Zusammenfassung
Aus dem Inhalt
– Psychoanalyse und Soziologie
– Der Staat als Erzieher. Zur Psychologie der Strafjustiz
– Politik und Psychoanalyse
– Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil
– Autorität und Familie. Geschichte und Methoden der Erhebungen
– Die Arbeiter- und Angestelltenerhebung
– Fragen zum deutschen Charakter
– Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur
– Zum Problem Psychologie und historischer Materialismus
– Die autoritäre Persönlichkeit
– Der Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf die Entwicklung des Kindes
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Analytische Sozialpsychologie
- Psychoanalyse und Soziologie
- Der Staat als Erzieher. Zur Psychologie der Strafjustiz
- Politik und Psychoanalyse
- Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil
- 1. Einleitung: Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
- 2. Autorität und Über-Ich. Die Rolle der Familie bei ihrer Entwicklung
- 3. Autorität und Verdrängung
- 4. Der autoritär-masochistische Charakter
- Autorität und Familie. Geschichte und Methoden der Erhebungen
- Die Arbeiter- und Angestellten-Erhebung
- 1. Das Ziel der Erhebung
- 2. Der Fragebogen
- 3. Einige Ergebnisse
- Fragen zum deutschen Charakter
- Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur
- Zum Problem Psychologie und historischer Materialismus
- Die autoritäre Persönlichkeit
- Der Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf die Entwicklung des Kindes
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
Psychoanalyse und Soziologie
(1929a)[2]
Das Problem der Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Soziologie[3], über das ich im Rahmen der Kurse dieses Instituts zu sprechen haben werde, hat zwei Seiten. Die eine ist die Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie, die andere diejenige der Soziologie auf die Psychoanalyse. Es ist natürlich nicht möglich, in einigen Minuten auch nur die Fragestellungen und Themen aufzuzählen, die sich von beiden Seiten her ergeben. Ich will deshalb nur versuchen, einige grundsätzliche Bemerkungen zu machen über die Prinzipien, die uns für die wissenschaftliche Bearbeitung psychoanalytisch-soziologischer Probleme Geltung zu haben scheinen.
Die Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie muss sich gewiss vor dem Fehler hüten, da psychoanalytische Antworten geben zu wollen, wo ökonomische, technische, politische Tatsachen die wirkliche und ausreichende Erklärung soziologischer Fragen geben. Andererseits muss der Psychoanalytiker darauf hinweisen, dass der Gegenstand der Soziologie, die Gesellschaft, in Wirklichkeit aus einzelnen Menschen besteht, und dass diese Menschen, und nicht eine abstrakte Gesellschaft als solche, es sind, deren Handeln, Denken und Fühlen Gegenstand soziologischer Forschung ist. Diese Menschen haben nicht eine „Individualseele“, die dann funktioniert, wenn der Mensch als Individuum agiert, und die Objekt der Psychoanalyse wäre, und daneben eine davon separate „Massenseele“ mit allerhand vagen Gemeinschaftsgefühlen, Solidaritätsgefühlen, Masseninstinkten usw., die in Aktion tritt, wenn der Mensch als Massenteil auftritt, und wenn der Soziologe sich einige Verlegenheitsbegriffe für ihm unbekannte psychoanalytische Tatsachen schafft. Diese zwei Seelen sind aber nicht in des Menschen Brust, sondern nur eine, in der die gleichen Mechanismen und Gesetze gelten, ob der Mensch als Individuum auftritt oder die Menschen als Gesellschaft, Klasse, Gemeinschaft oder wie sonst. Das was die Psychoanalyse der Soziologie zu bringen hat, ist die – wenn auch noch unvollkommene – Kenntnis des seelischen Apparates des Menschen, der neben technischen, ökonomischen und wirtschaftlichen Faktoren eine Determinante der gesellschaftlichen Entwicklung darstellt und nicht weniger Berücksichtigung verdient als die anderen eben genannten. Es ist die gemeinsame Problemstellung beider Wissenschaften, zu untersuchen, inwieweit und in welcher Weise der seelische Apparat des Menschen verursachend oder bestimmend auf die Entwicklung oder Gestaltung der Gesellschaft gewirkt hat. [I-004]
Es sei hier nur ein wesentliches konkretes Problem herausgehoben: Wir meinen die Untersuchung der Frage, welche Rolle das Triebhafte, Unbewusste im Menschen auf die Gestaltungen und Entwicklungen der Gesellschaft und auf einzelne gesellschaftliche Tatsachen spielt, und inwiefern die Veränderungen der psychologischen Struktur des Menschen im Sinne eines Wachstums der Ich-Organisation und damit der rationalen Bewältigung des Triebhaften und Natürlichen ein soziologisch relevanter Faktor ist.
Nun die andere Seite des Problems, die Anwendung soziologischer Gesichtspunkte auf die Psychoanalyse: So wichtig es ist, den Soziologen auf die banale Tatsache hinzuweisen, dass die Gesellschaft aus lebendigen Menschen besteht und die Psychologie einer der in der gesellschaftlichen Entwicklung wirksamen Faktoren ist, sowenig darf der Psychologe die Tatsache verkennen, dass der einzelne Mensch aber in Wirklichkeit nur als vergesellschafteter Mensch existiert. Die Psychoanalyse darf für sich in Anspruch nehmen, dass sie im Gegensatz zu manchen anderen psychologischen Schulen diese Tatsache von Anfang an verstanden hat. Ja, dass die Erkenntnis der Tatsache, dass es keinen homo psychologicus, keinen psychologischen Robinson Crusoe gibt, zu den Fundamenten ihrer Theorie gehört. Die Psychoanalyse ist vorwiegend genetisch eingestellt, sie widmet der Kindheit des Menschen ihr besonderes Interesse, und sie lehrt einen ganz wesentlichen Teil der Entwicklung des seelischen Apparates des Menschen verstehen aus seiner Verbundenheit mit Mutter, Vater, Geschwistern, kurz der Familie und damit der Gesellschaft. Die Psychoanalyse versteht die Entwicklung des Menschen gerade aus der Entwicklung seiner Beziehung zu seiner nächsten und engsten Umwelt, sie versteht den seelischen Apparat als durch diese Beziehungen aufs Entscheidendste geformt.
Dies ist gewiss nur ein Ansatz, und es ergeben sich von hier eine Reihe weiterer und wichtiger Probleme, die bisher kaum noch in Angriff genommen sind; z.B. die Frage, inwieweit die Familie selber das Produkt einer bestimmten Gesellschaftsform ist und eine durch die gesellschaftliche Entwicklung bedingte Veränderung der Familie als solcher von Einfluss auf die Entwicklung des seelischen Apparates des Individuums sein könnte. Oder etwa die Frage, welche Bedeutung das Wachstum der Technik, d.h. einer immer weiter gehenden Triebbefriedigung, bzw. geringer werdender Versagungen für die Psyche des Einzelnen hat.
Die Einteilung, von der wir eben ausgehen, in Probleme, die sich aus der Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie und der Soziologie auf die Psychoanalyse ergeben, ist natürlich nur eine grobe, praktischen Bedürfnissen entsprechende. Der Tatsache der gegenseitigen Bedingtheit von Mensch und Gesellschaft entsprechend, gibt es natürlich eine ganze Reihe und gerade solche der wichtigsten Probleme, wo von einer Anwendung der einen auf die andere Methode nicht wohl gesprochen werden kann, sondern wo ein Tatbestand, der ebenso wohl ein psychologischer wie ein soziologischer ist, auch von beiden Methoden her untersucht und nur von beiden Seiten her verstanden werden kann. Ein solches Problem ist es, das den Gegenstand des letzten Buches von Freud[4] bildet, nämlich die Frage, inwieweit bestimmte psychische Inhalte, die zugleich auch gesellschaftliche Phänomene sind, wie die Religion, in ihrem Erscheinen und Vergehen von der materiellen Entwicklung der Menschheit [I-005] abhängig sind. Freud vertritt dort die Meinung, dass die Religion das psychische Korrelat der Hilflosigkeit der Menschen gegenüber der Natur sei. Er eröffnet von hierher den Ausblick auf ein Problem, das wohl zu den wichtigsten psychologisch-soziologischen Fragen gerechnet werden darf: die Frage, welche Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit, speziell ihrer ökonomisch-technischen, und der Entwicklung des seelischen Apparates, speziell der Ich-Organisation, des Menschen besteht. Kurz, er stellt die Frage nach der Entwicklungsgeschichte der Psyche. Die Psychoanalyse hat diese Frage bisher nur für das Individuum gestellt und beantwortet. Freud hat in seinem letzten Buche diese genetische Fragestellung auf die seelische Entwicklung der Gesellschaft ausgedehnt und damit künftiger psychoanalytisch-soziologischer Arbeit wichtige Fingerzeige gegeben.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Psychoanalyse, die den Menschen als vergesellschafteten, seinen seelischen Apparat als wesentlich durch die Beziehungen des Einzelnen zur Gesellschaft entwickelt und bestimmt versteht, muss es als ihre Aufgabe ansehen, sich an der Beantwortung soziologischer Probleme zu beteiligen, soweit der Mensch, bzw. seine Psyche, überhaupt eine Rolle spielt. Sie darf bei dieser Bemühung die Worte – nicht eines Psychologen – sondern eines der genialsten Soziologen zitieren:
Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der alles tut, besitzt und kämpft. (K. Marx, 1962, S. 777.)
Der Staat als Erzieher.
Zur Psychologie der Strafjustiz
(1930b)[5]
Es ist in letzter Zeit ein gesteigertes Interesse für das Problem der Psychologie des Verbrechers, des Richters, der Strafrechtsprechung und des Strafvollzugs festzustellen.[6] Das mag wesentlich drei Gründe haben. Einmal den der wachsenden Ausbreitung psychoanalytischer Einsichten und speziell des Erscheinens der das Problem der Psychologie des Verbrechers und Richters behandelnden Publikationen von F. Wittels (1928) und Alexander-Staub (1928). Zum anderen wird das gesteigerte Interesse wohl in der Tatsache liegen, dass sich eine Reihe von großen Kriminalprozessen aneinanderreihten (es sei nur an die Fälle Friedländer, Halsmann[7], Husmann erinnert), in denen die psychopathologischen Grundlagen des Verbrechens so offenkundig waren, dass sie zum Nachdenken über das theoretische Problem der Kriminalpsychologie reizen. Zu diesen mehr an der Oberfläche liegenden Gründen kommt als weiterer hinzu, dass die gesamte gesellschaftliche, politische und geistige Entwicklung es notwendigerweise mit sich bringt, dass altehrwürdige, autoritätsgetragene Institutionen, wie die Justiz, von den fortschrittlich gerichteten Teilen der Gesellschaft in ihrer Problematik durchschaut werden und dass man um eine theoretische Bewältigung der Probleme bemüht ist. Man hat vielfach geglaubt, dass den theoretischen Einsichten über die unbewussten Hintergründe des Verbrechens und den unbewussten Sinn der Strafe und Strafwirkung auch eine große praktische Bedeutung zukommen könne. Man hat geglaubt, dass, wenn es gelänge, dem Gericht nur deutlich genug zu machen, dass ein Verbrecher aus unbewussten, triebhaften Motiven handelt, es auch gelingen müsste nachzuweisen, dass eine Bestrafung auf diesen triebhaften Verbrecher eine bessernde Wirkung gar nicht haben könne, weil ja die Motive seines Handelns ihm selbst nicht bewusst und infolgedessen auch von seinem Willen nicht beherrschbar seien.
Man erwartete, dass ein einsichtiges Gericht aus diesen Erkenntnissen die entsprechenden Konsequenzen ziehen würde und als Maßnahme gegen den psychopathischen Verbrecher die allein zweckmäßige eines Heilungsversuches und nicht die unsinnige einer Bestrafung ergreifen würde. Es liegen mit solchen Versuchen, durch das psychoanalytische Verständnis des Verbrechers eine andere und zweckmäßigere Prozedur als die bisherige zu veranlassen, noch wenig Erfahrungen vor, so dass man aus der Praxis noch zu keinem Urteil über die Chancen dieser [I-008] Bemühungen kommen kann. Aber es gibt einige theoretische Erwägungen, die geeignet sind, innerhalb der heutigen Gesellschaft recht skeptische Gedanken über die Aussichten solcher Bemühungen aufkommen zu lassen. Da sie sich in mancher Weise mit pädagogischen Problemen berühren, dürften sie vielleicht das Interesse gerade der Leser dieser Zeitschrift beanspruchen.
