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Seiten: (ca.) 139
Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 31.12.2015
ISBN: eBook 9783959121286
Format: ePUB
Der Sammelband "Liebe, Sexualität und Matriarchat" versammelt die wichtigsten Beiträge Erich Fromms zur Genderfrage. Tatsächlich ist Erich Fromm mit seinen Arbeiten zum Mutterrecht und mit seiner Kritik an der Vorherrschaft des Mannes ein wichtiger Vordenker des Feminismus und der Gleichberechtigung der Geschlechter.
Fromm interessiert nicht so sehr die Tatsache des anatomischen und biologischen Unterschieds der Geschlechter, auch nicht die überlebenswichtige Funktion der Sexualität, sondern vielmehr die Funktionalisierung der Genderfrage im Laufe der Menschheitsgeschichte. Die sexuelle Anziehungskraft des jeweils anderen Geschlechts hat dabei offensichtlich nur eine sehr begrenzte Bedeutung und konnte den Menschen nicht daran hindern, den Geschlechtsunterschied zur Ausübung von Herrschaft zu benutzen.
Den Sozialpsychologen Fromm interessiert dabei vor allem die Frage, wie sich die gesellschaftlich geprägte Genderfrage in der psychischen Strukturbildung (Charakter) widerspiegelt und wie sie die Liebesfähigkeit und die Funktion der Sexualität beeinflusst. Über all dies gibt dieser Sammelband umfassend Auskunft.
Aus dem Inhalt
- Bachofens Entdeckung des Mutterrechts
- Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie
- Die männliche Schöpfung
- Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht
- Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart
- Geschlecht und Charakter
- Mann und Frau
- Sexualität und Charakter. Psychoanalytische Bemerkungen zum Kinsey-Report
- Selbstsucht und Selbstliebe
- Die Faszination der Gewalt und die Liebe zum Leben
Erich Fromm
(1994a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Soweit nicht ursprünglich in deutscher Sprache verfasst, sind die Übersetzungen aus dem Amerikanischen jeweils bei den einzelnen Beiträgen vermerkt.
Erstveröffentlichung 1994 unter dem Titel Liebe, Sexualität und Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München, herausgegeben und eingeleitet von Rainer Funk. Die einzelnen Beiträge fanden 1999 weitgehend Aufnahme in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag). – Die Erstpublikation der Schriften dieses Bandes in englischer Sprache erfolgte 1997 unter dem Titel Love, Sexuality, and Matriarchy. About Gender bei Fromm International Publishing Corporation in New York.
Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1994 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Man wird weder die Psychologie der Frau verstehen noch die des Mannes, solange man nicht in Betracht zieht, dass seit etwa sechstausend Jahren Kriegszustand zwischen den Geschlechtern herrscht. Dieser Krieg ist ein Guerilla-Krieg. Vor sechstausend Jahren besiegte das Patriarchat die Frauen, und es wurde die Gesellschaft auf die Vorherrschaft des Mannes gegründet. Die Frauen wurden zu seinem Besitz und hatten für jedes Zugeständnis, das ihnen gemacht wurde, dankbar zu sein. Es gibt aber keine Vorherrschaft des einen Teils der Menschheit über den anderen, es gibt keine Vorherrschaft einer sozialen Klasse, einer Nation oder eines Geschlechts über das andere, ohne dass es unterschwellig zu Rebellion, Wut, Hass und Rachewünschen bei denen kommt, die unterdrückt und ausgebeutet werden, und zu Angst und Unsicherheit bei denen, die ausbeuten und unterdrücken.
In dieser Interview-Aussage Erich Fromms (1975i), am 16. Februar 1975 in der italienischen Zeitschrift L’Espresso veröffentlicht, sind die Grundgedanken Fromms zur Geschlechterfrage zusammengefasst. Nicht die Tatsache des Geschlechtsunterschieds schafft Probleme; vielmehr führt seine Verzweckung unweigerlich zu Schwierigkeiten bei beiden Geschlechtern.
Erich Fromm interessiert nicht in erster Linie die Tatsache des anatomischen und biologischen Unterschieds der Geschlechter, sondern seine Funktionalisierung im Laufe der Menschheitsgeschichte. Der Geschlechtsunterschied – das Anderssein des anderen Geschlechts – hat in Verbindung mit der Sexualität die Funktion, das Überleben des Menschen sicherzustellen. Die sexuelle Anziehungskraft des jeweils anderen Geschlechts hat dabei aber offensichtlich nur eine sehr begrenzte Bedeutung und konnte den Menschen nicht daran hindern, den Geschlechtsunterschied zur Ausübung von Herrschaft zu benützen. An der Geschlechterfrage interessiert deshalb in erster Linie, wie sich diese Funktionalisierung des Geschlechtsunterschieds seelisch auf das Identitätserleben des Einzelnen wie auf das Zusammenleben der Menschen und insbesondere der Geschlechter auswirkt.
Jede Lösung der Geschlechterfrage, die nur eine Verschiebung der Herrschaft vom Mann auf die Frau anstrebt, fördert den Krieg der Geschlechter. Darum hält Fromm (1975i) in dem bereits erwähnten Interview von 1975 auch nichts von einer Frauenrechtsbewegung, die in Wirklichkeit „das Prinzip der patriarchalischen Welt fortführt, nur dass die Frauen dann jene Macht haben, die bisher ausschließlich eine Domäne der Männer war“, weil die Frauen nicht „menschlich emanzipiert werden“. Der Krieg dauert an und
erzeugt unweigerlich auf beiden Seiten eine Menge Hass und Sadismus. Die Ausgebeuteten und die Ausbeuter sitzen im gleichen Boot, vergleichbar einem Gefangenen und seinem Wärter. Sie beide bedrohen sich gegenseitig und hassen sich gegenseitig. Sie beide haben Angst vor den Angriffen des anderen. Auch wenn die Männer das Gegenteil vorgeben, so haben sie doch Angst vor den Frauen.
Es gibt kaum eine psychologische Frage, die derart kontrovers geführt wird und komplex ist wie die Geschlechterfrage. Der Grund ist einfach: Weil wir noch immer in der Tradition des Patriarchats stehen, ist jeder bei der Geschlechterfrage Betroffener und Voreingenommener und partizipiert an Übertragungen und Projektionen, wie sie im „Krieg der Geschlechter“ gang und gäbe sind. Hier einen Zugang zur Klärung zu finden setzt voraus, dass wir uns unseres Partizipierens an den patriarchalischen Denkmustern bewusst werden und eine Vorstellung von Wahrnehmungs- und Denkmustern entwickeln, die matriarchalisch sind. Nur so lässt sich eine den Geschlechterunterschied integrierende Wirklichkeitswahrnehmung erahnen und einüben.
Jede sinnvolle Beschäftigung mit der Geschlechterfrage muss von der Funktionalisierung des Geschlechterunterschieds seit der Etablierung des Patriarchats ausgehen. Fromm selbst kam zu dieser Erkenntnis schon Ende der Zwanziger Jahre aufgrund der Lektüre der Schriften Johann Jakob Bachofens und auf Grund von Gesprächen im Hause des Baden-Badener Arztes Georg Groddeck. Die Bedeutung, die Bachofens Werk Das Mutterrecht (1926) für die Entwicklung des Frommschen Denkens hatte, kann nicht überschätzt werden. Einen literarischen Niederschlag fand die Rezeption Bachofens bei Fromm bereits Anfang der Dreißiger Jahre. Die Wertschätzung Bachofens zieht sich durch das gesamte Werk Fromms. Noch im Alter zählte Fromm Bachofen zu den wichtigsten Quellen seines Denkens und wurde nicht müde, die Lektüre von Das Mutterrecht zu empfehlen.
Die Beiträge des ersten Teils in dieser Sammlung sind ein beredtes Zeugnis von Fromms Rezeption der Bachofenschen Erkenntnisse über mutter- und vaterrechtliche Gesellschaftsstrukturen. In ihnen zeigt Fromm nicht nur, mit welcher Begeisterung er Bachofen rezipiert hat; Fromm entpuppt sich auch als wichtiger Vordenker der heute so aktuell gewordenen Geschlechterfrage.
Matriarchalische und patriarchalische Gesellschaftsstrukturen bestimmen wesentlich die Geschlechterfrage. Doch sie sind nicht die einzigen Determinanten. Im zweiten Teil des vorliegenden Bandes untersucht Fromm, ob es einen Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Geschlecht und dem Charakter eines Menschen gibt. Dabei versucht der Aufsatz Geschlecht und Charakter (1943b) aufzuzeigen, dass biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau gewisse charakterologische Unterschiede zur Folge haben. Die Ausführungen konzentrieren sich auf die unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau beim Geschlechtsverkehr und den daraus ableitbaren charakterologischen Konsequenzen. Freilich sind diese mit solchen vermischt, die unmittelbar durch soziale Faktoren entstehen. Letztere sind „sehr viel stärker in ihrer Wirkung und können biologisch verwurzelte Unterschiede entweder verstärken, auslöschen oder umkehren“. – 1949 hat Fromm diesen Aufsatz um wichtige Passagen erweitert (vgl. R. H. Anshen, 1949, S. 375-392), die in die vorliegende deutsche Wiedergabe erstmals übernommen wurden.
Der zweite Beitrag zum Thema „Geschlechtsunterschiede und Charakter“ trägt den Titel Mann und Frau (1951b) und entstand aus einem Vortrag, den Fromm 1949 zur Geschlechterfrage hielt. In der vorliegenden Wiedergabe sind die wichtigsten Ausführungen Fromms bei der Diskussion seines Vortrags mit aufgenommen. Der Vortrag, 1951 veröffentlicht, steht in einer theoretischen Spannung zum vorgenannten Beitrag Geschlecht und Charakter (1943b), insofern Fromm hier nicht mehr den Versuch macht, charakterologische Geschlechtsunterschiede aus geschlechtsspezifischen biologischen Gegebenheiten abzuleiten, sondern lapidar feststellt: Es „trifft nicht zu“, dass „Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen Mann und Frau ihrem Wesen nach durch den Geschlechtsunterschied bedingt sind“. In erster Linie handelt es sich bei der Beziehung zwischen Mann und Frau um eine Beziehung zwischen Menschen. Und diese wird durch den jeweils vorherrschenden Gesellschafts-Charakter definiert. Der heute vorherrschende Gesellschafts-Charakter zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sich die Menschen nicht mehr an ihrem Eigensein und an geschlechtsspezifischen Eigentümlichkeiten orientieren, sondern am Markt, am Erfolg, an der Erwartung der anderen, an der Rolle, die ihnen zugesprochen wird. Für den Marketing-Charakter gilt: „Die Beziehungen zwischen Mann und Frau haben nur noch wenig Spezifisches.“
Fromm sieht die Geschlechterfrage sowohl durch die matriarchalischen und patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen bestimmt als auch durch die jeweils dominante Orientierung des Gesellschafts-Charakters. Dies hat weitreichende Folgen für die Rolle und das Verständnis der Sexualität im Kontext der Geschlechterfrage. Der dritte Teil dieses Bandes enthält deshalb den Beitrag Sexualität und Charakter (1948b). Er entstand 1948 aus Anlass der Veröffentlichung des Kinsey-Reports. Auf diesen geht Fromm aber nur beiläufig ein. In Abgrenzung von Sigmund Freud, der den Charakter eines Mannes und einer Frau vom Schicksal her begreift, den der Sexualtrieb bei Jungen und Mädchen erfährt, erklärt Fromm den Zusammenhang genau umgekehrt: „Meiner Ansicht nach ist sexuelles Verhalten nicht die Ursache, sondern die Auswirkung der Charakterstruktur eines Menschen.“ Nicht das „Bett“ entscheidet über das Wohl und Wehe der Beziehung, sondern die Art des Beziehungsmusters, also die Charakterorientierung, entscheidet über das sexuelle Verhalten. Geschlechtsspezifische Probleme resultieren deshalb nicht aus dem Geschlechtsunterschied, sondern sind in erster Linie der Ausdruck der besonderen Art, in der zwei Menschen aufeinander bezogen sind.
Wenn die Geschlechterfrage und die sich am Geschlechtsunterschied festmachenden Probleme der Geschlechterbeziehung nicht in erster Linie ein Ausdruck des Geschlechtsunterschieds sind, vielmehr der Geschlechtsunterschied verzweckt wird, um Leidenschaften (Charakterzüge) wie Herrschaftsausübung und Unterwürfigkeit, Liebe und Hass ausleben zu können, dann ist die Frage des Verhältnisses der Geschlechter zueinander vor allem die Frage, welche Charakterorientierung die Beziehungen der Menschen bestimmt: Liebe oder Hass, die Liebe zum Leben oder die Faszination der Gewalt. Der vierte Teil des vorliegenden Bandes handelt darum von diesen Grundorientierungen, die auch über die Geschlechterfrage entscheiden. Beide Beiträge werden dem deutschen Leser erstmals zugänglich gemacht.
Der Artikel Selbstsucht und Selbstliebe (1939b) wurde im Jahr 1939 in der Zeitschrift Psychiatry veröffentlicht und blieb, abgesehen vom ersten Teil, den Fromm 1947 in sein Buch Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 78-91) übernahm, vergessen. Er gehört zu den wichtigsten Aufsätzen Fromms. In ihm entwickelt er – lange vor den Vertretern der Selbstpsychologie und der Narzissmustheorie – eine Theorie des Selbst, in der er im Unterschied zu Sigmund Freud darlegt, dass sich die Beziehung des Menschen zu sich selbst und seine Beziehung zu anderen immer entsprechen. Statt von einer Konkurrenz von Selbstliebe und Nächstenliebe geht er von einer Korrespondenz und Korrelation von Selbstbezug und Objektbezug aus. Dabei unterstreicht er die Selbstliebe als positiven Bezug zu sich selbst. Erst wenn diese vereitelt wird, kommt es zu Selbstsucht und Narzissmus als Kompensationsformen für mangelnde Selbstliebe. Die gleiche Logik von Selbst- und Objektbezug zeigt er auch für den Hass auf und spricht von einem reaktiven und einem charakterbedingten Hass. Überraschend ist hierbei, mit welcher Klarheit Fromm 1939 die psychologischen Grundlagen des Nationalsozialismus in Deutschland zur Darstellung bringen konnte. (Die Zwischenüberschriften wurden aus Gliederungsgründen von mir hinzugefügt.)
Liebe und Hass sind Grundorientierungen des Charakters und prägen das Verhältnis der Geschlechter. Im Laufe des Zwanzigsten Jahrhunderts haben Liebe und Hass eine sehr viel umfassendere und zugleich präzisere Bedeutung bekommen. Es geht nicht mehr einfach nur um Liebe, sondern um die Liebe zum Lebendigen, zu dem, was wächst und sich entfaltet: um die Biophilie. Und es geht nicht einfach mehr nur um Hass, sondern um die Lust an der Zerstörung um der Zerstörung willen, um das Angezogensein von allem Leblosen, um die Faszination der Gewalt, um die Liebe zum Toten: um die Nekrophilie. Davon handelt der letzte Beitrag, den Fromm 1967 in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlichte. Nicht die Geschlechterfrage entscheidet über die Zukunft des Menschen, sondern ob die Liebe zum Leben oder die Liebe zum Toten unsere Beziehungen, und deshalb auch die Beziehungen der Geschlechter, bestimmt. „Eine solche, das Leben liebende Einstellung ist freilich nur schwer in Erfahrung zu bringen in einer Kultur, für die Ergebnisse wichtiger sind als der Prozess, für die die Dinge wichtiger sind als das Leben, die die Mittel zu Zwecken macht und die uns anhält, unseren Verstand zu gebrauchen, wenn unser Herz gefragt ist. Einen anderen Menschen zu lieben und das Leben zu lieben lässt sich nicht durch Akkordarbeit erreichen. Beim Sex funktioniert das; bei der Liebe jedoch nicht. Ohne eine Lust an der Stille gibt es keine Liebe.“ (1967e, GA XI, S. 347.)
(Bachofen’s Discovery of the Mother Right)
(1994b [1955])[1]
Auch wenn Johann Jakob Bachofen (1815-1887) heute nur vergleichsweise wenigen Fachleuten bekannt ist, so ist er doch beileibe kein in Vergessenheit geratener Autor.[2] Er war nie sehr bekannt oder gar berühmt, auch damals nicht, als seine Bücher erschienen, oder kurz nach seinem Tod. In den letzten Jahren seines Lebens fand sein Werk bei einigen Anthropologen, etwa bei Adolf Bastian oder bei Lewis H. Morgan, Bewunderung und Anerkennung. Auch Friedrich Engels wurde – wie auch Karl Marx – stark von Bachofens Werk beeinflusst. Es vergingen viele Jahre, in denen Bachofen fast vollständig ignoriert wurde, bis in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine kleine Gruppe von deutschen Intellektuellen, die von der Romantik beseelt waren, damit begann, Bachofen zu lesen und seinen Namen – wenn auch nur in kleinen Zirkeln – bekannt zu machen. Erst in letzter Zeit lässt sich erneut ein wachsendes Interesse an Bachofen beobachten, und zwar nicht nur in Deutschland und in der Schweiz, sondern auch in der Englisch und Spanisch sprechenden Welt.
Das eigenartige Schicksal, das Bachofens Werk erfuhr, fällt noch mehr auf, wenn wir es mit dem Werk eines anderen Genies vergleichen, mit Sigmund Freud, der eine Generation später an Fragestellungen arbeitete, die mit denen Bachofens innerlich verwandt sind. Wie unterschiedlich ist doch das Schicksal, das ihre Werke erfuhren. Freud wird ein weltbekannter Denker, seine Ideen und Begriffe gehen in die Alltagssprache über, seine Bücher werden in alle Sprachen übersetzt, seine Ideen an zahlreichen Einrichtungen gelehrt. Auf der anderen Seite Bachofen: Er bleibt einer größeren Öffentlichkeit unbekannt, er wird nur von wenigen bewundert, von den meisten Wissenschaftlern aber lächerlich gemacht. Der Kontrast sticht noch mehr ins Auge, wenn man bedenkt, dass Bachofen manchmal Freuds Ideen vorwegnahm und manchmal auf die gleichen Fragen viel tiefgründigere Antworten gab.
Im allgemeinen wird Bachofens Entdeckung des Mutterrechts als seine bedeutendste angesehen. Auf Grund seiner Erforschung der römischen, griechischen und ägyptischen Mythen und Symbole kam er zu der Erkenntnis, dass die patriarchale Struktur der Gesellschaft, wie sie für die gesamte Geschichte der zivilisierten Welt typisch ist, relativ neuen Datums ist. Ihr sei eine Kultur vorausgegangen, in der die Mutter das Haupt der Familie war, die Führung der Gesellschaft wahrnahm und die Große [XI-178] Göttin war. Bachofen nahm außerdem an, dass dieser matriarchalischen Phase am Beginn der Geschichte noch die rohere, weniger zivilisierte Gesellschaftsform des Hetärismus vorausgegangen sei. Diese habe sich völlig auf die natürliche Produktivität der Frau gegründet, hatte weder Heirat noch Gesetz, Prinzipien oder Ordnung gekannt und sei eine Lebensform gewesen, die sich mit dem wilden Wachstum von Sumpfpflanzen vergleichen lässt. Die matriarchalische Phase liegt also zwischen der niedrigsten und der bisher höchsten Phase menschlicher Entwicklung, dem Patriarchat. In diesem regiert der Vater als Repräsentant der Prinzipien von Recht, Vernunft, Gewissen und hierarchischer gesellschaftlicher Organisation.
