der Hoffnung, die Welt zu stabilisieren und einen dauerhaften Frieden unter einer gemeinsamen amerikanisch-sowjetischen Führung zu schaffen; Europa sollte nur eine zweitrangige Rolle spielen.

Aber kurz nach Kriegsende fing diese neue Allianz an zusammenzubrechen, der Kalte Krieg begann. Ohne den Gründen hierfür nachzugehen (zweifellos spielten gegenseitige Missverständnisse und Verdächtigungen eine beträchtliche Rolle), war das Ergebnis, dass der Westen einen russischen Angriff auf Westeuropa fürchtete und damit begann, eine westliche Verteidigung zu organisieren. In Widerspruch zu den Potsdamer [XI-468] Beschlüssen und zur Nachkriegsstimmung der deutschen Bevölkerung wurde Deutschland dazu ermutigt, wieder aufzurüsten und schließlich der NATO beizutreten. (Die Russen stellten eine ostdeutsche Armee auf, die jedoch aus vielerlei Gründen nicht mit dem militärischen Apparat der Bundesrepublik verglichen werden kann; ihre Funktion ist eher die einer Polizeimacht als einer Armee, die für internationalen Krieg ausgerüstet ist). Noch etwas anderes geschah in Deutschland: das „Wirtschaftswunder“. Nur wenige Jahre nach dem Krieg, der die Hälfte der deutschen Städte zerstört hatte, und nach einem Friedensschluss, der Deutschland eines Drittels seines Staatsgebietes beraubt hatte, begann Deutschland, wie nach 1918, wieder zu erstarken und wurde die wirtschaftlich wohlhabendste und (nach der Sowjetunion) militärisch stärkste Macht in Europa.

Für Europa bot sich eine neue Chance: Wenn seine traditionellen politischen Rivalitäten überwunden und seine Handelsschranken abgeschafft würden, dann könnten die Vereinigten Staaten von Europa, ein Gebiet mit über 300 Millionen Menschen, mit riesigen natürlichen Ressourcen und mit einer sehr disziplinierten und gut ausgebildeten Arbeiterklasse, zu einer Macht organisiert werden, die an Stärke den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gleichkäme oder diese sogar noch übertreffen würde. Europa könnte wieder zu einer großartigen Macht aufblühen, vorausgesetzt, es wäre ein vereinigtes Europa.

Diese Einigung begann als militärisches Verteidigungsbündnis. Von dort aus kam es zur Bildung des Gemeinsamen Marktes, der ein riesiges wirtschaftliches Gebiet schuf, das nur England, die skandinavischen Länder, die Schweiz und Spanien und Portugal ausschloss. Der wirtschaftliche Erfolg des Gemeinsamen Marktes ist großartig. 1956 bis 1960 betrug das Wachstum ihrer gemeinsamen Produktion 12 Prozent, während das Wachstum Großbritanniens nur 6 Prozent betrug; ihre Exporte beliefen sich auf das Vierfache der Exporte Großbritanniens. Von der wirtschaftlichen Einheit aus begannen die Länder des Gemeinsamen Marktes, zur politischen Einigung überzugehen. Während es im Augenblick nicht geplant ist, die nationalen Souveränitäten abzuschaffen, ist eine gemeinsame Außenpolitik ganz klar der nächste Schritt, der in ein paar Jahren zur Bildung einer Föderation in Europa, wenn nicht zu den Vereinigten Staaten von Europa führen wird.

Diese neue Entwicklung scheint in vielerlei Hinsicht wünschenswert zu sein. Zunächst macht sie Schluss mit nationalen Rivalitäten, besonders mit der französisch-deutschen, die in 70 Jahren zu drei Kriegen geführt hat. Sie erlaubt Europa eine wirtschaftliche Entwicklung, die durch die antiquierten Strukturen getrennter nationaler Märkte blockiert gewesen war; schließlich scheint sie eine neue Macht zu schaffen, verbündet mit den Vereinigten Staaten und deshalb eine wichtige zusätzliche Komponente der Verteidigungsfähigkeit der Vereinigten Staaten.

Ohne Zweifel ist eine wirtschaftliche Einigung Europas wünschenswert und vom wirtschaftlichen Standpunkt aus auch so logisch, dass sie nicht verhindert werden kann. Auch eine politische Einigung Westeuropas könnte wünschenswert sein. Die zentrale Frage ist jedoch, welches Gesicht dieses Neue Europa haben wird, und das bedeutet, welche Macht – oder welche Mächte – es anführen und ihren Einfluss geltend machen werden. [XI-469]

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht kein Zweifel, dass Westdeutschland diese beherrschende Macht ist. Über die Gründe braucht man nicht lange rätseln. Das wirtschaftliche Potenzial, das der deutschen industriellen Organisation zu eigen ist und das sich als stärker als zwei militärische und politische Niederlagen erwiesen hat, hat seine Stoßkraft nicht verloren. Deutschland setzt die Entwicklung des wirtschaftlichen Wachstums mit derselben Geschwindigkeit fort, mit der es sie vor ungefähr 70 Jahren begonnen hat. Darüber hinaus verfügt Deutschland immer noch über dieselbe militärische Tradition, die zusammen mit seinem industriellen Potenzial die dynamische Mischung kreierte, die 1914 und 1939 zu Explosionen führte. (Obwohl die gesellschaftliche Basis für die Klasse der Junker verschwunden ist, verschwand die militärische Tradition nicht, und die Generäle, die Hitler loyal waren, kooperierten mit denen, die mithalfen, die Verschwörung von 1944 zu organisieren, beide vereint in ihrem Bemühen, wieder ein militärisch starkes Deutschland zu schaffen). Westdeutschland ist heute wirtschaftlich und militärisch die stärkste Macht im Gemeinsamen Markt. Es wird von den Vereinigten Staaten unterstützt, die gerade eine Umschichtung ihrer Vertrauensbeziehung zu Großbritannien als ihres wichtigsten Verbündeten zugunsten der Bundesrepublik Deutschland vornehmen. Frankreich, von einem begabten, aber romantischen General regiert, ist mit seiner gloire und der Bewahrung der Überreste seiner Herrschaft in Afrika beschäftigt; so scheinen die meisten Franzosen es vorzuziehen, lieber der kleinere Partner im Neuen Europa zu sein als einem dritten und noch fürchterlicheren Angriff eines wiederbewaffneten Deutschlands ausgeliefert zu sein. Haben sie nicht schon de Gaulle als ihren Beschützer akzeptiert und dafür einige Wesensmerkmale ihrer demokratischen Tradition aufgegeben?

Die Deutschen ihrerseits sind gerade dabei, ein Ziel zu verfolgen, das sowohl der Kaiser als auch Hitler nicht zu erreichen vermochten. Die wirtschaftliche Expansion Deutschlands und eine beherrschende Rolle in Europa waren die Ziele des Ersten und des Zweiten Weltkrieges. Zweimal versagten die Deutschen, weil ihren Generälen und Politikern der Weitblick fehlte, um zu erkennen, dass sie keinen Krieg gewinnen konnten, in dem das mächtigste Land, die Vereinigten Staaten, sich auf die Seite der Feinde Deutschlands schlagen würde. Dieses Mal sind die Vereinigten Staaten auf der Seite Deutschlands, und beide haben einen gemeinsamen Feind: die Sowjetunion. Die neue Sprache redet von einem „geeinten Europa mit einem integrierten Deutschland“, statt der alten Sprache, die von einem „Deutschland über alles!“ schwärmte.

Details

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959121941
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie USA Außenpolitik Kalter Krieg Nachkriegspolitik
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Titel: Über amerikanische Außenpolitik