Pro und Contra Summerhill

Pro und Contra Summerhill

(Essay)

Erich Fromm
(1970i)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk^[1]
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Essay in: Summerhill: For and Against, New York (Hart Publishing Company, Inc.) 1970, S. 250-263; die von Liselotte and Ernst Mickel besorgte erste deutsche Übersetzung erschien 1981 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), GA IX, S. 415-423.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA IX, S. 415-423.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1970 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.

A. S. Neills Buch Summerhill hat ein bemerkenswertes Schicksal. Es ist in den zehn Jahren seit dem Erscheinen in vielen Bildungsstätten begeistert aufgenommen worden, und dies, obwohl seine pädagogischen Vorstellungen in krassem Widerspruch zum Status quo stehen.

Neill vertritt eine Theorie, von der er glaubt, sie werde die Menschen glücklicher machen und besonders den Eltern helfen, Kinder aufzuziehen, deren Lebensziel es sein werde, mehr zu sein, und nicht immer nur mehr zu haben und zu konsumieren. Inzwischen haben aufbegehrende Studenten und Widerstandsbewegungen in den meisten Ländern Europas und Amerikas reichlich Beweise dafür geliefert, dass unser gegenwärtiges Erziehungssystem falsch und schädlich ist.

Worum geht es überhaupt bei den Studentenunruhen? Ihr Erscheinungsbild ist in jedem Land anders. In einigen Ländern treten die Studenten für sozialistische Forderungen ein; in anderen kämpfen sie um eine stärkere Beteiligung an den Entscheidungen und Beschlussfassungen an der Universität. Bei diesen Kämpfen lehnen einige Gruppen Gewalt ab; andere haben in unterschiedlichem Ausmaß auch Gewalt angewendet. In einigen Fällen richteten sich die Angriffe gegen die Institutionen, in anderen gegen Einzelpersonen. Aber hinter diesen Unterschieden, hinter Protestmärschen, Sitzstreiks und lauten Forderungen steckt etwas, das allen diesen Studenten gemeinsam ist: Sie alle hungern intensiv nach Leben. Sie erkennen, dass ihre Ausbildung bürokratisiert ist und dass man sie bestenfalls in die Lage versetzt, einen guten Lebensunterhalt verdienen zu können. Von ausschlaggebender Bedeutung ist, dass sie alle das Gefühl haben, es fehle ihnen an anregender intellektueller Nahrung, die ihre Lebendigkeit erhöhen könnte. Diese Studenten wollen nachdrücklich darauf hinweisen, dass sie mitten in der Fülle nicht tot sein möchten. Sie möchten nicht in Bildungseinrichtungen studieren, welche die verbrieften Rechte von Professoren, Verwaltungsbeamten und Regierungsbeauftragten wahrnehmen und dem Bedürfnis der jungen Generation nach einer kritischen Überprüfung des hergebrachten Wissens kaum Beachtung schenken.

Diese aufbegehrenden Studenten mögen zwar gelegentlich durch ihre politische Naivität und ihren Mangel an Wirklichkeitssinn irregeleitet und manchmal auch von [IX-416] destruktiven Tendenzen motiviert sein, aber sie lenken wenigstens die Aufmerksamkeit darauf, dass die Organisation höherer Bildung von sehr vielen jungen Menschen heute als unzureichend empfunden wird.

Noch mehr versagt das Erziehungssystem unserer Höheren Schulen. Jeder, der vorzeitig ausscheidet, spricht gegen die Art der Ausbildung, die er empfangen hat. Wer möchte bestreiten, dass Jugendkriminalität auch damit zusammenhängt, dass unser Erziehungssystem versagt, weil es unserer Jugend nicht genügend Anregung und ihrem Leben keinen Sinn zu geben weiß.

Natürlich spiegeln sich im Bildungssystem die gesamten gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse wider. Leider hat sich das in den letzten zehn Jahren in keiner Weise gebessert. Der Krieg in Vietnam geht weiter; der Konsum der Wohlhabenden wächst ständig; die Armut bleibt im In- und Ausland gleich oder verschlimmert sich sogar noch.