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Psychoanalyse als Wissenschaft

Psychoanalysis

©2016 17 Seiten

Zusammenfassung

Der Beitrag "Psychoanalyse als Wissenschaft" wurde von Fromm 1955 für ein amerikanisches Sammelwerk geschaffen, das die verschiedensten Wissenschaften vorstellte. Fromm fiel die Aufgabe zu, mit der Psychoanalyse bekanntzumachen. Es entstand eine Art lexikalischer Artikel, der für das Schaffen Fromms einmalig ist, weil er einen Einblick ermöglicht, wie er die Psychoanalyse und seine eigene Stellung innerhalb dieser Wissenschaft „objektiv“ einschätzt. In keiner anderen Schrift hält Fromm so sehr mit seinen eigenen Ansichten hinsichtlich des Selbstverständnisses von Psychoanalyse zurück wie in diesem Beitrag.
Aus dem Inhalt
– Die psychoanalytische Theorie
– Die psychoanalytische Therapie
– Weiterentwicklungen in der Psychoanalyse

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Psychoanalyse als Wissenschaft

(Psychoanalysis)

Erich Fromm
(1955e)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Psychoanalysis in: J. R. Newman (Hg.), What Is Science? Twelve eminent scientists and philosophers explain their various fields to the layman, New York (Simon and Schuster) 1955, S. 362-380; auf deutsch erschien der Beitrag in einer Übersetzung von Liselotte und Erst Mickel erstmals unter dem Titel Psychoanalyse als Wissenschaft in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1981, GA VIII, S. 3-20.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA VIII, S. 3-20.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1955 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.

Die mittelalterliche Kultur beruhte auf traditionellen Glaubensvorstellungen, nach denen die Welt noch ein in sich geschlossenes System bildete und deshalb Gewissheit und Sicherheit bot. Die Erde und der Mensch auf ihr waren Mittelpunkt des Universums. Alles war durch die Gesetze Gottes geordnet, die er den Menschen offenbart hatte. Man glaubte, nichts Neues sei mehr zu entdecken, kein leerer Raum mehr auszufüllen. Aber etwa um das Jahr 1500 brach diese sichere und in sich geschlossene Welt jäh auseinander. Der Mensch wurde von seinem Platz im Mittelpunkt des Universums vertrieben, von dem aus alles wohl geordnet und überschaubar schien. Alles um ihn herum – einschließlich seiner selbst – wurde zu einem Problem, zu einer Frage, zu etwas, das noch zu entdecken war. Der erste Riss in diesem sicheren Gehäuse entstand durch Kopernikus’ Entdeckung, dass die Sonne im Mittelpunkt unseres Planetensystems steht. Dies führte weiter zur Erkenntnis des Weltraums, in dem unsere Sonne nur eine Sonne unter Milliarden anderer in einer Galaxie ist, die wiederum nur eine unter Milliarden anderer Galaxien ist. Mit Kopernikus begann eine Folge neuer Erkenntnisse, die 500 Jahre später in den Theorien von Einstein und anderen Forschern über das Wesen von Raum, Energie und Materie gipfelten. Die Physiker haben uns gelehrt, dass unsere Sinne uns nicht nur bezüglich der relativen Stellung von Erde und Sonne täuschen, sondern dass sie uns sogar noch erheblich mehr über die physikalische Welt täuschen, welche uns umgibt und trägt.

Die neuen Entdeckungen über die Natur setzten früher ein und waren weitreichender als die über den Menschen, doch entsprachen letztere demselben Prinzip. Man versuchte, den Kräften auf die Spur zu kommen, die hinter den beobachtbaren Erscheinungen auf dem Gebiet der biologischen, gesellschaftlichen und psychologischen Entwicklung des Menschen stehen. Dabei ging es im wesentlichen darum, dass weder unsere sinnlichen Wahrnehmungen noch unser gesunder Menschenverstand noch die Tradition eine Garantie für die Wahrheit sind, sondern dass wir – wenn wir die Wahrheit außerhalb des Menschen und in seinem Inneren erfassen wollen – das Wesen und die Ausrichtung der Kräfte erkennen müssen, die nicht unmittelbar wahrnehmbar sind, auf die man aber aus den sichtbaren Erscheinungen schließen kann. Darwin hat die Eitelkeit des Menschen verletzt, indem er zeigte, wie der Mensch sich [VIII-004] nach dem Gesetz der natürlichen Auslese der Arten aus weit zurückliegenden tierischen Ursprüngen entwickelt hat. Marx hat gezeigt, dass die Gesellschaftssysteme des Menschen, ja sogar seine Ideen und seine Kultur von gesellschaftlichen Kräften determiniert sind, die sozusagen hinter seinem Rücken wirken. Freud hat diesen Prozess seinerseits vervollständigt, indem er nachwies, dass die bewussten Vorstellungen, die sich der Mensch von sich selbst und von anderen macht, nur einen kleinen Teil dessen ausmachen, was in ihm vorgeht. Noch wichtiger jedoch ist seine Entdeckung, dass die meisten der von uns wahrgenommenen Gedanken aus Ängsten und Wünschen stammen, deren wir uns nicht bewusst sind. Freud hat uns gelehrt, objektiv und demütig zu sein; er lehrte uns, skeptisch zu sein in Bezug auf unser bewusstes Denken und nach der in unserem Unbewussten verborgenen Wahrheit zu forschen, anstatt uns mit dem zufriedenzugeben, was wir bewusst für wahr halten. Freuds Entdeckungen haben wesentlichen Anteil an dem Fortschritt, den wir in den letzten 500 Jahren in Richtung auf objektives Denken gemacht haben. Er hat mit dazu beigetragen, dass wir heute uns, unsere Mitmenschen, die Welt und die Natur so sehen, wie sie wirklich sind und nicht so, wie wir sie uns wünschen.