Bachofens Theorie stellt bezüglich bestimmter prähistorischer Phänomene mehr als nur eine anthropologische Hypothese dar. Sie ist eine umfassende und tiefgründige Geschichtsphilosophie, in vielen Aspekten der von Hegel und insbesondere von Marx ähnlich. Bei Marx beginnt die Geschichte mit einem Urzustand der Gleichheit, in dem es aber gleichzeitig nur ein geringes Bewusstsein des Menschen seiner selbst und auch nur unbedeutende Produktivkräfte gibt. Der Mensch entwickelt sich mit der Evolution seiner Arbeit; er entwickelt seine Vernunft, seine Kunstfertigkeiten, seine Individualität. Am Ende wird er zur ursprünglichen Harmonie zurückkehren, allerdings auf einem neuen Niveau von Rationalität und Technik. Bei Bachofen nimmt die Evolution einen ähnlichen Lauf, ist hierbei aber konzentriert auf die beherrschende Rolle der Mutter- beziehungsweise der Vaterfigur. Die Geschichte entwickelt sich von der vor-rationalen mütterlichen Welt zur rationalen patriarchalischen Welt, aber gleichzeitig auch von Freiheit und Gleichheit zu Hierarchie und Ungleichheit. Am Ende wird der Mensch auf einer neuen Ebene, auf der die matriarchalischen und patriarchalischen Prinzipien aufgehoben sind, zu Liebe und Gleichheit zurückkehren.
Die Bedeutung Bachofens erschöpft sich freilich nicht in diesem evolutionären Geschichtsschema. Mit der Erforschung des Wesens der mütterlichen und väterlichen Liebe hat Bachofen den Weg zu den zentralen Fragen der Psychologie, der individuellen und gesellschaftlichen psychischen Entwicklung, geebnet. Er ist kein „Vorgänger“ der modernen Psychologie, sondern vielmehr der, der einen Weg gefunden und uns Einsichten ermöglicht hat, die heute, nach über hundert Jahren Entwicklung der „Wissenschaft vom Menschen“, noch fruchtbarer oder – paradoxerweise – moderner sind als zu seinen Lebzeiten. Die folgenden Bemerkungen sollen dies illustrieren.
Vermutlich ist Bachofens Erforschung des Wesens der mütterlichen und der väterlichen Liebe und der sich daraus ergebenden Unterschiede der Bindung an die Mutter beziehungsweise den Vater seine bedeutendste Leistung. Ihn interessieren nicht die konkrete Mutter und der konkrete Vater einer bestimmten Person, sondern der „Idealtypus“ (im Max Weberschen Sinne) von Mutter und Vater oder – um mit Carl Gustav Jung zu sprechen – die mütterlichen und väterlichen Archetypen. Er untersucht Funktion und Rolle, die das mütterliche und das väterliche Prinzip bei der menschlichen Evolution spielen.
Was ist das Wesen des Mütterlichen?
In der Pflege der Leibesfrucht lernt das Weib früher als der Mann seine liebende Sorge über die Grenzen des eigenen Ich auf andere Wesen erstrecken und alle Empfindungsgabe, die sein Geist besitzt, auf die [XI-179] Erhaltung und Verschönerung des fremden Daseins richten. Von ihm geht jetzt jede Erhebung der Gesittung aus, von ihm jede Wohltat im Leben, jede Hingebung, jede Pflege und jede Totenklage. (J. J. Bachofen, 1954, S. 88°f.)
Liebe, Fürsorge, Verantwortungsbewusstsein für andere: dies sind Schöpfungen der Mutter. Mütterliche Liebe ist der Samen, aus dem jede Liebe und jeder Altruismus erwachsen. Aber nicht nur dies. Mütterliche Liebe ist die Grundlage, auf der sich universaler Humanismus entwickelt. Die Mutter liebt ihre Kinder, weil sie ihre Kinder sind, und nicht deshalb, weil sie diese oder jene Bedingung erfüllen oder einer Erwartung entsprechen. Sie liebt ihre Kinder unterschiedslos, so dass ihre Kinder sich untereinander deshalb als gleich erleben, weil ihre zentrale Bindung die zu der Mutter ist.
Aus dem gebärenden Muttertum stammt die allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen, deren Bewusstsein und Anerkennung mit der Ausbildung der Paternität untergeht. (J. J. Bachofen, 1954, S. 89.)
Schließlich folgt daraus, dass die grundlegenden Prinzipien in einer mutter-zentrierten Kultur Freiheit und Gleichheit, Glück und die bedingungslose Bejahung des Lebens sind.
Im Unterschied zum mütterlichen ist das väterliche Prinzip durch Gesetz, Ordnung, Vernunft, Hierarchie bestimmt. Der Vater hat einen Lieblingssohn, den nämlich, der ihm am meisten ähnelt und der ihm geeignet erscheint, als Erbe und Nachfolger seinen Besitz und die weltlichen Aufgaben zu übernehmen. Bei den vater-zentrierten Söhnen hat die Gleichheit der Hierarchie Platz gemacht und die Harmonie dem Hader. Es ist Bachofens Verdienst, den Fortschritt in der Geschichte bei der Entwicklung vom matriarchalischen zum patriarchalischen Prinzip aufgezeigt und sowohl die positiven wie die negativen Aspekte des matriarchalischen beziehungsweise des patriarchalischen Prinzips erkannt zu haben. Auch wenn er das Patriarchat als die höhere Stufe der Evolution angesehen hat, so hat ihn dies keineswegs dazu verleitet, die besonderen Vorzüge der matriarchalischen Struktur zu ignorieren oder die negativen Aspekte des Patriarchats zu übersehen.
Positive Züge des Matriarchats sind das Gespür für Gleichheit, Universalität und bedingungslose Bejahung des Lebens. Negative Aspekte sind seine Bindung an Blut und Boden, sein Mangel an Rationalität und Fortschrittlichkeit. Positiv am Patriarchat ist seine grundsätzliche Orientierung an Vernunft, Recht, Wissenschaft, Zivilisation, spiritueller Entwicklung. Negativ an ihm sind Hierarchie, Unterdrückung, Ungleichheit, Unmenschlichkeit. Die positiven Aspekte des Matriarchats und die negativen des Patriarchats lassen sich kaum eindrücklicher zur Anschauung bringen als in Äschylus’ Antigone. Antigone vertritt Menschlichkeit und Liebe; Kreon, der totalitäre Führer, vertritt die Vergötzung des Staates und den Gehorsam.[3]
Über die Entdeckung des Wesens der mütterlichen und der väterlichen Liebe und deren Rollen als Prinzipien in der Geschichte hinaus ist Bachofen der eigentliche Vater der Deutung von Symbolen und Mythen – wie Freud der Vater der Traumdeutung ist. Freilich war Bachofens Interesse an Mythen Teil eines Interesses, das er mit anderen Romantikern wie Karl Otfried Müller, Joseph von Görres oder Georg Friedrich Creuzer teilte. Doch Bachofen zeigte eine wahrhaft geniale Originalität bezüglich der Methode, mit der er den verborgenen, unbewussten Gehalt hinter den Mythen zur Entdeckung brachte. Mit besonderer Aufmerksamkeit für das Detail des Mythos [XI-180] gelang es Bachofen, durch die Oberfläche hindurch zu den tiefsten unbewussten Wurzeln und Motivationen des Mythos zu gelangen.
Bachofen hatte eine Begabung, die sich kaum bei einem Forscher beobachten lässt: die Bedeutung von Symbolen intuitiv zu erkennen und dann aufzuzeigen. Wer den Reichtum und die Feinheit der Symbolik verstehen lernen will, kann kaum einen besseren Lehrer finden als ihn in seiner Deutung der Mythen. So lassen zum Beispiel seine Ausführungen über Das Ei als Symbol (J. J. Bachofen, 1954, S. 21-42) nicht nur den Tiefgang und die Sensibilität spüren, die für die Deutung von Symbolen Voraussetzung sind, sondern zeigen auch die für ihn typische unendliche Geduld und Liebe für den Erkenntnisgegenstand, wenn er Schritt für Schritt die Bedeutung eines Symbols oder eines Mythos enträtselt. Er war sich des Reichtums und der Tiefe des Mythos bewusst, der nicht nur eine einzige, „richtige“ Deutung zulässt, sondern verschiedene, je nach der Tiefe des Verstehens, die man erreicht hat. Der Mythos, die Auslegung des Symbols, ist das „Produkt einer Kulturperiode, in welcher das Völkerleben noch nicht aus der Harmonie der Natur gewichen ist“ (J. J. Bachofen, 1954, S. 85). Der Mythos folgt bestimmten Gesetzen. Hat man diese einmal erkannt, dann hat sein Verstehen dieselbe objektive und rationale Gültigkeit wie das jedes anderen historischen Phänomens.
Welchen Ansatz und welche Methode vertritt Bachofen bei der Deutung von Mythen und Symbolen? An erster Stelle zu nennen und vielleicht besonders bedeutsam ist die Tatsache, dass er sich nicht von den herrschenden Meinungen beeindrucken lässt. Er ist sich deutlich bewusst, dass seine Theorien Widerspruch erregen. Der Widerspruch, sagt Bachofen in Die Sage von Tanaquil,
ist in der Tat kaum schroffer zu denken und sowohl in den Resultaten als in der Methode der Forschung ein durchgreifender. Die Resultate führen uns zu historischen Tatsachen zurück, die ein zum Dogma verhärtetes Vorurteil als abgetan betrachten, und die doch dem Zusammenhang des großen Weltganges nicht fehlen können. (J. J. Bachofen, 1954, S. 293.)
Bachofens Forschungsansatz hängt weitgehend von einer Voraussetzung ab:
Sie verlangt die Fähigkeit des Forschers, den Ideen seiner Zeit, den Anschauungen, mit welchen diese seinen Geist erfüllen, gänzlich zu entsagen und sich in den Mittelpunkt einer durchaus verschiedenen Gedankenwelt zu versetzen. Ohne solche Selbstentäußerung ist auf dem Gebiete der Altertumsforschung ein wahrer Erfolg undenkbar. Wer die Anschauungen späterer Geschlechter zu seinem Ausgangspunkte wählt, wird durch sie von dem Verständnis früherer immer mehr abgelenkt. Die Kluft erweitert sich, die Widersprüche wachsen; wenn dann alle Mittel der Erklärung erschöpft scheinen, bietet sich Verdächtigung und Anzweifelung, am Ende entschiedene Negation als das sicherste Mittel dar, den gordischen Knoten zu lösen. Darin liegt der Grund, warum alle Forschung, alle Kritik unserer Tage so wenig große und dauernde Resultate zu schaffen vermag. Die wahre Kritik ruht nur in der Sache selbst, sie kennt keinen andern Maßstab als das objektive Gesetz, kein anderes Ziel als das Verständnis des Fremdartigen, keine andere Probe als die Zahl der durch ihre Grundanschauung erklärten Phänomene. Wo es der Verdrehungen, Anzweifelungen, Negationen bedarf, da wird die Fälschung stets auf Seite des Forschers, nicht auf jener der Quellen und [XI-181] Überlieferungen, auf welche Unverstand, Leichtsinn, eitle Selbstvergötterung so gerne die eigene Schuld abwälzen, zu suchen sein. Jedem ernsthaften Forscher muss der Gedanke stets gegenwärtig bleiben, dass die Welt, mit der er sich beschäftigt, von derjenigen, in deren Geist er lebt und webt, unendlich verschieden, seine Kenntnis bei der größten Ausdehnung immer beschränkt, seine eigene Lebenserfahrung zudem meist unreif, immer auf die Beobachtung einer unmerklichen Zeitspanne gegründet, das Material aber, das ihm zu Gebote steht, ein Haufe einzelner Trümmer und Fragmente ist, die gar oft, von der einen Seite betrachtet, unecht erscheinen, später dagegen, in die richtige Verbindung gebracht, das frühere voreilige Urteil zuschanden machen. (J. J. Bachofen, 1954, S. 93.)
Im vorstehenden Zitat bringt Bachofen nicht nur höchst treffend und sehr schön das Problem von Objektivität und innerer Freiheit bei der historischen Forschung zum Ausdruck; er gibt zugleich ein zutreffendes Bild von seiner eigenen Herangehensweise. Beim Lesen seines Werks ist man von seiner Objektivität beeindruckt – und dies umso mehr, je mehr man liest. Genauso wenig wie auf seinen großen Landsmann Carl Jacob Burckhardt macht auch auf ihn der Lärm der damals Mächtigen und Erfolgreichen Eindruck. Nicht einmal seine eigenen Vorlieben und Wertsetzungen verleiten ihn dazu, das Bild von der Vergangenheit zu entstellen. Bachofen nannte seine Methode „eine naturforschende Methode“, der es um die „rein objektive Beobachtung“ geht (J. J. Bachofen, 1954, S. 295°f.). Erst seine Aufzählung der verschiedenen Aspekte seiner Methode gibt einen Gesamteindruck von den außerordentlichen Fähigkeiten Bachofens als Beobachter und Wissenschaftler.
Bachofens Mutterrecht wurde etwa zeitgleich mit Darwins Hauptwerk Von der Entstehung der Arten (1858) veröffentlicht. Trotz der zahlreichen offensichtlichen Unterschiede zwischen Darwins und Bachofens Werk kann man sagen, dass Bachofen das evolutionäre Prinzip auf die Entwicklung des Menschen und der Geschichte anwandte. Auch er setzt den Beginn der menschlichen Evolution auf einer sehr niedrigen, unseren Stolz verletzenden Stufe an.
Mag das Gemälde, das sich so vor unsern Augen entrollt, auch gar unerquicklich sein und dem Stolz auf den Adel unserer Abkunft wenig zusagen, so wird doch der Anblick allmählicher stufenweiser Überwindung des Tierischen unserer Natur die Zuversicht fest begründen, dass es dem Menschengeschlechte möglich ist, seinen Weg von unten nach oben, von der Nacht des Stoffes zum Lichte eines himmlisch-geistigen Prinzips durch alle Hebungen und Senkungen seiner Geschicke hindurch siegreich zu Ende zu führen. (J. J. Bachofen, 1954, S. 223.)
Wer möchte nicht gerne (...) unserm Geschlecht die schmerzliche Erinnerung einer so unwürdigen Kindheit ersparen? Aber das Zeugnis der Geschichte verbietet, den Einflüsterungen des Stolzes und der Eigenliebe Gehör zu geben und den äußerst langsamen Fortschritt der Menschheit (...) in Zweifel zu ziehen. (J. J. Bachofen, 1954, S. 108.)
Bei dieser knappen Beschreibung der Methode Bachofens möchte ich wenigstens noch kurz auf sein dialektisches Denken eingehen. Wie für Hegel sind auch für Bachofen Konflikt und Widerspruch die Geburtshelfer des Fortschritts. Jedes geschichtliche Phänomen wird als Reaktion auf einen vorausgehenden gegensätzlichen [XI-182] Zustand verstanden. „Es ist kein Paradoxon, sondern eine der größten Wahrheiten, dass die Entwicklung unseres Geschlechts nur im Kampfe der Gegensätze sich vollzieht“ (J. J. Bachofen, 1954, S. 274). Ausgestattet mit diesem Verständnis der dialektischen Natur des historischen Prozesses, war es Bachofen möglich zu erkennen, dass eine ganz gegensätzliche Einstellung die Folge der Überwindung eines vorausgehenden gegensätzlichen Zustands ist und dass man, wenn man nur tief genug gräbt, im neuen Extrem noch immer Überreste des vorausgehenden Gegensatzes findet. (Vgl. auch Freuds „Wiederkehr des Verdrängten“ beim Begriff der Reaktionsbildung.)
Es verwundert nicht, dass ein Mensch mit einem wahrhaft wissenschaftlichen Geist, wie ihn Bachofen besaß, sich von der quantifizierenden Methode der Sozialwissenschaften nicht beeindrucken ließ. Die gründliche und erschöpfende Erforschung eines einzigen Phänomens ist wertvoller als der Aufweis vieler Parallelen, von denen keine – für sich genommen – wirklich überzeugend ist. Für Bachofen addieren sich hundert halbe Beweise niemals zu der Beweiskraft, die eine einzige gründliche Analyse erbringt.
Bachofens Untersuchungsmethode zeichnet sich durch noch eine andere Errungenschaft aus. Er zeigte, dass es kein Verstehen der Gesellschaftsstruktur, des Rechts, der Religion, der Familienkonstellation und der Charakterstruktur für sich allein und unabhängig voneinander gibt – eine Einsicht, die erst in den letzten Jahren an Boden gewonnen hat. Bachofen hatte sie bereits ganz und gar begriffen und wandte sie an. Deshalb ist Bachofen nicht einfach nur ein Anthropologe, Archäologe, Philosoph, Psychologe, Soziologe, Historiker, sondern ein Erforscher der „Wissenschaft vom Menschen“.
Ich habe bereits eingangs auf die unterschiedlichen Schicksale hingewiesen, die Bachofens und Freuds Werk jeweils erfahren haben. Tatsächlich gibt es noch andere wichtige Unterschiede bezüglich des Werks und der Persönlichkeit dieser beiden Menschen, die jedoch gleichzeitig hilfreich sind, die auffälligen Übereinstimmungen zu unterstreichen.
Bachofens und Freuds Werk kreisen um das gleiche Problem: Beide verstehen die Entwicklung des Menschen als Entwicklung seiner Beziehung zu Mutter und Vater. Für beide beginnt die menschliche Entwicklung mit der Bindung an die Mutter, die dann aufgelöst und durch die Beziehung zum Vater als der zentralen affektiven Figur ersetzt werden muss. Der Unterschied freilich zeigt sich im Hinblick auf die Bedeutung dieser Bindung. Für Freud ist sie in erster Linie eine sexuelle Bindung, womit Freud die Tatsache verdunkelte, die Bachofen ans Licht gebracht hatte: dass nämlich die Beziehung zur Mutter die erste und die stärkste emotionale Beziehung des kleinen Kindes ist.
Das stärkste Verlangen im Kind – ein Verlangen, das den Menschen niemals verlässt, bis er zur Mutter Erde zurückkehrt – ist sein Verlangen nach der Liebe der Mutter. Mutter bedeutet für das kleine Kind Leben, Wärme, Nahrung, Glück, Sicherheit. Mutter symbolisiert bedingungslose Liebe, die Erfahrung, ich werde geliebt, und zwar nicht, weil ich gehorsam, gut und nützlich bin, sondern weil ich Mutters Kind bin, ihre Liebe und ihren Schutz brauche. Freud rationalisierte sozusagen dieses stärkste aller affektiven Verlangen und machte es – vermutlich aus Gründen, die in seinem eigenen [XI-183] Charakter wurzelten – zu einer sexuellen Bindung. Dies sah er in der Tatsache begründet, dass der kleine Junge bereits einen aktiven sexuellen Trieb hat und dass die Mutter die einzig wirklich vertraute Frau ist, die seine sexuellen Wünsche, während sie physisch für ihn sorgt, auch noch stimuliert.
