Zusammenfassung
Aus dem Inhalt
• Einleitung: Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
• Autorität und Über-Ich. Die Rolle der Familie bei ihrer Entwicklung
• Autorität und Verdrängung
• Der autoritär-masochistische Charakter
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil
- Inhalt
- 1. Einleitung: Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
- 2. Autorität und Über-Ich. Die Rolle der Familie bei ihrer Entwicklung
- 3. Autorität und Verdrängung
- 4. Der autoritär-masochistische Charakter
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
1. Einleitung: Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
Bei vielen Menschen ist ihr Verhältnis zur Autorität der hervorstechendste Zug ihres Charakters[2]: Sei es, dass die einen nur dann eigentlich glücklich sind, wenn sie sich einer Autorität fügen und unterwerfen können, und umso mehr, je strenger und rücksichtsloser diese ist, sei es, dass andere sich auflehnend und trotzig verhalten, sowie sie sich auch nur irgendwo Anordnungen fügen sollen, und wären es auch die vernünftigsten und für sie selbst zweckmäßigsten. Während aber andere Charakterzüge wie etwa Geiz oder Pünktlichkeit eine relativ einheitliche Erscheinung darstellen, ist das Bild, das uns die Aufzählung auch nur weniger Beispiele von verschiedenen Arten der Autorität und der Einstellung zu ihr ergibt, so mannigfaltig und verwirrend, dass der Zweifel entstehen muss, ob wir es überhaupt mit einem Tatbestand zu tun haben, der einheitlich genug ist, um zum Gegenstand einer psychologischen Untersuchung gemacht zu werden.
Eine Autoritätssituation liegt vor im Verhältnis des Sohnes zum Vater in einem bestimmten Typ kleinbäuerlicher Familienstruktur. Der Vater wird gefürchtet, und widerspruchs- und bedenkenlos wird ihm gehorcht; manchmal wird mehr das Gefühl der Ehrfurcht, manchmal mehr das des Hasses oder der Furcht beigemischt sein und dem Verhältnis seine besondere Farbe geben. Solange der Vater lebt, ist sein Wille einziges Gesetz, und die Hoffnung auf Selbständigkeit und Unabhängigkeit ist, bewusst oder unbewusst, mit der Hoffnung auf den Tod des Vaters verknüpft. – Solche Hoffnung, aber auch solcher Wunsch fehlt in einem bestimmten Typus des Verhältnisses Soldat – Offizier. Der Untergebene gibt freudig und gern seine eigene Persönlichkeit auf, wird zum Werkzeug des Führers, dessen Wille seinen eigenen ersetzt. Er bewundert ihn als unendlich überlegenes Wesen und findet sein Glück im seltenen Lob des Führers. Gewiss fürchtet er ihn auch, aber gewöhnlich doch nur dann, wenn er nicht ganz seine Pflicht getan zu haben glaubt. Ehrfurcht, Bewunderung, ja Liebe spielen eine viel größere Rolle in seinen Gefühlen als Furcht. – Ganz anders wieder ist das Verhältnis zum Führer, wie es sich in der Jugendbewegung, speziell der deutschen, ausgebildet hatte. Auch hier gibt es ein Aufgehen im Führer, ein Aufgeben der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Wollens und Entscheidens. Aber der tragende Kern des Verhältnisses ist nicht die Macht des Führers und die Angst vor den [I-142] Folgen einer Pflichtverletzung, sondern die Liebe zu ihm und die Angst vor dem Liebesverlust. – Liebe ist auch der tragende Kern eines Autoritätsverhältnisses, wie man es so häufig in Fällen von Subordination wie etwa dem einer Krankenschwester zum Arzt findet; hier geht es aber um heterosexuelle, und nicht um homosexuelle Liebe mit all den andersartigen Konsequenzen, welche diese Verschiedenheit nach sich zieht; ist in der homosexuellen Liebe immer ein Zug des Gleichseinwollens und der Identifizierung, so fehlt dieser in der heterosexuellen. Der Wunsch nach dem Geliebtwerden, sei er mehr oder weniger bewusst, und die Angst vor dem Verlust – wenn auch nur der Chance des Geliebtwerdens – ist die Basis für die Bewunderung und den Gehorsam. – Angst und Liebe spielen eine weniger zentrale Rolle im Verhältnis des gläubigen Katholiken zu seinem Beichtvater. Seine Überlegenheit ist vorwiegend eine moralische. Er ist das personifizierte Gewissen des Gläubigen. Er kann ihn sich schuldig fühlen lassen und kann ihm durch Verzeihung inneren Frieden geben. Auch er erscheint dem naiven Gläubigen als ein höheres Wesen, und niemals kann die Distanz zu ihm überbrückt werden. Nicht Lob und Liebe, sondern Billigung, Verzeihung ist das Gut, das der Gläubige für den Preis der Unterwerfung nicht so sehr unter dessen Person als unter die Idee und Institution, die er vertritt, zu erwarten hat. – Ist in allen diesen Fällen das Verhältnis zum Träger der Autorität im wesentlichen rein gefühlsmäßig bedingt und vernünftiges Denken wenig an ihm beteiligt, so spielt gerade dieses eine entscheidende Rolle in einem so anders gearteten Autoritätsverhältnis wie dem des Studenten zu dem von ihm verehrten und bewunderten Universitätslehrer. Nicht sexuelle oder moralische Macht machen ihn zum Meister, sondern geistige Werte und ein Können, das der Student für sich selbst einst zu erreichen hofft. Nicht die Überzeugung von einer unüberbrückbaren Distanz, sondern der Wunsch, zu werden wie der Träger der Autorität, bilden den Grundzug dieses Verhältnisses. – Ist in einer solchen Autoritätsstruktur der Autoritätsträger die Verkörperung der Ideale des ihm Ergebenen, so ist er in einer anderen, in mancher Hinsicht mit dieser verwandten, aber doch wiederum entscheidend verschiedenen Struktur, eine Personifizierung der egoistischen Interessen. Für den ehrgeizigen Angestellten ist sein erfolgreicher Chef eine Autorität in diesem Sinn. Sich ihn zum Vorbild zu nehmen, an ihn zu „glauben“, gibt den eigenen Ambitionen, äußerlich wie innerlich, Stütze und Halt; Lob und Anerkennung des Chefs sind in erster Linie nicht um ihrer selbst willen, sondern um des Vorteils willen, den sie bedeuten, beglückend.