Die Psychoanalyse ist sowohl eine psychologische Theorie als auch eine Therapiemethode für seelische Störungen (Psychoneurosen). Wenngleich Theorie und Therapie in enger Beziehung miteinander stehen, sind sie doch schon deshalb getrennt zu behandeln, weil die Theorie für jeden wichtig ist, der sich mit der Natur des Menschen beschäftigt, während die Therapie nur für die von großer Bedeutung ist, die sich mit der Heilung seelischer Erkrankungen befassen oder die selbst unter seelischen Erkrankungen leiden.

Die Psychologie des neunzehnten Jahrhunderts befasste sich hauptsächlich mit der Beschreibung und Klassifizierung der verschiedenen im Bewusstsein ablaufenden Prozesse (Wahrnehmung, Gedächtnis usw.). Freud brach mit dieser Tradition, indem er sich zum Ziel setzte, Fragen zu beantworten, mit denen sich bisher hauptsächlich die Philosophen und Schriftsteller befasst hatten: Was veranlasst den Menschen, gerade so und nicht anders zu denken, zu fühlen und zu handeln? Welches sind die Kräfte, die seinem Verhalten zugrunde liegen und es bestimmen? Welchen Gesetzen folgt der menschliche Geist?

1. Die psychoanalytische Theorie

Die grundlegende Entdeckung Freuds – eine Entdeckung, welche die Vorstellung vom Menschen ebenso stark beeinflussen dürfte, wie die Entdeckung des Kopernikus noch heute unsere Vorstellung vom Universum beeinflusst – betrifft das Verständnis des Unbewussten. Wenngleich Spinoza schon fast 300 Jahre früher festgestellt hatte, dass wir zwar unsere Wünsche, aber nicht die Gründe für unsere Wünsche kennen (und daher in der Illusion leben, uns frei entscheiden zu können), ist es Freud gelungen, noch weitgehender und konkreter darzulegen, was diese Feststellung impliziert. Er hat nachgewiesen, dass jeder von uns sich nur eines kleinen Sektors seiner Persönlichkeit bewusst ist, während der Hauptteil dessen, was in uns vorgeht, sich unserem Bewusstsein entzieht und unbewusst oder verdrängt ist.

Zwei einfache Beispiele mögen dies verständlicher machen. Ein Mann, der immerzu aufschneidet und prahlt und andere herabsetzt, sieht sich vielleicht bewusst als eine beherrschende, überlegene Persönlichkeit. Nicht bewusst ist er sich der Tatsache, dass diese Macht- und Überlegenheitsgefühle in Wirklichkeit nur eine Kompensation genau entgegengesetzter Gefühle sind. Tief in seinem Inneren fühlt er sich schwach und hilflos wie ein Kind, und im selben Augenblick, wo er zu uns sagt: „Seht nur, was ich für ein prachtvoller Kerl bin“, bittet er in Wirklichkeit: „Lass sie nicht merken, dass ich mir wie ein hilfloses Kind vorkomme.“ Weitere Nachforschungen würden vielleicht ergeben, dass dieser Mann sich wie ein hilfloses Kind fühlt, weil er eine tiefe Mutterbindung nie überwunden hat, bei der es sich um eine passive Anhänglichkeit handelt, welche für das Kind normal ist, einen erwachsenen Mann aber schwach macht und von der er sich längst hätte gelöst haben sollen. Vermutlich möchte er immer noch von seiner Mutter gestillt, umsorgt, beschützt und bewundert werden, und eben wegen dieser Bindung an sie fühlt er sich als Kind und daher schwach und anderen unterlegen. Im Extremfall kann er zum Alkoholiker werden, denn nur unter dem Einfluss des Alkohols kann er das Gefühl der Ohnmacht überwinden, und gleichzeitig ist das Trinken ein Ersatz für seinen Wunsch, von der Mutter gestillt und verwöhnt zu werden. Je tiefer man im Unbewussten nachforscht, umso mehr Verbindungsglieder entdeckt man in dieser Verhaltenskette.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783959121637
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Wissenschaft Selbstverständnis
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Titel: Psychoanalyse als Wissenschaft