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Die moralische Verantwortung des modernen Menschen

The Moral Responsibility of Modern Man

©2016 13 Seiten

Zusammenfassung

In Zeiten, als man noch im Kampf gegen autoritäre Bevormundungen die Wertfreiheit proklamierte und ethische Überlegungen im öffentlichen Raum wenig zu suchen hatten, sprach Fromm von der „moralischen Verantwortung des modernen Menschen“. Jedes Handeln, Urteilen und Entscheiden ist wertorientiert, und das Subjekt wird immer auch von gesellschaftlichen Werthaltungen bestimmt. Dass diese Haltungen „Tugenden“ und „Laster“ genannt werden, mag für manchen moralisierend und antiquiert klingen. Fromm stellt sich bewusst in die Tradition der Tugendlehre von Aristoteles, Thomas von Aquin und Spinoza, allerdings ist seine Perspektive sozialpsychologisch und klinisch. Auch interessiert Fromm weniger, was Menschen an ethischen Werten zu leben vorgeben, als vielmehr, was sie auf Grund ihrer meist unbewussten Antriebskräfte faktisch verfolgen und praktizieren. Auch sechzig Jahre nach seiner Entstehung ein erhellender Beitrag!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die moralische Verantwortung des modernen Menschen

(The Moral Responsibility of Modern Man)

Erich Fromm
(1958d)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.

Erstveröffentlichung unter dem Titel The Moral Responsibility of Modern Man in: Merrill-Palmer Quarterly of Behavior and Development, Detroit 5 (1958) S. 3-14; die von Liselotte und Ernst Mickel besorgte erste deutsche Übersetzung wurde in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1981, GA IX, S. 319-330, veröffentlicht.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA IX, S. 319-330.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1958 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.

Wenn ich über die moralische Verantwortung bzw. über das ethische Problem des modernen Menschen spreche, dann möchte ich von vornherein ein Missverständnis ausschließen: Das gegenwärtige intellektuelle Klima ist von einem Relativismus in der Ethik gekennzeichnet. Im allgemeinen wird die Auffassung vertreten, Werte besäßen nur deshalb Gültigkeit, weil sie innerhalb einer bestimmten Kultur von der Gesellschaft akzeptiert werden. Die Normen des Kopfjägers erfüllen ihren Zweck bei den Kopfjägern, und das Gesetz der Nächstenliebe erfüllt seinen Zweck bei den Kulturen, die diese Norm akzeptiert haben. Die meisten Sozialwissenschaftler vertreten den Standpunkt, dass Werte und Normen keine allgemeine, objektive, universale Gültigkeit besitzen. Wenn ich nun hier über das ethische Problem des modernen Menschen spreche, könnte das so klingen, als ob ich diese Einstellung teilte. Das ist aber keineswegs der Fall. Ich bin ganz im Gegenteil davon überzeugt, dass es gewisse Grundnormen und -werte für das Leben gibt, die vor Tausenden von Jahren von allen großen geistigen Führern der Menschheit mit einer bemerkenswerten Übereinstimmung erkannt wurden, obgleich diese untereinander keinen Kontakt hatten. Diese Werte besitzen für alle Menschen Gültigkeit und sind in der Natur des Menschen selbst, in den Bedingungen seiner Existenz begründet. Dies setzt natürlich die Annahme voraus, dass es so etwas wie den Menschen überhaupt gibt, nicht nur – wovon wir alle überzeugt sind – im physiologischen oder anatomischen Sinne, sondern auch im geistigen und psychologischen. Wir können also von einer Natur, von einem Wesen des Menschen als von einer definierbaren und nachweisbaren Größe sprechen.[2] Dies ist eine weitere Annahme, von der ich fürchte, dass sie nicht von den meisten heutigen Sozialwissenschaftlern geteilt wird.

Leider kann ich hier nicht im einzelnen ausführen, was ich unter der „Natur des Menschen“ verstehe. Da Worte ohne entsprechende Beispiele bedeutungslos bleiben, möchte ich dazu einige Beobachtungen anführen.

Der Mensch ist eine Laune der Natur. Er ist das einzige Lebewesen, das sich seiner selbst bewusst ist. Er ist das einzige Wesen, das innerhalb der Natur lebt und sie gleichzeitig transzendiert. Der Mensch ist sich seiner selbst, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft bewusst. Der Mensch lebt nicht nur instinktiv, so wie es das Tier tut. [IX-320] Er ist weitgehend aus der Natur entwurzelt und steht vom Augenblick seiner Geburt an vor dem Problem, eine Frage zu beantworten, die das Leben ihm stellt: Was sollen wir aus unserem Leben machen? Wohin gehen wir? Welchen Sinn geben wir dem Leben? Soweit ich sehen kann, ist dies nur eine Frage, und es gibt nur wenige Antworten darauf. Diese Antworten sind in der Geschichte der Menschheit zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten wiederholt worden. Man hat sie bald in dieser, bald in jener Form in Begriffe gefasst, und nur wenige Antworten tauchen in der gleichen Form immer wieder auf. Man könnte sagen, die Geschichte der Religion und die Geschichte der Philosophie seien tatsächlich die Geschichte oder das System dieser wenigen möglichen Antworten. Aber wir alle müssen eine Antwort geben, und welches Leben wir führen, hängt ab von der Antwort, die wir geben.

Ich möchte an einem Beispiel verdeutlichen, was ich meine. Der Mensch muss zu seinen Mitmenschen und zur Natur in Beziehung treten. Der völlig beziehungslose Mensch ist wahnsinnig, ja man kann den Wahnsinn gerade so definieren, dass man sagt, er sei der Zustand eines völlig beziehungslosen Menschen. Die Bezogenheit auf andere Menschen kann nun aber ganz verschieden aussehen. Für sie können Unterwerfung, Machtausübung oder eine Marketing-Orientierung typisch sein. Bei der Marketing-Orientierung besteht die Bezogenheit aus einem ständigen Tausch, so wie man auf dem Markt Gebrauchswaren tauscht. Man kann aber auch zum anderen Menschen in liebender Weise bezogen sein. Diese Art ist angesichts der Natur des Menschen die einzig befriedigende Art, weil die Liebe die einzige Form der Bezogenheit ist, die gleichzeitig die Integrität und die Wirklichkeit der Beteiligten wahrt. Man kann auch „lieben“, indem man sich dem anderen unterwirft, oder indem man über ihn Macht ausübt; dann aber verlieren beide – derjenige, der sich dem anderen unterwirft, wie derjenige, unter dessen Macht er steht – ihre Integrität und die grundlegende menschliche Eigenschaft der Unabhängigkeit. Bei der echten Liebe bleiben Bezogenheit auf den anderen und Integrität erhalten.

Die vorstehenden Aussagen machen deutlich, dass das ethische Problem für den Menschen immer das Gleiche ist. Es gibt kein echtes ethisches Problem nur für ein bestimmtes Land oder nur für ein bestimmtes Alter. Es gibt besondere Verhältnisse, in denen Menschen leben und durch die sie sich unterscheiden, und deshalb ergeben sich unterschiedliche Aspekte ein und desselben ethischen Problems, die ich hier erörtern möchte.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959121682
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Moral Wertorientierung Aristoteles Thomas von Aquin Spinoza
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