Freuds seltsame Verleugnung der emotionalen Bedeutung der Mutter zeigt sich in seiner Äußerung in Das Unbehagen in der Kultur (S. Freud, 1930a, S. 430): „Ein ähnlich starkes Bedürfnis aus der Kindheit wie das nach dem Vaterschutz wüsste ich nicht anzugeben.“ Im Vorwort zur zweiten Auflage von der Traumdeutung (S. Freud, 1900a, S. 10) kennzeichnet Freud, auf den Tod seines eigenen Vaters Bezug nehmend, den Tod des Vaters als „das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes“. Es lässt sich deutlich sehen, wie in Freuds eigenem Erleben die Mutter aus ihrer zentralen Stellung entfernt und zugunsten des Vaters entthront wurde. Die Göttin wird vertrieben und zu einer Prostituierten verwandelt.
Bachofen lehrte mit seiner Deutung, wie recht Freud mit der Annahme hatte, dass die Unfähigkeit, die Mutterbindung zu überwinden (wenn auch nicht jedes Verlangen nach ihr), der Kern jeder Neurose sei; und er zeigte, wie unrecht Freud hatte, die Rolle der Mutter auf eine sexuelle zu reduzieren. Bachofens grundlegende Entdeckung war es, dass die früheste und die tiefste Bindung eines Menschen die Bindung an die Mutter ist und dass jeder menschliche Reifungsprozess, sei er phylo- oder ontogenetisch, von des Menschen Fähigkeit abhängt, diese Fixierung zu überwinden und eine Phase zu durchleben, in der die Beziehung zum Vater von zentraler Bedeutung ist. Auf einer noch höheren Entwicklungsebene wird schließlich die Bindung zur Mutter erneuert, allerdings nicht als Fixierung an die eigene, leibliche Mutter, sondern als Rückkehr zu den Prinzipien der Liebe und Gleichheit auf einer höheren spirituellen Ebene.
Während Freud von seinem extrem patriarchalischen Standpunkt aus in der Frau einen kastrierten Mann sah (eine typische Kompensation für eine ungelöste Angst vor der Abhängigkeit von Frauen), sah Bachofen in der Frau – als Mutter – die Repräsentantin einer ursprünglichen Kraft, der Natur, der Realität und gleichzeitig der Liebe und Bejahung des Lebens. Aus diesem Grund, und nicht auf Grund der sexuellen Verlockung, gibt es eine Bindung, die nur mit Mühe überwunden werden kann. Auf der anderen Seite macht Bachofen mit dem Aufweis der positiven Funktion des Vaters klar, dass die Wendung von der Mutter zum Vater nicht von der Kastrationsdrohung herrührt, sondern im Bedürfnis des Jungen nach Führung und Hilfe wurzelt, die sich im väterlichen Prinzip ausdrücken und im Vater verkörpert sind.
Bachofen vertiefte sich in das Mysterium der symbolischen Sprache, wie nach ihm Freud. Freud erforschte vor allem den Traum, Bachofen den Mythos. Beide ließen sich nicht von den gängigen Meinungen über Mythen und Träume beeindrucken; beiden ging es um den versteckten, latenten, unbewussten Bedeutungsgehalt von Träumen und Mythen. Und doch gibt es auch hier erhebliche Unterschiede zwischen beiden, nämlich in der Tiefgründigkeit der Deutung. Bachofen sah im Symbol den Ausdruck ganz grundlegender, in den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst wurzelnder Strebungen des Menschen. Freud hingegen reduzierte die Bedeutung viel zu oft auf Sexuelles oder auf oft sehr oberflächliche Verbindungen zur Sexualität, die durch die freie Assoziation aufkamen. [XI-184]
Eine weitere Gemeinsamkeit von Bachofen und Freud ist ihr Interesse an der Beziehung zwischen Geschichte, Religion und Psychologie. Für Bachofen besteht die Evolution der menschlichen Rasse darin, dass der Mensch aus der Gebundenheit an die Mutter heraustritt, und er schließt auf eine matriarchalische Gesellschaft, die den uns bekannten patriarchalischen Kulturen voraus liegt. Freud hingegen lässt die Geschichte und die menschliche Evolution mit der vater-beherrschten Urhorde und der Rebellion der Söhne gegen den Vater beginnen.
Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Bachofen und Freud in ihren theoretischen Äußerungen spiegeln nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihrer Persönlichkeit. Beide sind geniale Menschen mit einer unstillbaren Leidenschaft für die Wahrheit, einem nie gesättigten Interesse für die verborgene, mysteriöse Unterwelt des Geistes. Und doch sind sie ganz verschiedene Menschen. Bachofen, der Schweizer Patrizier, ist religiös, konservativ und anti-liberal. Freud, der Wiener Jude, ist liberal, anti-religiös und rationalistisch. Diese Unterschiede verdecken jedoch andere, die nicht weniger signifikant sind.
Obwohl Bachofen extrem konservativ war und dem modernen Fortschritt gegenüber äußerst skeptisch, so erfüllte ihn dennoch ein tiefer Glaube an die Zukunft der Menschheit. Er war davon überzeugt, dass der Beginn und das Ende der menschlichen Geschichte eine eigentümliche Ähnlichkeit zeigen und dass das Ende die Rückkehr an den Anfang auf einer höheren Ebene der Entwicklung bedeutet. Die Grundsätze des Matriarchats sollen nicht einfach verschwinden, sondern (im Hegelschen Sinne) „aufgehoben“ und mit den Grundsätzen des Patriarchats in einer neuen Synthese vereint werden.
So beschreibt Bachofen selbst seinen Glauben an die Entwicklung der menschlichen Rasse (1954, S. 228°f.):
Ein großes Gesetz beherrscht die Rechtsentwicklung des Menschengeschlechts. Es schreitet vom Stofflichen zum Unstofflichen, vom Physischen zum Metaphysischen, vom Tellurismus zur Geistigkeit fort. Das letzte Ziel kann nur durch die vereinte Kraft aller Völker und Zeiten erreicht werden, wird aber, trotz aller Hebungen und Senkungen, sicherlich in Erfüllung gehen. Was stofflich beginnt, muss unstofflich enden. Am Ende aller Rechtsentwicklung steht wiederum ein ius naturale, aber nicht das des Stoffes, sondern des Geistes, ein letztes Recht, allgemein, wie das Urrecht allgemein war; willkürfrei, wie auch das stofflich-physische Urrecht keine Willkür in sich trug; in den Dingen gegeben, von dem Menschen nicht erfunden, sondern erkannt, wie auch das physische Urrecht als immanente materielle Ordnung erschien. An die Herstellung eines einstigen einheitlichen Rechts wie einer einheitlichen Sprache glauben die Perser. „Wenn Arimanius vernichtet ist, wird die Erde plan und eben sein, und die nun beglückten Menschen werden durchgängig eine Lebensart, Regierungsform und Sprache haben.“ (Plutarch Über Isis und Osiris 47.) Dieses letzte Recht ist der Ausdruck des reinen Lichts, dem das gute Prinzip angehört. Es ist nicht tellurisch-physischer Art, wie das blutige, finstere Recht der ersten stofflichen Zeit, sondern himmlisches Lichtrecht, das vollkommene Zeusgesetz, reines und vollendetes Ius, wie es dieser mit Jupiter identische Name verlangt. In seiner letzten Erhebung liegt aber notwendig [XI-185] seine Auflösung. In der Befreiung von jedem stofflichen Zusatz wird das Recht Liebe. Die Liebe ist das höchste Recht. Auch dies Dikaion erscheint wieder in der Zweizahl: aber nicht, wie das alte tellurische, in der Zweizahl des Streites und nie endender Vertilgung, sondern in jener Zweiheit, die nach einem Backenstreiche die zweite Wange darbietet und den zweiten Rock freudig hingibt. Diese Lehre verwirklicht die höchste Gerechtigkeit. Sie hebt in der Vollendung selbst den Begriff des Rechts auf und erscheint so als die letzte und völlige Überwindung des Stoffs, als die Lösung jeder Dissonanz.
Trotz – oder gerade wegen – dieses Glaubens an den Menschen war Bachofen dem „Fortschritt“ seiner Zeit gegenüber und dem, was das Zwanzigste Jahrhundert bringen würde, äußerst skeptisch. Mit Blick auf die Zukunft machte Bachofen 1869 eine Voraussage, die belegt, mit welcher prophetischen Klarheit Bachofen die Zukunft zu sehen imstande war. Es ist die gleiche intuitive Klarheit, mit der er die Vergangenheit erfasste:
Ich fange an zu glauben, dass der Geschichtsschreiber des Zwanzigsten Jahrhunderts nur noch von Amerika und Russland zu reden haben wird. Die alte Welt Europens liegt auf dem Siechbett und wird dauernd sich nicht mehr erholen. Dann werden wir den neuen Weltherrn als Schulmeister und sonst noch recht nützlich sein können, wie weiland die Griechen den römischen Großen, und Gelegenheit haben, diese Geschichte dieses Fortschritts dem Ende zu gründlich zu studieren. Leider bin ich Schwarzseher, wie man es nicht gerne hat. (J. J. Bachofen, am 25. Mai 1869 in einem Brief an Meyer-Ochsner, zitiert in der Einleitung zu J. J. Bachofen, 1954, S. XXVI.)
Freuds politische Einstellung ist auf eine paradoxe Weise gegensätzlich. Er, der Liberale, hat nur wenig Glauben an die Zukunft der Menschheit. Selbst wenn die sozialen und ökonomischen Probleme gelöst werden könnten, so ist er doch davon überzeugt, dass die Natur des Menschen ihn weiterhin eifersüchtig und neidisch auf andere Menschen machen würde; die Männer würden auch dann noch von dem Wunsch getrieben sein, mit anderen Männern um das Besitzrecht auf begehrenswerte Frauen zu wetteifern. Für Freud wohnt dem historischen Prozess etwas Tragisches inne. Je mehr Kultur der Mensch schafft, desto mehr muss er sich die Befriedigung seiner instinktiven Triebe versagen und desto unglücklicher und neurotischer wird er.
Bei Bachofen entwickelt sich der Mensch auf Grund von Konflikten zu immer höheren Formen der Harmonie. Andererseits ließ sich Bachofen im Unterschied zu Freud niemals von Macht beeindrucken. Ernest Jones beschreibt im zweiten Band seiner Freud-Biographie, dass Freud zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu einem glühenden Patrioten wurde. Er war zutiefst von der Richtigkeit der österreichischen und der deutschen Sache überzeugt und konnte sich über die deutschen Siege begeistern. Ein solches tragisches Abgleiten in die Kriegshysterie wäre bei Bachofen undenkbar gewesen. Für ihn waren die spirituelle Wirklichkeit und ihre Werte zu real und bestimmend, als dass er je zur Bewunderung der Armee und ihrer Siege hätte verleitet werden können.
Ich möchte mit diesem Vergleich zwischen Bachofen und Freud nicht von der Größe Freuds ablenken. Größe bleibt auch dann erhalten, wenn Schatten den Glanz eines Genialen trüben. Der Vergleich sollte die besondere Position Bachofens [XI-186] verdeutlichen. Und ich will mit ihm meine persönliche Wertschätzung für einen Mann zum Ausdruck bringen, der so wenig bekannt ist und doch unserer Generation und der Zukunft so viel zu geben hat.
Abschließend möchte ich einige Bemerkungen darüber machen, in welche Richtung das Werk Bachofens fortgesetzt und als Quelle für Neuentdeckungen im Bereich der Anthropologie, der Geschichte, der Religion und der Psychologie genutzt werden kann. In einem Bereich hatte Bachofen bereits in der Vergangenheit großen Einfluss: darin nämlich, dass Marx und Engels den Zusammenhang zwischen Familienstruktur, Gesellschaftsstruktur und wirtschaftlicher Organisation in der Frühzeit erforschten. In seiner Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats von 1884 (MEW 21, S. 25-173 und S. 473-483) legt Engels Zeugnis ab von dem Einfluss, den Bachofen auf sein eigenes Denken hatte. Desgleichen lieferten andere – etwa Lewis H. Morgan (in seinem 1870 erschienenen Buch Systems of Sanguinity and Affinity of the Human Family sowie in dem 1877 erschienenen Buch Die Urgesellschaft) und viele Jahre später, 1928, Robert Briffault in seinem dreibändigen Werk The Mothers – weitere Beweise für das Vorhandensein matriarchalischer Strukturen in vielen Gesellschaften und Religionen, die Bachofen nicht untersucht hatte. Diese Arbeiten stellen aber erst den Anfang dar, Bachofens Entdeckungen für anthropologische und historische Forschungen fruchtbar zu machen.
Finden seine grundlegenden Ideen Anwendung, dann wird die Erforschung des Hinduismus, der mexikanischen und chinesischen Religionen, der Entwicklung des Judentums, des Katholizismus und des Protestantismus zu neuen und aufschlussreichen Einsichten führen. Ebenso werden seine Theorien primitive Religionen und pseudoreligiöse Phänomene, wie sie die modernen totalitären Systeme darstellen, erhellen. Ihre Wirkung auf und ihre Anziehungskraft für Millionen von Menschen wird sich nur dann ganz verstehen lassen, wenn man erkennt, wie hier mütterliche und väterliche Funktionen vermischt und wie unbewusste Sehnsüchte in beide Richtungen angesprochen werden.
Nicht weniger fruchtbar wird sich die Anwendung der Theorien Bachofens im Bereich der Individualpsychologie auswirken. Sie wird zu notwendigen Korrekturen in Freuds Verständnis des Inzests und des Ödipuskomplexes führen und zu einer Vertiefung der Funde, die Jung in diesem Bereich gemacht hat. Meiner Überzeugung nach kann sie dabei helfen, zwischen mutter-zentrierten und vater-zentrierten Typen des Charakters zu unterscheiden, unter Einbeziehung ihrer jeweiligen Geschichte sowie ihrer spezifischen Tugenden und Laster. Die Anwendung seiner Theorien wird vermutlich zeigen, dass es anstelle von Freuds reinem väterlichen Über-Ich ein mütterliches und ein väterliches Gewissen gibt und dass wirkliche Reife in der Synthese der beiden Gewissen besteht, nachdem diese von den Personen des Vaters und der Mutter losgelöst und als mütterliche und väterliche Kräfte in jedem einzelnen Menschen ausgebildet worden sind.
Darüber hinaus werden die Erkenntnisse Bachofens zu neuen Einsichten in der Psychopathologie führen. Man wird etwa zeigen können, dass mutter-zentrierte Menschen an anderen Formen psychischer Krankheiten leiden als vater-zentrierte; Depressionen, bestimmte Formen von Charakterneurosen des rezeptiven Typs [XI-187] auf der einen Seite und Zwangsneurosen und Paranoia auf der anderen Seite werden möglicherweise in einem neuen Licht erscheinen.
Als jemand, der – wenn auch nur in sehr begrenzter Weise – selbst versucht hat, Bachofens Entdeckungen auf anthropologische und psychologische Fragen anzuwenden, kann ich nur feststellen, dass man sich den Reichtum der Vorschläge, die in Bachofens Werk enthalten sind, noch nicht einmal ansatzweise zu eigen gemacht hat. Nicht dass ich glaubte, alle seine Theorien seien richtig. Die Geschichte der Ideen ist auch eine Geschichte von Irrtümern, und Bachofen macht dabei keine Ausnahme. Worauf es ankommt, ist der Wahrheitskern einer Idee und die Fruchtbarkeit eben dieses Kernes für zukünftiges Denken. In dieser Hinsicht ist Bachofen einer der fruchtbarsten und fortschrittlichsten Denker.
(1934a)[4]
Das 1861 erschienene Buch Das Mutterrecht des Basler Professors Johann Jakob Bachofen[5] teilt ein bemerkenswertes Schicksal mit zwei fast gleichzeitig veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchungen: Darwins Entstehung der Arten (1858) und Marx’ Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859). Alle drei Untersuchungen behandelten wissenschaftliche Spezialfragen, erregten aber weit über den Kreis der engeren Fachleute hinaus die Affekte von Wissenschaftlern und Laien. Für Marx und Darwin ist dieser Tatbestand ohne weiteres durchsichtig. Komplizierter liegt der Fall bei Bachofen. Einmal deshalb, weil das Problem des Matriarchats weit weniger mit den für die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft vitalen Interessen zu tun zu haben scheint als Marxismus und Darwinismus; zum anderen, weil die begeisterte Zustimmung zur matriarchalischen Theorie aus zwei weltanschaulich und politisch völlig entgegengesetzten Lagern kam. Zuerst wurde Bachofen entdeckt und gefeiert von sozialistischer Seite, von Marx, Engels, Bebel u.a.; dann, nach jahrzehntelangem fast völligem Totschweigen wurde er neu entdeckt und neu gefeiert von soziologisch und politisch entgegengesetzt eingestellten Philosophen wie Klages und Bäumler. Diesen Extremen stand in fast geschlossener Front der Ablehnung oder des Ignorierens die offizielle Wissenschaft gegenüber, bis hin zu Vertretern sozialistischer Anschauungen wie Heinrich Cunow. In den letzten Jahren hat das Problem des Mutterrechts eine dauernd wachsende Rolle in der wissenschaftlichen Diskussion gespielt. In einer Reihe mehr oder minder ausführlicher Publikationen wurde das Problem immer häufiger behandelt, teils zustimmend, teils ablehnend, fast stets aber mit einem sichtbaren emotionellen Anteil der Autoren.[6]
Die folgenden Ausführungen wollen zu zeigen versuchen, warum das Problem des Matriarchats so starke Affekte auslöst oder, was dasselbe ist, welche vitalen gesellschaftlichen Interessen es berührt; weiterhin, welches die Hintergründe einerseits der revolutionären und andererseits der ihnen entgegengesetzten Sympathien für die Mutterrechtstheorie sind; endlich wollen sie andeuten, worin die Bedeutung des Problems für die Erforschung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Struktur und ihrer Wandlungen liegt. [I-086]
Eine Gemeinsamkeit zwischen den Sympathien ist unschwer zu finden. Sie liegt in der Distanz zur bürgerlich-demokratischen Gesellschaft. Offenbar ist zumindest die Distanz notwendig, um überhaupt eine gesellschaftliche Struktur verstehen und aus den Zeugnissen von Mythen, Symbolen, Rechtsinstitutionen usw. entdecken zu können, falls diese Gesellschaft nicht nur in einzelnen Inhalten, sondern in ihren grundlegenden sozialpsychologischen Zügen radikal verschieden von der bürgerlichen Gesellschaft ist. Bachofen hat dies selbst sehr klar gesehen. In der Vorrede zu Das Mutterrecht (1954, S. 92) sagt er:
Die Erreichung eines solchen Resultats (gemeint ist das Verständnis der mutterrechtlichen Erscheinungen – E. F.) hängt hauptsächlich von einer Vorbedingung ab. Sie verlangt die Fähigkeit des Forschers, den Ideen seiner Zeit, den Anschauungen, mit welchen diese seinen Geist erfüllen, gänzlich zu entsagen und sich in den Mittelpunkt einer durchaus verschiedenen Gedankenwelt zu versetzen. (...) Wer die Anschauungen späterer Geschlechter zu seinem Ausgangspunkt wählt, wird durch sie vom Verständnis früherer immer mehr abgelenkt.