Die moderne Strafjustiz fasst sich ja selbst als eine Art Pädagogik auf. Sie verzichtet offiziell auf den Gedanken der Rache und behauptet, dass ihre Absicht sei, den Verbrecher zu bessern und dass ihre Methode im Großen und Ganzen das zweckmäßige Mittel zur Besserung des Täters sei. Die Besserung wird auf eine doppelte Weise zu erreichen versucht: auf eine negative, indem man glaubt, den Täter durch die Strafe so einzuschüchtern und abzuschrecken, dass er in Zukunft ein ruhiger, gesitteter Bürger würde und auf eine positive, indem man sich bemüht, durch ein System von fein abgestuften Belohnungen für gutes Verhalten, durch Arbeitszwang, erbaulichen Zuspruch eines Geistlichen und manches andere mehr, den Verbrecher zu einem sozial brauchbaren Menschen zu erziehen. Die Erfahrung zeigt, dass diese Methoden, die ja nichts anderes sind als die üblichen Methoden der Erziehung (Strafandrohung, Versprechen von Belohnung und Zwang zur Arbeit) wenig Erfolg haben. Die theoretische Einsicht beweist, dass diese Methoden auch wenig Erfolg haben können. Insoweit Menschen gegen die Gesetze der Gesellschaft verstoßen, weil die Not von Hunger, Durst und anderen elementaren Bedürfnissen sie dazu drängt, kann nicht die Strafe das zweckmäßige Mittel sein, sie davon abzuhalten. In diesen Fällen gibt es nur eine Besserung, nämlich die, die wirtschaftliche Existenz des „Verbrechers“ so sicherzustellen, dass es eines Verbrechens zur Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse nicht bedarf. Insofern es sich aber nicht um „Notverbrecher“, sondern um „Triebverbrecher“ handelt, kann der heutige Strafvollzug im allgemeinen ebenso wenig als zweckmäßig angesehen werden. Die analytische Erfahrung hat ja zur Genüge gezeigt, wie wenig Handlungen, die in Wirklichkeit durch unbewusste Impulse bedingt sind, durch Beeinflussung des bewussten Teils der Persönlichkeit zu verhindern sind, und die Erfahrung zeigt, dass dies beim verbrecherischen Neurotiker ebenso wenig der Fall ist, wie beim nichtkriminellen.
Wenn die Dinge aber so liegen, dass die heutige Strafjustiz und selbst der moderne Strafvollzug unzweckmäßig sind und die von ihnen selbst gesetzten Ziele nicht erreichen können, so muss es wohl noch andere Gründe geben, die die Gesellschaft an diesen unzweckmäßigen Maßnahmen mit solcher Entschiedenheit festhalten lassen.
Eine Einsicht in diese Motive gewinnt man aber erst, wenn man berücksichtigt, dass die Strafjustiz gar nicht nur den Verbrecher zum Objekt hat, auch nicht nur den Unbescholtenen (bei dem aber zu befürchten steht, dass er ohne das abschreckende Beispiel kriminell würde), also den potenziellen Verbrecher, sondern, dass eine seiner wesentlichen Funktionen seine Bedeutung für die große Masse der Nichtverbrecher ist.
Was heißt das?
Die Festigkeit des Gefüges der gesellschaftlichen Struktur hängt keineswegs nur von der Stärke der äußeren Machtmittel ab, die für den Bestand der Gesellschaft sorgen sollen. Polizei und Militär sind zwar wichtige Stützen der Gesellschaft, aber sie [I-009] können – wie die Geschichte der Revolutionen zeigt – doch ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn noch ein anderer Faktor hinzukommt. Dieser andere Faktor ist die psychische Bereitschaft der großen Mehrheit, sich in die bestehende Gesellschaft einzufügen und sich den in ihr herrschenden Mächten unterzuordnen. Welche psychischen und speziell libidinösen Tendenzen und Impulse diese gesellschaftliche Gefügigkeit hervorrufen, und welches die Mittel sind, durch welche eben diese Tendenzen provoziert werden, soll hier in der ganzen Ausgedehntheit und Kompliziertheit, die dieses Problem hat, nicht erörtert werden. (Vgl. die instruktive Behandlung dieses Problems bei S. Bernfeld, 1928[8])
Es soll hier nur insoweit das Problem berührt werden, als es mit der Strafjustiz zusammenhängt.
Die heutige, wie alle bisherige Gesellschaft, ist aufgebaut auf schweren Triebverzichten von Seiten der großen Masse, auf Unterordnung der Masse unter die herrschende Schicht, und, von der psychologischen Seite her gesehen, auf dem Glauben an die Notwendigkeit der bestehenden Verhältnisse bzw. an die überlegene Einsicht und Weisheit der Herrschenden. Diese psychische Einstellung hat ihr Vorbild und ihre Quelle in der Einstellung des Kindes zum Vater. Die reale Situation, in der sich das Kind dem Vater gegenüber befindet, macht es nötig, seine physische Überlegenheit zu fürchten, seine geistige Überlegenheit zu bewundern und zu verehren, und häufig wird das Kind am besten mit seiner Situation fertig, wenn es ihm gelingt, seine Abneigung gegen den verbietenden und Triebverzicht fordernden Vater in bewundernde Verehrung zu verwandeln.
Diese seelische Einstellung des Kindes gegenüber dem Vater ist diejenige, die dem Staat bei der großen Masse seiner Bürger erwünscht und notwendig ist. Er muss sich aller Mittel bedienen, um sich der Masse als Vaterimago darzubieten und es auf diese Weise zu bewerkstelligen, dass der Einzelne die Einstellung, die er einst zum Vater hatte, auf die Herrschenden überträgt. Die Mittel und Methoden, mit denen sich die Vertreter des Staates im Unbewussten der Masse als Vaterimago darzubieten versuchen, sind sehr mannigfaltige (in der Monarchie gipfeln sie auf eine sehr primitive und einfache Weise in der Verehrung der Person des Kaisers). Eine dieser Methoden ist die Strafjustiz. Was ist denn für das Kind eine der wesentlichen Qualitäten des Vaters, die ihm solche Angst, aber auch solche Ehrfurcht einflößen? Es ist die Tatsache, dass der Vater strafen kann, dass es ihm infolge seiner körperlichen Überlegenheit wehrlos ausgeliefert ist; es ist, kurz gesagt, die Kastrationsdrohung des Vaters und seine unbezweifelbare Potenz, sie auch zu realisieren, wenn er nur wollte. Dabei ist es im Prinzip für das Kind ebenso wenig von entscheidender Wichtigkeit, dass die Strafandrohungen auch realisiert werden, wie das für die große Masse mit Bezug auf die staatliche Autorität der Fall ist. Entscheidend ist die Fähigkeit zu drohen und zu strafen. Sie erst macht für das Kind den Vater zum Vater in dem speziellen psychologischen Sinn, von dem hier die Rede ist, und den Staat bzw. die in ihm und durch ihn herrschende Klasse zum Abbild des Vaters.
Es ist also klar, warum es, ganz unabhängig von dem Problem der Einwirkung auf die Verbrecher, eine Strafjustiz geben muss. Sie ist eine Institution, durch die sich der Staat dem Unbewussten der Masse als Vaterimago aufzwingt, indem sie eine wichtige [I-010] Funktion des Vaters, seine Straf- und Drohpotenz wiederholt. Am deutlichsten ist das bei der Todesstrafe. Die Fähigkeit zu kastrieren, d.h. schwerwiegende körperliche Verletzungen hervorzurufen, ist der Kernpunkt der väterlichen Strafpotenz. Es ist kein Zufall, dass dem Kaiser oder Präsidenten das Recht zusteht, die zum Tode Verurteilten zu begnadigen, dass man ihn also das Urteil über Leben und Tod letzten Endes aussprechen lässt. Er ist die sinnbildlichste Verkörperung der väterlichen Autorität und erweist sich als solche durch sein Recht, über Leben und Tod zu bestimmen.
Noch eine andere Funktion der Strafjustiz sei hier kurz erwähnt. Sie bietet der großen Masse eine Befriedigung ihrer sadistischen Impulse – und es ist für die Herrschenden wichtig, diese Impulse von sich auf ein anderes Objekt abzulenken – und gleichzeitig damit ein gewisses Äquivalent für den eigenen Triebverzicht. Das was gemeinhin als das Gerechtigkeitsgefühl oder Rechtsbewusstsein der Masse bezeichnet wird, ist nichts anderes als der Ausdruck gewisser libidinöser Impulse sadistischer und aggressiver Art, und es ist sehr verständlich, wenn der Staat sich gerne auf dieses Rechtsgefühl beruft, weil er damit auf eine für ihn unschädliche Weise diese Impulse befriedigen kann. (Eine Teilfunktion des Krieges liegt ja ganz in derselben Richtung.)
Wir sehen also: Die Bedeutung der Strafjustiz liegt durchaus nicht nur darin, dass sie die Gesellschaft vor dem Verbrecher schützen und diesen bessern soll; eine ihrer wesentlichen Funktionen ist es vielmehr, die Masse in dem von den Herrschenden gewünschten Sinn psychisch zu beeinflussen. Die Strafjustiz ist gleichsam der Stock an der Wand, der auch dem braven Kinde zeigen soll, dass ein Kind ein Kind und ein Vater ein Vater ist.
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass alle Einsicht in die Unzweckmäßigkeit der heutigen Strafjustiz mit Bezug auf den Verbrecher nur schwer dazu führen wird, prinzipielle Änderungen herbeizuführen, solange die Eigenart der Struktur der bestehenden Gesellschaft die Strafjustiz zu einem Zwecke braucht, der mit der Frage des zweckmäßigen Verhaltens dem Verbrecher gegenüber nichts zu tun hat: als Instrument der Erziehung der Masse im Sinne ihrer künstlichen Fixierung an die Situation, wo der Mensch „erzogen“ wird in die Situation des den Vater ehrfürchtenden Kindes.
Politik und Psychoanalyse
(1931b)[9]
Nachdem die Psychoanalyse den Schlüssel zum Verständnis des oft rätselhaften Handelns und Fühlens der Einzelpersönlichkeit geliefert hat, nachdem sie gezeigt hat, dass dieses irrationale Handeln und Erleben das Resultat bestimmter, dem Handelnden selbst oft unbewusster, aber ihn zwanghaft bestimmender Triebimpulse ist, lag es nahe, daran zu denken, dass die Psychoanalyse auch den Schlüssel zum Verständnis des oft ähnlich gelagerten gesellschaftlichen Handelns, des oft irrationalen politischen Geschehens liefern könne.[10] Man ging mit Recht davon aus, dass die Gesellschaft aus lebendigen Individuen besteht, die keinen anderen psychologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen können, als sie die Analyse der Einzelpersönlichkeit aufgezeigt hat; man konnte leicht sehen, dass es unvernünftiges, triebbedingtes, zwanghaftes Handeln auch im gesellschaftlichen Leben gibt, und versuchte bald religiöse Rituale, Dogmen, Kriege, gewisse Volkssitten und eine Reihe anderer offenkundig irrational gefärbter gesellschaftlicher Erscheinungen zu analysieren. Ja, hie und da ging man sogar noch einen Schritt weiter. Man glaubte, dass nicht nur das gesellschaftliche Geschehen ebenso zu verstehen sein müsse, wie das individuell-neurotische, sondern dass auch die Schäden und Missstände der Gesellschaft ebenso auf analytischem Wege beseitigt werden könnten, wie das mit dem Symptom oder Charakterzug des einzelnen Neurotikers möglich ist, dass man etwa den ewigen Frieden durch Massenanalyse herbeiführen könne, indem die blinde Aggression der Menschen „weganalysiert“ wird. Gewiss eine verführerische Perspektive! Ob sie aber richtig ist und welche Rolle die analytische Anschauung im Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge spielen kann, sollen die folgenden Ausführungen kurz beleuchten.
