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Seiten: (ca.) 14
Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 2.2.2016
ISBN: eBook 9783959121767
Format: ePUB
"Die psychologischen und geistigen Probleme des Überflusses" lautete der Titel eines Vortrags, den Erich Fromm 1969 bei den Salzburger Humanismusgesprächen gehalten hat. Der erste Teil spricht vom "homo consumens" und handelt von den mehr psychologischen Problemen des Überflusses. Der zweite Teil spricht von den geistigen Problemen des Überflusses und enthält sehr aufschlussreiche Ausführungen zum Begriff der Aktivität und zu Fromms eigener religiöser Position.
Erich Fromm
(1970j)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]
Zuerst als Vortrag in deutscher Sprache im Österreichischen Rundfunk gehalten. Erstsendung am 30. 12. 1966 im Studio Salzburg des ORF. – Erstveröffentlichung in O: Schatz (Hg.), Die erschreckende Zivilisation, Salzburger Humanismusgespräche, Wien 1970, S. 35-58 (Europa Verlag); leicht überarbeitet fand der Beitrag 1981 Eingang in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA V, S. 317-328.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA V, S. 317-328.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1970 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.
Gegenstand dieses Beitrages sind die psychologischen und geistigen Probleme der Überflussgesellschaft. Allein schon der Titel zeigt jedoch einige Schwierigkeiten an, die ich im Folgenden näher ausführen werde. Was verstehen wir unter „geistig“? Was „psychologisch“ ist, das wissen wir mehr oder weniger. Aber „geistig“ ist schon ein Wort, das nicht mehr ganz eindeutig bestimmbar ist und keinen ganz eindeutigen Sinn hat. Ich gebrauche es hier in jenem Sinn, den man auch mit dem Wort „religiös“ ausdrücken könnte, und den ich mit dem Symbol „X“ bezeichnen würde, weil das ein Symbol ist, das keine spezielle historische Referenz hat.[2] Wenn ich hier von den geistigen Problemen der Überflussgesellschaft rede, dann meine ich damit das, was man gewöhnlich „religiöse Probleme“ nennt und was ich persönlich lieber mit dem Wort „X-Probleme“ bezeichnen möchte.
Man kann vielleicht einwenden, ob man heute überhaupt von einer Überflussgesellschaft sprechen kann. Ist es nicht wahr, dass zwei Drittel der Menschheit nicht nur nicht im Überfluss leben, sondern in einer Armut, in der das Problem des Hungers noch immer das zentrale ist? Ist es nicht wahr, dass sogar im reichsten Land der Welt, in den Vereinigten Staaten von Amerika, ein nicht ganz unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung, sagen wir einmal grob gesprochen zwanzig Prozent, in Armut lebt, die zwar nicht zu vergleichen ist mit der Armut in Indien oder mit der Armut in Südamerika, die aber immerhin weit entfernt ist von dem, was man Überflussgesellschaft nennen kann?
Das alles ist in der Tat richtig, enthebt uns jedoch nicht der Notwendigkeit und der Berechtigung, von den Problemen einer Überflussgesellschaft zu sprechen, und zwar deshalb, weil sowohl in Amerika als auch in Europa große Schichten des mittleren Bürgertums bis hinein in die Arbeiterschaft tatsächlich schon beginnen, an der Überflussgesellschaft teilzunehmen. Der Trend als solcher steht wohl außer Frage, es sei denn, man hegt den nicht ganz unberechtigten Zweifel, ob die Menschheit imstande sein wird, in den nächsten fünf oder zehn oder zwanzig Jahren die Gefahr eines nuklearen Krieges zu bannen. Wenn das aber gelingt und diese Gefahr gebannt werden kann, dann besteht in der Tat wohl wenig Zweifel darüber, dass in zwanzig Jahren Amerika und vielleicht in dreißig oder vierzig Jahren auch Europa eine [V-318] automatisierte Gesellschaft haben wird, in der ein Überfluss an Gütern und speziell an Konsumgütern herrscht.
Aber es ist nicht nur deshalb nötig, von den Problemen der Überflussgesellschaft zu reden, weil wir schon am Anfang dieser Gesellschaft stehen, sondern weil in der Tat ein neues Menschenbild, eine neue Vision die Welt erobert, und zwar von Amerika und Europa bis zur Sowjetunion und bis zu den kleinsten, neuen Staaten in Afrika: das Ideal des konsumierenden Menschen. Hier handelt es sich um einen neuen Menschentyp, den homo consumens. Sicherlich gibt es noch immer den homo faber, obwohl dieser sich in der zweiten industriellen Revolution schon sehr von dem unterscheidet, was er vor der industriellen Revolution, auch vor der ersten, gewesen ist. Ob es den homo sapiens überhaupt noch gibt, mag bezweifelt werden, denn der homo sapiens gebraucht seine Vernunft als Mittel zum Überleben. In einer Situation, in der die Vernunft dazu benutzt wird, das Überleben in Frage zu stellen, in der die größten Kräfte der Vernunft dazu benutzt werden, um uns an den Rand der allgemeinen Zerstörung zu bringen, mag man in der Tat bezweifeln, ob der Mensch noch ein homo sapiens ist, oder ob er schon aufgehört hat, das zu sein. Was man wohl nicht bezweifeln kann, ist, dass der Mensch heute beginnt, ein homo consumens zu werden, ein totaler Konsument, und dass dieses Menschenbild fast den Charakter einer neuen religiösen Vision hat, in der der Himmel ein einziges großes Warenhaus ist, in dem sich jeder Mensch jeden Tag Neues kaufen kann, und zwar alles, was er will, und sogar noch ein bisschen mehr als sein Nachbar. Diese Vision des totalen Konsumenten ist in der Tat ein neues Menschenbild, das sich die Welt erobert, und zwar ganz ohne Unterschied bezüglich der politischen Organisation und Ideologie. Sie findet sich ebenso in den sogenannten kapitalistischen Ländern wie in den sogenannten sozialistischen Ländern. Der Unterschied ist nur der, dass sich vielleicht die sozialistischen Länder noch immer in der Illusion wiegen, dass das Glück vor der Tür steht, wenn das Versprechen des totalen Konsums nur einmal erfüllt sein wird, während in einem Land wie den Vereinigten Staaten, wo das „Glück“ dieses totalen Konsums für weite Schichten der Bevölkerung schon da ist, bereits manche Zweifel auftauchen, ob das Glück auf diese Weise überhaupt je gefunden werden kann.