Diese Beispiele sind wenig ermutigend für den Versuch einer Definition dessen, was man unter Autorität im psychologischen Sinne verstehen kann. Die Verschiedenheiten der Gefühlsstruktur scheinen größer zu sein als die Gemeinsamkeiten, und man zweifelt, ob diese tragfähig genug für eine einheitliche Behandlung des Gegenstandes sind. Manchmal scheint die Furcht, manchmal die Bewunderung, manchmal die Liebe und manchmal der Egoismus der entscheidende Zug zu sein. Bald ist die Macht und Gefährlichkeit, bald die vorbildliche Leistung die Quelle des Autoritätsverhältnisses; in dem einen Falle sind nur die Gefühle, im anderen das vernünftige Denken beteiligt; einmal wird die Beziehung zur Autorität als ein ständig lastender Druck, das andere Mal als beglückende Bereicherung erlebt; manchmal scheint sie von den äußeren Umständen erzwungen und in diesem Sinne notwendig, manchmal scheint sie ein [I-143] freiwilliger Akt zu sein. Leichter als eine positive Bestimmung scheint es zu sein, zunächst zu sagen, was wir nicht unter Autorität verstehen wollen. Das Autoritätsverhältnis ist nicht ein bloß erzwungenes Verhalten. Der Kriegsgefangene oder der politische Gefangene, der sich den Anordnungen der Machthaber fügt, ohne seine feindselige und ablehnende Stellung aufzugeben, ist kein Beispiel für ein Autoritätsverhältnis. Wenn G. Simmel (1908a, S. 136 ff.) sagt, in der Autorität müsse immer ein Rest von Freiwilligkeit vorhanden sein, so ist damit wohl gemeint, dass das Sich-Fügen zwar auf Grund eines Zwanges erfolgen kann, dass wir aber von Autorität nur dann sprechen, wenn dieser Zwang innerlich nicht rein als solcher empfunden wird, sondern wenn er durch gefühlsmäßige Beziehungen ergänzt oder verstärkt wird. Positiv ausgedrückt, gehört zu einem jeden Autoritätsverhältnis die gefühlsmäßige Bindung einer untergeordneten zu einer übergeordneten Person oder Instanz. Das Autoritätsgefühl scheint immer etwas von Furcht, Ehrfurcht, Respekt, Bewunderung, Liebe und häufig auch Hass zu haben, aber die Rolle, die quantitativ in jedem Falle den einzelnen Komponenten dieses Gefühlskomplexes zukommt, scheint völlig verschieden zu sein, und diese Schwierigkeit noch durch die Tatsache kompliziert zu sein, dass die Komponenten manchmal bewusst und manchmal unbewusst, manchmal direkt und manchmal in Reaktionsbildung auftreten können. Angesichts dieses Tatbestandes tun wir wohl besser daran, auf eine Definition zu verzichten und uns damit zu begnügen, in groben Umrissen angedeutet zu haben, in welchem Sinne hier von der Einstellung zur Autorität als psychologischem Gegenstand die Rede ist.
Die folgende Untersuchung bezieht sich auf die psychologische Dynamik der Einstellung zur Autorität. Sie will diejenigen Triebtendenzen und seelischen Mechanismen analysieren, die bei der Ausbildung der verschiedenen Formen der „Autoritätsstellung“ wirksam sind. Wenn sie so auch zum Unterschied von den anderen Aufsätzen, die in diesem Band [Studien über Autorität und Familie]vereinigt sind, eine rein psychologische Untersuchung ist, so steht sie doch in engem Zusammenhang mit ihnen. Indem die in einem Menschen oder in einer Gruppe wirksamen Impulse und Triebe sich zwar auf Grund bestimmter physiologisch und biologisch gegebener Bedingungen, aber immer im Sinne der aktiven und passiven Anpassung dieser an die gesellschaftlichen Lebensbedingungen entwickeln, darf auch die rein psychologische Untersuchung niemals den Zusammenhang mit der spezifischen Lebenspraxis verlieren, welche die zu untersuchenden seelischen Tendenzen erzeugt und ständig reproduziert. Angesichts des Umfanges und der Schwierigkeit des Gegenstandes will diese Arbeit sich aber nur darauf beschränken, einige Probleme aus dem Gesamtkomplex der Struktur und Dynamik der Einstellung zur Autorität herauszugreifen und zu diskutieren. So befremdlich es auch angesichts der großen personal- und sozialpsychologischen Bedeutung des Gegenstandes sein mag, so ist doch die Einstellung zur Autorität bisher noch kaum zum Gegenstand einer psychologischen Untersuchung gemacht worden. Der einzige Psychologe, an den anzuknüpfen ist, ist Freud, und dies nicht nur, weil seine psychologischen Kategorien infolge ihres dynamischen Charakters die einzig brauchbaren sind, sondern auch weil er das Problem der Autorität unmittelbar behandelt und wichtige und fruchtbare Gesichtspunkte aufgezeigt hat.
