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Seiten: (ca.) 12
Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 1.2.2016
ISBN: eBook 9783959121699
Format: ePUB
Dass der Mensch ein wertorientiertes Wesen ist, hat für Fromm mit seiner spezifischen biologischen Ausstattung zu tun: Anders als das Tier muss der Mensch sein Bezogensein selbst gestalten und spürt eine existenzielle Notwendigkeit, in einer bestimmten Art und Weise sein Bezogensein auf andere Menschen, auf sich selbst und auf die Wirklichkeit zu gestalten. Der Beitrag ‚Psychologie und Werte‘ stellt diese spezifisch menschlichen Bedürfnisse zusammenfassend dar – und macht zugleich deutlich, wie sehr sich Erich Fromm in seiner Bedürfnislehre von der Abraham Maslows unterscheidet.
(Values, Psychology, and Human Existence)
Erich Fromm
(1959b)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.
Erstveröffentlichung unter dem Titel Values, Psychology, and Human Existence in: A. Maslow (Hg.), New Knowledge in Human Values, New York (Harper & Bros.) 1959, S. 151-164; die von Liselotte and Ernst Mickel besorgte erste deutsche Übersetzung erschien 1981 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag), GA IX, S. 331-341.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA IX, S. 331-341.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1959 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.
Diese Abhandlung soll folgende These begründen und mit Beispielen belegen: Werte wurzeln in den Bedingungen der menschlichen Existenz. Die Kenntnis dieser Bedingungen, das heißt die Kenntnis der „Situation des Menschen“[2], führt uns zur Erhebung von Wertbegriffen, die objektive Gültigkeit besitzen. Die Gültigkeit dieser Werte existiert jedoch nur in Bezug auf die Existenz des Menschen; außerhalb der menschlichen Existenz gibt es keine Werte.
Zunächst ist nach dem Wesen des Menschen und nach den Bedingungen der menschlichen Existenz zu fragen: Worin besteht das Wesen des Menschen, welches sind die besonderen Bedingungen der menschlichen Existenz, und welche Bedürfnisse wurzeln in diesen Bedingungen?
Der Mensch ist aus seiner ursprünglichen Einheit mit der Natur, welche für das Leben der Tiere kennzeichnend ist, herausgerissen. Da er gleichzeitig Vernunft und Vorstellungsvermögen besitzt, ist er sich seiner Einsamkeit und Abgesondertheit, seiner Ohnmacht und Unwissenheit und der Zufälligkeit seiner Geburt und seines Todes bewusst. Er könnte diesen Zustand keinen Augenblick ertragen, wenn er nicht neue Bindungen an seine Mitmenschen finden könnte, welche die alten, von Instinkten regulierten, ersetzen. Selbst wenn alle seine physiologischen Bedürfnisse befriedigt wären, würde er den Zustand der Einsamkeit und Individuation als Gefängnis empfinden, aus dem er ausbrechen müsste, um sich seine geistige Gesundheit zu erhalten. Tatsächlich handelt es sich ja beim Geisteskranken um einen Menschen, dem es nicht gelungen ist, eine Verbindung irgendwelcher Art einzugehen, und der auch dann, wenn er nicht hinter vergitterten Fenstern lebt, ein Gefangener ist. Die Notwendigkeit, mit anderen lebenden Wesen eine Verbindung einzugehen, mit ihnen in Beziehung zu stehen, ist ein unverzichtbares Bedürfnis, von dessen Befriedigung die geistige Gesundheit des Menschen abhängt. Dieses Bedürfnis nach Bezogenheit steht hinter allen Phänomenen, welche die ganze Skala intimer menschlicher Beziehungen ausmachen, hinter allen Leidenschaften, die wir im weitesten Sinne des Wortes als Liebe bezeichnen.