Zunächst möchte ich diesen homo consumens als psychologisches Phänomen beschreiben, als einen neuen Typ von Gesellschafts-Charakter, der seine eigene Dynamik hat. Diese Dynamik kann nur im Sinne der Freudschen Charakterdynamik verstanden werden, wenn man zwischen dem, was einem Menschen bewusst ist, und den unbewussten Kräften, die ihn treiben, unterscheidet. Lassen Sie mich aber vielleicht zunächst einmal noch rein deskriptiv sagen, was dieser homo consumens ist: Er ist jener Mensch, für den alles zum Konsumartikel wird: Zigaretten und Bier, Likör, Bücher, Liebe und Sexualität, Vorlesungen und Bildergalerien. Es gibt überhaupt nichts, was sich für diesen Menschen nicht zum Konsumartikel verwandeln könnte. Sogar gewisse Drogen, durch die man eine unmittelbare Erleuchtung bekommen kann, werden konsumiert. Nun werden Sie vielleicht fragen: Was ist denn unrecht daran, dass man konsumiert? Ist der Mensch nicht seinem Wesen nach einer, der konsumieren muss, um sich am Leben zu erhalten? In der Tat muss der Mensch so wie jedes andere Lebewesen konsumieren. Das neue Phänomen besteht jedoch darin, dass sich [V-319] hier eine Charakterstruktur entwickelt, für die auch das, was einmal in ganz anderer Weise angeeignet wurde, nämlich die reiche Welt der menschlichen Schöpfung und Kultur, ohne Ausnahme zum Konsumartikel wird.
Von hier aus müssen wir einen Schritt weitergehen und uns fragen: Worin besteht – psychologisch gesehen – diese Haltung des Konsumierens? Damit kommen wir bereits zu dynamischen Begriffen und Vorstellungen. Unbewusst ist nämlich dieser neue Typus Mensch ein passiver, ein leerer, ein ängstlicher, ein isolierter Mensch, für den das Leben keinen Sinn hat und der zutiefst entfremdet und gelangweilt ist. Fragt man jene Menschen, die heute Schnaps, Reisen und Bücher konsumieren, ob sie sich unglücklich und gelangweilt fühlen, dann antworten sie: „Aber in keiner Weise, wir sind vollkommen glücklich. Wir reisen, wir trinken, wir essen, wir kaufen uns mehr und mehr und mehr, dabei ist man doch nicht gelangweilt!“ Bewusst sind also diese Menschen nicht gelangweilt. Man muss hier schon analytisch fragen, ob es möglich ist, dass diese Menschen vielleicht unbewusst leer, gelangweilt, entfremdet sind, dass sie unbewusst passive Menschen sind – der ewige Säugling, der nicht nur auf die Flasche wartet, sondern für den alles zur Flasche wird, der nie eine Selbstaktivität entwickelt.[3] Wenn ich von Aktivität und Passivität spreche, dann gebrauche ich diese Begriffe nicht im modernen Sinne, sondern so, wie sie von Aristoteles, Spinoza, Goethe, Marx und vom Buddhismus gebraucht worden sind, nämlich im Sinne der inneren Passivität und der inneren Aktivität, die etwas völlig anderes ist als Aktivismus.
Nun kann man sagen, dass dieser ängstliche, gelangweilte, entfremdete Mensch diese seine Angst kompensiert durch zwanghaftes Konsumieren, das als allgemeine Krankheit, oder genauer als ein Symptom der „Pathologie der Normalität“[4], von niemandem als Krankheit empfunden wird. Der Begriff „Krankheit“ wird ja immer nur dann erlebt, wenn man kränker ist als die anderen. Wenn jedoch alle an derselben Krankheit leiden, dann taucht der Begriff Krankheit im Bewusstsein überhaupt nicht auf. Diese innere Leere, diese innere Angst wird also symbolisch durch zwanghaftes Konsumieren geheilt. Dieser Mechanismus hat sein Vorbild im Esszwang. Erforscht man, warum gewisse Menschen unter Esszwang leiden, dann findet man in der Tat, dass hinter diesem Esszwang, der als solcher bewusst ist, etwas Unbewusstes steckt, nämlich Depression oder Angst. Der Mensch fühlt sich leer, und um diese Leere gleichsam symbolisch auszufüllen, füllt er sich an mit anderen Dingen, mit Dingen, die von außen kommen, um so das Gefühl der inneren Leere und der inneren Schwäche zu überwinden. Viele beobachten an sich selbst, dass sie, wenn sie ängstlich sind oder sich deprimiert fühlen, eine gewisse Neigung haben, sich etwas zu kaufen oder zum Eisschrank zu gehen und etwas mehr zu essen als gewöhnlich, und dass sie sich dann etwas weniger deprimiert, etwas weniger ängstlich fühlen.