Erinnern wir uns einen Augenblick an die Methode des analytischen Verständnisses der Einzelpersönlichkeit. Sie lässt sich auf die einfache Formel bringen: Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal; hierbei ist nur zu ergänzen, dass insbesondere die Erlebnisse der frühkindlichen Periode eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der späteren Persönlichkeit spielen und ferner, dass die Konstitution des Individuums in einem bestimmten, von Freud als „Ergänzungsreihe“ verstandenen, Verhältnis zum Lebensschicksal steht und dass beide Faktoren, Konstitution und Erleben, die Triebstruktur bedingen. [I-032]
Handelt es sich um psychische Vorgänge – nicht im Individuum, sondern – innerhalb der Gesellschaft, so muss die Methode dieselbe sein (vgl. hierzu Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion, 1930a, GA VI, S. 11-68); auch hier ist die Aufgabe, die gemeinsamen, gesellschaftlich relevanten, seelischen Haltungen aus dem gemeinsamen Lebensschicksal der zu untersuchenden Gruppe zu verstehen. Das spezifisch Psychoanalytische ist hierbei die Zurückführung vieler Gefühle und Ideale auf bestimmte – körperlich verankerte – libidinöse Strebungen, das Verständnis verschleierter und entstellter Darstellungen unbewusster seelischer Inhalte und die Verbindung der Gefühlshaltungen der Erwachsenen mit den sie vorbereitenden und unterbauenden der Kindheit.
Was heißt gemeinsames Lebensschicksal? Es sind jene Lebensumstände, die über die individuellen Unterschiede im Leben der Einzelnen hinaus – also etwa die Frage, ob jemand erstes oder mittleres Kind ist, einen strengen oder schwachen Vater hat oder was sonst an ähnlichem – die Lebensweise und Lebensbedingungen der Angehörigen einer gesellschaftlichen Schicht bestimmen. Es sind also in erster Linie die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, unter denen eine Gruppe lebt. Für die Gesellschaft gilt, dass die Ökonomie ihr Schicksal ist.
Kommen wir so zu dem Ergebnis, dass die Sozialpsychologie versuchen muss, sozialpsychische Erscheinungen aus der sozial-ökonomischen Situation zu verstehen, so taucht hier die Frage auf, in welchem Verhältnis eine so verstandene Sozialpsychologie zur soziologischen Methode des historischen Materialismus steht.
Der historische Materialismus lehrt das gesellschaftliche Geschehen aus den ökonomischen Bedingungen verstehen.
Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab. (...) Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. (...) Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen usw., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. (K. Marx, 1971, S. 347 und 349.)
Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. (K. Marx, 1961, S. 9.)
Auf den ersten Blick scheint die Psychoanalyse mit dem historischen Materialismus viele Berührungspunkte zu haben. Ja, beide Lehren scheinen sogar in einem Punkte ganz das Gleiche zu sagen, nämlich in der Beurteilung der Rolle des Bewusstseins. Beide Theorien stürzen das Bewusstsein von seinem Throne, von dem aus es die Handlungen der Menschen zu leiten und ihre Gefühle darzustellen schien. Lässt diese Frage also eine Übereinstimmung beider Standpunkte vermuten, so scheint die weitere Frage, nämlich die nach den das Bewusstsein bestimmenden Kräften diese schöne Übereinstimmung rasch wieder zu zerstören. Eine vulgäre Auffassung beider Theorien kommt zum Ergebnis, dass in der Frage nach den das Bewusstsein bestimmenden Kräften ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen der Psychoanalyse und dem historischen Materialismus bestehe. Dieser nehme an, es seien die ökonomischen [I-033] Interessen, das Erwerbsinteresse, das in erster Linie das bewusste Handeln und Fühlen der Menschen bestimme, jene teile der Sexualität die entsprechende Rolle zu. Selbst ein Autor wie Bertrand Russell spricht in einem Vergleich zwischen Marx und Freud in einem Bild, das zwar geistreich, aber ganz im Sinne der eben gekennzeichneten vulgären Auffassung ist. Er spricht
von der Eintagsfliege, die im Larvenstadium nur Organe zum Fressen, nicht aber zum Lieben hat, während sie als vollentwickeltes Insekt (Imago) im Gegenteil nur über Organe zur Fortpflanzung, nicht aber zur Ernährung verfügt. Sie braucht letztere nicht, da sie in diesem Stadium nur einige Tage am Leben bleibt. Was würde geschehen, könnte die Eintagsfliege theoretisch denken? „Als Larve würde sie ein Marxist sein, als Imago ein Freudianer.“ Russell fügt hinzu, Marx, „der Bücherwurm des britischen Museums“, sei der richtige Repräsentant der Larvenphilosophie. Russell selbst fühle sich von Freud mehr angezogen, denn er sei für die Freuden der Liebe nicht unempfänglich, verstehe sich dagegen nicht aufs Geldmachen, also nicht auf die orthodoxe Ökonomie, die von ausgetrockneten älteren Herren geschaffen wurde. (Zit. nach K. Kautsky, 1927, Band 1, S. 341.)
Es ist leicht einzusehen, dass diese banale Auffassung aus einem groben Missverständnis sowohl der Psychoanalyse als auch des historischen Materialismus hervorgeht. Soweit es die Psychoanalyse angeht, nicht in erster Linie deshalb, weil Freud neben den über das Genitale hinaus verstandenen Sexualtrieben dem Selbsterhaltungstrieb eine entscheidende Rolle beimisst, sondern vor allem darum, weil er die Triebstruktur eines Menschen, wie schon oben angedeutet, gerade aus der Einwirkung seines Lebensschicksals auf die mitgebrachten Triebe versteht.
Es bedarf nur einer konsequenten Überlegung, um die Fehlerhaftigkeit der oben skizzierten vulgären Auffassung des historischen Materialismus einzusehen. Der historische Materialismus ist durchaus keine psychologische Theorie. Er hat eine einzige psychologische These als Voraussetzung seiner Auffassung, nämlich die, dass die Menschen es sind, die ihre Geschichte machen und dass die Menschen aus der Notwendigkeit der Befriedigung ihrer Bedürfnisse heraus handeln. Wenn aber im historischen Materialismus von der Wirtschaft die Rede ist, so nicht als von einer psychologischen Kategorie, also nicht vom wirtschaftlichen oder Erwerbsinteresse der Menschen, sondern als von einer rein sozial-ökonomischen Erscheinung, die die Bedingung aller menschlichen Aktionen darstellt. Es handelt sich also im historischen Materialismus nicht um die ökonomischen Interessen als psychische Motive, sondern um die ökonomischen Bedingungen aller menschlicher Lebensäußerungen einschließlich der sublimsten kulturellen Leistungen.[11] Da die Menschen leben und lieben wollen, müssen sie für die Befriedigung dieser Bedürfnisse tätig sein. Das Wie dieser Tätigkeit ist aber nicht nur von ihrer eigenen körperlichen und seelischen Konstitution, sondern von den Eigenschaften der natürlichen Umwelt, bzw. dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte bedingt. [I-034]
Der historische Materialismus hat die Abhängigkeit nicht nur der sozialen und politischen, sondern auch der ideologischen Tatbestände von den ökonomischen Bedingungen aufgezeigt. Er hat, wie Engels (in dem bekannten Brief an Mehring vom 14. Juli 1893) ausdrücklich betont,
zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und der durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen.
Dabei wurde ein anderes Problem „vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen zustande kommen“. An diesem Punkt kann die Forschungsarbeit der Psychoanalyse einsetzen. Sie kann zeigen, in welcher Weise bestimmte ökonomische Bedingungen auf den seelischen Apparat des Menschen einwirken und bestimmte ideologische Resultate erzeugen, sie kann über das Wie der Abhängigkeit ideologischer Tatbestände von den sie bedingenden ökonomischen Auskunft geben. Sie verfolgt den Weg von der ökonomischen Bedingung durch Kopf und Herz des Menschen hindurch bis zum ideologischen Resultat und verfährt dabei nach keiner anderen Methode als der, die sie bei der Analyse der Einzelpersönlichkeit angewandt hat: Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal. Wobei unter Triebstruktur die Gesamtheit der einer Klasse, Nation, Berufsstand usw. eigentümlichen Gefühlseinstellungen zu verstehen ist, unter Lebensschicksal die ökonomische, gesellschaftliche, politische Situation eben jener Gruppe. Die Psychoanalyse wird dabei der Soziologie einige wichtige Dienste deshalb leisten können, weil der Zusammenhang und die Stabilität einer Gesellschaft durchaus nicht nur von mechanischen und rationalen Faktoren (Zwang durch Staatsgewalt, gemeinsame egoistische Interessen usw.) gebildet und garantiert wird, sondern durch eine Reihe libidinöser Beziehungen innerhalb der Gesellschaft und speziell zwischen den Angehörigen der verschiedenen Klassen (vgl. etwa die infantile Gebundenheit des Kleinbürgertums an die herrschende Klasse und die damit verknüpfte intellektuelle Einschüchterung). Jede Gesellschaftsform hat nicht nur ihre eigene ökonomische und politische, sondern auch ihre spezifische libidinöse Struktur, und die Psychoanalyse kann gerade gewisse Abweichungen von der aus den ökonomischen Voraussetzungen zu erwartenden Entwicklungsrichtung erst ganz verständlich machen.[12]
Es versteht sich von selbst, dass bei der Analyse sozialpsychologischer Erscheinungen ebenso gründliche und umfangreiche Kenntnisse des „Lebensschicksals“ nötig sind, wie bei der Analyse einer Einzelpersönlichkeit, d.h. aber praktisch die genaue Kenntnis der ökonomischen, sozialen und politischen Situation der zu untersuchenden Gruppe. Es ist ebenso klar, dass die Analogiebildung zwischen neurotischen Symptomen und sozialpsychischen Erscheinungen und Versuche, diese durch jene zu erklären, von noch geringerem wissenschaftlichen Wert sein müssen, als etwa die Deutungen, die ohne Kenntnis des Lebensschicksals und der Lebenssituation eines Menschen von seinen Symptomen, Charaktereigenschaften oder Träumen gegeben werden, rein aus der Analogie mit anderen bereits analysierten Fällen.
Ergibt sich so die Brauchbarkeit der Analyse, wenn sie nur richtig angewandt wird, für die Erforschung sozialpsychologischer Phänomene, so mag vielleicht die Erwartung nicht so unberechtigt erscheinen, dass sich die Psychoanalyse auch als eine Art politisch-sozialer Therapie brauchbar erweise. Man könnte vielleicht mit Recht [I-035] erwarten, dass die Gesellschaft alle zweckwidrigen Handlungen aufgäbe, wenn es nur gelänge, ihr den unbewussten, irrationalen Sinn dieser Handlungen bewusstzumachen.
So verlockend diese Perspektive ist, so wenig hält sie einer näheren Nachprüfung stand.
Was ist das Wesentliche des neurotischen Reagierens und inwiefern ist es durch die Analyse heilbar? Es ist gewiss nicht irrationales, triebhaftes Fühlen und Handeln an und für sich. Es ist vielmehr ein solches psychisches Verhalten, welches in Widerspruch zu den wirklichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Gesamtpersönlichkeit steht und welches durch ein Fortbestehen und Haftenbleiben solcher Triebregungen bedingt ist, die einmal angepasste Reaktionen in der Kindheit waren, aber inzwischen längst den Charakter der Angepasstheit und Zweckmäßigkeit verloren haben. Die Neurose lässt sich als ein Spezialfall jener krankhaften Störungen verstehen, die auf einer mangelnden Fähigkeit des Organismus zur Anpassung an neue Lebensbedingungen beruhen. Die analytische Therapie versucht bis auf jene verdrängten Fixierungsstellen zurückzugehen, die Anlässe der Fixierung wieder bewusstzumachen und so dem nunmehr erstarkten und erwachsenen Ich der Persönlichkeit die Bewältigung jener Erlebnisse und Eindrücke zu ermöglichen, an denen das Ich einst gescheitert ist. Das Ziel der analytischen Therapie ist also Beseitigung unangepasster, anachronistischer Verhaltensweisen und ihre Ersetzung durch zweckmäßige und der Realität angepasste.
Warum sollte nicht derselbe Weg auch als Therapie der Massen gangbar sein?