2. Autorität und Über-Ich.
Die Rolle der Familie bei ihrer Entwicklung
Freud diskutiert das Problem der Autorität im Zusammenhang mit der Massenpsychologie und dem „Über-Ich“. Die Behandlung beider Probleme zeigt, welche entscheidende Bedeutung er in psychologischer Hinsicht der Autorität zuspricht. Die Massenbildung sieht er geradezu auf dem Verhältnis der Massen zum Führer begründet. „Eine solche primäre Masse ist“, sagt S. Freud (1921c, S. 128), „eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt (d.h. den Führer) an die Stelle ihres Ich-Ideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben“.[3] Nicht weniger bedeutsam als für die Massenbildung ist die Autorität nach Freud für die Bildung des „Über-Ichs“. Da wir mit den Begriffen des „Über-Ichs“, „Ichs“ und „Es“ weiterhin zu tun haben werden, soll kurz dargestellt werden, was Freud unter ihnen versteht. Er nimmt im seelischen Apparat drei Instanzen an: das „Es“, das „Ich“ und das „Über-Ich“. Dies sind nicht Bezeichnungen für „Teile“ im statischen, sondern für Träger von Funktionen im dynamischen Sinne; nicht scharf abgegrenzt, sondern ineinander übergehend. Das „Es“ ist die ursprüngliche und undifferenzierte Form des seelischen Apparates. „Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in der Bildung begriffen oder schwächlich ist“ (S. Freud, 1923b, S. 275). Das Ich ist „der durch den direkten Einfluss der Außenwelt (...) veränderte Teil des Es“ (S. Freud, 1923b, S. 252). Es repräsentiert, „was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält“ (S. Freud, 1923b, S. 253). Zusammenfassend sagt er vom Ich:
Wir haben uns die Vorstellung von einer zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person gebildet und heißen diese das Ich derselben. An diesem Ich hängt das Bewusstsein, es beherrscht die Zugänge zur Motilität, das ist: zur Abfuhr der Erregungen in der [I-145] Außenwelt; es ist diejenige seelische Instanz, welche eine Kontrolle über alle ihre Partialvorgänge ausübt, welche zur Nachtzeit schlafen geht und dann immer noch die Traumzensur handhabt. Von diesem Ich gehen auch die Verdrängungen aus, durch welche gewisse seelische Strebungen nicht nur vom Bewusstsein, sondern auch von den anderen Arten der Geltung und Betätigung ausgeschlossen werden sollen. (S. Freud, 1923b, S. 243.)
Das Über-Ich, ursprünglich von Freud auch Ideal-Ich oder Ich-Ideal genannt, ist „die phylogenetisch letzte und heikelste“ (S. Freud, 1933a, S. 86) Instanz des seelischen Apparates. Als seine Funktion bezeichnet Freud „die Selbstbeobachtung, das moralische Gewissen, die Traumzensur und den Haupteinfluss bei der Verdrängung“ (S. Freud, 1921c, S. 121). In der Neuen Folge der Vorlesungen nennt er Selbstbeobachtung, Gewissen und Idealbildung als die drei Funktionen des Über-Ichs (S. Freud, 1933a, S. 72). Die Frage, ob auch die Realitätsprüfung eine Funktion des Über-Ichs sei, beantwortet Freud widersprechend. (Vgl. S. Freud, 1921c, S. 126, und S. Freud, 1923b, S. 256.) Die Entstehung des Über-Ichs bringt er in eine enge Beziehung zum Vater. Schon vor allen Objektbeziehungen identifiziert sich der kleine Knabe mit dem Vater, und hinter dem Ich-Ideal „verbirgt sich die erste und bedeutsamste Identifizierung des Individuums, die mit dem Vater der persönlichen Vorzeit“ (S. Freud, 1923b, S. 259). Diese primäre Identifizierung wird verstärkt durch eine sekundäre, die der Niederschlag der Ödipusphase ist. Der kleine Knabe muss unter dem Druck der Angst vor der Eifersucht des Vaters seine auf die Mutter gerichteten sexuellen und seine gegen den Vater gerichteten feindseligen und eifersüchtigen Wünsche aufgeben; dies wird ihm erleichtert, indem er sich mit dem Vater identifiziert und seine Ge- und Verbote introjiziert. An Stelle der äußeren Angst tritt eine innere, die ihn automatisch vor dem Erlebnis der äußeren Angst schützt. Auf diesem Umweg erreicht der Knabe gleichzeitig einen Teil der verbotenen Ziele, indem er durch die Identifizierung dem Vater gleich geworden ist. Diesem zwiespältigen Tatbestand entspricht der doppelte Inhalt des Über-Ichs:
So (wie der Vater) sollst du sein. (...) So (wie der Vater) darfst du nicht sein, das heißt nicht alles tun, was er tut; manches bleibt ihm vorbehalten. (S. Freud, 1923b, S. 262.)