Die von Bachofen genannte Vorbedingung ist bei denjenigen gegeben, die diese Zeit verneinen, sei es, dass sie die Vergangenheit als ein verlorenes Paradies verherrlichen, sei es, dass sie an eine bessere Zukunft glauben. Aber in dieser Distanz zur Gegenwart dürfte wohl auch die einzige Gemeinsamkeit beider so verschiedener Anhänger der Matriarchatstheorie liegen. Die schroffe Gegensätzlichkeit dieser Gruppen in allen anderen wesentlichen Anschauungen weist darauf hin, dass in der Mutterrechtstheorie selbst wie in dem Gegenstand, den sie behandelt, ganz heterogene Elemente vorhanden sein müssen, von denen die eine Gruppe die einen, die andere davon verschiedene als entscheidend empfindet und zur Basis ihrer Vorliebe für die Matriarchatstheorie macht. Sicherlich liegt aber das Problem nicht so einfach, wie Bäumler es in seiner Abhandlung Bachofen, der Mythologe der Romantik (1926, S. CCIV°f. = 1965, S. 216°f.) sieht:
Wenn aber der Sozialismus Bachofen zusammen mit Morgan unter die Begründer seiner Geschichtsphilosophie zählt, die die Entwicklung der Menschheit mit kommunistischen Zuständen beginnen lässt, so kann man sich keine schlimmere Verkennung des Geistes, in dem Bachofen seine Forschungen unternahm, denken als diese. (...) Der völlig der Vergangenheit zugewandte Romantiker Bachofen und der leidenschaftliche Revolutionär und Fanatiker der Zukunft Marx sind die größten Gegensätze des Neunzehnten Jahrhunderts. (...) Es wäre zu begrüßen, wenn zukünftig der Name Bachofen in der Literatur des Sozialismus mit größerer Vorsicht gebraucht würde.
Einige Kenntnis der Dialektik hätte Bäumler belehren können, dass Gegensätze oft mehr miteinander zu tun haben, als er ahnt, und dass zum Verständnis ihrer Verwandtschaft mehr verlangt wird als „Vorsicht“.
Was begründet die besonderen Sympathien der romantisierenden, in ihren gesellschaftlichen Idealen rückläufig orientierten Schriftsteller, für die Mutterrechtstheorie? [I-087]
Engels hat auf einen Gesichtspunkt hingewiesen (F. Engels, 1962, S. 473-476), den er zum Kern seiner Kritik an Bachofen macht, nämlich auf seine religiöse Grundhaltung. Dieser selbst drückt sich deutlich genug aus:
Es gibt nur einen einzigen mächtigen Hebel aller Zivilisation: die Religion. Jede Hebung, jede Senkung des menschlichen Daseins entspringt aus einer Bewegung, die auf diesem höchsten Gebiete ihren Ursprung nimmt. (...) Die kultischen Vorstellungen sind das Ursprüngliche, die bürgerlichen Lebensformen Folge und Ausdruck. (J. J. Bachofen, 1954, S. 96 und 100.)
Wenn diese Haltung auch gewiss nicht typisch für Bachofen allein ist[7], so ist sie doch von grundlegender Bedeutung für seine Theorie, die eine enge Verbindung zwischen der Frau und dem religiösen Gefühl annimmt.
Dass die gynäkokratische Kultur vorzugsweise dieses hieratische Gepräge tragen muss, dafür bürgt die innere Anlage der weiblichen Natur, jenes tiefe ahnungsreiche Gottesbewusstsein, das, mit dem Gefühl der Liebe sich verschmelzend, der Frau, zumal der Mutter eine in den wildesten Zeiten am mächtigsten wirkende religiöse Weihe leiht. (J. J. Bachofen, 1954, S. 96.)
Hier wird also die religiöse Begabung selbst als besondere „Anlage“ der Frau angesehen und die Religion als ein für das Matriarchat spezifischer Zug aufgefasst. Allerdings sieht Bachofen in der Religion durchaus nicht nur eine Form des Bewusstseins und des Kultus. Es gehört vielmehr gerade zu seinen genialsten Leistungen, dass er eine bestimmte Struktur der menschlichen Psyche als einer bestimmten Religion zugeordnet ansieht, wenn er auch die Verhältnisse auf den Kopf stellt und die psychische Struktur aus der Religion hervorgehen lässt.
Die romantische Seite der Bachofenschen Theorie wird noch deutlicher in seiner rückwärts gewandten, das Glück in der Vergangenheit suchenden Einstellung. Sie drückt sich nicht nur darin aus, dass Bachofen seine Liebe und sein Interesse in hohem Maße der frühesten Vergangenheit der Menschheit zuwandte und diese idealisierte, sondern noch mehr darin, dass er als einen der wesentlichsten Züge der mutterrechtlichen Kultur ihre den Toten zugewandte Haltung preist. In seiner Darstellung des lykischen Mutterrechts sagt er,
dass die ganze Lebensrichtung eines Volkes wesentlich von seinem Verhalten gegenüber der Gräberwelt sich erkennen lässt. Die Ehre der Toten ist von der Hochachtung der Vorfahren, diese von der Liebe zu dem Herkommen und von einer vorzugsweise der Vergangenheit zugekehrten Geistesrichtung unzertrennlich. (J. J. Bachofen, 1926, S. 92.)
In dem mütterlich-tellurischen Mysterienkult findet er die „nachdrückliche Hervorhebung der finsteren Todesseite des Naturlebens“ verwurzelt, die für das matriarchalische Fühlen so charakteristisch ist. Auch Bäumler drückt diesen Gegensatz zwischen der romantischen und der revolutionären Haltung sehr deutlich aus:
Der Mensch, der Mythen verstehen will, muss ein durchdringendes Gefühl von der Macht der Vergangenheit haben, so wie der Mensch, der eine Revolution und Revolutionäre verstehen will, stärkstes Bewusstsein des Zukünftigen haben muss.[8] – Man [I-088] muss sich, um die Eigenart dieser Auffassung zu verstehen, immer vor Augen halten, dass es keineswegs die einzig mögliche Einstellung zur Geschichte ist. Auch aus dem Zeitgefühl der Zukunft kann eine Geschichtsanschauung entwickelt werden: die männlich-aktive, die bewusst handelnde, die revolutionäre. Nach dieser steht der Mensch frei und unabhängig in der Gegenwart da und bringt die Zukunft selbsttätig aus sich wie aus dem Nichts hervor. Nach jener ist er in den „Kreis der Geburten“, in die Überlieferung des Blutes und der Sitte eingereiht, Glied eines „Ganzen“, das sich nach rückwärts in unbekannte Fernen verliert. (...) Die Toten wollen dabei sein, wenn die Lebenden Beschlüsse fassen. Sie sind nicht ein für allemal gestorben und von der Erde verschwunden: die Ahnen sind, und sie raten und taten fort in der „Gemeinde“ der Enkel. (A. Bäumler, 1926, S. CXVIII = 1965, S. 118.)
Der entscheidende Zug der Bachofenschen Konzeption der matriarchalischen psychischen Struktur wie der dem Matriarchat zugeordneten chthonischen Religion ist die Stellung zur Natur, zum Stofflichen als Gegensatz zum Geistigen.
„Das Mutterrecht gehört dem Stoffe und einer Religionsstufe, die nur das Leibesleben kennt.“ (J. J. Bachofen, 1954, S. 155.)
In der Hervorhebung der Paternität liegt die Losmachung des Geistes von den Erscheinungen der Natur, in ihrer siegreichen Durchführung eine Erhebung des menschlichen Daseins über die Gesetze des stofflichen Lebens. Ist das Prinzip des Muttertums allen Sphären der tellurischen Schöpfung gemeinsam, so tritt der Mensch durch das Übergewicht, das er der zeugenden Potenz einräumt, aus jener Verbindung heraus, und wird sich seines höheren Berufes bewusst. Über das körperliche Dasein erhebt sich das geistige, und der Zusammenhang mit den tieferen Kreisen der Schöpfung wird nun auf jenes beschränkt. Das Muttertum gehört der leiblichen Seite des Menschen, und nur für diese wird fortan sein Zusammenhang mit den übrigen Wesen festgehalten; das väterlich-geistige Prinzip eignet ihm allein. In diesem durchbricht er die Bande des Tellurismus und erhebt seinen Blick zu den höheren Regionen des Kosmos. (J. J. Bachofen, 1954, S. 129.)
Zwei Züge sind es also, die das Verhältnis der matriarchalischen Gesellschaft zur Natur kennzeichnen: die passive Hingabe an die Natur und die ausschließliche Anerkennung aller natürlichen, biologischen Werte im Gegensatz zu geistigen. So wie im Mittelpunkt dieser Kultur die Mutter steht, so auch die Natur, der gegenüber der Mensch immer das hilflose Kind bleibt.[9]
Dort (in der mutterrechtlichen Kultur – E. F.) stoffliche Gebundenheit, hier (in der vaterrechtlichen Kultur – E. F.) geistige Entwicklung; dort unbewusste Gesetzmäßigkeit, hier Individualismus; dort Hingabe an die Natur, hier Erhebung über dieselbe, Durchbrechung der alten Schranken des Daseins, das Streben und Leiden des prometheischen Lebens an der Stelle beharrender Ruhe, friedlichen Genusses und ewiger Unmündigkeit in alterndem Leibe. Freie Gabe der Mutter ist die höhere Hoffnung des demetrischen Mysteriums, das in dem Schicksal des Samenkorns erkannt wird. Der Hellene dagegen will alles, auch das Höchste sich selbst erringen. Im Kampf wird er sich seiner Vaternatur bewusst, kämpfend erhebt er sich über das Muttertum, [I-089] dem er früher ganz angehörte, kämpfend ringt er sich zu eigener Göttlichkeit empor. Für ihn liegt die Quelle der Unsterblichkeit nicht mehr im gebärenden Weibe, sondern in dem männlich-schaffenden Prinzip, dieses bekleidet er nun mit der Göttlichkeit, die die frühere Welt jenem allein zuerkannte. (J. J. Bachofen, 1954, S. 130°f.)
Der passiven Hingegebenheit an Mutter, Natur, Erde und ihrer zentralen Rolle entspricht das Wertsystem der mutterrechtlichen Kultur. Das Naturale, Biologische allein ist wertvoll, das Geistige, Kulturelle, Rationale wertlos. Bachofen hat diesen Gedanken am ausführlichsten und klarsten für die Rechtsvorstellung durchgeführt. Im Gegensatz zum bürgerlichen Naturrecht, in dem die „Natur“ die Verabsolutierung der patriarchalischen Gesellschaft ist, wird sein Naturrecht durch das Vorherrschen der triebhaften, natürlichen, blutmäßigen Wertungen charakterisiert. In ihm gibt es kein verstehendes vernünftiges Abwägen von Schuld und Sühne, in ihm herrscht das „natürliche“ Prinzip der Talion, der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem. Die ausschließliche Bewertung der Blutsbande im „Naturrecht“ des Matriarchats ist von Bachofen am eindrucksvollsten in seiner Deutung der Orestie des Äschylos dargelegt worden. Klytemnästra hat ihres Geliebten Ägysthos wegen ihren aus dem Kampf um Troja heimkehrenden Gatten Agamemnon erschlagen. Diesen Gattenmord rächt ihr und Agamemnons Sohn Orestes, indem er seine Mutter tötet. Die Erinnyen, die alten mütterlichen gestürzten Gottheiten, verfolgen ihn für diese Tat, während Apollo und Athene, die aus dem Haupt des Zeus und nicht aus dem Mutterleib stammende, die neuen Gottheiten des siegreichen Vaterrechts, ihn verteidigen. Worum geht der prinzipielle Streit? Für das Mutterrecht gibt es nur ein Verbrechen: die Verletzung der Blutsbande. Warum verfolgen die Erinnyen nicht die treulose Gattenmörderin?
„Sie war dem Mann, den sie erschlug, nicht blutsverwandt.“ Die hinterlistige Verletzung der Treue geht die Erinnyen nichts an; aber wo Blutsbande verletzt sind, kann kein vernünftiges Abwägen gerechter oder doch entschuldbarer Motive des Täters ihn vor der mitleidslosen Strenge des naturalen Talionsprinzips retten.
Die Gynäkokratie ist die „Weltzeit des Blutbandes und der Liebe, im Gegensatz zu der männlich-apollinischen der bewussten Tat“ (A. Bäumler, 1926, S. CCXXXIII = 1965, S. 248). Ihre Kategorien sind: „Tradition, Generation, lebendiger Zusammenhang durch Blut und Zeugung“ (A. Bäumler, 1926, S. CXIX = 1965, S.119). Diese Kategorien erhalten bei Bachofen einen konkreten Sinn. Sie werden aus dem Bereich philosophischer Spekulation in den der Erforschung empirischer ethnologischer Dokumente gehoben und verleihen damit auch jener neues Gewicht. An Stelle des vagen Begriffs der Natur und einer „natürlichen“ Lebensordnung tritt die konkrete Gestalt der Mutter und einer empirisch nachweisbaren matrizentrischen Rechtsordnung.
Bachofen teilt nicht nur die rückwärtsgewandte, naturergebene, naturale Werte bejahende Haltung, die weitgehend die der Romantik war, sondern er hat einen der fruchtbarsten Gedanken der Romantik zu einem Kerngedanken seines Werkes gemacht und ihn gleichzeitig weit über das hinaus entfaltet, was er in der romantischen Philosophie bedeutet hatte: den Unterschied zwischen Männlichem und Weiblichem als zweier Qualitäten, die sich sowohl in der ganzen organischen Natur als auch im Geistigen und Seelischen als grundlegende Unterschiede vorfinden. Die Romantik, und mit ihr einige Vertreter des Deutschen Idealismus standen mit dieser Auffassung [I-090] in striktem Gegensatz zu den Theorien, wie sie besonders im Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhundert in Frankreich in den Vordergrund getreten waren. Der Kerngedanke dieser Theorien war der Satz: Les âmes n’ont point de sexe. In einer Reihe von Schriften wurde das Verhältnis von Mann und Frau diskutiert, und immer wieder kam man zum Ergebnis, dass Männliches und Weibliches keine Qualitäten seien, die sich auch im Geistigen und Seelischen ausdrückten, sondern dass der Unterschied, der sich psychisch zwischen Männern und Frauen vorfände, einzig und allein auf die verschiedenartige Erziehung zurückzuführen sei. Diese bewirke ein Anderssein der Frau, wie es auch bei gewissen anderen Gruppen der Gesellschaft (etwa Fürsten und Dienstboten, wie Helvetius sagt) den gleichen Effekt habe.[10]
Die Anschauung von der grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter[11] war eng verknüpft mit einer politischen Forderung, die – mehr oder weniger deutlich und radikal vertreten – in jener Epoche der bürgerlichen Revolution eine wichtige Rolle spielte, der Emanzipation der Frau, ihrer geistigen, gesellschaftlichen und sogar politischen Gleichstellung. Es ist leicht zu sehen, in welchem Verhältnis hier Theorie und politische Forderung stehen. Die Theorie von der Gleichartigkeit der Frau war die Begründung für die Forderung ihrer politischen Gleichberechtigung. Gleichartigkeit der Frau hieß aber ausgesprochener- oder unausgesprochenermaßen, dass die Frau ihrem Wesen nach dem Manne der bürgerlichen Gesellschaft gleich sei, und Emanzipation bedeutete in erster Linie nicht Befreiung der Frau zur Entfaltung ihrer als solcher noch gar nicht bekannten spezifischen Anlagen und Möglichkeiten, sondern ihre Emanzipation zum bürgerlichen Mann. Die „menschliche“ Emanzipation der Frau hieß in Wirklichkeit ihre bürgerlich-männliche Emanzipation.
Mit der politisch rückläufigen Bewegung (1793 werden in Paris die Frauenklubs geschlossen) ändert sich die Theorie über das Verhältnis der Geschlechter bzw. über das „Wesen“ von Mann und Frau, Männlichem und Weiblichem. An Stelle der Theorie von der Geschlechtslosigkeit der Seele und der prinzipiellen Gleichartigkeit von Mann und Frau tritt die Auffassung von der grundlegenden „natürlichen“ und unveränderbaren Verschiedenheit der Geschlechter.[12]
Bei den Spätromantikern wird der universelle Unterschied zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit noch weiter ausgebaut und durch seine Anwendung auf historische, soziologische, linguistische, mythologische und physiologische Probleme bereichert. Zum Unterschied vom Deutschen Idealismus und der Frühromantik scheint sich dabei aber tendenziell ein Bedeutungswandel mit dem, was unter Frau verstanden wird, zu vollziehen. Ist dort die Frau wesentlich Geliebte und die Vereinigung mit ihr das [I-091] Eingehen in wahre „Menschlichkeit“, so wird sie allmählich immer mehr Mutter und die Beziehung zu ihr eine Rückkehr zum „Natürlichen“, eine neue Harmonie im Schoße der Natur.[13]
Wenn die Aufklärung den Geschlechtsunterschied im Seelischen leugnete und die Gleichheit der Geschlechter proklamierte, so verstand sie zwar unter dem Menschlichen das Bürgerlich-Männliche, aber diese Theorie war der Ausdruck ihres Strebens nach der gesellschaftlichen Befreiung und Gleichstellung der Frau. Die bürgerliche Konsolidierung bedurfte der Idee der Gleichheit der Geschlechter nicht mehr. In dieser Periode musste eine Theorie von der natürlichen Verschiedenartigkeit der Geschlechter entstehen und aus dieser Verschiedenartigkeit des Wesens auf eine Verschiedenheit der gesellschaftlichen Funktionen von Mann und Frau geschlossen werden. Wenn dabei auch psychologisch ungleich tiefere und in vielem richtigere Auffassungen als die der „flachen“ Aufklärung zutage gefördert wurden, so dienten diese Theorien, mögen sie noch so erhabene Worte über die Würde der Frau gefunden haben, doch dazu, die Frau in ihrer unselbständigen Position als Dienerin des Mannes zu erhalten. Es wird später noch zu zeigen sein, warum und in welcher Weise die Klassengesellschaft so eng mit der Herrschaft des Mannes in der Familie verknüpft ist.[14] Aber soviel dürfte schon klargeworden sein, dass die Theorie von der universellen Bedeutung des Geschlechtsunterschiedes für die Vertreter einer männlich-hierarchischen Klassenherrschaft sehr anziehend sein muss und dass hierin einer der wichtigsten Gründe der Sympathien für Bachofen aus dem konservativen Lager liegen dürfte. Es soll allerdings schon hier betont werden, dass Bachofen, indem er das Prinzip der Geschlechterverschiedenheit am konsequentesten durchführt und auf frühe gesellschaftliche und kulturelle Erscheinungen anwendet, in denen er gerade die Überlegenheit und Autorität der Frau entdeckt, selbst schon bis zu einem hohen Grade den möglichen reaktionären Sinn jener Theorie überwindet.
Ein wesentlicher Zug der romantischen Auffassung besteht auch darin, dass der Geschlechtsunterschied durchaus nicht als etwas sozial Bedingtes, historisch Gewordenes, sondern als etwas biologisch Gegebenes und Ewiges erscheint. Um die Begründung der Natürlichkeit männlicher und weiblicher Qualitäten hat man sich verhältnismäßig wenig Mühe gegeben. Entweder man nahm den Charakter der bürgerlichen Frau als Ausdruck ihres „Wesens“; oder man leitete den Wesensunterschied zwischen männlichem und weiblichem Prinzip in so oberflächlicher Weise, wie Fichte es tat, von den „natürlichen“ Verschiedenheiten des Verhaltens beim Geschlechtsakt ab. Indem die Spätromantiker den Begriff des Weibes auf den der Mutter reduzieren und gleichzeitig über vage Ableitungen hinaus zu empirischen Untersuchungen über die Rolle des mütterlich-weiblichen Prinzips in der geschichtlichen und biologischen Wirklichkeit zu kommen beginnen, geben sie den Begriffen eine außerordentliche Vertiefung. Wenn auch Bachofen selbst teilweise in der Vorstellung der „Natürlichkeit“ der Wesensunterschiede befangen bleibt, so kommt er doch [I-092] andererseits schon zu Einsichten wie der, dass das weibliche Wesen sich aus der Lebenspraxis der Frau, ihrer durch die biologische Situation bedingten frühen Fürsorge für das hilflose Kind entwickelt, ein Gedanke, der dann, vielfach unterbaut, eine entscheidende Rolle in Briffaults Werk spielt. (Vgl. E. Fromm, Robert Briffaults Werk über das Mutterrecht, 1933a, GA I, S. 79-84.)