Die Masse ist kein Neurotiker.[13] Gewiss weist sie starke Reaktionen der verschiedensten Gefühlsarten auf, wie Liebe, Hass, Verehrung, Verachtung, Freude, Trauer und andere mehr. Gewiss auch sind die Gefühlshaltungen der Masse zu verstehen als Fortsetzung und Wiederholung bestimmter, in der Kindheit ausgebildeter Einstellungen. Aber welche Gefühlseinstellung bei den Angehörigen einer Gruppe dominierend wird und zu welchem Zeitpunkt dies geschieht, hängt von den realen Lebensbedingungen der Masse und deren Veränderungen ab. Sowenig die Trauerreaktion eines Menschen auf den Verlust eines geliebten Angehörigen oder die Wut eines Untergebenen gegen einen ihn peinigenden Vorgesetzten „neurotisch“ zu nennen und durch Analyse „heilbar“ sind, ebenso wenig ist es neurotisch, wenn sich eine unterdrückte Klasse gegen ihre Unterdrücker erhebt und in diesem Kampfe starke sadistische Impulse betätigt. Oder, um noch ein anderes Beispiel zu nennen: Das Auftauchen eines neuen religiösen Glaubens, wie etwa des Urchristentums, ist kein krankhaftes Phänomen, das aus der Fixierung bestimmter Strebungen in der Kindheit der einzelnen Massenangehörigen zu verstehen wäre, sondern ein adäquates gefühlsmäßiges Reagieren auf die ökonomisch-politisch bedingte Verelendung der bäuerlich-proletarischen Klasse innerhalb des römischen Imperiums. Um es nochmals zu betonen, alle solche Erscheinungen wie religiöse Riten, Revolten, Kriege usw. sind nicht denkbar ohne das Vorhandensein triebhafter, in der Kindheit vorgebildeter seelischer Einstellungen (sowenig wie ein Krieg geführt werden kann ohne Waffen), aber diese Gefühlshaltungen sind ubiquitärer Natur und das Wann und Wo ihres Auftauchens ist die Folge sozialer Veränderungen; es sind aber nicht realitätsunangepasste, [I-036] an infantilen Fixierungsstellen haftende neurotische Reaktionen im oben beschriebenen Sinne.
Das quasi-neurotische Verhalten der Massen, das ein adäquates Reagieren auf aktuelle, reale, wenn auch schädliche und unzweckmäßige Lebensbedingungen ist, wird sich also nicht durch „Analysieren“, sondern nur durch die Veränderung und Beseitigung eben jener Lebensbedingungen „heilen“ lassen. Man kann zwar eine Reihe politischer Erscheinungen mit Hilfe der Psychoanalyse besser verstehen, aber es wäre eine verhängnisvolle Täuschung zu glauben, dass die Psychoanalyse die Politik ersetzen kann.
Diese schroffe Ablehnung der Psychoanalyse als Mittel der Veränderung gesellschaftlicher Zustände bedarf in einem Punkte der Modifizierung.
Es geschieht nicht selten im gesellschaftlichen Leben, dass die Veränderung bestimmter Einrichtungen nicht deshalb unterlassen wird, weil die realen Verhältnisse es nicht gestatten, sondern weil bestimmte Illusionen die Menschen auch dann noch daran hindern, das für sie Zweckmäßige zu tun, wenn die realen Bedingungen, die diese Illusionen entstehen ließen, schon längst verschwunden sind. Der ideologische Überbau bleibt oft länger bestehen, als es der ökonomisch-soziale Unterbau notwendig machte. Indem die Psychoanalyse als Theorie geeignet ist, gewisse gesellschaftlich relevante Illusionen genetisch zu erklären und zu zerstören, kann sie in gewissen gesellschaftlichen Situationen auch eine politische Funktion bekommen, eine Funktion, die auch die wesentliche Ursache ihrer Ablehnung durch die offiziellen Stellen der Gesellschaft und insbesondere deren wissenschaftliche Beamte sein dürfte.
Das theoretische und praktische Verhältnis von Psychoanalyse und Politik birgt eine Fülle hier nicht berührter oder nur gestreifter Probleme in sich. Zweck der Ausführungen an dieser Stelle konnte nur der Versuch sein, die gröbsten Missverständnisse richtigzustellen und einige einfache Andeutungen für eine positive Bearbeitung des Problems zu machen.
Studien über Autorität und Familie.
Sozialpsychologischer Teil
(1936a)[14]
1. Einleitung: Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
Bei vielen Menschen ist ihr Verhältnis zur Autorität der hervorstechendste Zug ihres Charakters[15]: Sei es, dass die einen nur dann eigentlich glücklich sind, wenn sie sich einer Autorität fügen und unterwerfen können, und umso mehr, je strenger und rücksichtsloser diese ist, sei es, dass andere sich auflehnend und trotzig verhalten, sowie sie sich auch nur irgendwo Anordnungen fügen sollen, und wären es auch die vernünftigsten und für sie selbst zweckmäßigsten. Während aber andere Charakterzüge wie etwa Geiz oder Pünktlichkeit eine relativ einheitliche Erscheinung darstellen, ist das Bild, das uns die Aufzählung auch nur weniger Beispiele von verschiedenen Arten der Autorität und der Einstellung zu ihr ergibt, so mannigfaltig und verwirrend, dass der Zweifel entstehen muss, ob wir es überhaupt mit einem Tatbestand zu tun haben, der einheitlich genug ist, um zum Gegenstand einer psychologischen Untersuchung gemacht zu werden.
Eine Autoritätssituation liegt vor im Verhältnis des Sohnes zum Vater in einem bestimmten Typ kleinbäuerlicher Familienstruktur. Der Vater wird gefürchtet, und widerspruchs- und bedenkenlos wird ihm gehorcht; manchmal wird mehr das Gefühl der Ehrfurcht, manchmal mehr das des Hasses oder der Furcht beigemischt sein und dem Verhältnis seine besondere Farbe geben. Solange der Vater lebt, ist sein Wille einziges Gesetz, und die Hoffnung auf Selbständigkeit und Unabhängigkeit ist, bewusst oder unbewusst, mit der Hoffnung auf den Tod des Vaters verknüpft. – Solche Hoffnung, aber auch solcher Wunsch fehlt in einem bestimmten Typus des Verhältnisses Soldat – Offizier. Der Untergebene gibt freudig und gern seine eigene Persönlichkeit auf, wird zum Werkzeug des Führers, dessen Wille seinen eigenen ersetzt. Er bewundert ihn als unendlich überlegenes Wesen und findet sein Glück im seltenen Lob des Führers. Gewiss fürchtet er ihn auch, aber gewöhnlich doch nur dann, wenn er nicht ganz seine Pflicht getan zu haben glaubt. Ehrfurcht, Bewunderung, ja Liebe spielen eine viel größere Rolle in seinen Gefühlen als Furcht. – Ganz anders wieder ist das Verhältnis zum Führer, wie es sich in der Jugendbewegung, speziell der deutschen, ausgebildet hatte. Auch hier gibt es ein Aufgehen im Führer, ein Aufgeben der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Wollens und Entscheidens. Aber der tragende Kern des Verhältnisses ist nicht die Macht des Führers und die Angst vor den [I-142] Folgen einer Pflichtverletzung, sondern die Liebe zu ihm und die Angst vor dem Liebesverlust. – Liebe ist auch der tragende Kern eines Autoritätsverhältnisses, wie man es so häufig in Fällen von Subordination wie etwa dem einer Krankenschwester zum Arzt findet; hier geht es aber um heterosexuelle, und nicht um homosexuelle Liebe mit all den andersartigen Konsequenzen, welche diese Verschiedenheit nach sich zieht; ist in der homosexuellen Liebe immer ein Zug des Gleichseinwollens und der Identifizierung, so fehlt dieser in der heterosexuellen. Der Wunsch nach dem Geliebtwerden, sei er mehr oder weniger bewusst, und die Angst vor dem Verlust – wenn auch nur der Chance des Geliebtwerdens – ist die Basis für die Bewunderung und den Gehorsam. – Angst und Liebe spielen eine weniger zentrale Rolle im Verhältnis des gläubigen Katholiken zu seinem Beichtvater. Seine Überlegenheit ist vorwiegend eine moralische. Er ist das personifizierte Gewissen des Gläubigen. Er kann ihn sich schuldig fühlen lassen und kann ihm durch Verzeihung inneren Frieden geben. Auch er erscheint dem naiven Gläubigen als ein höheres Wesen, und niemals kann die Distanz zu ihm überbrückt werden. Nicht Lob und Liebe, sondern Billigung, Verzeihung ist das Gut, das der Gläubige für den Preis der Unterwerfung nicht so sehr unter dessen Person als unter die Idee und Institution, die er vertritt, zu erwarten hat. – Ist in allen diesen Fällen das Verhältnis zum Träger der Autorität im wesentlichen rein gefühlsmäßig bedingt und vernünftiges Denken wenig an ihm beteiligt, so spielt gerade dieses eine entscheidende Rolle in einem so anders gearteten Autoritätsverhältnis wie dem des Studenten zu dem von ihm verehrten und bewunderten Universitätslehrer. Nicht sexuelle oder moralische Macht machen ihn zum Meister, sondern geistige Werte und ein Können, das der Student für sich selbst einst zu erreichen hofft. Nicht die Überzeugung von einer unüberbrückbaren Distanz, sondern der Wunsch, zu werden wie der Träger der Autorität, bilden den Grundzug dieses Verhältnisses. – Ist in einer solchen Autoritätsstruktur der Autoritätsträger die Verkörperung der Ideale des ihm Ergebenen, so ist er in einer anderen, in mancher Hinsicht mit dieser verwandten, aber doch wiederum entscheidend verschiedenen Struktur, eine Personifizierung der egoistischen Interessen. Für den ehrgeizigen Angestellten ist sein erfolgreicher Chef eine Autorität in diesem Sinn. Sich ihn zum Vorbild zu nehmen, an ihn zu „glauben“, gibt den eigenen Ambitionen, äußerlich wie innerlich, Stütze und Halt; Lob und Anerkennung des Chefs sind in erster Linie nicht um ihrer selbst willen, sondern um des Vorteils willen, den sie bedeuten, beglückend.
Diese Beispiele sind wenig ermutigend für den Versuch einer Definition dessen, was man unter Autorität im psychologischen Sinne verstehen kann. Die Verschiedenheiten der Gefühlsstruktur scheinen größer zu sein als die Gemeinsamkeiten, und man zweifelt, ob diese tragfähig genug für eine einheitliche Behandlung des Gegenstandes sind. Manchmal scheint die Furcht, manchmal die Bewunderung, manchmal die Liebe und manchmal der Egoismus der entscheidende Zug zu sein. Bald ist die Macht und Gefährlichkeit, bald die vorbildliche Leistung die Quelle des Autoritätsverhältnisses; in dem einen Falle sind nur die Gefühle, im anderen das vernünftige Denken beteiligt; einmal wird die Beziehung zur Autorität als ein ständig lastender Druck, das andere Mal als beglückende Bereicherung erlebt; manchmal scheint sie von den äußeren Umständen erzwungen und in diesem Sinne notwendig, manchmal scheint sie ein [I-143] freiwilliger Akt zu sein. Leichter als eine positive Bestimmung scheint es zu sein, zunächst zu sagen, was wir nicht unter Autorität verstehen wollen. Das Autoritätsverhältnis ist nicht ein bloß erzwungenes Verhalten. Der Kriegsgefangene oder der politische Gefangene, der sich den Anordnungen der Machthaber fügt, ohne seine feindselige und ablehnende Stellung aufzugeben, ist kein Beispiel für ein Autoritätsverhältnis. Wenn G. Simmel (1908a, S. 136 ff.) sagt, in der Autorität müsse immer ein Rest von Freiwilligkeit vorhanden sein, so ist damit wohl gemeint, dass das Sich-Fügen zwar auf Grund eines Zwanges erfolgen kann, dass wir aber von Autorität nur dann sprechen, wenn dieser Zwang innerlich nicht rein als solcher empfunden wird, sondern wenn er durch gefühlsmäßige Beziehungen ergänzt oder verstärkt wird. Positiv ausgedrückt, gehört zu einem jeden Autoritätsverhältnis die gefühlsmäßige Bindung einer untergeordneten zu einer übergeordneten Person oder Instanz. Das Autoritätsgefühl scheint immer etwas von Furcht, Ehrfurcht, Respekt, Bewunderung, Liebe und häufig auch Hass zu haben, aber die Rolle, die quantitativ in jedem Falle den einzelnen Komponenten dieses Gefühlskomplexes zukommt, scheint völlig verschieden zu sein, und diese Schwierigkeit noch durch die Tatsache kompliziert zu sein, dass die Komponenten manchmal bewusst und manchmal unbewusst, manchmal direkt und manchmal in Reaktionsbildung auftreten können. Angesichts dieses Tatbestandes tun wir wohl besser daran, auf eine Definition zu verzichten und uns damit zu begnügen, in groben Umrissen angedeutet zu haben, in welchem Sinne hier von der Einstellung zur Autorität als psychologischem Gegenstand die Rede ist.