„Im Laufe der Entwicklung nimmt das Über-Ich auch die Einflüsse jener Personen an, die an die Stelle der Eltern getreten sind, also von Erziehern, Lehrern, idealen Vorbildern“ (S. Freud, 1933a, S. 70; vgl. S. Freud, 1923b, S. 265). Das Über-Ich „wird zum Träger der Tradition“ (S. Freud, 1933a, S. 73) und ist die Verinnerlichung des äußeren Zwanges (vgl. S. Freud, 1927c, S. 332 f.). Das Verhältnis des Über-Ichs zum Es ist ein zwieschlächtiges. Einerseits ist das Über-Ich eine „Reaktionsbildung gegen die Triebvorgänge des Es“ (S. Freud, 1923b, S. 286), andererseits bezieht es seine Energien aus dem Es (vgl. S. Freud, 1926d, S. 145).
Gewisse Widersprüche und Unklarheiten in der Freudschen Begriffsbildung sind nicht zu verkennen. Auf die Unklarheit, dass die Realitätsprüfung manchmal dem Ich und manchmal dem Über-Ich zugewiesen wird, wurde oben schon hingewiesen. Es ist auch schwer einzusehen, warum die Selbstbeobachtung eine Funktion der gleichen Instanz sein soll, welche die als Reaktionsbildung gegen die Triebwelt entstandenen Ideale und das Gewissen verkörpert. Man hat den Eindruck, dass Freud hier die Begriffsbildung formalistisch vorgenommen, mit anderen Worten, dem Über-Ich alle [I-146] diejenigen Funktionen aufgebürdet hat, die er aus irgendeinem Grunde nicht dem Ich oder dem Es zuschreiben wollte. Auch der für die Genese des Über-Ichs so wichtige Begriff der Identifizierung leidet unter diesem allzu formalistischen Charakter. Was sich unter der von Freud beschriebenen Identifizierung verbirgt, sind psychologisch recht verschiedene Tatsachen, und eine weniger formalistische Begriffsbildung würde zum mindesten drei Haupttypen der Identifizierung zu unterscheiden haben: eine bereichernde, d.h. eine Identifizierung, in der ich die Person des anderen in mich aufnehme und mein Ich durch diese Bereicherung verstärke, eine verarmende, in der ich meine Person in den anderen verlege und zu einem Teil des andern werde, und endlich ein (bewusstes oder unbewusstes) Identitätsgefühl, das die Gleichheit und Vertauschbarkeit meiner Person mit der des andern zum Inhalt hat. Die Basis für dieses Gefühl dürften aber nicht so sehr „gemeinsame Eigenschaften“ als vielmehr wesentliche gemeinsame Interessen sein.
Trotz der Widersprüche und Unklarheiten in der Theorie des Über-Ichs und der Identifizierung hat Freud in diesem Punkt eine entscheidende Einsicht in das Problem der Autorität und darüber hinaus der gesellschaftlichen Dynamik vermittelt. Seine Theorie liefert einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie es möglich ist, dass die in einer Gesellschaft herrschende Gewalt tatsächlich so wirkungsvoll ist, wie uns das die Geschichte zeigt. Die äußere, in den jeweils für eine Gesellschaft maßgebenden Autoritäten verkörperte Gewalt und Macht ist ein unerlässlicher Bestandteil für das Zustandekommen der Fügsamkeit und Unterwerfung der Masse unter diese Autorität. Andererseits aber ist es klar, dass dieser äußere Zwang nicht nur als solcher direkt wirkt, sondern dass, wenn sich die Masse den Anforderungen und Verboten der Autoritäten fügt, dies nicht nur aus Angst vor der physischen Gewalt und den physischen Zwangsmitteln geschieht. Gewiss kann auch dieser Fall ausnahmsweise und vorübergehend eintreten. Eine Fügsamkeit, die nur auf der Angst vor realen Zwangsmitteln beruhte, würde einen Apparat erfordern, dessen Größe auf die Dauer zu kostspielig wäre; sie würde die Qualität der Arbeitsleistung der nur aus äußerer Furcht Gehorchenden in einer Weise lähmen, die für die Produktion in der modernen Gesellschaft zumindest unerträglich ist, und sie würde außerdem eine Labilität und Unruhe der gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen, die ebenfalls mit den Anforderungen der Produktion auf die Dauer unvereinbar wäre. Es ergibt sich, dass, wenn die äußere Gewalt die Gefügigkeit der Masse bedingt, sie doch in der Seele des Einzelnen ihre Qualität verändern muss. Die hierbei entstehende Schwierigkeit wird teilweise durch die Über-Ich-Bildung gelöst. Durch das Über-Ich wird die äußere Gewalt transformiert und zwar, indem sie aus einer äußeren in eine innere Gewalt verwandelt wird. Die Autoritäten als die Vertreter der äußeren Gewalt werden verinnerlicht, und das Individuum handelt ihren Geboten und Verboten entsprechend nun nicht mehr allein aus Furcht vor äußeren Strafen, sondern aus Furcht vor der psychischen Instanz, die es in sich selbst aufgerichtet hat.