Aus diesen, wie aus anderen zum Teil schon erwähnten Tatsachen geht hervor, dass Bachofen bei weitem nicht der eindeutige Romantiker war, zu dem ihn die Gruppe Klages-Bäumler machen will. Die matriarchalische Gesellschaft, die Bachofen in den höchsten Worten eine „segensreiche“ nennt, enthält, worauf später ausführlich eingegangen wird, in seiner Darstellung Züge, die eine enge Verwandtschaft mit Idealen des Sozialismus haben: Die Sorge für die materielle Wohlfahrt und das irdische Glück der Menschen wird als einer der zentralen Gedanken der mutterrechtlichen Gesellschaft hingestellt. Auch in anderen Punkten ist die Realität der mutterrechtlichen Gesellschaft, wie sie von Bachofen dargestellt wird, ebenso sozialistischen Zielsetzungen verwandt wie romantisch-reaktionären Wünschen entgegengesetzt. Er stellt sie als eine Gesellschaft dar, in der die Sexualität frei war von der christlichen Entwertung, als eine Gesellschaft urwüchsiger Demokratie, in der mütterliche Liebe und Mitleid die tragenden moralischen Prinzipien waren und die Verletzung des Mitmenschen die schwerste Sünde, eine Gesellschaft, in der noch kein Privateigentum existiert, und zu deren Charakterisierung er, worauf C. von Kelles-Krauz (1975, S. 82) hinweist, in den „Antiquarischen Briefen“ dem Athenäus das schöne Märchen nacherzählt von dem üppigen Fruchtstrauch, der zu wachsen aufhörte, und von der wunderbaren Quelle, die nicht mehr floss, als die Menschen sie in Privateigentum verwandelten. Bachofen erweist sich auch häufig, wenn auch durchaus nicht durchgängig, als dialektischer Denker. So etwa, wenn er sagt:
Die demetrische Gynäkokratie fordert, um begreiflich zu sein, frühere, rohere Zustände, das Grundgesetz ihres Lebens ein entgegengesetztes, aus dessen Bekämpfung es hervorgegangen ist. So wird die Geschichtlichkeit des Mutterrechts eine Bürgschaft für die des Hetärismus. (J. J. Bachofen, 1954, S. 108°f.).
Die Geschichtsphilosophie Bachofens ist in mancher Weise der Hegels verwandt:
Der Fortschritt von der mütterlichen zu der väterlichen Auffassung des Menschen bildet den wichtigsten Wendepunkt in der Geschichte des Geschlechtsverhältnisses. (...) In der Hervorhebung der Paternität liegt die Losmachung des Geistes von den Erscheinungen der Natur, in ihrer siegreichen Durchführung eine Erhebung des menschlichen Daseins über die Gesetze des stofflichen Lebens. (J. J. Bachofen, 1954, S. 128°f.)
Das höchste Ziel der menschlichen Bestimmung ist ihm „die Erhebung des irdischen Daseins zu der Reinheit des göttlichen Vaterprinzips“ (J. J. Bachofen, 1954, S. 141). Die geschichtliche Verwirklichung des Sieges des väterlich-geistigen Prinzips über das mütterlich-stoffliche sieht er im Siege Roms über den Orient, speziell über Karthago und Jerusalem.
Römisch ist jener Gedanke, durch welchen die europäische Menschheit sich bereitet, dem ganzen Erdball das eigene Gepräge aufzudrücken, der nämlich, dass kein stoffliches Gesetz, sondern nur allein das freie Walten des Geistes das Los der Völker bestimmt. (J. J. Bachofen, 1954, S. 287).
Zwischen diesem Bachofen und dem Baseler Aristokraten, der sagt: „Die [I-093] Demokratie führt immer durch die Macht der Umstände die Tyrannei herbei; mein Ideal ist die Republik, die nicht von vielen, aber von den besten Bürgern regiert wird“ (zit. nach C. von Kelles-Krauz, 1975, S. 83) und der ein Gegner der politischen Emanzipation der Frau ist, besteht ein schroffer Widerspruch. Der Widerspruch liegt in verschiedenen Ebenen: in der philosophischen ist es der Widerspruch zwischen dem gläubigen Protestanten und Idealisten und dem Romantiker wie der zwischen dem Dialektiker und dem naturalistischen Metaphysiker; in der sozialen und politischen Ebene ist es der zwischen dem Antidemokraten und dem Vertreter einer kommunistisch-demokratischen Gesellschaftsstruktur; in der moralischen ist es der zwischen dem Anhänger protestantisch-bürgerlicher Moral und dem Verteidiger einer Gesellschaft, in der an Stelle der Monogamie sexuelle Ungebundenheit herrscht.
Im Gegensatz zu Klages und Bäumler macht Bachofen kaum den Versuch, diese Widersprüche zu harmonisieren, und die Tatsache, dass er sie stehen ließ, bildet die Grundlage dafür, dass er in so hohem Maße die Zustimmung jener Sozialisten fand, denen es nicht auf Reformen, sondern auf eine grundlegende Veränderung der sozialen und seelischen Struktur der Gesellschaft ankam.
Die Tatsache, dass Bachofen solche Widersprüche in sich trug und kaum versuchte, sie zu verdecken, dürfte zu einem wesentlichen Teil auf psychologischen und ökonomischen Bedingungen seiner individuellen Existenz beruhen. Zunächst auf der Tatsache seiner menschlichen und geistigen Weite; ferner darauf, dass seine Liebe zum Matriarchat offenbar auf der intensiven Fixierung an seine Mutter beruhte, was in der Tatsache, dass er erst nach dem Tode seiner Mutter, mit 40 Jahren heiratet, einen deutlichen Ausdruck findet. Ferner ermöglichte ihm wohl sein ererbtes Vermögen von 10 Millionen jene Distanz von gewissen bürgerlichen Idealen, wie sie für Bachofen als Bewunderer des Mutterrechts notwendig ist. Andererseits war dieser Baseler Patrizier aber so eingewurzelt in seiner festen und unerschütterlichen patriarchalischen Tradition, dass er an seinen traditionellen protestantisch-bürgerlichen Idealen festhalten musste.
Es ist nur der eine Bachofen, dem die Liebe der Neuromantiker wie Schuler, Klages und Bäumler gilt. Sie kennen nur den Bachofen des Irrationalismus, der Hingegebenheit an die Natur, den Bejaher der ausschließlichen Herrschaft naturalistischer Werte von Erd- und Blutverbundenheit und machen sich die Lösung des gerade in seinen Widersprüchen liegenden Problems Bachofen dadurch sehr leicht, indem sie ihn einseitig interpretieren.
Klages, dem der „Geist“ als Zerstörer des „Lebens“ erscheint, wird mit der Schwierigkeit fertig, indem er Bachofens naturalistische Metaphysik für den wesentlichen Kern seiner Gedanken, seinen protestantischen Idealismus für nebensächliches Beiwerk erklärt. Er bedient sich dabei der wertenden Terminologie des Gegensatzes von Kopf- und Herzgedanken. Bäumler, der gegen Klages’ Bachofen-Interpretation polemisiert, nimmt aber eine noch viel unangemessenere Verstümmelung vor. Während Klages wenigstens den antiprotestantischen und antiidealistischen Bachofen sieht, erklärt Bäumler aus seiner patrizentrischen Grundhaltung heraus gerade den wichtigsten Teil des Bachofen’schen Werkes, seine historischen und psychologischen Feststellungen über die mutterrechtliche Gesellschaft, für nebensächlich und allein seine [I-094] naturalistische Metaphysik für bedeutsam. Er sagt, es sei ganz gewiss eine „falsche Annahme“, wenn Bachofen das Weib „den Mittelpunkt und das Bindeglied der ältesten staatlichen Vereinigung“ nenne. „Die Seiten des Mutterrechts“ gehörten „auch zu den systematischen, d.h. zu den schwächsten Partien des Werkes“ (A. Bäumler, 1926, S. CCLXXX = 1965, S. 299). Auch dass die Monogamie nicht schon am Anfang der Menschheitsgeschichte zu finden sei, erscheint ihm sehr zweifelhaft. Das Mutterrecht als gesellschaftliche Realität ist für ihn Nebensache:
Die chthonische Religion bleibt auch dann noch von entscheidender Wichtigkeit für das Verständnis der alten und ältesten Geschichte, wenn sich herausstellt, dass es niemals ein indogermanisches Mutterrecht gegeben hat. Bachofens Deutung ist von den Ergebnissen ethnologischer und sprachwissenschaftlicher Untersuchungen in allem Wesentlichen unabhängig, denn die Fundamente dieser Deutung liegen nicht in Hypothesen soziologischer oder historischer Art. (...) Die Grundlagen der Bachofen’schen Geschichtsphilosophie liegen in seiner Metaphysik. Auf die Tiefe dieser Metaphysik kommt es an; die kulturphilosophischen (lies: soziologischen und historischen – E. F.) Irrtümer sind leicht zu berichtigen – indessen ein irrtumfreies wissenschaftliches Werk über die Anfänge des Menschengeschlechts zwar nichts zu berichtigen, aber auch nichts zu erkennen geben wird. (A. Bäumler, 1926, S. CCLXXX = 1965, S. 299.)
Bachofen sei mit der Theorie, die erste Erhebung des Menschengeschlechtes dem Weibe zuzuschreiben „zu weit gegangen“. Dies sei eine „falsche Hypothese“. Wichtig sei freilich gar nicht die Mutter als reale gesellschaftlich oder seelisch bedeutsame Erscheinung; auch wenn wir diese falschen Hypothesen fallenlassen,
so behalten wir das Wesentliche immer noch übrig: die religiöse Kategorie der Mutter, um die Bachofen das bewusste Denken der Menschheit überhaupt und besonders die Philosophie der Geschichte bereichert hat. (A. Bäumler, 1926, S. CCLXXXI°f. = 1965, S. 300°f.)
Es nimmt nicht wunder, wenn Bäumler die Bejahung der Sexualität, einen von Bachofen als für das Matriarchat wesentlich hingestellten Zug, als typisch „orientalisch“ verdammt und die Unbefangenheit Bachofens sexuellen Tatbeständen gegenüber mit Begriffen wie dem seiner persönlichen „Reinheit“ begründet.
Die Art der Interpretation Bäumlers ist durchsichtig. Die wesentlichsten, nämlich die soziologischen und psychologischen Teile des Bachofen’schen Werkes werden als falsch oder unerheblich beiseitegelassen, allein seine naturalistische Metaphysik behandelt und gepriesen. Wenn man, wie Bäumler es tut, diese Metaphysik mit extrem patriarchalischen Idealen mischt, so kommt man zu einem Gesamtbild, welches selbst die Grenzen einer einseitigen Interpretation Bachofens unterschreitet.
Die Sozialisten sahen zwar auch den „Mystiker“ Bachofen, aber sie wandten ihre Aufmerksamkeit und Sympathie dem Ethnologen und Psychologen und damit dem Teil des Werkes zu, das seine Größe und Bedeutung in der Geschichte der Wissenschaft ausmacht.
Bachofens Mutterrecht dürfte seine Bekanntheit im Neunzehnten Jahrhundert niemandem mehr verdanken als Friedrich Engels, der es in Der Ursprung der Familie (1884) im [I-095] Zusammenhange mit dem Werke Morgans ausführlich erwähnt. Er sagt, dass die Geschichte der Familie erst von Bachofens Mutterrecht an datiere. Er zitiert die wichtigsten Thesen Bachofens, kritisiert zwar den idealistischen Standpunkt des Verfassers, der die gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Religion ableite, fährt aber dann fort:
Aber alles das schmälert nicht sein bahnbrechendes Verdienst; er zuerst hat die Phrase von einem unbekannten Urzustand mit regellosem Geschlechtsverkehr ersetzt durch den Nachweis, dass die altklassische Literatur uns Spuren in Menge aufzeigt, wonach vor der Einzelehe in der Tat bei Griechen und Asiaten ein Zustand existiert hat, worin nicht nur ein Mann mit mehreren Frauen, sondern eine Frau mit mehreren Männern geschlechtlich verkehrte, ohne gegen die Sitte zu verstoßen; dass diese Sitte nicht verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen in einer beschränkten Preisgebung, wodurch die Frauen das Recht auf Einzelehe erkaufen mussten; dass daher die Abstammung ursprünglich nur in weiblicher Linie, von Mutter zu Mutter gerechnet werden konnte; dass diese Alleingültigkeit der weiblichen Linie sich noch lange in der Zeit der Einzelehe mit gesicherter oder doch anerkannter Vaterschaft erhalten hat; und dass diese ursprüngliche Stellung der Mütter, als der einzigen sichern Eltern ihrer Kinder, ihnen und damit den Frauen überhaupt eine höhere gesellschaftliche Stellung sicherte, als sie sie seitdem je wieder besessen haben. Diese Sätze hat Bachofen zwar nicht in dieser Klarheit ausgesprochen, das verhinderte seine mystische Anschauung. (Engels nennt ihn an einer anderen Stelle einen „genialen Mystiker“.) Aber er hat sie bewiesen, und das bedeutete 1861 eine vollständige Revolution. (F. Engels, 1962, S. 476.)
Morgan, der amerikanische Ethnologe, führt 16 Jahre später den Nachweis für das Vorhandensein einer matriarchalischen Gesellschaftsstruktur an einem anderen Material und mit ganz anderen Methoden als Bachofen, und sein Werk Ancient Society (1877) wurde von Marx und Engels gründlich studiert und lag der Engels’schen Arbeit über die Familie zugrunde. Engels sagt über die von Morgan entdeckte mutterrechtliche Gens, dass sie „für die Urgeschichte dieselbe Bedeutung (habe) wie Darwins Entwicklungstheorie für die Biologie und Marx’ Mehrwerttheorie für die politische Ökonomie“ (F. Engels, 1962, S. 481), sicherlich das höchste Lob, das Engels spenden konnte. „Die mutterrechtliche Gens ist der Angelpunkt geworden“, sagt er, „um den sich die ganze Wissenschaft dreht; seit ihrer Entdeckung weiß man, in welcher Richtung und wonach man zu forschen und wie man das Erforschte zu gruppieren hat“ (F. Engels, 1962, S. 481).
Der große Eindruck, den die Entdeckung des Mutterrechts machte, beschränkte sich keineswegs auf Engels. Marx hatte ausführliche kritische Anmerkungen hinterlassen, die Engels in seiner Geschichte der Familie mit verwendete. Bebel stellte sich in seinem Buch Die Frau und der Sozialismus (1878), das mit über 50 Auflagen trotz seiner 516 Seiten zu den am meisten gelesenen Büchern der sozialistischen Literatur gehört, ganz auf den Boden der Matriarchatstheorie, Paul Lafargue spricht im Geiste Bachofens von der „erhabenen Rolle der Priesterin, der Hüterin des Geheimnisses (initiatrice), die die Frau in der primitiven Gemeinschaft hatte“ (zit. nach C. von Kelles-Krauz, 1975, S. 85) und von der Wiedererlangung dieser Rolle durch die Frau in einer zukünftigen Gesellschaft. Während sozialistische Autoren wie Kelles-Krauz, der von Bachofen sagt, dass er „unter der Schicht der bürgerlichen Renaissance die kostbaren [I-096] Elemente einer neuen gewaltig revolutionierenden Renaissance hervorgrub – der Renaissance des kommunistischen Geistes“ (C. von Kelles-Krauz, 1975, S. 524), die positive Bedeutung der Matriarchatstheorie würdigten, rückten andere sich auf Marx berufende Autoren wie Heinrich Cunow ebenso entschieden von Bachofen ab wie die Mehrzahl der übrigen Wissenschaftler. Es ist Robert Briffault, der, ohne es zu wissen, im Sinne des historischen Materialismus die Linie Bachofens und Morgans fortsetzt und in seinem The Mothers (1928) 66 Jahre nach Bachofen die Frage des Mutterrechts neu zur Diskussion stellt.[15]
Was zunächst den Sozialisten ihre positive Einstellung zur Mutterrechtstheorie ermöglichte, war, worauf schon oben hingewiesen wurde, ähnlich wie bei den romantischen Schriftstellern ihre gefühls- und anschauungsmäßige Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft. Schon der Nachweis der Relativität der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, der Tatsache, dass die monogame Ehe durchaus keine ewige und keine „natürliche“ Institution war, ein Nachweis, den Bäumler für nicht geglückt oder für unerheblich hält, musste einer Theorie und Praxis, die auf die grundlegende Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ausging, ähnlich willkommen sein wie Darwins Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (1858).
Bachofen selbst drückt das Problem dieser von seinem eigenen politischen Standpunkt aus bedenklichen Seite seiner Theorie folgendermaßen aus:
Dem Adel der menschlichen Natur und ihrer höheren Bestimmung scheint die Ausschließlichkeit der ehelichen Verbindung so innig verwandt und so unentbehrlich, dass sie von den meisten als Urzustand betrachtet, die Behauptung tieferer, ganz ungeregelter Geschlechtsverhältnisse als traurige Verirrungen nutzloser Spekulationen über die Anfänge des menschlichen Daseins ins Reich der Träume verwiesen wird. Wer möchte nicht gern dieser Meinung sich anschließen und unserem Geschlecht die schmerzliche Erinnerung einer so unwürdigen Kindheit ersparen? Aber das Zeugnis der Geschichte verbietet, den Einflüsterungen des Stolzes und der Eigenliebe Gehör zu geben und den äußerst langsamen Fortschritt der Menschheit zu ehelicher Gesittung in Zweifel zu ziehen. Mit erdrückendem Gewicht dringt die Phalanx völlig historischer Nachrichten auf uns ein und macht jeden Widerstand, jede Verteidigung unmöglich. (J. J. Bachofen, 1954, S. 107°f.)