Es gibt mehrere Wege, auf denen man diese Einheit suchen und finden kann. Der Mensch kann versuchen, mit der Welt eins zu werden, indem er sich einer anderen [IX-332] Person, einer Gruppe, einer Institution oder einem Gott völlig unterwirft. Auf diese Weise überwindet er das Abgetrenntsein seiner individuellen Existenz dadurch, dass er Teil eines anderen Menschen oder einer Einrichtung wird, die größer sind als er selber, und er erlebt dann seine Identität in der Verbindung mit der Macht, der er sich unterworfen hat. Eine andere Möglichkeit, die Isolierung zu überwinden, liegt in entgegengesetzter Richtung: Der Mensch kann auch versuchen, dadurch mit der Welt eins zu werden, dass er Macht über sie gewinnt, dass er andere zu einem Bestandteil seiner selbst macht und dass er so durch die Herrschaft über diese anderen seine individuelle Existenz transzendiert. Das gemeinsame Element in der Unterwerfung wie auch in der Beherrschung ist die symbiotische Eigenart der Bezogenheit. Beide Beteiligten verlieren dabei ihre Integrität und Freiheit; einer lebt vom anderen. Beide befriedigen zwar ihre Sehnsucht nach Nähe, leiden aber unter einem Mangel an innerer Kraft und Selbstsicherheit, deren Voraussetzung Freiheit und Unabhängigkeit wären. Außerdem fühlen sie sich ständig durch die bewusste oder unbewusste Feindseligkeit bedroht, die bei jeder symbiotischen Beziehung unausweichlich entsteht. Die Verwirklichung der unterwürfigen (masochistischen) oder beherrschenden (sadistischen) Leidenschaft führt nie zur Befriedigung. Beide besitzen eine Eigendynamik, und da keine noch so große Unterwerfung unter andere oder deren Beherrschung (oder auch Besitz und Ruhm) genügt, um uns ein Gefühl der Identität und des Einsseins zu geben, suchen wir immer nur nach mehr und immer mehr. Diese Leidenschaften sind schließlich stets zum Scheitern verurteilt; dies kann auch gar nicht anders sein, denn obgleich sie nach einem Gefühl des Einsseins streben, zerstören sie das Integritätsgefühl. Wer von einer dieser Leidenschaften getrieben wird, wird in Wirklichkeit von anderen abhängig; anstatt sein eigenes individuelles Sein zu entwickeln, ist er von denen abhängig, denen er sich unterwirft oder die er beherrscht.
Es gibt nur eine einzige Leidenschaft, die das Bedürfnis des Menschen, mit der Welt eins zu werden und gleichzeitig das Gefühl seiner Integrität und Individualität zu erlangen, befriedigt: die Liebe. Liebe ist die Vereinigung mit einem anderen Menschen oder Gegenstand außerhalb seiner selbst unter der Voraussetzung der Beibehaltung des Abgetrenntseins und der lntegrität des eigenen Selbst. Liebe ist Erfahrung von Teilen und Gemeinsamkeit, die die volle Entfaltung der eigenen inneren Aktivität ermöglicht. Das Erlebnis der Liebe beseitigt die Notwendigkeit, sich Illusionen hinzugeben. Ich habe es nicht mehr nötig, das Bild vom anderen oder von mir selbst aufzublähen, weil die Realität des eigenen Teilens und Liebens es mir ermöglicht, meine individuelle Existenz zu transzendieren und gleichzeitig mich selbst als Träger der aktiven Kräfte zu erfahren, die den Akt des Liebens ausmachen. Worauf es ankommt, ist die besondere Qualität des Liebens, nicht sein Gegenstand. Liebe ist zu finden im Erlebnis der menschlichen Solidarität mit unseren Mitmenschen, in der erotischen Liebe von Mann und Frau, in der Liebe der Mutter zu ihrem Kind und auch in der Liebe zu uns selbst als einem menschlichen Wesen; wir finden sie in der mystischen Vereinigung. Im Akt des Liebens bin ich eins mit dem All und bin doch ich selbst, ein einzigartiges, getrenntes, begrenztes, sterbliches menschliches Wesen. Gerade aus der Polarität zwischen Abgetrenntsein und Vereinigung wird die Liebe immer neu geboren. [IX-333]