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Mein eigenes psychoanalytisches Bild vom Menschen

©2016 11 Seiten

Zusammenfassung

Der Beitrag ‚Mein eigenes psychoanalytisches Bild vom Menschen‘ zählt zu den wenigen Dokumenten, aus denen ersichtlich wird, wie Fromm seine eigenen psychoanalytischen und metapsychologischen Auffassungen innerhalb der psychoanalytischen Theoriebildungen verortet hat. Im einzelnen begründet hier Fromm, welche Aspekte der psychoanalytischen Theorie und Therapie revisionsbedürftig sind und zu welchen neuen Erkenntnissen er bei seiner „dialektischen Revision“ gekommen ist.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Mein eigenes psychoanalytisches Bild vom Menschen

Erich Fromm
(1977g)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]

Der Beitrag Mein eigenes psychoanalytisches Bild vom Menschen entstammt einem umfassenden Vortrag, den Fromm unter dem Titel Freud’s Model of Man and Its Social Determinants für das 3. Internationale Forum der International Federation of Psychoanalytic Societies (IFPS) verfasst hatte. Der gesamte Vortrag wurde erstmals 1977 in G. Chrzanowski et al. (Hg.), Das Irrationale in der Psychoanalyse. Theoretische und klinische Aspekte (= Weiterentwicklung der Psychoanalyse und ihrer Anwendungen, Band 5), Göttingen (Verlag für Medizinische Psychologie), S. 17-43, veröffentlicht und 1981 leicht überarbeitet in Band VIII der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA VIII, S. 243-251, übernommen.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA VIII, S. 243-251.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1977 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.

Im Folgenden will ich das Bild des Menschen skizzieren, wie es in meinen Arbeiten seit 1931 zum Ausdruck gekommen ist. – Zunächst ein Wort darüber, weshalb ich die von mir vorgenommene radikal-humanistische Revision „Psychoanalyse“ nenne, und sie nicht als eine besondere „Schule“ ansehe. In erster Linie, weil meine psychoanalytischen Forschungen auf Freuds Entdeckungen aufbauen und ohne diese nie konzipiert worden wären. Das gilt besonders für die Rolle des Unbewussten, der Verdrängung, des Widerstandes, der Bedeutung der Kindheitserlebnisse, der Übertragung und des dynamischen Charakterbegriffs. Wenn vom Standpunkt der dogmatisch-orthodoxen Analyse aus meine Auffassung als nicht-„psychoanalytisch“ angesehen wird, so kann ich nur sagen, dass meines Ermessens eine Theorie, die innerhalb von 70 Jahren im wesentlichen unverändert bleibt, eben gerade durch diese Starrheit – paradoxerweise – sich als im Tiefsten verändert erweist. Im Übrigen kann diese Frage nur aufgrund theoretischer Gesichtspunkte und nicht durch ein fiat der analytischen Bürokratie entschieden werden.

Ich möchte nur kurz meinen Standort beschreiben. Es muss anderen Beobachtern überlassen bleiben, meine eigenen Vorstellungen über meinen Standort kritisch zu behandeln. Die offensichtliche Standortveränderung liegt natürlich in der Tatsache begründet, dass mein aktives Denken erst nach dem Ersten Weltkrieg begann: Die belle epoque ist für mich nur eine schöne, etwas nostalgische Kindheitserinnerung. Die letzten Jahre des Weltkrieges, die revolutionären Prozesse seit 1917, die Hoffnungen der zwanziger Jahre und die Enttäuschungen seit 1930 lenkten mein Denken entscheidend in die Richtung einer radikalen Gesellschafts- und Ideologiekritik – einer Kritik nicht nur an der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch an dem die Lehren von Marx radikal verfälschenden System eines „Sozialismus“, wie er sich unter Stalins Führung entwickelte. Das philosophische Klima des radikalen Humanismus, [VIII-244] des historischen Materialismus, des prozess-orientierten und dialektischen Denkens hat die Stelle des mechanistischen Materialismus und des biologischen Vitalismus eingenommen. Die prägenden philosophischen Vorbilder sind durch die Namen Heraklit, Spinoza, Hegel und Marx angedeutet; die entscheidenden humanistischen Einflüsse kamen außerdem vom Buddhismus, den Propheten, Meister Eckhart und Goethe. Im Gegensatz zu Freud sehe ich den Menschen nicht als homme machine, getrieben vom chemisch bedingten Mechanismus Unlust – Lust, sondern als ein primär auf andere bezogenes und ihrer bedürfendes Wesen, und dies nicht in erster Linie zum Zweck der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung, sondern aus Gründen, die in der „Natur“ des Menschen liegen. Die menschliche „Natur“ betrachte ich nicht als eine bestimmte unveränderliche Substanz, die als solche beobachtbar wäre, sondern als einen Widerspruch, wie er ausschließlich dem menschlichen Wesen zu eigen ist: den Widerspruch nämlich, in der Natur zu stehen und allen ihren Gesetzen unterworfen zu sein und gleichzeitig die Natur zu transzendieren.[2] Denn der Mensch – und nur er – ist sich seiner selbst und seines Daseins bewusst; er ist der einzige Fall in der Natur, wo Leben sich seiner selbst bewusst wird. Diesem existenziellen Widerspruch (existenziell im Gegensatz zu historisch bedingten und lösbaren Widersprüchen, wie etwa dem von Armut und Reichtum) liegt ein evolutionär-biologisch gegebener Tatbestand zugrunde: Der Mensch tritt an dem Punkt aus der tierischen Entwicklungsreihe heraus, an dem die Determiniertheit durch die Instinkte ein Minimum erreicht und gleichzeitig die Entwicklung des das Denken und das Vorstellungsvermögen tragenden Hirns sich weit über die bei den Primaten vorhandene Größenordnung hinaus entwickelt hat. Dies macht den Menschen auf der einen Seite hilfloser als das Tier, gibt ihm aber auf der anderen die Möglichkeit neuer, wenn auch ganz anders gearteter Stärke. Der Mensch als Mensch ist aus der Natur herausgeworfen und ihr gleichzeitig doch unterworfen. Diese objektive biologische Tatsache ist ein Widerspruch, der neue Lösungen, d.h. Weiterentwicklung erzwingt. Subjektiv gesehen wäre das Bewusstsein, ein aus allen Naturzusammenhängen herausgerissenes Wesen zu sein, unerträglich und würde zum Wahnsinn führen (der wahnsinnige Mensch ist der, der seinen Platz in einer für ihn orientierbaren, strukturierten Welt verloren hat). Alle Energien des Menschen sind darauf gerichtet, den unerträglichen Widerspruch erträglich zu machen und immer neue – und bessere – Lösungen zu finden. (Dass der Mensch gleichzeitig auch seine mit dem Tier gemeinsamen physiologischen Bedürfnisse befriedigen muss, ist offensichtlich.)

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959121880
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Menschenbild Theorie
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