Aber weit über die Tatsache hinaus, dass die Mutterrechtstheorie die Relativität der bürgerlichen Gesellschaftsstruktur aufzeigte, musste sie auch ihrem speziellen Inhalt nach die Sympathien der Marxisten gewinnen. Zunächst deshalb, weil die Entdeckung einer Periode, in der die Frau, statt Handelsobjekt und Sklavin des Mannes zu sein, Autorität und Zentrum der Gesellschaft war, eine wichtige Unterstützung im Kampf für politische und gesellschaftliche Emanzipation der Frau war. Der Kampf des Achtzehnten Jahrhunderts musste von denen wieder aufgenommen werden, die für eine klassenlose Gesellschaft kämpften. In Ergänzung dessen, was Bebel zu diesem schon von Fourier hervorgehobenen Problem in Die Frau und der Sozialismus (1878) ausführt, sei hier noch auf einen sozialpsychologischen Gesichtspunkt hingewiesen. [I-097]
Die patriarchalische Gesellschaftsstruktur ist in ihren sozialpsychologischen Grundlagen eng mit dem Klassencharakter der bestehenden Gesellschaft verbunden. Diese beruht nicht zuletzt auf bestimmten seelischen, zum Teil in unbewussten Triebstrebungen fundierten Haltungen, die den äußeren Zwang des Herrschaftsapparates aufs wirksamste ergänzen. Die patriarchalische Familie ist eine der wichtigsten Produktionsstätten der für die Stabilität der Klassengesellschaft wirksamen seelischen Haltungen. (Vgl. E. Fromm, Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie, 1932a, GA I, S. 42°f.) Es handelt sich hier, um nur das Wichtigste anzudeuten, um einen Gefühlskomplex, den man den „patrizentrischen“ nennen könnte und für den charakteristisch ist: affektive Abhängigkeit von der väterlichen Autorität im Sinne einer Mischung von Angst, Liebe und Hass, Identifizierung mit der väterlichen Autorität gegenüber Schwächeren, strenges Über-Ich, das Pflicht wichtiger sein lässt als Glück, und ein aus der Diskrepanz zwischen Forderungen des Über-Ichs und der Realität stets neu produziertes Schuldgefühl, welches wiederum im Sinne der Gefügigkeit gegenüber der Autorität wirksam ist. Gerade in diesem sozialpsychologischen Tatbestand liegt ebenso wohl der Grund dafür, warum die Familie fast durchgehend als Fundament oder zumindest als eine der wichtigsten Stützen der Gesellschaft betrachtet wird, wie eben andererseits dafür, warum der theoretische Angriff auf die Familie, wie ihn die Matriarchatstheorie darstellt, die Sympathien sozialistischer Schriftsteller finden musste.
Besonders wichtig für unser Problem ist die Darstellung, die Bachofen wie Morgan in fast übereinstimmender Weise von den sozialen, psychischen, moralischen und politischen Verhältnissen des Matriarchats geben. Während Bachofen jene gesellschaftliche Stufe mit einer gewissen Wehmut als überwunden ansieht, sagt Morgan von einer kommenden höheren Stufe der Zivilisation: „Sie wird eine Wiederholung sein – aber in höherer Form – der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der alten Gentes.“ Dieses Bild der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der matriarchalischen Gesellschaft wird von Bachofen in seinen einzelnen Zügen ausführlich und plastisch gezeichnet.
Die die mutterrechtliche Gesellschaft beherrschenden Prinzipien sind nicht Angst und Unterwürfigkeit, sondern Liebe und Mitleid.
Dasjenige Verhältnis, an welchem die Menschheit zuerst zur Gesittung emporwächst, das der Entwicklung jeder Tugend, der Ausbildung jeder edleren Seite des Daseins zum Ausgangspunkt dient, ist der Zauber des Muttertums, der inmitten eines gewalterfüllten Lebens als das göttliche Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird. In der Pflege der Leibesfrucht lernt das Weib früher als der Mann seine liebende Sorge über die Grenzen des eigenen Ich auf andere Wesen erstrecken und alle Erfindungsgabe, die sein Geist besitzt, auf die Erhaltung und Verschönerung des fremden Daseins richten.[16] Von ihm geht jetzt jede Erhebung der Gesittung aus, von ihm jede Wohltat im Leben, jede Hingebung, jede Pflege und jede Totenklage. (...)
Aber nicht nur inniger, auch allgemeinere und weitere Kreise umfassend ist die aus [I-098] dem Muttertum stammende Liebe. (...) Wie in dem väterlichen Prinzip die Beschränkung, so liegt in dem mütterlichen das der Allgemeinheit; wie jenes die Einschränkung auf engere Kreise mit sich bringt, so kennt dieses keine Schranken, so wenig als das Naturleben. Aus dem gebärenden Muttertum stammt die allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen, deren Bewusstsein und Anerkennung mit der Ausbildung der Paternität untergeht. Die auf das Vaterrecht gegründete Familie schließt sich zu einem individuellen Organismus ab, die mutterrechtliche dagegen trägt jenen typisch allgemeinen Charakter, mit dem alle Entwicklung beginnt und der das stoffliche Leben vor dem höheren geistigen auszeichnet. Der Erdmutter Demeter sterbliches Bild, wird jedes Weibes Schoß den Geburten des andern Geschwister schenken, das Heimatland nur Brüder und Schwestern kennen, und dies so lange, bis mit der Ausbildung der Paternität die Einheitlichkeit der Masse aufgelöst und das Ununterschiedene durch das Prinzip der Gliederung überwunden wird.
In den Mutterstaaten hat diese Seite des Mutterprinzips vielfältigen Ausdruck, ja selbst rechtlich formulierte Anerkennung gefunden. Auf ihr ruht jenes Prinzip allgemeiner Freiheit und Gleichheit, das wir als einen Grundzug im Leben gynäkokratischer Völker öfter finden werden (...) auf ihr endlich das besondere Lob der verwandtschaftlichen Gesinnung und einer Sympatheia, die keine Grenzen kennend, alle Glieder des Volkes gleichmäßig umfasst. Abwesenheit innerer Zwietracht, Abneigung gegen Unfrieden, wird gynäkokratischen Staaten besonders nachgerühmt. (...) Besondere Strafbarkeit körperlicher Schädigung der Mitmenschen, ja der ganzen Tierwelt tritt nicht weniger charakteristisch hervor. (...) Ein Zug milder Humanität, den man selbst in dem Gesichtsausdruck der ägyptischen Bildwerke hervortreten sieht, durchdringt die Gesittung der gynäkokratischen Welt und leiht ihr ein Gepräge, in welchem alles, was die Muttergesinnung Segensreiches in sich trägt, wiederzuerkennen ist.[17]
Wichtig für die Rezeption Bachofens bei den Sozialisten ist noch ein weiterer Zug, den er als wesentlich für die mutterrechtliche Gesellschaft darstellt, die entscheidende Rolle der Fürsorge für das irdische, materielle Glück der Menschen:
Ausgehend von dem gebärenden Muttertum (...) steht die Gynäkokratie ganz unter dem Stoffe und den Erscheinungen des Naturlebens, denen sie die Gesetze ihres inneren und äußeren Daseins entnimmt, fühlt sie lebendiger als spätere Geschlechter die Unität alles Lebens, die Harmonie des Alls, welcher sie noch nicht entwachsen ist, empfindet sie tiefer den Schmerz des Todesloses und jene Hinfälligkeit des tellurischen Daseins, welcher das Weib, die Mutter zumal, ihre Klage widmet, sucht sie sehnsüchtiger nach höherem Troste, findet ihn in den Erscheinungen des Naturlebens und knüpft auch ihn wiederum an der Gebärenden Schoß, die empfangende, [I-099] hegende, nährende Mutterliebe an. (...) Ganz materiell, widmet sie ihre Sorge und Kraft der Verschönerung des materiellen Daseins. (J. J. Bachofen, 1954, S. 105.)
Wenn sich dieser naturalistische Materialismus theoretisch auch wesentlich vom dialektischen Materialismus unterscheidet, so enthält er doch einen sozialen Hedonismus, der seine Rezeption bei den Vertretern des historischen Materialismus verständlich macht. Eine für unser Problem instruktive Zusammenfassung der wichtigsten Prinzipien der matriarchalischen Gesellschaft, in der Bachofen, über das bisher schon Dargestellte hinausgehend, besonders den politischen Charakter dieses Materialismus zum Ausdruck bringt, gibt er in seiner Analyse des Dionysoskultes:
Durch seine Sinnlichkeit und die Bedeutung, welche er dem Gebote der geschlechtlichen Liebe leiht, der weiblichen Anlage innerlich verwandt, ist er zu dem Geschlechte der Frauen vorzugsweise in Beziehung getreten. (...) Der dionysische Kult (...) hat alle Fesseln gelöst, alle Unterschiede aufgehoben, und dadurch, dass er den Geist der Völker vorzugsweise auf die Materie und die Verschönerung des leiblichen Daseins richtete, das Leben selbst wieder zu den Gesetzen des Stoffes zurückgeführt. (...) An der Stelle reicher Gliederung machen sich das Gesetz der Demokratie, der ununterschiedenen Masse, und jene Freiheit und Gleichheit geltend, welche das natürliche Leben vor dem zivilgeordneten auszeichnet, und das der leiblich-stofflichen Seite der menschlichen Natur angehört. Die Alten sind sich über diese Verbindung völlig klar, heben sie in den entschiedensten Aussprüchen hervor und zeigen uns in bezeichnenden historischen Angaben die fleischliche und politische Emanzipation als notwendig und stets verbundene Zwillingsbrüder. Die dionysische Religion ist zu gleicher Zeit die Apotheose des aphroditischen Genusses und die der allgemeinen Brüderlichkeit, daher den dienenden Ständen besonders lieb. (...) Nicht um in den Armen eines Einzelnen zu verwelken, wird das Weib von der Natur mit allen Reizen, über welche sie gebietet, ausgestattet: das Gesetz des Stoffes verwirft alle Beschränkungen, hasst alle Fesseln und betrachtet jede Ausschließlichkeit als Versündigung an ihrer Göttlichkeit. (J. J. Bachofen, 1954, S.118-120.)
Indem Bachofen hier ausdrücklich auf den klassenmäßigen Hintergrund der matriarchalischen Struktur und auf den Zusammenhang zwischen sexueller und politischer Emanzipation hinweist, bedarf es von unserer Seite her kaum mehr eines Kommentares zu der sich hieraus ergebenden Stellungnahme der Sozialisten. Andererseits aber ist das Problem der Beziehung zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und der in ihr herrschenden Sexualmoral zu wichtig und zu kompliziert, als dass nicht wenigstens einige andeutende Bemerkungen notwendig wären.
Auf der einen Seite wäre es gewiss falsch zu behaupten, dass Einschränkungen im Bereich des Sexuellen rein aus dem Wesen der Klassengesellschaft zu erklären sind und dass eine klassenlose Gesellschaft eine Wiederholung jener von Bachofen dargestellten regellosen und uneingeschränkten Geschlechtsbeziehungen notwendigerweise mit sich bringen müsste. Andererseits dürfte es feststehen, dass eine den sexuellen Genuss entwertende und einschränkende Moral eine wichtige Funktion für den Bestand der Klassengesellschaft hat und dass der Angriff auf diese Moral, den Bachofens Theorie faktisch bedeutete, ein weiterer Grund für die Art seiner Rezeption bei den Sozialisten sein konnte. Zur Erläuterung, nicht zum Beweis dieser These, seien die folgenden Gesichtspunkte erwähnt. [I-100]
Die Sexualität bietet eine der elementarsten und stärksten Befriedigungs- und Glücksmöglichkeiten. Wäre sie in den Grenzen, wie sie aus der Notwendigkeit der produktiven Entfaltung der Persönlichkeit, nicht aber aus den Zwecken der Beherrschung der Massen bedingt sind, zugelassen, so würde die Erfüllung dieser einen wichtigen Glücksmöglichkeit notwendigerweise zu einer Verstärkung der Ansprüche auf Befriedigung und Glück in anderen Lebenssphären führen, Ansprüche, die, da ihre Sättigung materielle Mittel erforderte, zur Sprengung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung führen müssten. Hiermit eng verknüpft ist eine weitere gesellschaftliche Funktion der Einschränkung sexueller Befriedigung. Indem der Sexualgenuss als solcher zu etwas Sündhaftem erklärt wird, muss diese moralische Verfemung, da ja sexuelle Wünsche eine dauernd wirksame Strebung in jedem Menschen darstellen, zu einer ständig arbeitenden Produktionsstätte von – wenn auch häufig unbewussten bzw. auf andere Inhalte übertragenen – Schuldgefühlen führen. Diese aber sind von entscheidender gesellschaftlicher Bedeutung. Sie sind die Ursache, dass das Leiden als gerechte Strafe für eigene Schuld empfunden statt auf Mängel der gesellschaftlichen Organisation zurückgeführt wird. Sie bewirken endlich eine affektive Einschüchterung, die wiederum eine Einschränkung der intellektuellen und besonders der kritischen Fähigkeiten bedeutet, eine Einschränkung, die mit der gefühlsmäßigen Bindung an die Repräsentanten der gesellschaftlichen Moral verknüpft ist. Es ist dabei nicht zu vergessen, dass es nicht entscheidend ist, ob die Sexualität tatsächlich mehr oder weniger unterdrückt ist oder nur mit dem Makel des Nichtmoralischen belastet wird, was schon durch die Tabuisierung der Sexualität den Kindern gegenüber erfolgt. In jedem Falle bleibt die entwertende Stellungnahme zur Sexualität eine ständige Produktionsstätte von Schuldgefühlen.
Endlich sei auch noch auf einen weiteren Gesichtspunkt hingewiesen. Die analytische personalpsychologische klinische Forschung konnte, wenn auch erst in Ansätzen, zeigen, dass die Zulassung bzw. Unterdrückung der Sexualbefriedigung von wichtigen Folgen für die Trieb- und Charakterstruktur ist. (Vgl. E. Fromm, Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie, 1932b, GA I, S. 59-77.). Auf der einen Seite ist die Bildung des „genitalen Charakters“ durch den Wegfall von – dem Prinzip der optimalen Entfaltung der Persönlichkeit heteronomen – Sexualeinschränkungen bedingt; zu den unbestreitbaren Qualitäten des genitalen Charakters gehört eine seelische und intellektuelle Selbständigkeit, deren gesellschaftliche Relevanz nicht bewiesen zu werden braucht. Auf der anderen Seite führt die Unterdrückung der genitalen Sexualität zur Entstehung bzw. Verstärkung solcher Triebtendenzen, wie der analen, sadistischen und – latent – homosexuellen, die für die Triebbasis der bestehenden Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind.
Es war die Absicht der bisherigen Ausführungen, die Tatsache zu erklären, warum die Mutterrechtstheorie mit so viel geistiger und seelischer Anteilnahme von zwei extrem verschiedenen politischen Richtungen rezipiert wurde. Wir versuchten zu zeigen, dass die Bedingung hierfür in den Widersprüchen bei Bachofen selbst liegt und dass die Neuromantiker ihre Sympathien – zum Teil unter Ausmerzung des anderen Bachofen – dem Metaphysiker, die Sozialisten – wenn auch bei klarer Kenntnis des „Mystikers“ Bachofen – dem Entdecker und Bewunderer demokratisch-freiheitlicher Gesellschaftsstrukturen zuwandten. Darüber hinaus aber kann die Analyse der [I-101] Rezeption Bachofens zeigen, welche Schwierigkeiten auch heute der unbefangenen wissenschaftlichen Bearbeitung des Mutterrechtsproblems gegenüberstehen. Wenn es auch gewiss nicht Aufgabe des Soziologen oder des Psychologen sein kann, in den Streit um die Mutterrechtstheorie in ihren Einzelheiten einzugreifen, so darf er doch wohl auf Grund seiner Einsicht in die gesellschaftliche Bedeutung dieser Theorie zu dem Verdacht kommen, dass, soweit die Mutterrechtstheorie weitgehende Ablehnung gefunden hat, dies zum Teil von affektiven und apologetischen Momenten bestimmt ist. Beim heutigen Stand der Ethnologie ist es gewiss leicht, eine Reihe von Einzelbehauptungen der Vertreter der Mutterrechtstheorie sachlich zu widerlegen. Wenn aber der Ethnologe aus außerwissenschaftlichen Motiven gegen die Theorie voreingenommen ist, so erhält die sachliche Kritik an Stelle einer positiven Funktion die negative, durch Einzeleinwände die Theorie zu „erschlagen“; eine solche „kritische“ Haltung dient oft erkenntnisfeindlichen Zwecken nicht weniger gut als dogmatische Ablehnung, ja oft besser, denn sie ist schwerer durchschaubar.
Wie es auch mit den einzelnen Ergebnissen der Mutterrechtsforschung bestellt sein mag – dass es gesellschaftliche Strukturen gibt, die man als matrizentrisch bezeichnen kann, dürfte feststehen. Es seien im Folgenden über die eigentliche Absicht dieses Aufsatzes hinaus einige Andeutungen gemacht, warum die Beschäftigung mit den schon vorliegenden und gewiss noch mehr mit den zukünftigen Ergebnissen der Mutterrechtsforschung für das Verständnis der sozialen Struktur der Gegenwart und ihrer Wandlungen wichtig und fruchtbar ist.
Zu den gesellschaftlichen Produktivkräften gehören die libidinösen Strebungen der Menschen. Infolge der Plastizität und Veränderbarkeit dieser Strebungen passen sie sich weitgehend – wenn auch in gewissen Grenzen – der gegebenen ökonomischen und sozialen Situation ihrer Gruppe an. Die den Mitgliedern einer gesellschaftlichen Gruppe gemeinsame psychische Struktur stellt zugleich eine unentbehrliche Stütze bei der Erhaltung der gesellschaftlichen Stabilität dar. Diese Struktur wirkt allerdings im Sinne der Stabilität nur so lange, als die Widersprüche zwischen der psychischen Struktur und den ökonomischen Bedingungen ein gewisses Maß nicht überschreiten. Ist dies der Fall, so wirken die psychischen Kräfte im Sinne der Auflösung und Veränderung der bestehenden Ordnung; dabei ist allerdings nicht zu vergessen, dass sich die psychischen Strukturen verschiedener Klassen in dieser Hinsicht je nach ihrer Rolle im gesellschaftlichen Prozess völlig verschieden und auch entgegengesetzt verhalten.[18] Wenn auch der Einzelne durch seine individuelle Konstitution und seine individuellen Lebensschicksale, besonders die frühkindlichen, sich von den Mitgliedern der gleichen Gruppe psychisch unterscheidet, so ist doch ein großer Sektor seiner psychischen Struktur ein Produkt der Anpassung an die Situation seiner Klasse und der Gesamtgesellschaft, in der er lebt. Die Kenntnis der Bedingtheit dieser für eine bestimmte Klasse und Gesellschaft typischen Struktur und damit der in einer bestimmten Gesellschaft wirksamen psychischen Produktivkräfte ist noch weniger weit fortgeschritten als die der ökonomischen und sozialen [I-102] Struktur. Der Grund liegt zum Teil darin, dass der Forscher selbst durch die für seine gesellschaftliche Situation typische psychische Struktur geprägt ist und dass er nur den Geist begreift, dem er gleicht. Er wird leicht in den Fehler verfallen, seine eigene psychische Struktur wie die seiner Gesellschaft für eine natürliche oder „menschliche“ zu halten und zu übersehen, dass ganz andere Triebstrukturen als Produktivkraft unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen wirksam gewesen sind und noch wirksam werden können. Die Bedeutung des Studiums matrizentrischer Kulturen für die Sozialforschung liegt darin, dass in ihnen ganz andere psychische Strukturen sichtbar werden, als sie dem Beobachter unserer Gesellschaft geläufig sind und dass die Einsicht in solche anderen Möglichkeiten eine wichtige Bereicherung der Forschung darstellt. Dies gilt ganz besonders für das, was wir als „matrizentrischen“ Komplex im Gegensatz zum „patrizentrischen“ bezeichnen möchten. Diese Behauptung sei im Folgenden andeutungsweise illustriert; dabei sollen nur Problemstellungen aufgezeigt, nicht Lösungen gegeben werden.