Die folgende Untersuchung bezieht sich auf die psychologische Dynamik der Einstellung zur Autorität. Sie will diejenigen Triebtendenzen und seelischen Mechanismen analysieren, die bei der Ausbildung der verschiedenen Formen der „Autoritätsstellung“ wirksam sind. Wenn sie so auch zum Unterschied von den anderen Aufsätzen, die in diesem Band [Studien über Autorität und Familie] vereinigt sind, eine rein psychologische Untersuchung ist, so steht sie doch in engem Zusammenhang mit ihnen. Indem die in einem Menschen oder in einer Gruppe wirksamen Impulse und Triebe sich zwar auf Grund bestimmter physiologisch und biologisch gegebener Bedingungen, aber immer im Sinne der aktiven und passiven Anpassung dieser an die gesellschaftlichen Lebensbedingungen entwickeln, darf auch die rein psychologische Untersuchung niemals den Zusammenhang mit der spezifischen Lebenspraxis verlieren, welche die zu untersuchenden seelischen Tendenzen erzeugt und ständig reproduziert. Angesichts des Umfanges und der Schwierigkeit des Gegenstandes will diese Arbeit sich aber nur darauf beschränken, einige Probleme aus dem Gesamtkomplex der Struktur und Dynamik der Einstellung zur Autorität herauszugreifen und zu diskutieren. So befremdlich es auch angesichts der großen personal- und sozialpsychologischen Bedeutung des Gegenstandes sein mag, so ist doch die Einstellung zur Autorität bisher noch kaum zum Gegenstand einer psychologischen Untersuchung gemacht worden. Der einzige Psychologe, an den anzuknüpfen ist, ist Freud, und dies nicht nur, weil seine psychologischen Kategorien infolge ihres dynamischen Charakters die einzig brauchbaren sind, sondern auch weil er das Problem der Autorität unmittelbar behandelt und wichtige und fruchtbare Gesichtspunkte aufgezeigt hat.
2. Autorität und Über-Ich.
Die Rolle der Familie bei ihrer Entwicklung
Freud diskutiert das Problem der Autorität im Zusammenhang mit der Massenpsychologie und dem „Über-Ich“. Die Behandlung beider Probleme zeigt, welche entscheidende Bedeutung er in psychologischer Hinsicht der Autorität zuspricht. Die Massenbildung sieht er geradezu auf dem Verhältnis der Massen zum Führer begründet. „Eine solche primäre Masse ist“, sagt S. Freud (1921c, S. 128), „eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt (d.h. den Führer) an die Stelle ihres Ich-Ideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben“.[16] Nicht weniger bedeutsam als für die Massenbildung ist die Autorität nach Freud für die Bildung des „Über-Ichs“. Da wir mit den Begriffen des „Über-Ichs“, „Ichs“ und „Es“ weiterhin zu tun haben werden, soll kurz dargestellt werden, was Freud unter ihnen versteht. Er nimmt im seelischen Apparat drei Instanzen an: das „Es“, das „Ich“ und das „Über-Ich“. Dies sind nicht Bezeichnungen für „Teile“ im statischen, sondern für Träger von Funktionen im dynamischen Sinne; nicht scharf abgegrenzt, sondern ineinander übergehend. Das „Es“ ist die ursprüngliche und undifferenzierte Form des seelischen Apparates. „Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in der Bildung begriffen oder schwächlich ist“ (S. Freud, 1923b, S. 275). Das Ich ist „der durch den direkten Einfluss der Außenwelt (...) veränderte Teil des Es“ (S. Freud, 1923b, S. 252). Es repräsentiert, „was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält“ (S. Freud, 1923b, S. 253). Zusammenfassend sagt er vom Ich:
Wir haben uns die Vorstellung von einer zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person gebildet und heißen diese das Ich derselben. An diesem Ich hängt das Bewusstsein, es beherrscht die Zugänge zur Motilität, das ist: zur Abfuhr der Erregungen in der [I-145] Außenwelt; es ist diejenige seelische Instanz, welche eine Kontrolle über alle ihre Partialvorgänge ausübt, welche zur Nachtzeit schlafen geht und dann immer noch die Traumzensur handhabt. Von diesem Ich gehen auch die Verdrängungen aus, durch welche gewisse seelische Strebungen nicht nur vom Bewusstsein, sondern auch von den anderen Arten der Geltung und Betätigung ausgeschlossen werden sollen. (S. Freud, 1923b, S. 243.)
Das Über-Ich, ursprünglich von Freud auch Ideal-Ich oder Ich-Ideal genannt, ist „die phylogenetisch letzte und heikelste“ (S. Freud, 1933a, S. 86) Instanz des seelischen Apparates. Als seine Funktion bezeichnet Freud „die Selbstbeobachtung, das moralische Gewissen, die Traumzensur und den Haupteinfluss bei der Verdrängung“ (S. Freud, 1921c, S. 121). In der Neuen Folge der Vorlesungen nennt er Selbstbeobachtung, Gewissen und Idealbildung als die drei Funktionen des Über-Ichs (S. Freud, 1933a, S. 72). Die Frage, ob auch die Realitätsprüfung eine Funktion des Über-Ichs sei, beantwortet Freud widersprechend. (Vgl. S. Freud, 1921c, S. 126, und S. Freud, 1923b, S. 256.) Die Entstehung des Über-Ichs bringt er in eine enge Beziehung zum Vater. Schon vor allen Objektbeziehungen identifiziert sich der kleine Knabe mit dem Vater, und hinter dem Ich-Ideal „verbirgt sich die erste und bedeutsamste Identifizierung des Individuums, die mit dem Vater der persönlichen Vorzeit“ (S. Freud, 1923b, S. 259). Diese primäre Identifizierung wird verstärkt durch eine sekundäre, die der Niederschlag der Ödipusphase ist. Der kleine Knabe muss unter dem Druck der Angst vor der Eifersucht des Vaters seine auf die Mutter gerichteten sexuellen und seine gegen den Vater gerichteten feindseligen und eifersüchtigen Wünsche aufgeben; dies wird ihm erleichtert, indem er sich mit dem Vater identifiziert und seine Ge- und Verbote introjiziert. An Stelle der äußeren Angst tritt eine innere, die ihn automatisch vor dem Erlebnis der äußeren Angst schützt. Auf diesem Umweg erreicht der Knabe gleichzeitig einen Teil der verbotenen Ziele, indem er durch die Identifizierung dem Vater gleich geworden ist. Diesem zwiespältigen Tatbestand entspricht der doppelte Inhalt des Über-Ichs:
So (wie der Vater) sollst du sein. (...) So (wie der Vater) darfst du nicht sein, das heißt nicht alles tun, was er tut; manches bleibt ihm vorbehalten. (S. Freud, 1923b, S. 262.)
„Im Laufe der Entwicklung nimmt das Über-Ich auch die Einflüsse jener Personen an, die an die Stelle der Eltern getreten sind, also von Erziehern, Lehrern, idealen Vorbildern“ (S. Freud, 1933a, S. 70; vgl. S. Freud, 1923b, S. 265). Das Über-Ich „wird zum Träger der Tradition“ (S. Freud, 1933a, S. 73) und ist die Verinnerlichung des äußeren Zwanges (vgl. S. Freud, 1927c, S. 332 f.). Das Verhältnis des Über-Ichs zum Es ist ein zwieschlächtiges. Einerseits ist das Über-Ich eine „Reaktionsbildung gegen die Triebvorgänge des Es“ (S. Freud, 1923b, S. 286), andererseits bezieht es seine Energien aus dem Es (vgl. S. Freud, 1926d, S. 145).
Gewisse Widersprüche und Unklarheiten in der Freudschen Begriffsbildung sind nicht zu verkennen. Auf die Unklarheit, dass die Realitätsprüfung manchmal dem Ich und manchmal dem Über-Ich zugewiesen wird, wurde oben schon hingewiesen. Es ist auch schwer einzusehen, warum die Selbstbeobachtung eine Funktion der gleichen Instanz sein soll, welche die als Reaktionsbildung gegen die Triebwelt entstandenen Ideale und das Gewissen verkörpert. Man hat den Eindruck, dass Freud hier die Begriffsbildung formalistisch vorgenommen, mit anderen Worten, dem Über-Ich alle [I-146] diejenigen Funktionen aufgebürdet hat, die er aus irgendeinem Grunde nicht dem Ich oder dem Es zuschreiben wollte. Auch der für die Genese des Über-Ichs so wichtige Begriff der Identifizierung leidet unter diesem allzu formalistischen Charakter. Was sich unter der von Freud beschriebenen Identifizierung verbirgt, sind psychologisch recht verschiedene Tatsachen, und eine weniger formalistische Begriffsbildung würde zum mindesten drei Haupttypen der Identifizierung zu unterscheiden haben: eine bereichernde, d.h. eine Identifizierung, in der ich die Person des anderen in mich aufnehme und mein Ich durch diese Bereicherung verstärke, eine verarmende, in der ich meine Person in den anderen verlege und zu einem Teil des andern werde, und endlich ein (bewusstes oder unbewusstes) Identitätsgefühl, das die Gleichheit und Vertauschbarkeit meiner Person mit der des andern zum Inhalt hat. Die Basis für dieses Gefühl dürften aber nicht so sehr „gemeinsame Eigenschaften“ als vielmehr wesentliche gemeinsame Interessen sein.
Trotz der Widersprüche und Unklarheiten in der Theorie des Über-Ichs und der Identifizierung hat Freud in diesem Punkt eine entscheidende Einsicht in das Problem der Autorität und darüber hinaus der gesellschaftlichen Dynamik vermittelt. Seine Theorie liefert einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie es möglich ist, dass die in einer Gesellschaft herrschende Gewalt tatsächlich so wirkungsvoll ist, wie uns das die Geschichte zeigt. Die äußere, in den jeweils für eine Gesellschaft maßgebenden Autoritäten verkörperte Gewalt und Macht ist ein unerlässlicher Bestandteil für das Zustandekommen der Fügsamkeit und Unterwerfung der Masse unter diese Autorität. Andererseits aber ist es klar, dass dieser äußere Zwang nicht nur als solcher direkt wirkt, sondern dass, wenn sich die Masse den Anforderungen und Verboten der Autoritäten fügt, dies nicht nur aus Angst vor der physischen Gewalt und den physischen Zwangsmitteln geschieht. Gewiss kann auch dieser Fall ausnahmsweise und vorübergehend eintreten. Eine Fügsamkeit, die nur auf der Angst vor realen Zwangsmitteln beruhte, würde einen Apparat erfordern, dessen Größe auf die Dauer zu kostspielig wäre; sie würde die Qualität der Arbeitsleistung der nur aus äußerer Furcht Gehorchenden in einer Weise lähmen, die für die Produktion in der modernen Gesellschaft zumindest unerträglich ist, und sie würde außerdem eine Labilität und Unruhe der gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen, die ebenfalls mit den Anforderungen der Produktion auf die Dauer unvereinbar wäre. Es ergibt sich, dass, wenn die äußere Gewalt die Gefügigkeit der Masse bedingt, sie doch in der Seele des Einzelnen ihre Qualität verändern muss. Die hierbei entstehende Schwierigkeit wird teilweise durch die Über-Ich-Bildung gelöst. Durch das Über-Ich wird die äußere Gewalt transformiert und zwar, indem sie aus einer äußeren in eine innere Gewalt verwandelt wird. Die Autoritäten als die Vertreter der äußeren Gewalt werden verinnerlicht, und das Individuum handelt ihren Geboten und Verboten entsprechend nun nicht mehr allein aus Furcht vor äußeren Strafen, sondern aus Furcht vor der psychischen Instanz, die es in sich selbst aufgerichtet hat.