Die äußere in der Gesellschaft wirksame Gewalt tritt dem in der Familie aufwachsenden Kind in der Person der Eltern und in der patriarchalischen Kleinfamilie speziell in der des Vaters gegenüber. Durch Identifizierung mit dem Vater und Verinnerlichung seiner Ge- und Verbote wird das Über-Ich als eine Instanz mit den Attributen [I-147] der Moral und Macht bekleidet. Ist aber diese Instanz einmal aufgerichtet, so vollzieht sich mit dem Prozess der Identifizierung gleichzeitig ein umgekehrter Vorgang. Das Über-Ich wird immer wieder von neuem auf die in der Gesellschaft herrschenden Autoritätsträger projiziert, mit andern Worten, das Individuum bekleidet die faktischen Autoritäten mit den Eigenschaften seines eigenen Über-Ichs. Durch diesen Akt der Projektion des Über-Ichs auf die Autoritäten werden diese weitgehend der rationalen Kritik entzogen. Es wird an ihre Moral, Weisheit, Stärke in einem von ihrer realen Erscheinung bis zu einem hohen Grade unabhängigen Maße geglaubt. Dadurch aber werden diese Autoritäten umgekehrt wiederum geeignet, immer von neuem verinnerlicht und zu Trägern des Über-Ichs zu werden. Diese Verklärung der Autoritäten durch Projizierung der Über-Ich-Qualität trägt zur Aufhellung einer Schwierigkeit bei. Es ist ja leicht zu verstehen, warum das kleine Kind infolge seiner mangelnden Lebenserfahrung und Kritik die Eltern für Ideale hält und sie infolgedessen im Sinne der Über-Ich-Bildung in sich aufnehmen kann. Es wäre für den kritischeren Erwachsenen schon viel schwieriger, das gleiche Gefühl der Verehrung für die in der Gesellschaft herrschenden Autoritäten zu haben, wenn eben nicht diese Autoritäten durch die Projizierung des Über-Ichs auf sie für ihn die gleichen Qualitäten erhielten, welche die Eltern einst für das kritiklose Kind hatten.
Das Verhältnis von Über-Ich und Autorität ist dialektisch. Das Über-Ich ist eine Verinnerlichung der Autorität, die Autorität wird durch Projizierung der Über-Ich-Eigenschaften auf sie verklärt und in dieser verklärten Gestalt wiederum verinnerlicht. Autorität und Über-Ich sind voneinander überhaupt nicht zu trennen. Das Über-Ich ist die verinnerlichte äußere Gewalt, die äußere Gewalt wird so wirksam, weil sie Über-Ich-Qualitäten erhält. Das Über-Ich ist also keineswegs eine Instanz, die in der Kindheit einmal gebildet wird und von da an im Menschen wirksam ist, wie auch immer die Gesellschaft aussieht, in welcher er lebt; das Über-Ich würde vielmehr in den meisten Fällen mehr oder weniger verschwinden oder seinen Charakter und seine Inhalte völlig ändern, wenn nicht die in der Gesellschaft maßgebenden Autoritäten immer wieder den in der Kindheit begonnenen. Prozess der Über-Ich-Bildung fortsetzten oder – richtiger gesagt – erneuerten. Dass diese Autoritäten mit den moralischen Qualitäten des Über-Ichs bekleidet werden, heißt auch nicht, dass das Vorhandensein des einmal gebildeten Über-Ichs und seine Projektion auf die Autoritäten ausreichend wäre, diese Autoritäten auch dann wirkungsvoll zu machen, wenn sie nicht die Träger der physischen Gewalt wären. Ebenso wie das Kind die vom Vater ausgehende Gewalt durch die Über-Ich-Bildung verinnerlicht, so beruht die Aufrechterhaltung und Erneuerung des Über-Ichs beim Erwachsenen immer wieder auf der Verinnerlichung faktischer äußerer Gewalt; denn wenn auch das Über-Ich die Angst vor einer äußeren Gefahr zu einer inneren Angst macht, so ist der dynamisch entscheidende Faktor zu seiner Bildung und Aufrechterhaltung eben doch die äußere Gewalt und die Angst vor ihr. Die äußere Angst könnte nicht verinnerlicht, die physische Gewalt nicht zu einer moralischen verklärt werden, wenn sie nicht beständen.
Diese Feststellung bedarf allerdings einer Einschränkung. Die Erlebnisse, die ein Mensch in seiner frühen Kindheit und Jugend hat, sind für die Bildung des Charakters von größerer Bedeutung als die Erlebnisse späterer Jahre. Nicht so, dass [I-148] Kindheitserlebnisse den Charakter in einer Weise determinierten, dass spätere Ereignisse ihn nicht mehr zu ändern vermöchten (dies ist bis zu einem weitgehenden Maße nur beim Neurotiker der Fall, der eben gerade durch seinen mehr oder weniger großen Mangel an Anpassungsfähigkeit des seelischen Apparates und seine Fixierung an die Situation der Kindheit charakterisiert ist), aber sie schaffen doch Dispositionen, die eine relative Schwerfälligkeit und Trägheit des psychischen Apparates realen Veränderungen gegenüber bewirken. Dies heißt für unser Problem, dass, wenn die Kindheitserlebnisse ein starkes Über-Ich erzeugt haben, dieses Über-Ich oft relativ resistent gegen Lebensbedingungen bleibt, die ein anders geartetes Über-Ich erforderten. In dem relativ determinierenden Charakter der Kindheitserlebnisse liegt der Grund dafür, dass bestimmte psychische Strukturen oft über die gesellschaftlichen Notwendigkeiten hinaus ihre Kräfte behalten. Solche Diskrepanzen zwischen der psychischen Struktur und der gesellschaftlichen Realität können allerdings nur vorübergehend sein, und wenn die psychische Struktur auf die Dauer aufrechterhalten werden soll, müssen gesellschaftliche Veränderungen eintreten, die sie wieder von neuem bedingen. Man könnte sagen, die psychische Struktur[4] hat die Funktion eines Schwungrades, das die Bewegung auch über ein Aussetzen des Motors hinaus aufrechterhält, aber eben doch nur für eine beschränkte Dauer.