Unter patrizentrischem Komplex wird eine psychische Struktur verstanden, in der die Beziehung zum Vater bzw. seinen psychologischen Äquivalenten die zentrale Objektbeziehung darstellt. Freud hat in seiner Konzeption des (positiven) Ödipuskomplexes einen der entscheidenden Züge dieser Struktur entdeckt, wenngleich er ihn auch infolge des oben angedeuteten Mangels an Distanz zu „seiner“ Gesellschaft in seiner Allgemeingültigkeit überschätzt. Die sexuellen Impulse des Knaben, die sich auf die Mutter als das erste und wichtigste weibliche Liebesobjekt beziehen, lassen ihn den Vater als Rivalen empfinden, eine Konstellation, die erst dadurch ihre charakteristische Bedeutung erlangt, dass der Vater in der patriarchalischen Familie gleichzeitig auch die Funktion der das Leben des Kindes beherrschenden Autorität hat. Diese Doppelrolle des Vaters, abgesehen von der physiologischen Unmöglichkeit der Erfüllung der kindlichen Wünsche, bewirkt, wie Freud weiter gezeigt hat, dass der Wunsch, an die Stelle des Vaters zu treten, bis zu einem gewissen Grade zu einer Identifizierung mit dem Vater führt: Der Vater wird als Träger moralischer Forderungen introjiziert, und diese Introjektion stellt eine mächtige Quelle der Gewissensbildung dar. Da dieser Prozess aber nur teilweise gelingt, führt die Rivalität mit dem Vater zur Ausbildung einer ambivalenten Gefühlshaltung, charakterisiert einerseits durch den Wunsch, von ihm geliebt zu werden, andererseits durch mehr oder weniger offene trotzige Auflehnung gegen ihn.
Der patrizentrische Komplex wird aber auch durch die psychischen Vorgänge, die sich im Vater selbst abspielen, formiert. Auch von seiner Seite besteht eine Eifersucht gegen den Sohn, die zum Teil in der Tatsache begründet ist, dass die Lebenslinie des Vaters im Verhältnis zu der des Sohnes eine relativ absteigende ist. Wichtiger ist eine andere, eine sozial bedingte Quelle der Eifersucht des Vaters, die auf die von sozialen Pflichten noch relativ freie Lebenssituation des Kindes. Es ist klar, dass diese Eifersucht umso größer ist, je stärker der auf dem Vater lastende Druck ist.
Noch wichtiger für die Einstellung des Vaters zum Sohn und für die Formation seiner psychischen Struktur dürfte ein anderer gesellschaftlich und ökonomisch bedingter Tatbestand sein. Der Sohn ist entweder – unter gewissen ökonomischen Verhältnissen – der Erbe des väterlichen Vermögens oder, wo nichts zu vererben ist, in desto [I-103] höherem Maße der künftige Ernährer des Vaters für den Fall einer durch Alter oder Krankheit bedingten Erwerbsunfähigkeit. Er stellt eine Art Kapitalanlage dar, und die für seine Aufzucht und Erziehung investierten Beträge spielen, ökonomisch gesehen, eine ähnliche Rolle, wie die Beiträge zu einer Alters- oder Invaliditätsversicherung. Hierzu kommt noch, dass der Sohn für das soziale Prestige des Vaters eine wichtige Rolle spielt, dass er es durch sozial anerkannte Leistungen erhöhen, wie auch durch Erfolglosigkeit bis zur Zerstörung schwächen kann. (Auch eine ökonomisch oder prestigemäßig erfolgreiche Heirat des Sohnes spielt die gleiche Rolle für den Vater wie andere soziale Leistungen.) Diese soziale und ökonomische Funktion des Sohnes bewirkt, dass im Durchschnittsfall das Ziel der „Erziehung“ durchaus nicht das Glück des Sohnes im Sinne der maximalen Entfaltung seiner Persönlichkeit ist, sondern die maximale Nützlichkeit für die ökonomischen und Prestigebedürfnisse des Vaters. Zwischen Glück und Nützlichkeit des Sohnes besteht so zwar häufig ein objektiver Widerstreit, der aber dem Vater gewöhnlich nicht bewusst wird, da die gesellschaftliche Ideologie beide Ziele für ihn identisch sein lässt. Der Tatbestand wird noch dadurch kompliziert, dass sich der Vater häufig mit seinem Sohne identifiziert und von ihm nicht nur das sozial Nützliche, sondern gleichzeitig auch die Erfüllung seiner eigenen unbefriedigt gebliebenen Wünsche und Phantasien erwartet. Diese sozialen Funktionen des Sohnes sind entscheidend für die Liebeseinstellung des Vaters. Er liebt den Sohn unter der Bedingung, dass dieser die an ihn geknüpften Erwartungen befriedigt. Ist dies nicht der Fall, kann die Liebe bis zum Umschlagen in Hass und Verachtung geschwächt werden.[19]
Die Bedingtheit der väterlichen Liebe führt typischerweise zu zwei Konsequenzen: zunächst zum Verlust jener seelischen Sicherheit, wie sie durch die Gewissheit eines unbedingten Geliebtwerdens geschaffen wird; weiterhin zur Verstärkung der Gewissensinstanz bzw. zu einer Haltung, in der Pflichterfüllung zum Zentrum des Lebens wird, weil nur diese wenigstens ein Minimum von Liebessicherheit garantieren kann. Allerdings wird auch die maximale Erfüllung der Gewissensforderung nicht die Produktion von Schuldgefühlen verhindern, da diese Erfüllung immer hinter den idealen Forderungen zurückbleibt.
Demgegenüber trägt die Liebe der Mutter zum Knaben typischerweise[20] einen ganz anderen Charakter, vor allem darum, weil in den ersten Lebensjahren diese Liebe eine unbedingte ist. Die Fürsorge der Mutter für das hilflose Kind ist nicht abhängig von irgendwelchen moralischen oder sozialen Verpflichtungen, die das Kind zu übernehmen hätte, noch nicht einmal von der Verpflichtung der Gegenliebe. Diese Unbedingtheit der mütterlichen Liebe ist in der Lebenspraxis begründet, wie sie sich aus [I-104] der biologischen Situation ergibt. Sie mag verstärkt werden durch Züge, die aus dem gleichen Grunde anlagemäßig in der Frau vorhanden sind. Auf der anderen Seite wird sie in viel geringerem Maße durch die soziale Situation gestört, da die Mutter nicht die ökonomische Funktion hat, Mehrer und Bewahrer von Vermögen und Prestige zu sein. Die Gewissheit einer von keinen Bedingungen abhängigen Liebe der Mutter (oder ihrer psychologischen Äquivalente) hat zur Folge, dass die Erfüllung von moralischen Forderungen eine geringere Rolle spielt, da sie ja nicht erst die Befriedigung des Bedürfnisses nach Liebe ermöglicht.
Diese Züge weichen allerdings erheblich von dem konventionellen Bild der Mutter in der gegenwärtigen patrizentrischen Gesellschaft ab. Diese kennt im wesentlichen nur Mut und Heldentum des Mannes (bei dem diese Eigenschaften in Wirklichkeit in hohem Maße mit dem Narzissmus verknüpft sind), während die Gestalt der Mutter im Sinn des Sentimental-Schwächlichen umgedeutet wird. An Stelle der mütterlichen Liebe, die an sich nicht nur dem eigenen Kinde, ja nicht einmal nur dem Kinde, sondern dem Menschen überhaupt gilt, tritt im Bild der Mutter das spezifisch bürgerliche Eigentumsgefühl hervor. Diese Veränderung der Figur der Mutter ist ein Ausdruck für die gesellschaftlich bedingte Störung der Mutter-Kind-Beziehungen von Seiten sowohl der Mutter wie des Kindes. Eine weitere Folge dieser Störung – zugleich auch Ausdruck des Ödipuskomplexes – ist eine Einstellung, in der an Stelle des Wunsches nach der Liebe der Mutter der Wunsch tritt, Beschützer der Mutter zu sein, die „hochgehalten“ und „über alles“ gestellt wird. Nicht mehr die Mutter hat die Funktion des Schützens, sondern sie muss beschützt und „rein“ erhalten werden. Diese Reaktionsbildung auf die Zerstörung der ursprünglichen Beziehung zur Mutter erstreckt sich auch auf die sie repräsentierenden Symbole wie Land, Volk, Erde usw. und spielt in den extrem patrizentrischen Ideologien der Gegenwart eine wichtige Rolle. Die Mutter und ihre psychologischen Äquivalente sind in diesen nicht verschwunden, aber sie haben ihre Funktion gewechselt: Aus der Schützenden ist sie zur Schutzbedürftigen geworden. Dem entspricht auch die Stellung der Frau in diesen Systemen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der patrizentrische Typ durch einen Komplex charakterisiert ist, in dem strenges Über-Ich, Schuldgefühle, gefügige Liebe gegenüber der väterlichen Autorität, Herrschlust gegenüber Schwächeren, Akzeptieren von Leiden als Strafe für eigene Schuld und gestörte Glücksfähigkeit dominierend sind. Der matrizentrische Komplex hingegen ist durch ein Gefühl optimistischen Vertrauens in eine unbedingte mütterliche Liebe, geringeres Schuldgefühl, geringere Stärke des Über-Ichs und stärkere Glücks- und Genussfähigkeit gekennzeichnet – bei gleichzeitiger Idealbildung im Sinne der Entwicklung der mütterlichen Qualitäten des Mitleids und der Liebe zu Schwachen und Hilfsbedürftigen.[21] [I-105]
Während beide Typen in jeder Gesellschaft erscheinen dürften – bedingt vor allem durch die individuelle Familienkonstellation der Kindheit –, so scheint es doch, dass sie als durchschnittlicher Typ jeweils für verschiedene Gesellschaftsformationen charakteristisch sind. Der patrizentrische Typ dürfte in der bürgerlich-protestantischen Gesellschaft dominierend sein, während für das katholische Mittelalter wie auch für den europäischen Süden der matrizentrische Komplex eine relativ große Rolle spielen wird. Wir stoßen hier auf ein Problem, das von Max Weber in fruchtbarer Weise behandelt worden ist, nämlich des Zusammenhangs zwischen dem bürgerlichen Kapitalismus und dem Protestantismus bzw. seinen Abkömmlingen, wie des Zusammenhangs zwischen dem Katholizismus und dem Wirtschaftsgeist der katholischen Länder. Bei allen Einwänden, die gegen einzelne Thesen Webers in der beträchtlichen Literatur zum Teil mit Recht erhoben worden sind, gehört doch die Feststellung dieses Zusammenhanges zum gesicherten Gut der Wissenschaft. Max Weber hat das Problem bewusstseinspsychologisch behandelt. Ein volles Verständnis des Zusammenhangs wird aber nur durch eine Analyse der Triebstruktur möglich sein, die sich als Basis des kapitalistisch-bürgerlichen Geistes ebenso wohl wie des protestantischen erweist. In diesem Zusammenhang sei nur darauf hingewiesen, welche Rolle der patrizentrische bzw. der matrizentrische Komplex in dieser Triebstruktur spielt.
Wenn auch der Katholizismus in seinem väterlich-männlichen Gott, wie in seiner männlichen Priesterhierarchie viele patrizentrische Züge aufweist, so ist doch andererseits die bedeutende Rolle des matrizentrischen Komplexes in ihm unverkennbar. Die gnadenreiche heilige Jungfrau und die Kirche selbst bedeuten psychologisch die Große Mutter, die alle ihre Kinder in ihrem Schoße birgt, ja Gott selbst dürften, wenn auch unbewusst, gewisse mütterliche Züge zugeschrieben werden. Der einzelne „Sohn der Kirche“ kann der Liebe der mütterlichen Kirche sicher sein, solange er ihr Kind ist oder wenn er in ihren Schoß zurückkehrt. Diese Kindschaft wird sakramental bewirkt; gewiss spielen moralische Forderungen eine große Rolle, aber durch einen komplizierten Mechanismus wird erreicht, dass sie zwar das gesellschaftlich notwendige Schwergewicht haben, dass aber der einzelne Gläubige unabhängig von [I-106] der moralischen Sphäre eine Gewissheit des Geliebtwerdens haben kann. Schuldgefühle produziert der Katholizismus in nicht geringem Maße, doch liefert er gleichzeitig das Mittel, von diesen Schuldgefühlen frei zu werden; der Preis, der dafür gezahlt werden muss, ist die affektive Bindung an die Kirche und ihre Diener.
Der Protestantismus hat die matrizentrischen Züge des Christentums radikal ausgemerzt. Mütterliche Äquivalente wie die Gestalt der heiligen Jungfrau oder die Kirche oder alle mütterlichen Züge Gottes sind verschwunden: Im Mittelpunkt der Theologie Luthers[22] steht der Zweifel oder auch die Verzweiflung darüber, dass der sündige Mensch eben doch keine Sicherheit des Geliebtwerdens haben könne, und für diesen Zweifel gibt es nur eine Heilung, den Glauben.[23] Diese Heilung erweist sich im Calvinismus und vielen anderen protestantischen Richtungen sogar als ungenügend und wird entscheidend durch die Rolle der Pflichterfüllung ergänzt, die „innerweltliche Askese“, und durch die Notwendigkeit des „Erfolgs“ im bürgerlichen Leben als einzigen Beweises der göttlichen Liebe und Gnade.[24]
Der Protestantismus ist gewiss in seiner Entstehung durch dieselben sozialen und ökonomischen Faktoren bedingt, welche die Entstehung des „Geistes“ des Kapitalismus möglich gemacht haben. Er hat gleichzeitig, wie jede Religion, die Funktion, die [I-107] für eine bestimmte Gesellschaft notwendige Triebstruktur immer wieder zu reproduzieren und zu verstärken. Der patrizentrische Komplex, jene Haltung, in der Pflichterfüllung und Erfolg zu den zentralen Motoren des Lebens gehören, während Glück und Lebensgenuss eine sekundäre Rolle spielen, stellt eine der mächtigsten Produktivkräfte dar, die für die ungeheuren wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen des Kapitalismus bedingend waren. Er hat es ermöglicht, dass die ausschließliche Hingabe aller Energie für wirtschaftlich nützliche Arbeit, die bis dahin, wie bei den Sklaven, durch Mittel der physischen Gewalt erzwungen werden musste, „freiwillig“ erfolgte, indem der äußere Zwang verinnerlicht wurde. Die Verinnerlichung des Zwangs fand am stärksten in der herrschenden Schicht der bürgerlichen Gesellschaft Platz, die der eigentliche Träger des spezifisch-bürgerlichen Arbeits- und Berufsethos war. Sie hatte aber, im Gegensatz zum äußeren Zwang, zur Folge, dass die Erfüllung der Gewissensforderung eine Befriedigung bot, die zur Verfestigung der patrizentrischen Struktur wesentlich beitrug.[25]
Die Befriedigung dieses Bedürfnisses war aber doch nur eine sehr beschränkte, da auch Pflichterfüllung und wirtschaftlicher Erfolg keinen genügenden Ersatz für die verlorengegangene Fähigkeit zum Lebensgenuss und für die innere Sicherheit des unbedingten Geliebtwerdens boten und da andererseits die durch den Kampf aller gegen alle bedingte Isoliertheit und Liebesunfähigkeit sich als schwerer seelischer Druck äußern mussten, der im Sinn der Zerstörung der patrizentrischen Struktur wirkt. Die entscheidenden Faktoren, die zur Auflösung der patrizentrischen Struktur führen, liegen in den ökonomischen Veränderungen begründet.
War die patrizentrische Struktur der psychische Motor für die wirtschaftlichen Leistungen der bürgerlich-protestantischen Gesellschaft gewesen, so trugen diese auch wiederum die Bedingungen in sich, die eine Zerstörung der patrizentrischen Struktur und eine Erneuerung matrizentrischer Züge bewirken. Das Anwachsen der Produktivkräfte lässt zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit einen Zustand als realisierbar erscheinen, der in aller bisherigen Geschichte nur Inhalt von Märchen und Mythen sein konnte: den Zustand, wo alle Menschen ausreichend und kontinuierlich mit den für ihr reales Lebensglück notwendigen Gütern versorgt werden und dies nur einen verhältnismäßig kleinen Aufwand an Arbeit des Einzelnen erfordert, wo also die Entfaltung der menschlichen Anlagen, nicht die Beschaffung der als Bedingung der Kultur notwendigen wirtschaftlichen Güter den Hauptinhalt des menschlichen Energieaufwandes ausmachen. Wenn auch schon die fortgeschrittensten französischen Aufklärungsphilosophen der patrizentrischen Gefühls- und Denkstruktur entwachsen sind, so wird doch zum eigentlichen Träger neuer matrizentrischer Tendenzen jene Klasse, bei der die Antriebe zu einem ganz der Arbeit gewidmeten Leben im wesentlichen von einem ökonomischen und nur zum Teil von einem verinnerlichten Zwang ausgehen. In dieser Gefühlsstruktur lag auch eine der Bedingungen für [I-108] die Wirkung des marxistischen Sozialismus bei der Arbeiterklasse, insoweit diese Wirkung auf der Eigenart ihrer Triebstruktur beruhte. Sein soziales Programm hat als seelische Basis[26] überwiegend den matrizentrischen Komplex. Der rationale Gedanke, dass bei einer entsprechenden Organisation der Wirtschaft die Produktivkräfte es erlauben, jeden Menschen unabhängig von seiner Stellung im Produktivprozess ausreichend mit den zu seinem Wohlbefinden notwendigen Gütern zu versehen und dies außerdem mit viel weniger Arbeit, als bisher nötig war, der Gedanke ferner, dass jedes menschliche Wesen Anspruch auf Lebensglück hat und dass dieses Glück in der „harmonischen Entfaltung der Persönlichkeit“ liegt, sie appellierten alle an die matrizentrischen Kräfte. Sie waren der rationale wissenschaftliche Ausdruck dessen, was unter anderen ökonomischen Bedingungen nur die phantastische Form annehmen konnte: Die Mutter Erde gibt allen ihren Kindern das für sie Notwendige, unabhängig von deren Verdiensten. In diesem Zusammenhang zwischen den matrizentrischen Tendenzen und den sozialistischen Ideen liegt der eigentliche Grund, warum die matriarchalischen Gesellschaften jenen „materialistisch-demokratischen“ Charakter haben, wie er von Bachofen bis Briffault beschrieben wird, und warum die sozialistischen Autoren der Mutterrechtstheorie mit so viel Wärme und Sympathie gegenüberstanden.
Die Weltwirtschaftskrise brachte eine neue Erschütterung der patrizentrischen Struktur mit sich. Die persönlich unverschuldete Arbeitslosigkeit vieler Millionen Menschen steht im Widerspruch zu einer Ideologie, die besagt, dass der Sinn und die Rechtfertigung des Lebens Arbeit sei. Das Dasein der Arbeitslosen verliert im Rahmen dieser Ideologie und der ihr zugrunde liegenden Triebstruktur jeden Sinn und jede Rechtfertigung. War im aufsteigenden Kapitalismus der patrizentrische Komplex durch die positiven Möglichkeiten der Wirtschaft und den Sozialismus bedroht, so bringt die Krise eine Gefährdung von der negativen Seite. Die zur Drosselung der Produktivkräfte führenden gesellschaftlichen Widersprüche wirken im Sinne einer rückläufigen psychischen Entwicklung, im Sinn der Verstärkung des patrizentrischen Komplexes, wie er bei den im Kampf gegen den Marxismus entstandenen Bewegungen sich vorfindet. An Stelle der Forderung nach einem allen Menschen zustehenden Lebensglück stellen ihre ideologischen Repräsentanten wieder die Pflicht in den Mittelpunkt des Wertsystems, wobei allerdings, durch die ökonomische Situation bedingt, diese Pflicht in erster Linie keinen wirtschaftlichen Inhalt mehr hat, sondern den des heroischen Handelns und des Leidens für die Gesamtheit. Das Prinzip einer streng hierarchischen Gliederung des Volkes und der Menschheit, begründet auf moralischen und biologischen Verdiensten, ist ein typischer Bestandteil dieser patrizentrischen Ideologien. Der patrizentrische Komplex bedeutet für diese Bewegungen eine ebenso wirksame psychische Produktivkraft wie der matrizentrische für den Sozialismus. Es sei aber daran erinnert, dass eine solche Produktivkraft zwar aus den [I-109] Inhalten und den Mechanismen des seelischen Apparates zu verstehen ist, dass aber ihr Auftreten zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation von der ökonomischen und gesellschaftlichen Realität bedingt wird.