Die äußere in der Gesellschaft wirksame Gewalt tritt dem in der Familie aufwachsenden Kind in der Person der Eltern und in der patriarchalischen Kleinfamilie speziell in der des Vaters gegenüber. Durch Identifizierung mit dem Vater und Verinnerlichung seiner Ge- und Verbote wird das Über-Ich als eine Instanz mit den Attributen [I-147] der Moral und Macht bekleidet. Ist aber diese Instanz einmal aufgerichtet, so vollzieht sich mit dem Prozess der Identifizierung gleichzeitig ein umgekehrter Vorgang. Das Über-Ich wird immer wieder von neuem auf die in der Gesellschaft herrschenden Autoritätsträger projiziert, mit andern Worten, das Individuum bekleidet die faktischen Autoritäten mit den Eigenschaften seines eigenen Über-Ichs. Durch diesen Akt der Projektion des Über-Ichs auf die Autoritäten werden diese weitgehend der rationalen Kritik entzogen. Es wird an ihre Moral, Weisheit, Stärke in einem von ihrer realen Erscheinung bis zu einem hohen Grade unabhängigen Maße geglaubt. Dadurch aber werden diese Autoritäten umgekehrt wiederum geeignet, immer von neuem verinnerlicht und zu Trägern des Über-Ichs zu werden. Diese Verklärung der Autoritäten durch Projizierung der Über-Ich-Qualität trägt zur Aufhellung einer Schwierigkeit bei. Es ist ja leicht zu verstehen, warum das kleine Kind infolge seiner mangelnden Lebenserfahrung und Kritik die Eltern für Ideale hält und sie infolgedessen im Sinne der Über-Ich-Bildung in sich aufnehmen kann. Es wäre für den kritischeren Erwachsenen schon viel schwieriger, das gleiche Gefühl der Verehrung für die in der Gesellschaft herrschenden Autoritäten zu haben, wenn eben nicht diese Autoritäten durch die Projizierung des Über-Ichs auf sie für ihn die gleichen Qualitäten erhielten, welche die Eltern einst für das kritiklose Kind hatten.
Das Verhältnis von Über-Ich und Autorität ist dialektisch. Das Über-Ich ist eine Verinnerlichung der Autorität, die Autorität wird durch Projizierung der Über-Ich-Eigenschaften auf sie verklärt und in dieser verklärten Gestalt wiederum verinnerlicht. Autorität und Über-Ich sind voneinander überhaupt nicht zu trennen. Das Über-Ich ist die verinnerlichte äußere Gewalt, die äußere Gewalt wird so wirksam, weil sie Über-Ich-Qualitäten erhält. Das Über-Ich ist also keineswegs eine Instanz, die in der Kindheit einmal gebildet wird und von da an im Menschen wirksam ist, wie auch immer die Gesellschaft aussieht, in welcher er lebt; das Über-Ich würde vielmehr in den meisten Fällen mehr oder weniger verschwinden oder seinen Charakter und seine Inhalte völlig ändern, wenn nicht die in der Gesellschaft maßgebenden Autoritäten immer wieder den in der Kindheit begonnenen. Prozess der Über-Ich-Bildung fortsetzten oder – richtiger gesagt – erneuerten. Dass diese Autoritäten mit den moralischen Qualitäten des Über-Ichs bekleidet werden, heißt auch nicht, dass das Vorhandensein des einmal gebildeten Über-Ichs und seine Projektion auf die Autoritäten ausreichend wäre, diese Autoritäten auch dann wirkungsvoll zu machen, wenn sie nicht die Träger der physischen Gewalt wären. Ebenso wie das Kind die vom Vater ausgehende Gewalt durch die Über-Ich-Bildung verinnerlicht, so beruht die Aufrechterhaltung und Erneuerung des Über-Ichs beim Erwachsenen immer wieder auf der Verinnerlichung faktischer äußerer Gewalt; denn wenn auch das Über-Ich die Angst vor einer äußeren Gefahr zu einer inneren Angst macht, so ist der dynamisch entscheidende Faktor zu seiner Bildung und Aufrechterhaltung eben doch die äußere Gewalt und die Angst vor ihr. Die äußere Angst könnte nicht verinnerlicht, die physische Gewalt nicht zu einer moralischen verklärt werden, wenn sie nicht beständen.
Diese Feststellung bedarf allerdings einer Einschränkung. Die Erlebnisse, die ein Mensch in seiner frühen Kindheit und Jugend hat, sind für die Bildung des Charakters von größerer Bedeutung als die Erlebnisse späterer Jahre. Nicht so, dass [I-148] Kindheitserlebnisse den Charakter in einer Weise determinierten, dass spätere Ereignisse ihn nicht mehr zu ändern vermöchten (dies ist bis zu einem weitgehenden Maße nur beim Neurotiker der Fall, der eben gerade durch seinen mehr oder weniger großen Mangel an Anpassungsfähigkeit des seelischen Apparates und seine Fixierung an die Situation der Kindheit charakterisiert ist), aber sie schaffen doch Dispositionen, die eine relative Schwerfälligkeit und Trägheit des psychischen Apparates realen Veränderungen gegenüber bewirken. Dies heißt für unser Problem, dass, wenn die Kindheitserlebnisse ein starkes Über-Ich erzeugt haben, dieses Über-Ich oft relativ resistent gegen Lebensbedingungen bleibt, die ein anders geartetes Über-Ich erforderten. In dem relativ determinierenden Charakter der Kindheitserlebnisse liegt der Grund dafür, dass bestimmte psychische Strukturen oft über die gesellschaftlichen Notwendigkeiten hinaus ihre Kräfte behalten. Solche Diskrepanzen zwischen der psychischen Struktur und der gesellschaftlichen Realität können allerdings nur vorübergehend sein, und wenn die psychische Struktur auf die Dauer aufrechterhalten werden soll, müssen gesellschaftliche Veränderungen eintreten, die sie wieder von neuem bedingen. Man könnte sagen, die psychische Struktur[17] hat die Funktion eines Schwungrades, das die Bewegung auch über ein Aussetzen des Motors hinaus aufrechterhält, aber eben doch nur für eine beschränkte Dauer.
Die notwendige Zusammengehörigkeit von Über-Ich und Autorität beruht nicht nur darauf, dass das Über-Ich von realen und machtvollen Autoritäten ständig neu produziert werden muss, sondern auch darauf, dass es selbst nicht stark und stabil genug ist, um die ihm vorgeschriebenen Aufgaben zu leisten. Gewiss gibt es Persönlichkeitstypen, vom Normalen bis zum pathologischen Zwangscharakter reichend, deren Über-Ich so stark ist, dass es ihre Handlungen und Impulse auch dann völlig kontrollierte, wenn dieses Über-Ich nicht durch reale Mächte und Personen verkörpert wäre. Aber nur ein Robinson Crusoe mit einem Zwangscharakter würde fortfahren, auch auf der Insel seinem Über-Ich so zu gehorchen, wie er das vor dem Schiffbruch zu tun gewohnt war. Beim durchschnittlichen Menschen ist die innere Instanz nicht stark genug, als dass Furcht vor ihrer Missbilligung allein ausreichend wäre. Die Furcht vor den realen Autoritäten mit der sie bekleidenden Macht, die Hoffnung auf materielle Vorteile, der Wunsch, von ihnen geliebt und gelobt zu werden, und die Befriedigung, die aus der Realisierung dieses Wunsches hervorgeht (etwa durch Auszeichnung, Beförderung usw.), weiterhin auch die Möglichkeit von – wenn auch unbewussten und nicht verwirklichten – sexuellen, speziell homosexuellen Objektbeziehungen zu diesen Autoritäten sind Faktoren, deren Stärke zum mindesten nicht geringer ist als die Furcht des Ichs vor dem Über-Ich. Das Verhältnis zwischen Über-Ich und Autorität ist also kompliziert. Einmal ist das Über-Ich die verinnerlichte Autorität, und die Autorität ist das personifizierte Über-Ich, zum andern schafft das Zusammenwirken beider die freiwillige Fügsamkeit und Unterwerfung, welche die gesellschaftliche Praxis in einem so erstaunlichen Maße kennzeichnen.
Indem das Über-Ich schon in den früheren Lebensjahren des Kindes als eine durch die Angst vor dem Vater und den gleichzeitigen Wunsch, von ihm geliebt zu werden, bedingte Instanz entsteht, erweist sich die Familie als eine wichtige Hilfe für die Herstellung der späteren Fähigkeit des Erwachsenen, an Autoritäten zu glauben und sich [I-149] ihnen unterzuordnen. Die Erzeugung des Über-Ichs ist aber nur eine der Aufgaben, welche die Familie als die psychologische Agentur der Gesellschaft erfüllt, und die Erzeugung des Über-Ichs kann nicht von der gesamten Triebstruktur und dem Charakter eines Menschen, wie er in der Familie produziert wird, getrennt werden. Freud hat gezeigt, wie entscheidend die Erlebnisse der frühen Kindheit für die Ausbildung der Triebstruktur und des Charakters eines Menschen sind und dass den Gefühlsbeziehungen zu den Eltern, der Art der Liebe zu ihnen, der Angst vor ihnen und dem Hass gegen sie, die Hauptrolle in der Entwicklung der kindlichen Psyche zukommen; damit hat er wesentlich dazu beigetragen, die Wirksamkeit der Familie im Sinne der eben erwähnten gesellschaftlichen Funktionen zu verstehen. Er hat jedoch übersehen, dass neben den individuellen Verschiedenheiten, die in den einzelnen Familien existieren, die Familien in erster Linie bestimmte gesellschaftliche Inhalte repräsentieren und dass in deren Vermittlung, und zwar nicht im Sinne der Vermittlung von Meinungen und Ansichten, sondern in der Produktion der gesellschaftlich erwünschten seelischen Struktur, die wichtigste gesellschaftliche Funktion der Familie liegt. An diesem Mangel krankt seine Über-Ich-Theorie.
Das Über-Ich stellt nach Freud eine Identifizierung mit dem Vater dar, „an welche sich im Laufe der Zeiten die Erzieher, Lehrer, und als unübersehbarer, unbestimmbarer Schwarm, alle andern Personen des Milieus angeschlossen hatten. (Die Mitmenschen, die öffentliche Meinung)“ (S. Freud, 1914c, S. 163). Die Ursache der Identifizierung liegt für ihn, abgesehen von den sogenannten primären Identifizierungen in der allerfrühesten Kindheit, im Ödipuskomplex. Der kleine Knabe hat sexuelle Wünsche mit Bezug auf seine Mutter, sieht sich der drohenden Überlegenheit des Vaters gegenüber, fürchtet speziell die Strafe der Kastration für seine verbotenen Impulse, verwandelt die äußere Angst vor der Kastration durch den Vater in eine innere und befriedigt durch die Identifizierung mit dem Vater einen Teil seiner ursprünglichen Wünsche. Das Über-Ich ist so nach Freud der „Erbe des Ödipuskomplexes“. Diese Auffassung ist problematisch wegen der mangelnden Einschätzung des Zusammenhanges der Familienstruktur mit der Struktur der Gesamtgesellschaft. Wenn Freud sagt, dass sich im Laufe der Zeiten die Vertreter der Gesellschaft an die Figur des Vaters anschließen, so ist dies zwar in einem gewissen äußeren und zeitlichen Sinne richtig, aber diese Feststellung bedarf der Ergänzung durch die umgekehrte, dass der Vater sich an die in der Gesellschaft herrschende Autorität anschließt. Die Autorität nämlich, die der Vater in der Familie hat, ist keine zufällige, die später durch die gesellschaftlichen Autoritäten „ergänzt“ wird, sondern die Autorität des Familienvaters selbst gründet zuletzt in der Autoritätsstruktur der Gesamtgesellschaft. Der Familienvater ist zwar dem Kind gegenüber (zeitlich gesehen) der erste Vermittler der gesellschaftlichen Autorität, aber (inhaltlich gesehen) ist er nicht ihr Vorbild, sondern ihr Abbild.
Die sexuelle Rivalität im Verhältnis Vater – Sohn ist durch die soziale Situation jeweils gefärbt. Die gesellschaftliche Bedingtheit des Ödipuskomplexes liegt zunächst einmal in der Tatsache, dass er, den Freud für eine allgemein menschliche und biologisch notwendige Erscheinung hält und den er in diesem Sinn auch auf die Urgeschichte der Menschheit zurückprojiziert, in der von Freud beschriebenen Form nur [I-150] für gewisse Gesellschaftsstrukturen charakteristisch ist. Es gibt genügend Gesellschaften, in denen der Vater durchaus nicht die Funktion des sexuellen Rivalen und der allmächtigen Autorität vereinigt. Diese beiden Funktionen sind z.B. bei einer Reihe von primitiven Stämmen auf den Mutterbruder und den Vater verteilt.