Die notwendige Zusammengehörigkeit von Über-Ich und Autorität beruht nicht nur darauf, dass das Über-Ich von realen und machtvollen Autoritäten ständig neu produziert werden muss, sondern auch darauf, dass es selbst nicht stark und stabil genug ist, um die ihm vorgeschriebenen Aufgaben zu leisten. Gewiss gibt es Persönlichkeitstypen, vom Normalen bis zum pathologischen Zwangscharakter reichend, deren Über-Ich so stark ist, dass es ihre Handlungen und Impulse auch dann völlig kontrollierte, wenn dieses Über-Ich nicht durch reale Mächte und Personen verkörpert wäre. Aber nur ein Robinson Crusoe mit einem Zwangscharakter würde fortfahren, auch auf der Insel seinem Über-Ich so zu gehorchen, wie er das vor dem Schiffbruch zu tun gewohnt war. Beim durchschnittlichen Menschen ist die innere Instanz nicht stark genug, als dass Furcht vor ihrer Missbilligung allein ausreichend wäre. Die Furcht vor den realen Autoritäten mit der sie bekleidenden Macht, die Hoffnung auf materielle Vorteile, der Wunsch, von ihnen geliebt und gelobt zu werden, und die Befriedigung, die aus der Realisierung dieses Wunsches hervorgeht (etwa durch Auszeichnung, Beförderung usw.), weiterhin auch die Möglichkeit von – wenn auch unbewussten und nicht verwirklichten – sexuellen, speziell homosexuellen Objektbeziehungen zu diesen Autoritäten sind Faktoren, deren Stärke zum mindesten nicht geringer ist als die Furcht des Ichs vor dem Über-Ich. Das Verhältnis zwischen Über-Ich und Autorität ist also kompliziert. Einmal ist das Über-Ich die verinnerlichte Autorität, und die Autorität ist das personifizierte Über-Ich, zum andern schafft das Zusammenwirken beider die freiwillige Fügsamkeit und Unterwerfung, welche die gesellschaftliche Praxis in einem so erstaunlichen Maße kennzeichnen.
Indem das Über-Ich schon in den früheren Lebensjahren des Kindes als eine durch die Angst vor dem Vater und den gleichzeitigen Wunsch, von ihm geliebt zu werden, bedingte Instanz entsteht, erweist sich die Familie als eine wichtige Hilfe für die Herstellung der späteren Fähigkeit des Erwachsenen, an Autoritäten zu glauben und sich [I-149] ihnen unterzuordnen. Die Erzeugung des Über-Ichs ist aber nur eine der Aufgaben, welche die Familie als die psychologische Agentur der Gesellschaft erfüllt, und die Erzeugung des Über-Ichs kann nicht von der gesamten Triebstruktur und dem Charakter eines Menschen, wie er in der Familie produziert wird, getrennt werden. Freud hat gezeigt, wie entscheidend die Erlebnisse der frühen Kindheit für die Ausbildung der Triebstruktur und des Charakters eines Menschen sind und dass den Gefühlsbeziehungen zu den Eltern, der Art der Liebe zu ihnen, der Angst vor ihnen und dem Hass gegen sie, die Hauptrolle in der Entwicklung der kindlichen Psyche zukommen; damit hat er wesentlich dazu beigetragen, die Wirksamkeit der Familie im Sinne der eben erwähnten gesellschaftlichen Funktionen zu verstehen. Er hat jedoch übersehen, dass neben den individuellen Verschiedenheiten, die in den einzelnen Familien existieren, die Familien in erster Linie bestimmte gesellschaftliche Inhalte repräsentieren und dass in deren Vermittlung, und zwar nicht im Sinne der Vermittlung von Meinungen und Ansichten, sondern in der Produktion der gesellschaftlich erwünschten seelischen Struktur, die wichtigste gesellschaftliche Funktion der Familie liegt. An diesem Mangel krankt seine Über-Ich-Theorie.