Wie schon oben gesagt, sollten diese Bemerkungen über die Rolle des patrizentrischen Komplexes für den Zusammenhang zwischen Religion und Gesellschaft und für bestimmte politische Bewegungen nicht mehr bieten als Problemstellungen und sollen zeigen, dass die Verwendung jener psychologischen Kategorien für das vollständige Verständnis der sozialen Struktur einer bestimmten Gesellschaft und ihrer Wandlungen fruchtbar ist.
(1994c [1933])[27]
Es war Johann Jakob Bachofen, Professor des Römischen Rechts in Basel, der die erste große Bresche schlug in die naiven Vorstellungen von der Natürlichkeit der patriarchalischen Gesellschaft, von der Selbstverständlichkeit der Überlegenheit des Mannes über die Frau.[28] Mit genialem Blick, großem Scharfsinn und außerordentlichen Kenntnissen stieg er hinab und zerriss den Schleier, den patriarchalischer Geist über große und wichtige Teile menschlicher Geschichte gelegt hatte und enthüllte das Bild gänzlich anderer Gesellschaftsformen und Kulturen, in denen die Frau die Herrschaft führte, in denen sie Königin, Priesterin, Führerin war, Gesellschaften, in denen nur die Abstammung von der Mutter zählte und der Vater seinem Kinde ein Blutsfremder war. Er glaubte, erkannt zu haben, dass das Matriarchat den Anfang aller menschlichen Entwicklung darstellt und dass erst in einem langen historischen Prozess das Vaterrecht, die männliche Vorherrschaft, sich durchsetzt. Er zeigte, wie der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Prinzip sich als grundlegend durch alles seelische Leben zieht und wie ihm bestimmte Symbole zugeordnet sind: Tag – Nacht, Sonne – Mond, links – rechts.
Gewiss hat sich Bachofen in einer Reihe von einzelnen Aufstellungen geirrt, so sicher wie ihm die neueren ethnologischen Forschungen eine Unzahl von Bestätigungen gegeben hätten. Das Entscheidende aber hatte er gesehen und dem Verständnis der triebhaften Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens, der Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Wesen, der Bedeutung der Symbole neue und fruchtbare Wege gewiesen.
Zunächst wurden diese Wege nicht weiter begangen. Sie blieben jahrzehntelang fast verschollen. Bachofen blieb, von einigen ihm verwandten Geistern seiner Zeit abgesehen, ein Einzelner, der auf Grund gewisser persönlicher Bedingungen (seine ungewöhnliche Begabung sowohl wie die intensive Bindung an seine Mutter) Einsichten über den relativen Charakter der patriarchalischen Gesellschaft schon zu einer Zeit hatte, als diese Gesellschaft noch auf ihrem Höhepunkt stand, sich selbst noch kein Problem geworden war, und als infolgedessen Bachofens Erkenntnisse noch nicht zu den Ohren der Denker und Gelehrten und gerade der fortschrittlichen Vertreter des Bürgertums dringen konnte. [XI-190]
Die Tiefen des Seelenlebens, in die Bachofen geschaut und die er wieder aufgedeckt hatte, blieben zunächst verschüttet, und es war erst Freud, der sie wiederentdeckte und sie in viel breiterem Ausmaß enthüllen konnte. Er kam auf ganz anderen Wegen als Bachofen. Kam dieser als Jurist, Philologe, Romantiker und demonstrierte an Mythen, Skulpturen, Volksbräuchen, so kam Freud als Arzt und Rationalist und wies am Experiment, an neurotischen Menschen mit einer naturwissenschaftlichen Methode nach, wo die wirklichen Antriebe des seelischen Verhaltens zu suchen sind und wie sie beschaffen sind. Nur in einem Punkt war Freud befangener in den Vorurteilen der bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaft als Bachofen: in der Überschätzung der Rolle des Mannes und der Annahme seiner natürlichen Überlegenheit.
Indem aber das feste Gefüge der patriarchalischen Gesellschaft sich auflockerte, mussten die Gedankengänge Bachofens ihre Auferstehung feiern. Es war vor allem ein Kreis deutscher Intellektueller, der sich um den außergewöhnlichen Lehrer gruppierte und dessen bedeutendster, wenn auch nicht tiefster Exponent Klages war, der die Gedanken Bachofens wieder auferstehen ließ. Allerdings in einer eigenartigen und verzerrten Weise. Es war ein Kreis, dessen Blick ausschließlich rückwärtsgewandt war, der für die Gegenwart nur höhnische Verachtung hatte und an der Zukunft keinerlei Interesse.
Noch länger dauerte es, bis Ethnologen und Psychologen sich von den patriarchalischen Vorurteilen freimachen konnten und auf dem Gebiete der individuellen wie der gesellschaftlichen Psychologie zum Problem des Mutterrechts und zu einer vorurteilsfreien Einschätzung der weiblichen Psyche und ihrer Bedeutung für den Mann [kamen]. Von den Ethnologen seien hier Briffault und Malinowski erwähnt. Von den Psychoanalytikern speziell Georg Groddeck, der wohl als erster eine der wichtigsten Tatsachen auf diesem Gebiete sah: den Neid des Mannes auf die Frau und speziell den „Gebärneid“, den Neid auf die ihm versagte Eigenschaft naturaler Produktivität.
In die gleiche Richtung, zu der Aufdeckung des einseitig männlichen Standpunktes Freuds und des Nachweises der weitgehenden psychischen Wirkungen der Bisexualität, der Eigenart der spezifisch und originär weiblichen Sexualität, gehen die Arbeiten Karen Horneys. Mit der Entdeckung des Gebärneides des Mannes hatte Groddeck einen Fund von außerordentlicher Bedeutung gemacht. Das Gebärenkönnen, die naturale Produktivität, ist jene Eigenschaft, jene Fähigkeit, die die Frau besitzt und die dem Mann fehlt. Gewiss ist im Laufe der kulturellen Entwicklung die bewusste Schätzung dieser Qualität von Seiten des Mannes und der Frauen zurückgegangen. Das hat verschiedene Gründe. Zunächst ökonomische im engeren Sinne: Je primitiver eine Wirtschaft ist, je weniger Technik und Maschine zur Herstellung von Gütern dienen, desto größer ist die Bedeutung lebender Arbeitskräfte für die Wirtschaft, desto größer auch die Bedeutung der Frau als derjenigen, die die Gesellschaft mit lebenden Arbeitskräften, also ihrem wichtigsten Produktionsmittel, versorgt. In dem Maße, als Menschenkraft an Bedeutung für die Gesamtwirtschaft verliert, müssen auch die Rolle der Frau und die Einschätzung ihrer spezifischen Fähigkeit geringer werden.
Hierzu kommt ein anderer, im weiteren Sinne ökonomischer Grund. In einer relativ primitiven, speziell auf Landwirtschaft und Viehzucht basierenden Gesellschaft hängen Lebenssicherheit und Reichtum im wesentlichen nicht von technischen und [XI-191] rationalen Faktoren ab. Die Produktivkraft der Natur, das heißt die Fruchtbarkeit des Bodens, die Einwirkung von Wasser und Sonne, ist die Macht, die über Leben und Tod des Menschen entscheidet. Der Angelpunkt der Wirtschaft ist jene geheimnisvolle Kraft der Natur, aus sich selbst heraus immer wieder neue, für den Menschen lebenswichtige Dinge zu gebären. Wer besaß noch diese geheimnisvolle Kraft naturaler Produktivität? Einzig die Frau. Sie hatte jene Fähigkeit, die sie mit der ganzen Natur teilte, mit Pflanzen und Tieren, und von der Leben und Existenz des Menschen abhing. Musste nicht der Mann sich als ein Krüppel vorkommen, der die wichtigste, entscheidende „Potenz“, die Fähigkeit zur naturalen Produktion, nicht besitzt? Musste er nicht die Frau um dieses Vorsprungs aufs Äußerste bewundern und beneiden?
Dieser Neid wie auch diese Bewunderung mussten umso größer sein, eine je geringere Rolle die Zeugung, das männliche Prinzip, spielte. Es hat lange Zeiträume gedauert, bis die Menschen dazu kamen, den Zusammenhang zwischen Geschlechtsakt und Schwangerschaft zu verstehen, bis sie begriffen, dass es nicht allein die Frau ist, die aus sich heraus und ohne jede Einwirkung von außen einem Kind das Leben schenkt. In der Idee der Jungfrauengeburt, die sich in so vielen Mythen und Religionen bis zum Christentum findet, hat sich dieser alte Glaube noch erhalten. Auch heute noch sind manche primitiven Stämme noch nicht bis zur Erkenntnis des wirklichen Sachverhalts vorgedrungen. Diese Tatsache ist weniger erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ja lange Zeiträume vorbeigehen mussten, bis die Menschen verstanden, dass das Wachstum der Pflanzen, der Früchte und Knollen, nicht „von selbst“ vor sich geht, dass es des Samens bedarf, damit Mutter Erde ihre Reichtümer ausschütten kann; bis sie begriffen, dass „wer da sät, auch erntet“. Diese Entdeckung wurde sicherlich nicht von ungefähr gemacht. Wenn durch Ausmergelung des Bodens, Bevölkerungsüberschuss oder auch Klimaveränderung die Spenden der Natur aufhörten, für die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen ausreichend zu sein, zwang die Lebensart die Menschen dazu, nach aktiver, zeugender Einwirkung auf die Natur zu suchen, und führte dazu zu säen, zu pflügen, Tiere zu domestizieren und zu züchten.
Die naturale Produktivität wurde ergänzt durch die rationale Produktivität, das heißt durch die zeugende Einwirkung auf die Materie. Der Verlauf der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist charakterisiert durch die Zunahme der Bedeutung der rationalen Produktivität. Die Technik, die Maschine, ist der Ausdruck des immer größeren Anwachsens der rationalen Einwirkung auf die Materie und einer dadurch bedingten noch immer weitergehenden Steigerung der Produktivität, der Hervorbringung neuer, für die Menschen brauchbarer und den Lebensgenuss steigernder Güter.
Der Eindruck der Bedeutung des rationalen, zeugenden Faktors gerade in den Jahrzehnten der sich stürmisch entwickelnden Technik, der Entdeckung und Besitznahme neuer Länder, der Schaffung neuer Handelsverbindungen war so groß, dass man begann, die Bedeutung der naturalen Faktoren zu unterschätzen, so wie man sie einst überschätzt hatte. Man sprach dem „Geist“, dem männlich zeugenden Prinzip, einen unbedingten, schrankenlosen Einfluss zu – eine Einstellung, die sich ebenso wohl in der idealistischen Philosophie, in gewissen Zügen des bürgerlichen Rationalismus wie in der streng patriarchalischen Gesellschaftsstruktur ausdrückte. [XI-192]
Es ist leicht zu verstehen, wenn in Zeiten wachsender Bedeutung der rationalen Faktoren im gesellschaftlichen Leben (und solche Zeiten sind durchaus nicht nur die „Neuzeit“, wie ja auch die moderne Technik nur ein, wenn auch der grandioseste Ausdruck rational-zeugender Produktivität ist) die spezifische Fähigkeit der Frau, ihre naturale Produktivität, im gesellschaftlichen Bewusstsein an Bedeutung verlor und umgekehrt die rational-zeugende Potenz des Mannes an Wertschätzung gewann. Im Bewusstsein der Menschen musste die männliche Rolle immer begehrenswerter, die weibliche Rolle immer nebensächlicher und wertloser erscheinen.
Diese Einschätzung findet aber doch nur im Bewusstsein, in den vom gesellschaftlichen Bewusstsein getragenen Werturteilen statt. Das Unbewusste reagiert „natürlicher“. Es wird von aller rational-technischer Entwicklung nicht darüber getäuscht, dass allein die Frau jene geheimnisvolle Fähigkeit naturaler Produktivität besitzt, jene große Nähe zur Natur, zum Leben, jene Fähigkeit, die lebendigen Vorgänge unmittelbar und instinktiv zu verstehen, die einst die Frauen zu Seherinnen, Prophetinnen, Führerinnen machte und die sie heute noch zu soviel stärkeren Garanten des Lebens macht als den soviel unsichereren, das Spiel mit Tod und Vernichtung liebenden Mann.
Im Unbewussten des Mannes ist das Gefühl der Überlegenheit der Frau und ihre Fähigkeit naturaler Produktivität und der Neid auf diese Potenz ebenso auch jetzt vorhanden, wie im Unbewussten der Frau der Stolz darauf und das Gefühl ihrer Überlegenheit über den Mann.
Das Dokument, das selbst der stärkste Ausdruck einer extrem männlichen und patriarchalischen Gefühlseinstellung ist, das deshalb auch die wichtigste literarische Grundlage der patriarchalischen Gefühlseinstellung in der europäischen und amerikanischen Kultur wurde, ist das Alte Testament. In ihm sind in klassischer Weise die Gefühle und der Glaube einer sich über die Frau überlegen glaubenden patriarchalischen Gesellschaft dargestellt, und es ist nicht verwunderlich, dass auch das Problem der Produktivität, die Schöpfung, eine extrem männliche Lösung findet.
Das Alte Testament trägt deshalb einen so extrem männlichen Charakter, weil es als Grundschrift des jüdischen Monotheismus das Dokument des Sieges über die weiblichen Gottheiten, über matriarchalische Reste in der Gesellschaftsstruktur darstellt. Das Alte Testament ist der Triumphgesang der siegreichen Männerreligion, ein Siegeslied der Vernichtung der matriarchalischen Reste in Religion und Gesellschaft.
Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Und die Erde war wüst und leer (tohuwabohu) und Finsternis war über dem Abgrund und der Geist (Hauch, Wind, spiritus) Gottes schwebte (brütete) über den Urwassern (tiamat, das Meeresungeheuer im babylonischen Schöpfungsepos). Und es sprach Gott, es werde Licht und da ward Licht. [Gen 1, 1-3]
Diese Eingangssätze des biblischen Schöpfungsmythos stellen die Proklamation männlicher Herrschaft und Überlegenheit dar. Die Gewöhnung, die den europäisch-amerikanischen Menschen von Kindheit auf diese Sätze beinahe als Selbstverständlichkeit empfinden lässt, macht leicht vergessen, wie paradox, wie „widernatürlich“ dieser Mythos ist. Nicht eine Frau, eine Mutter, schafft die Welt, gebiert das All, sondern ein Mann. Und wie schafft er, wie gebiert er? Mit dem Mund, durch das Wort: „Gott sprach, es werde (...)“ – dies ist die Zauberformel, die sich durch den ganzen [XI-193] Schöpfungsmythos hindurchzieht, mit dem jeder neue Schöpfungsakt, mit dem jede neue Geburt eingeleitet wird.
Bevor wir auf den Zentralpunkt, die männliche Schöpfung, ausführlich eingehen, wollen wir uns den extrem männlichen Charakter des genannten Berichtes vor Augen führen.
Die erste Schöpfungstat ist die Geburt des Lichtes. Das Licht ist immer und überall ein Symbol des männlichen Prinzips (vgl. hierzu die tiefschürfenden Untersuchungen Bachofens), und es kann nicht verwundern, wenn dieser Schöpfungsbericht das Licht den Anfang der Welt sein lässt. Und dennoch sind die Reste alter, ursprünglicher Anschauungen auch in diesem extrem männlichen Schöpfungsbericht nicht ausgerottet.[29] [Man kann sehen, dass zwar] Gott noch brütend, auf dieser Urmutter liegend, vorgestellt wird, wie aber schon nur noch ihre Symbole und nicht mehr die Große Mutter selbst erwähnt werden und wie dann der männliche Gott selbst als alleiniger Schöpfer, als Schöpfer durch das Wort, gefeiert wird.
Die gleiche „unnatürliche“, die Rolle der Frau eliminierende, die Frau herabsetzende Tendenz findet sich noch unverhüllter, noch ausgesprochener im 2. Schöpfungsbericht [Gen 2,4°ff.].
Während noch im ersten Bericht der Mensch im Ebenbilde Gottes „männlich und weiblich geschaffen“ wird, also noch ein Rest der alten Vorstellung einer zweigeschlechtlichen Gottheit, wird im zweiten Bericht zunächst der Mann allein geschaffen. Auch hier sind Reste alter Vorstellungen nicht ganz eliminiert. „Und Flut (Wasser) stieg auf vom Land und befeuchtete die ganze Erde. Da schuf Gott den Menschen (Adam), Staub von der Erde (adama), und er blies in seine Nase den Hauch des Lebens, so ward der Mensch zu einem lebenden Wesen“ [Gen 2,6°f.]. Auch hier also eine Urmutter, die Erde, die vom Wasser als dem männlichen Prinzip befeuchtet wird und aus deren Schoß der Mensch entstammt. (Der Ozean ist durchgehend Symbol des Weiblichen, Süßwasser – Flüsse und Regen – Symbol des männlichen, befruchtenden Prinzips.) Auch hier aber ist wieder der männliche Gott der eigentliche Schöpfer. Diese Reste alter Vorstellungen verschwinden ganz in dem nun folgenden Teil des Berichts. Nachdem nun der Mann als erstes Wesen geschaffen ist, wird für seine Bedürfnisse gesorgt. „Es ist nicht gut, dass der Mann allein ist“ [Gen 2,18], sagt Gott. Gewiss, eine tiefe psychologische Einsicht, aber ganz gesehen und formuliert vom Standpunkt des Mannes aus.
Zunächst werden die Tiere geschaffen und dem Mann als „Hilfe“ angeboten. Aber „er fand keine Hilfe für sich“ bei ihnen [Gen 2,20b]. (Bemerkenswert ist die Bedeutung, die der Mythos der Namengebung durch den Mann zumisst: „Und Gott schuf aus dem Boden alles Tier des Feldes und alle Vögel des Himmels, und er brachte sie zum Mann, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und ganz so, wie der Mensch das lebende Wesen benennen würde, so sollte sein Name sein“ [Gen 2,19]. – Wir werden später darauf zurückkommen.)
Nachdem sich die Tiere als untauglich erwiesen haben, die Einsamkeit des Mannes zu lindern, wird die Frau geschaffen:
Da ließ Gott einen tiefen Schlaf über den Mann kommen, und er schlief ein. Und er nahm eine von seinen Rippen und schloss das Fleisch wieder an der Stelle. Und [XI-194] Gott baute die Rippe, die er vom Manne genommen hatte, zur Frau und er brachte sie zum Mann. Da sagte der Mann: „Dieses Mal ist es Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch, diese soll Männin (ischa) genannt werden, denn vom Mann (isch) ist sie genommen.“ [Gen 2, 21-23]