Damit soll allerdings nicht die außerordentliche Bedeutung des Ödipuskomplexes, der sexuellen Wünsche des Kindes und der aus ihnen entspringenden Rivalität und Feindseligkeit gegen den Vater in der patriarchalischen Kleinfamilie verringert werden. Die klinischen Erfahrungen der Psychoanalyse haben die Bedeutsamkeit des Ödipuskomplexes über jeden Zweifel hinaus hinreichend erwiesen. Sie haben besonders gezeigt, eine wie wichtige Quelle er für die Feindseligkeit und Auflehnung des Sohnes gegen den Vater ist und dass so die patriarchalische Familie, die auf Grund ihrer Struktur die inzestuösen Wünsche des Sohnes erzeugt, eben durch den daraus resultierenden Konflikt mit dem Vater Auflehnung gegen diesen und damit Tendenzen zur Sprengung der Familie erzeugt. Aber das Ausmaß an Feindseligkeit des Sohnes hängt auch von der Einstellung des Vaters zu ihm ab. Diese selbst ist angesichts der eindeutigen sexuellen Überlegenheit des Vaters in viel geringerem Grade als beim Kind von sexueller Rivalität bestimmt, wenngleich auch unter gewissen, hier nicht näher zu erörternden Bedingungen oft doch recht stark. Sie ist vielmehr schon vom ersten Lebenstag an bedingt und bestimmt von dem Gesamtverhältnis zwischen Vater und Sohn, wie es sich später auf Grund der individuellen und gesellschaftlichen Gesamtkonstellation der Familie entwickeln wird. Um sich dies klar vor Augen zu führen, vergleiche man nur einige, hier idealtypisch vereinfachte, Familiensituationen innerhalb unserer Gesellschaft. Denken wir etwa an den Gegensatz der Beziehungen Vater-Sohn in der Familie eines bestimmten kleinbäuerlichen Typus und in der eines wohlhabenden großstädtischen Arztes. Für den Bauern ist, durch seine ökonomische und soziale Situation bedingt, jedes Familienmitglied in allererster Linie eine Arbeitskraft, die er bis zum möglichen Maximum ausnutzt. Jedes neuankommende Kind ist eine potenzielle Arbeitskraft, deren Nutzen allerdings erst dann in Erscheinung tritt, wenn das Kind alt genug ist, um mitzuarbeiten. Bis dahin ist es nur ein Esser, mit dem im Hinblick auf seine spätere Verwertung vorliebgenommen wird. Hierzu kommt, dass dieser Bauer auf Grund seiner Klassensituation einen Charakter entwickelt hat, in dem der vorherrschende Zug die maximale Ausnutzung aller ihm zur Verfügung stehenden Menschen und Güter ist und in dem Liebe, das Streben nach dem Glück der geliebten Person um ihrer selbst willen, ein kaum entwickelter Zug ist. Der Vater steht dem Sohn von vornherein in einem Verhältnis gegenüber, das kaum durch Liebe, sondern wesentlich durch Feindseligkeit und durch die Tendenz zur Ausbeutung charakterisiert wird. Aber die gleiche Feindseligkeit wird sich, wenn er älter ist, auch beim Sohn entwickeln. Alter und Tod des Vaters können den Sohn davon befreien, Objekt der Ausbeutung zu sein, und ihm einmal eine Entschädigung für alles Erlittene dadurch gewähren, dass er selbst zum Herren wird. Das Verhältnis beider wird einen Zug von Todfeindschaft tragen; dies aber wirft seine Schatten auf die Einstellung des Vaters voraus, wenn ein neuer Sohn auf die Welt kommt. Diese Atmosphäre bestimmt wesentlich auch die Reaktion und die psychologische Gesamtentwicklung des heranwachsenden Sohnes. Ähnlich war es in der Proletarierfamilie in [I-151] der ersten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts. Auch für sie waren Kinder wesentlich Gegenstand der ökonomischen Ausnutzung, und niemand wehrte sich mehr gegen eine Gesetzgebung zur Einschränkung der Kinderarbeit als eben diese ihre Kinder ökonomisch ausnutzenden Eltern. Sie waren tatsächlich „die schlimmsten Feinde ihrer Kinder“, und diese Feindseligkeit bildete vom ersten Tage an die entscheidende Gefühlsnuance im Verhältnis Vater-Sohn.
Wesentlich anders verhält es sich bei unserem zweiten Beispiel. Es soll hier nicht darauf eingegangen werden, was auch hier an Ausnutzungstendenzen versteckter und sublimer Art vorliegt. Aber die Situation ist doch grundsätzlich verschieden. Die wenigen Kinder haben nicht die Funktion, das Einkommen des Vaters zu erhöhen, werden nicht als potenzielle Arbeiter und als unnütze Esser empfunden, solange sie noch nicht mitarbeiten. Sie werden auf die Welt gesetzt, weil sich die Eltern freuen, Kinder zu haben. Viele der unerfüllten Wünsche und Ideale, welche die Eltern für sich hatten, werden auf die Kinder verlegt und ihre Erfüllung bei den Kindern, sei es auf dem Wege der Identifizierung, sei es auf dem der Objektliebe, als Eigenbefriedigung erlebt. Die Atmosphäre, in die das Kind dieser Familie kommt, ist nicht die ungeduldiger feindseliger Erwartung des Tags seiner Ausnutzung, sondern die liebevoller Förderung und Freundlichkeit. Diese andere Luft schafft einen anderen Charakter und andere Beziehungen zum Vater vom ersten Lebenstage an. Was an Rivalität da sein mag, ist anders gefärbt und anders gelagert. Es ist quantitativ und qualitativ völlig verschieden von der Rivalität in jener Bauern- und Arbeiterfamilie.
Nehmen wir endlich noch ein drittes Beispiel: eine kleinbürgerliche großstädtische Familie, wo der Vater etwa ein unterer Postbeamter ist. Sein Einkommen ist ausreichend für die Bedürfnisse, die sich in seiner sozialen Situation ergeben. Die Familie ist keine Produktionsgemeinschaft, und die Kinder haben noch nicht die Aufgabe, so rasch wie möglich Arbeitskraft oder Geld zum Familienhaushalt beizusteuern. Es entfällt so ein Stück des auf den Ausnutzungstendenzen des Vaters beruhenden Interessengegensatzes und der daraus erwachsenden Feindseligkeit. Andererseits aber ist das Leben des Vaters so arm an Befriedigungen und speziell infolge seiner beruflichen und gesellschaftlichen Situation so bar der Möglichkeit, selbst zu herrschen und zu befehlen, dass das Kind wie die Ehefrau die Funktion gewinnt, dem Vater zu ersetzen, was ihm das Leben sonst versagt. Das Kind soll ihn auf dem Umwege über die Identifizierung die Ziele erreichen lassen, die das Leben auf dem direkten Wege unerreichbar machte; es soll ihm Prestigegewinn im Verhältnis zu den andern Mitgliedern seiner sozialen Gruppe verschaffen; es soll ihm die Möglichkeit der Befriedigung seiner Wünsche, zu herrschen und zu befehlen, und damit eine Kompensation für seine Machtlosigkeit im gesellschaftlichen Leben geben. Das Verhältnis Vater-Sohn in diesem Falle ist gemischt aus Ausnutzungstendenzen und fördernden Strebungen, aus Freundlichkeit und Hass, und diese zwiespältige Struktur verschafft wiederum spezifische Gefühlsreaktionen im heranwachsenden Kinde.
Das Über-Ich verdankt seine Entstehung der von Angst und Liebe getragenen Beziehung zum Vater. Der Charakter dieser Angst und Liebe ist aber – wie wir eben zu zeigen versucht haben – in erster Linie bestimmt von dem wiederum gesellschaftlich bedingten Gesamtverhältnis zwischen Vater und Sohn. Das Über-Ich ist so seiner [I-152] Stärke und seinem Inhalt nach die Widerspiegelung und das Erbe einer viel weiteren Gefühlsbeziehung, als es der Ödipuskomplex ist, wenngleich dieser selbst in die Gesamtbeziehung verflochten ist. Freud hat in der Neuen Folge der Vorlesungen dem gesellschaftlich bedingten Charakter des Vaters durch seine Bemerkung mehr Rechnung getragen als in seinen früheren Schriften. Er sagt (S. Freud, 1933a, S. 73), das Ich und das Über-Ich des Kindes werden
eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt haben.
Er fügt an dieser Stelle eine Polemik ein:
Wahrscheinlich sündigen die sogenannten materialistischen Geschichtsauffassungen darin, dass sie diesen Faktor (gemeint ist die Über-Ich-Bildung; E. F.) unterschätzen. Sie tun ihn mit der Bemerkung ab, dass die ‘Ideologien’ der Menschen nichts anderes sind als Ergebnis und Überbau ihrer aktuellen ökonomischen Verhältnisse. Das ist die Wahrheit, aber sehr wahrscheinlich nicht die ganze Wahrheit. Die Menschheit lebt nie ganz in der Gegenwart, in den Ideologien des Über-Ichs lebt die Vergangenheit, die Tradition der Rasse und des Volkes fort, die den Einflüssen der Gegenwart, neuen Veränderungen, nur langsam weicht, und solange sie durch das Über-Ich wirkt, eine mächtige, von den ökonomischen Verhältnissen unabhängige Rolle im Menschenleben spielt.
Insofern Freud hier auf die Diskrepanz zwischen dem Tempo der ökonomischen und der relativen Langsamkeit der ideologischen Entwicklung hinweist, befindet er sich gewiss nicht im Gegensatz zu Marx. Wenn er aber davon spricht, dass das Über-Ich eine „von den ökonomischen Verhältnissen unabhängige Rolle“ spiele, so ist dies eine Vereinfachung, wie sie bei Freud fast immer vorhanden ist, wenn er gesellschaftliche Phänomene behandelt. Es soll in dieser Arbeit gerade gezeigt werden, dass eine seelische Instanz wie das Über-Ich und das Ich, ein Mechanismus wie die Verdrängung, Impulse wie die sadomasochistischen, welche das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen in so entscheidender Weise bedingen, nicht etwa „natürliche“ Gegebenheiten sind, sondern dass sie selbst von der Lebensweise der Menschen, letzten Endes von der Produktionsweise und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Struktur jeweils mitbedingt sind. Indem Freud nachgewiesen hat, dass die Menschen weitgehend nicht von ihren rationalen, bewussten Absichten, sondern von ihren unbewussten Leidenschaften getrieben werden, und indem er gerade die Elastizität und Anpassungsfähigkeit dieser Leidenschaften aufweist, hat er den Schlüssel zum Verständnis der Frage geliefert, wie die gesellschaftliche und ökonomische Struktur eben durch Vermittlung der von ihr geformten Triebstruktur den ganzen Menschen und damit seine Anschauungen und Wünsche, kurz den ganzen kulturellen Überbau verändert. Er hat aber infolge bestimmter Voreingenommenheiten von diesem Schlüssel nur für das Verständnis der individuellen Unterschiede der Menschen innerhalb einer Gesellschaft und nicht für das der gemeinsamen Züge der Menschen je nach den verschiedenen Gesellschaften und Klassen Gebrauch gemacht.
Wir haben bisher die Freudsche Theorie von der Entstehung des Über-Ichs in der Familie diskutiert und auf die gesellschaftliche Bedingtheit des Verhältnisses des Sohnes zum Vater und der aus diesem Verhältnis erwachsenden Über-Ich-Bildung [I-153] hingewiesen. Die Familie ist aber selbst das Ergebnis einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Struktur, und ihre Funktionen sind in erster Linie von dieser bestimmt. Diese Einsicht führt unsere Untersuchung über die Frage der Erzeugung des Über-Ichs und der Autoritätseinstellung in der Familie hinaus auf die Frage nach den allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen der Notwendigkeit von Über-Ich und Autorität. Dieses Stück der Untersuchung macht es notwendig, dass wir uns zunächst ausführlicher mit der Struktur und Dynamik des seelischen Apparates befassen und speziell das Verhältnis von Ich und Über-Ich und ihre Rolle bei der Triebabwehr untersuchen.[18]
3. Autorität und Verdrängung
Das Individuum ist sowohl in die natürliche als auch in die gesellschaftliche Umwelt verflochten. Sie sind gleichzeitig der Gegenstand wie die Schranke seiner Triebbefriedigung. Seine Bedürfnisse treiben es dazu, die Umwelt im Sinne seiner Triebbefriedigung zu verändern. Andererseits zwingt die Umwelt das Individuum, seine Impulse und Bedürfnisse anzupassen, wofür freilich enge biologisch-physiologische Grenzen gezogen sind. Dabei erweisen sich die Selbsterhaltungstriebe als weniger elastisch, während die Sexualtriebe infolge ihrer Verschiebbarkeit, Verwandelbarkeit und Verdrängbarkeit einen außerordentlich hohen Grad an Anpassungsfähigkeit haben. Indem der Mensch im Laufe der Geschichte seine natürliche wie gesellschaftliche Umwelt verändert; verändert er seinen seelischen Apparat. Dies bedeutet auch eine Wandlung der Stärke und des Inhalts seiner libidinösen Bedürfnisse, andererseits eine Wandlung von Ich und Über-Ich. Die Bedürfnisse sind aber im Verlauf der bisherigen Geschichte (wenn wir von primitiven Gesellschaften absehen) immer größer gewesen als die Möglichkeit ihrer Befriedigung. In dieser Tatsache liegt einerseits die Bedingung für die Stärke der stets über das schon erreichte gesellschaftliche Niveau hinausgreifenden Tendenzen zur Veränderung der Umwelt, andererseits auch die Notwendigkeit zur Verdrängung solcher Impulse, die auf Grund der gesellschaftlichen Möglichkeiten nicht befriedigt werden können. Die Spannung zwischen den Bedürfnissen und den zu ihrer Befriedigung zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Mitteln wird noch verstärkt durch diejenige zwischen dem höheren Maß an Bedürfnisbefriedigung der herrschenden Klasse und dem geringeren der beherrschten.
