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Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 3.2.2016
ISBN: eBook 9783959121835
Format: ePUB
Herbert Marcuse, langjähriger Kollege Fromms am Institut für Sozialforschung in Frankfurt und in New York, fügte seinem Buch „Triebstruktur und Gesellschaft“ ein Kapitel an, in dem er massive Kritik an Fromms Abkehr von der Freudschen Triebtheorie übte. Die Zeitschrift ‚Dissent‘ druckte dieses Kapitel ab und eröffnete damit die sog. Fromm-Marcuse-Kontroverse. Der Beitrag ‚Die Auswirkungen eines triebtheoretischen „Radikalismus“ auf den Menschen‘ ist Fromms Antwort. Im Kern geht es bei dieser Kontroverse um eine Kritik am sozial-psychoanalytischen Ansatz Fromms, bei der sich Marcuse zum Anwalt der Triebtheorie Freuds macht und der Psychoanalytiker Fromm dem Nicht-Psychoanalytiker Marcuse nachweist, Freud auf weiten Strecken falsch verstanden zu haben.
(The Human Implications of Instinctivistic „Radicalism“. A Reply to Herbert Marcuse)
Erich Fromm
(1955b)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.
Erstveröffentlichung unter dem Titel The Human Implications of Instinctivistic „Radicalism“. A Reply to Herbert Marcuse in der Zeitschrift Dissent, New York 1955, S. 342-349, als Antwort auf die Veröffentlichung eines Kapitels von Herbert Marcuses Buch Eros and Civilization in der Zeitschrift Dissent. Eine erste, von Liselotte und Ernst Mickel besorgte Übersetzung ins Deutsche erfolgte 1980 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA VIII, S. 113-120.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA VIII, S. 113-120.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1955 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.
Ich freue mich, dass mir Gelegenheit gegeben wird, auf Herbert Marcuses Artikel Social Implications of Freudian Revisionism in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift zu antworten. Dies umso mehr, als Marcuse mich einen Vertreter der „revisionistischen“ Theorie nennt und mir vorwirft, ich hätte mich aus einem radikalen Denker und Gesellschaftskritiker in einen Fürsprecher der Anpassung an den Status quo verwandelt. Vor allem aber möchte ich Marcuse deshalb antworten, weil er einige der wichtigsten Probleme der psychoanalytischen Theorie und deren gesellschaftliche Auswirkungen berührt – Probleme, die für jeden von allgemeinem Interesse sind, der sich mit der heutigen Gesellschaft beschäftigt.
Allerdings kann ich dabei nicht wie Marcuse verfahren und die verschiedenen „revisionistischen“ Autoren in einen Topf werfen. Ich kann nur für mich selber sprechen. Dafür gibt es einen sehr einleuchtenden Grund: Obwohl meine Schriften in gewissen Punkten mit denen von Horney und Sullivan übereinstimmen, unterscheiden sie sich grundsätzlich von jenen gerade in Bezug auf die Probleme, mit denen sich Marcuse in seiner Abhandlung befasst. (In Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955a, GA IV, S. 137 f., habe ich auf verschiedene grundlegende Unterschiede zu Sullivan hingewiesen.) Dass Marcuse uns alle in einen Topf wirft, führt leider dazu, dass er die Vorwürfe gegen mich mit Zitaten aus den Schriften von Horney und Sullivan belegt, wenn er bei mir selbst nicht findet, was seinen Zwecken dient.
Marcuses Abhandlung enthält zwei Hauptthesen. Zum einen ist für ihn die Freudsche Theorie nicht nur psychologisch gesehen korrekt, sondern sie ist auch eine radikale Theorie, indem sie die heutige Gesellschaft explizit und implizit kritisiert. Zum anderen hält er meine Theorie philosophisch gesehen für idealistisch, da ich zur Anpassung an die gegenwärtige entfremdete Gesellschaft rate und meine Kritik an dieser Gesellschaft ein reiner Lippendienst sei. Ich möchte auf diese Vorwürfe nacheinander eingehen. [VIII-114]
Dass Freud ein Gesellschaftskritiker war, stimmt, aber seine Kritik bezieht sich nicht auf die heutige kapitalistische Gesellschaft, sondern auf Kultur im Allgemeinen. Glück ist für Freud gleichbedeutend mit der Befriedigung des Sexualtriebs, speziell mit der Befriedigung des Wunsches, freien Zugang zu allen verfügbaren Frauen zu haben. Nach Freud mussten sich die Primitiven nur äußerst wenige Beschränkungen in Bezug auf die Befriedigung dieser Grundbegierden auferlegen. Außerdem konnten sie ihren Aggressionen freien Lauf lassen. Die Verdrängung dieser Wünsche führte dann zu einer ständig wachsenden Kultur und gleichzeitig zu einer wachsenden Häufigkeit von Neurosen. „Der Kulturmensch“, sagt Freud, „hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht“ (S. Freud, 1930a, S. 475). Freuds Menschenbild war das Gleiche, das auch den meisten anthropologischen Spekulationen des neunzehnten Jahrhunderts zugrunde liegt. Der vom Kapitalismus geprägte Mensch ist angeblich der natürliche Mensch, weshalb der Kapitalismus als die Gesellschaftsform angesehen wird, die den Bedürfnissen der menschlichen Natur entspricht. Diese Natur des Menschen ist auf Konkurrenzkampf ausgerichtet; sie ist aggressiv und egoistisch und sucht ihre Erfüllung im Sieg über den Konkurrenten. Im Bereich der Biologie hat Darwin diese Auffassung in seiner Theorie vom Überleben des Stärksten zum Ausdruck gebracht. Im Bereich der Volkswirtschaft handelt es sich um den Begriff des homo oeconomicus, wie ihn die klassischen Nationalökonomen vertreten. Im Bereich der Psychologie bringt Freud die gleichen Ideen über den Menschen zum Ausdruck, wobei seine Grundvorstellung die des Konkurrenzkampfes ist, der sich aus dem Wesen des Sexualtriebs ergibt: „Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (S. Freud, 1930a, S. 470). Die Aggressivität des Menschen hat nach Freud zwei Ursachen: einmal den angeborenen Zerstörungstrieb (den Todestrieb) und zum anderen die Versagung seiner triebhaften Wünsche, die ihm die Kultur auferlegt. Der Mensch kann zwar seine Aggression durch das Über-Ich teilweise auf sich selbst lenken, und eine Minderheit kann ihre sexuellen Begierden in brüderliche Nächstenliebe sublimieren, doch bleibt die Aggressivität an sich unausrottbar. Die Menschen werden immer miteinander in Wettbewerb treten und sich gegenseitig angreifen, und wenn es nicht um „dingliche Güter“ geht,