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Die Grundpositionen der Psychoanalyse

©2016 12 Seiten

Zusammenfassung

Dass sich Erich Fromm in diesem aus einem Vortrag entstandenen Beitrag mit den ‚Grundpositionen der Psychoanalyse‘ beschäftigt, hat einen besonderen, auch persönlichen Hintergrund: Der 1961 in Düsseldorf gehaltene Vortrag war der erste, den Fromm nach Ende der Naziherrschaft in Deutschland und in deutscher Sprache hielt. Inhaltlich stellte Fromm die damals noch sehr kontrovers diskutierte Frage nach den „Grundpositionen“ der Psychoanalyse: Was kennzeichnet die Psychoanalyse im Unterschied zu anderen Psychologien? Welche Erkenntnisse und Methoden sind unverzichtbar und welche nicht? Fromm lässt in seinem Vortrag keinen Zweifel daran aufkommen, dass sein bezogenheitstheoretischer und sozial-psychoanalytischer Ansatz zwar ein revidierter, aber doch durch und durch psychoanalytischer Ansatz ist und dass es ihm wie Freud um die Erkenntnis der meist unbewussten irrationalen Antriebskräfte des Menschen geht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Grundpositionen der Psychoanalyse

Erich Fromm
(1966b)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]

Der Beitrag Die Grundpositionen der Psychoanalyse entstand aus dem Manuskript eines Vortrags, den Erich Fromm am 6. September 1961 beim Kongress der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Düsseldorf gehalten hat, und der vom Westdeutschen Rundfunk aufgezeichnet wurde. Eine Erstveröffentlichung erfolgte 1966 unter dem Titel Die Grundpositionen der Psychoanalyse in Fortschritte der Psychoanalyse. Internationales Jahrbuch zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse, Band II, Göttingen (Verlag für Psychologie C. J. Hogrefe), S. 19-32. 1981 wurde der Beitrag in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA VIII, S. 35-45 wiederabgedruckt

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA VIII, S. 35-45.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1966 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.

Was sind Grundpositionen? Ich glaube, dass man in Bezug auf eine Theorie oder das System eines genialen Meisters eine ähnliche Abgrenzung vornehmen muss, wie sie in der Philosophie in Bezug auf den Menschen oft diskutiert worden ist, nämlich die Abgrenzung des Wesens der Theorie oder des Systems von ihrer Gesamterscheinung. Das, was in einem System wesentlich und bleibend, was der Kern ist, muss abgegrenzt werden gegen die manifeste Totalität des Systems, gegen die Summe aller Theorien, so wie sie existieren. Es ist aber außerordentlich schwer zu entscheiden, was das Wesen eines Systems ist. Es ist ebenso schwer in Bezug auf die Psychoanalyse im System Freuds, wie es schwer ist – sagen wir – in Bezug auf den Marxismus; und es vergehen oft Hunderte von Jahren, ohne dass der Streit darüber erlischt, was das Wesentliche dieses und jenes Systems ist.

Wer nun entscheidet darüber? Der Gründer oder Schöpfer des Systems? Das wäre die einfachste und schönste Lösung für die Späteren. Aber leider ist das, so paradox es auch klingt, nicht möglich. Denn selbst der genialste Denker ist ein Kind seiner Zeit; er gibt seinen Einsichten einen Ausdruck, der bedingt ist durch das Denken oder – wenn Sie so wollen – die Stimmen seiner Zeit. Was noch merkwürdiger ist, er ist sich oft selbst nicht bewusst, was wirklich neu und wesentlich und was zeitbedingt ist an seinen Theorien. Wir können in der Tat auf ihn anwenden, was Kant einmal gesagt hat: dass wir oft den Autor besser verstehen als der Autor sich selbst. Dieses nicht deswegen, weil wir klüger sind, sondern weil der Autor, und selbst der allergrößte, zeitbefangen ist.

Wer entscheidet die genannte Frage dann, wenn nicht der Schöpfer? – Die Behörden? Ich wähle das Wort „Behörden“ absichtlich, obwohl es etwas ungewöhnlich ist, von Behörden zu sprechen, wenn von Wissenschaft und Philosophie die Rede ist. Wenn Sie jedoch die Geschichte wissenschaftlicher, religiöser oder philosophischer Ideen betrachten, dann finden Sie sehr häufig das Phänomen, dass, nachdem der schöpferische Geist entschwunden, nachdem der Schöpfer gestorben und genügend geehrt worden ist, die Behörden die Entscheidung übernehmen, dass die wissenschaftlichen Behörden oder – wenn Sie so wollen – die Bürokraten es übernehmen zu sagen, was das Wesentliche ist. Diese Behörden sind dann gewöhnlich nicht mehr um den Geist, [VIII-036] um den neuen schöpferischen Gedanken besorgt, sondern um die Kontrolle der Menschen, soweit sie mit diesen Gedanken beschäftigt sind. Man kontrolliert Menschen, indem man ihre Gedanken kontrolliert, und man kontrolliert Gedanken, indem man sagt, was richtig und was falsch ist, was man denken darf und was man nicht denken darf. Diese Erscheinungen finden Sie über Jahrtausende in der Geschichte sehr vieler großer Ideen; und es ist wohl nicht zuviel gesagt, dass die Psychoanalyse davon keine Ausnahme bildet.

Wenn der Denker selbst und wenn auch die Behörde nicht die richtige Instanz ist, das Wesen eines Systems zu bestimmen, wer ist es dann? Ich möchte sagen: die Geschichte. Die geschichtliche Entwicklung entscheidet schließlich, was das Wesentliche und was das Zeitbedingte war. Eine geistesgeschichtliche Analyse kann entscheiden, was wesentlich und was randständig ist. Man könnte sagen, dass es sich darum handelt, im Laufe von Generationen das Wesentliche einer Theorie und eines Systems gleichsam ins „rechte Licht“ zu stellen. Dabei möchte ich hinzufügen: Es gibt nicht nur ein rechtes Licht, sondern es gibt eine ganze Reihe von Perspektiven, die alle ihre Gültigkeit haben und die sich nicht notwendigerweise ausschließen. Wichtig ist nur eines: dass der Versuch, das Wesen einer Theorie zu bestimmen, ein echter, ein schöpferischer Versuch ist und nicht die Wiederholung von Worten und dogmatischen Formen.

Um nun speziell auf die Psychoanalyse zu kommen, möchte ich erst einige wenige Worte über das sagen, was meines Erachtens die Grundposition der Freudschen Lehre genannt werden kann:

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959121866
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Grundlagen Methoden
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