Das Über-Ich stellt nach Freud eine Identifizierung mit dem Vater dar, „an welche sich im Laufe der Zeiten die Erzieher, Lehrer, und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm, alle andern Personen des Milieus angeschlossen hatten. (Die Mitmenschen, die öffentliche Meinung)“ (S. Freud, 1914c, S. 163). Die Ursache der Identifizierung liegt für ihn, abgesehen von den sogenannten primären Identifizierungen in der allerfrühesten Kindheit, im Ödipuskomplex. Der kleine Knabe hat sexuelle Wünsche mit Bezug auf seine Mutter, sieht sich der drohenden Überlegenheit des Vaters gegenüber, fürchtet speziell die Strafe der Kastration für seine verbotenen Impulse, verwandelt die äußere Angst vor der Kastration durch den Vater in eine innere und befriedigt durch die Identifizierung mit dem Vater einen Teil seiner ursprünglichen Wünsche. Das Über-Ich ist so nach Freud der „Erbe des Ödipuskomplexes“. Diese Auffassung ist problematisch wegen der mangelnden Einschätzung des Zusammenhanges der Familienstruktur mit der Struktur der Gesamtgesellschaft. Wenn Freud sagt, dass sich im Laufe der Zeiten die Vertreter der Gesellschaft an die Figur des Vaters anschließen, so ist dies zwar in einem gewissen äußeren und zeitlichen Sinne richtig, aber diese Feststellung bedarf der Ergänzung durch die umgekehrte, dass der Vater sich an die in der Gesellschaft herrschende Autorität anschließt. Die Autorität nämlich, die der Vater in der Familie hat, ist keine zufällige, die später durch die gesellschaftlichen Autoritäten „ergänzt“ wird, sondern die Autorität des Familienvaters selbst gründet zuletzt in der Autoritätsstruktur der Gesamtgesellschaft. Der Familienvater ist zwar dem Kind gegenüber (zeitlich gesehen) der erste Vermittler der gesellschaftlichen Autorität, aber (inhaltlich gesehen) ist er nicht ihr Vorbild, sondern ihr Abbild.
Die sexuelle Rivalität im Verhältnis Vater – Sohn ist durch die soziale Situation jeweils gefärbt. Die gesellschaftliche Bedingtheit des Ödipuskomplexes liegt zunächst einmal in der Tatsache, dass er, den Freud für eine allgemein menschliche und biologisch notwendige Erscheinung hält und den er in diesem Sinn auch auf die Urgeschichte der Menschheit zurückprojiziert, in der von Freud beschriebenen Form nur [I-150] für gewisse Gesellschaftsstrukturen charakteristisch ist. Es gibt genügend Gesellschaften, in denen der Vater durchaus nicht die Funktion des sexuellen Rivalen und der allmächtigen Autorität vereinigt. Diese beiden Funktionen sind z.B. bei einer Reihe von primitiven Stämmen auf den Mutterbruder und den Vater verteilt.
Damit soll allerdings nicht die außerordentliche Bedeutung des Ödipuskomplexes, der sexuellen Wünsche des Kindes und der aus ihnen entspringenden Rivalität und Feindseligkeit gegen den Vater in der patriarchalischen Kleinfamilie verringert werden. Die klinischen Erfahrungen der Psychoanalyse haben die Bedeutsamkeit des Ödipuskomplexes über jeden Zweifel hinaus hinreichend erwiesen. Sie haben besonders gezeigt, eine wie wichtige Quelle er für die Feindseligkeit und Auflehnung des Sohnes gegen den Vater ist und dass so die patriarchalische Familie, die auf Grund ihrer Struktur die inzestuösen Wünsche des Sohnes erzeugt, eben durch den daraus resultierenden Konflikt mit dem Vater Auflehnung gegen diesen und damit Tendenzen zur Sprengung der Familie erzeugt. Aber das Ausmaß an Feindseligkeit des Sohnes hängt auch von der Einstellung des Vaters zu ihm ab. Diese selbst ist angesichts der eindeutigen sexuellen Überlegenheit des Vaters in viel geringerem Grade als beim Kind von sexueller Rivalität bestimmt, wenngleich auch unter gewissen, hier nicht näher zu erörternden Bedingungen oft doch recht stark. Sie ist vielmehr schon vom ersten Lebenstag an bedingt und bestimmt von dem Gesamtverhältnis zwischen Vater und Sohn, wie es sich später auf Grund der individuellen und gesellschaftlichen Gesamtkonstellation der Familie entwickeln wird. Um sich dies klar vor Augen zu führen, vergleiche man nur einige, hier idealtypisch vereinfachte, Familiensituationen innerhalb unserer Gesellschaft. Denken wir etwa an den Gegensatz der Beziehungen Vater-Sohn in der Familie eines bestimmten kleinbäuerlichen Typus und in der eines wohlhabenden großstädtischen Arztes. Für den Bauern ist, durch seine ökonomische und soziale Situation bedingt, jedes Familienmitglied in allererster Linie eine Arbeitskraft, die er bis zum möglichen Maximum ausnutzt. Jedes neuankommende Kind ist eine potenzielle Arbeitskraft, deren Nutzen allerdings erst dann in Erscheinung tritt, wenn das Kind alt genug ist, um mitzuarbeiten. Bis dahin ist es nur ein Esser, mit dem im Hinblick auf seine spätere Verwertung vorliebgenommen wird. Hierzu kommt, dass dieser Bauer auf Grund seiner Klassensituation einen Charakter entwickelt hat, in dem der vorherrschende Zug die maximale Ausnutzung aller ihm zur Verfügung stehenden Menschen und Güter ist und in dem Liebe, das Streben nach dem Glück der geliebten Person um ihrer selbst willen, ein kaum entwickelter Zug ist. Der Vater steht dem Sohn von vornherein in einem Verhältnis gegenüber, das kaum durch Liebe, sondern wesentlich durch Feindseligkeit und durch die Tendenz zur Ausbeutung charakterisiert wird. Aber die gleiche Feindseligkeit wird sich, wenn er älter ist, auch beim Sohn entwickeln. Alter und Tod des Vaters können den Sohn davon befreien, Objekt der Ausbeutung zu sein, und ihm einmal eine Entschädigung für alles Erlittene dadurch gewähren, dass er selbst zum Herren wird. Das Verhältnis beider wird einen Zug von Todfeindschaft tragen; dies aber wirft seine Schatten auf die Einstellung des Vaters voraus, wenn ein neuer Sohn auf die Welt kommt. Diese Atmosphäre bestimmt wesentlich auch die Reaktion und die psychologische Gesamtentwicklung des heranwachsenden Sohnes. Ähnlich war es in der Proletarierfamilie in [I-151] der ersten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts. Auch für sie waren Kinder wesentlich Gegenstand der ökonomischen Ausnutzung, und niemand wehrte sich mehr gegen eine Gesetzgebung zur Einschränkung der Kinderarbeit als eben diese ihre Kinder ökonomisch ausnutzenden Eltern. Sie waren tatsächlich „die schlimmsten Feinde ihrer Kinder“, und diese Feindseligkeit bildete vom ersten Tage an die entscheidende Gefühlsnuance im Verhältnis Vater-Sohn.