Die seelische Instanz, welche die Bewältigung der inneren wie der äußeren Welt zu leisten hat, ist das Ich. Die Aktivität des Ichs geht in zwei Richtungen vor sich, in der Bewältigung der Außenwelt und in der der Innenwelt, d.h. der aus dem Es stammenden Triebe. Je umfangreicher und wirkungsvoller die Produktionsinstrumente sind, desto mehr wächst die Herrschaft über die Natur, und desto weniger sind die Menschen Sklaven der Natur. Diese wachsende Beherrschung der Natur führt aber niemals zur völligen Unabhängigkeit oder Freiheit von ihr.
Die Bewältigung sowohl im Sinne der Unterwerfung wie der Entfaltung der menschlichen Triebwelt ist ein Prozess, der mit dem der Bewältigung der Außenwelt aufs [I-156] Engste zusammenhängt. Das Ich des Menschen entwickelt sich erst allmählich in dem Maße, in dem seine aktive und planende Bewältigung der natürlichen und gesellschaftlichen Kräfte wächst. Solange es noch relativ schwach ist, ist es der Aufgabe der Unterdrückung und Abwehr von Triebimpulsen, die mit den gesellschaftlichen Notwendigkeiten unvereinbar sind, noch nicht gewachsen. Dies wird erst durch Herausbildung und Entwicklung des Über-Ichs und durch eine bestimmte seelische Beziehung zu den Autoritäten geleistet. Das Entscheidende am Verhältnis des Ichs zum Über-Ich wie des Individuums zu den Autoritäten ist ihr emotioneller Charakter. Der Mensch will sich sowohl vom Über-Ich als auch von der Autorität geliebt fühlen, fürchtet ihre Feindschaft und befriedigt seine Selbstliebe, wenn er seinem Über-Ich oder seinen Autoritäten, mit denen er sich identifiziert, wohlgefällt. Mit Hilfe dieser emotionellen Kräfte gelingt es ihm, die gesellschaftlich unzulässigen beziehungsweise gefährlichen Impulse und Wünsche zu unterdrücken. Diese mit Hilfe von Über-Ich und Autorität vorgenommene Triebabwehr ist sehr radikal. Der abzuwehrende Wunsch gelangt nicht mehr zum Bewusstsein, sondern wird von diesem und damit zugleich auch von der Motilität abgesperrt, er wird verdrängt. Die verdrängte Triebregung wird nicht vernichtet. Sie wird zwar vom Bewusstsein ausgeschlossen, bleibt aber im Unbewussten bestehen, und es bedarf des beständigen Aufwandes von psychischen Energien, um sie am Auftauchen im Bewusstsein zu verhindern. Die Neurosen dokumentieren eindringlich, welche aktive und häufig gefährliche Tätigkeit die verdrängten Triebregungen im Individuum entfalten können. Die Methode der Abwehr von Triebregungen durch ihre Verdrängung mit Hilfe des Über-Ichs beziehungsweise der Autoritäten lässt sich mit der Löschung eines Waldbrandes durch Entzündung eines Gegenbrandes vergleichen. Die nach Befriedigung drängenden Impulse werden durch stärkere Impulse, nämlich die emotionellen Beziehungen zur äußeren und verinnerlichten Autorität, bekämpft.
Wir müssen uns hier mit einem naheliegenden Einwand befassen: Brauchen wir überhaupt zum Verständnis der Abwehr von Triebregungen die Konzeption des Über-Ichs, beziehungsweise der Autorität? Ist nicht vielmehr das Motiv, das in allen Fällen ausreichend für die Triebabwehr ist, die Angst vor den Folgen der verbotenen Triebregung? Die Erfahrung zeigt, dass tatsächlich die Angst in vielen Fällen zur Triebabwehr völlig ausreicht. Wenn etwa ein Kind weiß, dass es geschlagen wird, wenn es Süßigkeiten nascht, so kann die Angst vor der Strafe völlig ausreichend sein, um die Unterdrückung des Wunsches zu ermöglichen. Das Gleiche gilt für viele Erwachsene, die allein durch die Angst vor Strafe von Handlungen, wie etwa Diebstahl oder Betrug, zurückgehalten werden. In allen Fällen, in denen diese Impulse durch Angst vor Strafe nicht zur Ausführung kommen, spielen sich der Konflikt und die Entscheidung im Bewusstsein ab. Der Impuls als solcher ist bewusst und durchaus nicht verdrängt, die Angst ist bewusst, und je nach der Stärke des Impulses, der Größe der Gefahr und dem Risiko des Erwischtwerdens, fällt es dem Menschen leichter oder schwerer, den Impuls abzuwehren. Ganz anders verhält es sich mit der Angst vor dem Über-Ich und den Autoritäten und der aus der Beziehung zu ihnen stammenden Kraft zur Abwehr eines Impulses. Gewiss ist neben dem Wunsch, von der Autorität beziehungsweise dem eigenen Über-Ich geliebt zu werden, auch hier die Angst ein [I-157] entscheidender Faktor. Sie ist aber von anderer Art als die „Realangst“, von der wir eben sprachen. Es ist nicht eine klar umrissene Angst vor einer bestimmten Folge, die das verbotene Handeln nach sich zieht, sondern eine irrationale, unbestimmte, emotionelle vor der Autoritätsperson beziehungsweise ihrem verinnerlichten Repräsentanten. Man fürchtet zum einen, seine Liebe, Achtung, Fürsorge zu verlieren, und andererseits seinen Zorn mit den sich daraus ergebenden unbestimmten, aber furchtbaren Konsequenzen zu erregen. Infolge der Irrationalität und Emotionalität dieser Angst vor der Autorität sind ihre Wirkungen unter Umständen viel größer als die der klar abgegrenzten Realangst; wo nur diese vorliegt, wird der Impuls selbst bewusst, aber unter Umständen aus Angst abgelehnt. Die spezifische Über-Ich- oder Autoritätsangst wirkt jedoch so stark, dass der Impuls selbst gar nicht bis ins Bewusstsein dringt, sondern gleichsam bevor er schon so weit kommt, verdrängt wird.
Machen wir uns diesen Unterschied an einem einfachen Beispiel klar. Denken wir an zwei junge Mädchen, von denen die eine puritanisch erzogen wurde; ihre Eltern, zu denen sie in einem liebevollen ehrfürchtigen Verhältnis steht, haben sie gelehrt, dass sexuelle Beziehungen, ja schon sexuelle Wünsche außerhalb der Ehe eine entsetzliche und unverzeihliche Sünde sind. Sie hat die Eltern mit diesen ihren moralischen Anschauungen gleichzeitig zu einer selbständigen Instanz in sich als Über-Ich gemacht. Denken wir daneben an ein ohne diese sexual-einschränkende moralische Anschauung aufgewachsenes modernes Großstadtmädchen, das außerehelichen Sexualverkehr in keiner Weise für unmoralisch oder sündig hält. Nehmen wir nun an, beide Mädchen begegneten einem Manne, der sexuelle Wünsche in ihnen auslöst. Im ersten Falle mag es sich ereignen, dass die sexuellen Wünsche als solche dem jungen Mädchen gar nicht bewusst werden, sie werden von ihm unmittelbar verdrängt und mögen sich, falls diese Verdrängung nicht ganz glückt, vielleicht in einem Symptom wie dem des Errötens äußern. Im zweiten Falle werden die Wünsche ganz bewusst sein, aber es könnte sich ereignen, dass unter bestimmten Bedingungen die Realisierung des Wunsches für das junge Mädchen gefährlich wäre, etwa den Verlust ihrer Stellung nach sich ziehen könnte. Wenn die Angst davor entsprechend groß ist, wird sie unter Umständen auf die Realisierung des Wunsches verzichten. Aber als solcher wird er ganz bewusst sein, und seine Abwehr erfolgt nicht als Verdrängung. Man wird mit Recht sagen können, dass in beiden Fällen der Triebabwehr die Angst ein ausschlaggebendes Motiv bildet, aber ihre Qualität und damit ihre Wirkung ist eben in beiden Fällen recht verschieden. Im ersteren Falle ist sie unlöslich mit der Angst vor dem Liebesverlust der Autoritäten vermischt, sie ist aber auch insofern irreal, als sie in gar keinem Verhältnis mehr zu dem steht, was dem Mädchen wirklich geschehen würde, sondern sie ist ebenso unbestimmt und phantastisch groß wie die Figuren der Autorität beziehungsweise des sie repräsentierenden Über-Ichs.
Es ist ohne weiteres klar, welche ungeheure soziale Bedeutung die Verdrängung von tabuisierten Impulsen mit Hilfe der emotionellen Bindungen an die Autorität beziehungsweise des Über-Ichs gegenüber der Abwehr durch Realangst hat. Die Abwehr durch Realangst bedeutet keine Garantie für absolute Wirksamkeit. Das Individuum mag sich die Gefahr geringer vorstellen, als sie ist, oder mag sogar bereit sein, das Risiko der Gefahr oder gar selbst die Strafe für die Befriedigung seines Wunsches [I-158] auf sich zu nehmen. Dies umso mehr, je weniger der Wunsch ein rein egoistischer ist, der verhältnismäßig leicht durch die zu erwartenden Nachteile für das Ich gehemmt wird, sondern je mehr er aus Leidenschaften stammt. Eine Garantie für die absolute und automatische Wirksamkeit der Triebabwehr bietet nur die auf der Verdrängung beruhende. Hier kommt der Wunsch gar nicht zum Bewusstsein. Man braucht sich deshalb auch nicht auf die Vernünftigkeit des Individuums zu verlassen. Gründlichkeit und Automatisierung zeichnen die Triebabwehr mit Hilfe der Verdrängung aus, und je gesellschaftlich wichtiger die Unterlassung der betreffenden Handlungen ist, desto weniger kann sich eine Gesellschaft auf die bewusste und reale Angst vor Strafe verlassen. Hierzu kommt noch, dass dadurch, dass der Impuls als solcher bei der Triebverdrängung gar nicht bewusst wird, seine Abwehr auch kein Ressentiment oder Hass gegen die verbietende Instanz hervorruft.
Diesem Vorteil der Triebverdrängung mit Hilfe von Autorität und Über-Ich stehen aber schwere Nachteile gegenüber, wenn diese auch mehr für das persönliche Glück des Individuums als für den Bestand der Gesellschaft ins Gewicht fallen. Ein Nachteil liegt in der Tatsache des zur Verdrängung nötigen ständigen Energieaufwandes. Freud hat einmal die verdrängte Triebregung einem unerwünschten Gast verglichen, den man aus dem Haus herausgeworfen hat, der aber immer wieder hineinkommen will und daran nur durch einen Diener verhindert werden kann, der ständig an der Tür postiert ist. Der Energieaufwand, der zur Aufrechterhaltung der Verdrängung benötigt wird, ist umso größer, je ausgedehnter und intensiver die Verdrängungen sind.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (ePUB)
- 9783959121408
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (Februar)
- Schlagworte
- Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie sozial-typischer Charakter Gesellschafts-Charakter Kulturentwicklung