Wesentlich anders verhält es sich bei unserem zweiten Beispiel. Es soll hier nicht darauf eingegangen werden, was auch hier an Ausnutzungstendenzen versteckter und sublimer Art vorliegt. Aber die Situation ist doch grundsätzlich verschieden. Die wenigen Kinder haben nicht die Funktion, das Einkommen des Vaters zu erhöhen, werden nicht als potenzielle Arbeiter und als unnütze Esser empfunden, solange sie noch nicht mitarbeiten. Sie werden auf die Welt gesetzt, weil sich die Eltern freuen, Kinder zu haben. Viele der unerfüllten Wünsche und Ideale, welche die Eltern für sich hatten, werden auf die Kinder verlegt und ihre Erfüllung bei den Kindern, sei es auf dem Wege der Identifizierung, sei es auf dem der Objektliebe, als Eigenbefriedigung erlebt. Die Atmosphäre, in die das Kind dieser Familie kommt, ist nicht die ungeduldiger feindseliger Erwartung des Tags seiner Ausnutzung, sondern die liebevoller Förderung und Freundlichkeit. Diese andere Luft schafft einen anderen Charakter und andere Beziehungen zum Vater vom ersten Lebenstage an. Was an Rivalität da sein mag, ist anders gefärbt und anders gelagert. Es ist quantitativ und qualitativ völlig verschieden von der Rivalität in jener Bauern- und Arbeiterfamilie.
Nehmen wir endlich noch ein drittes Beispiel: eine kleinbürgerliche großstädtische Familie, wo der Vater etwa ein unterer Postbeamter ist. Sein Einkommen ist ausreichend für die Bedürfnisse, die sich in seiner sozialen Situation ergeben. Die Familie ist keine Produktionsgemeinschaft, und die Kinder haben noch nicht die Aufgabe, so rasch wie möglich Arbeitskraft oder Geld zum Familienhaushalt beizusteuern. Es entfällt so ein Stück des auf den Ausnutzungstendenzen des Vaters beruhenden Interessengegensatzes und der daraus erwachsenden Feindseligkeit. Andererseits aber ist das Leben des Vaters so arm an Befriedigungen und speziell infolge seiner beruflichen und gesellschaftlichen Situation so bar der Möglichkeit, selbst zu herrschen und zu befehlen, dass das Kind wie die Ehefrau die Funktion gewinnt, dem Vater zu ersetzen, was ihm das Leben sonst versagt. Das Kind soll ihn auf dem Umwege über die Identifizierung die Ziele erreichen lassen, die das Leben auf dem direkten Wege unerreichbar machte; es soll ihm Prestigegewinn im Verhältnis zu den andern Mitgliedern seiner sozialen Gruppe verschaffen; es soll ihm die Möglichkeit der Befriedigung seiner Wünsche, zu herrschen und zu befehlen, und damit eine Kompensation für seine Machtlosigkeit im gesellschaftlichen Leben geben. Das Verhältnis Vater-Sohn in diesem Falle ist gemischt aus Ausnutzungstendenzen und fördernden Strebungen, aus Freundlichkeit und Hass, und diese zwiespältige Struktur verschafft wiederum spezifische Gefühlsreaktionen im heranwachsenden Kinde.
Das Über-Ich verdankt seine Entstehung der von Angst und Liebe getragenen Beziehung zum Vater. Der Charakter dieser Angst und Liebe ist aber – wie wir eben zu zeigen versucht haben – in erster Linie bestimmt von dem wiederum gesellschaftlich bedingten Gesamtverhältnis zwischen Vater und Sohn. Das Über-Ich ist so seiner [I-152] Stärke und seinem Inhalt nach die Widerspiegelung und das Erbe einer viel weiteren Gefühlsbeziehung, als es der Ödipuskomplex ist, wenngleich dieser selbst in die Gesamtbeziehung verflochten ist. Freud hat in der Neuen Folge der Vorlesungen dem gesellschaftlich bedingten Charakter des Vaters durch seine Bemerkung mehr Rechnung getragen als in seinen früheren Schriften. Er sagt (S. Freud, 1933a, S. 73), das Ich und das Über-Ich des Kindes werden
eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt haben.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (ePUB)
- 9783959121477
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Februar)
- Schlagworte
- Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Soziologie Familie Autorität Max Horkheimer