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Seiten: (ca.) 11
Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 5.1.2016
ISBN: eBook 9783959121293
Format: ePUB
Liebe und Hass sind psychische Grundkräfte seit Menschengedenken. Es ist Erich Fromms Sensibilität für gesellschaftliche Entwicklungen zuzuschreiben, dass er eine tief reichende Änderung dieser Grundkräfte im Zwanzigsten Jahrhundert wahrnahm: Der Hass auf andere, die Umwelt und auf sich selbst wird immer mehr zu einer Lust an der Zerstörung um der Zerstörung willen. Menschen fühlen sich immer mehr von allem Leblosen angezogen und von dem, was mit Gewalt bewirkt werden kann. Fromm nannte diese Grundstrebung eine Liebe zum Toten: „Nekrophilie“. Ihr zu begegnen kann man nur mit einer ebenso entschiedenen Liebe zu allem Lebendigen, zu einer „Biophilie“, zu allem, was wächst und sich entfaltet.
Der Beitrag ‚Die Faszination der Gewalt und die Liebe zum Leben‘ veranschaulicht diese Grundkräfte der „Biophilie“ und „Nekrophilie“ in einfachen Worten und mit anschaulichen Beispielen.
(Do We Still Love Life?)
Erich Fromm
(1967e)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Übersetzungen aus dem Amerikanischen von Rainer Funk.
Erstveröffentlichung unter dem Titel Do We Still Love Life?, in: McCalls, New York, Vol. 94 (August 1967), S. 57 und 108-110. In deutscher Übersetzung wurde der Beitrag erstmals 1994 unter dem Titel Die Faszination der Gewalt und die Liebe zum Leben publiziert in dem Sammelband Liebe, Sexualität, Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München, S. 211-224. In verbesserter Übersetzung fand der Beitrag Eingang in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band: XI, S. 339-348.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA XI, S. 177-187.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1994 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.
Lieben wir wirklich noch das Leben?[1] – Für manchen mag diese Frage verwirrend, wenn nicht gar unsinnig klingen. Lieben nicht alle Menschen das Leben? Ist diese Liebe zum Leben nicht der Beweggrund für alles, was wir tun? Könnten wir überhaupt am Leben bleiben, wenn wir nicht das Leben liebten und all die vielen Anstrengungen unternähmen, das Leben zu erhalten und seine Bedingungen zu verbessern? Vielleicht können jene, die so denken, und ich, der ich so frage, uns ohne große Schwierigkeiten gegenseitig verstehen, wenn wir es nur versuchen.
Mit anderen kann es schon schwieriger sein, zu einem gemeinsamen Verständnis zu kommen. Ich denke da vor allem an Menschen, die auf meine Frage mit einer gewissen Empörung reagieren. Entrüstet fragen sie, wie ich es nur wagen kann, daran zu zweifeln, dass wir das Leben lieben. Wurzeln nicht unsere gesamte Zivilisation, unsere Art zu leben, unsere religiösen Gefühle, unsere politischen Vorstellungen in dieser Liebe zum Leben? Rüttelt nicht der, der dies in Frage stellt, an den Fundamenten unserer Kultur? Es ist viel schwieriger, mit dem, der sich entrüstet, zu einem Einverständnis zu kommen, denn Entrüstung ist ihrem Wesen nach immer eine Mischung aus Ärger und Selbstgerechtigkeit, die jedes Verstehen erschwert. Ein Mensch, der sich ärgert, ist leichter mit vernünftigen und freundlichen Worten erreichbar als einer, der sich entrüstet. Dieser versucht nämlich seinen Ärger dadurch zu verdecken, dass er von seiner eigenen Rechtschaffenheit überzeugt ist. Vielleicht sind einige, die auf die Eingangsfrage mit Entrüstung reagieren, eher bereit, sich auf sie einzulassen, wenn sie spüren, dass ich mit dieser Frage niemanden angreife, sondern auf eine Gefahr hinweisen will, die nur dadurch überwunden werden kann, dass man sich ihr stellt.
Zweifellos könnten kein Mensch und keine Kultur ohne ein bestimmtes Minimum an Liebe zum Leben existieren. Wir beobachten, dass Menschen, die dieses Minimum an Lebensliebe verloren haben, verrückt werden, sich das Leben nehmen, zu hoffnungslosen Alkoholikern oder Drogenabhängigen werden. Wir kennen auch ganze Gesellschaften, die so bar jeder Liebe zum Leben und so voller Destruktivität wurden, dass sie zerfielen und untergingen beziehungsweise fast untergingen. Ein Beispiel sind die Azteken, deren Macht vor einer kleinen Gruppe von Spaniern wie Staub zerfiel. [XI-340] Oder man denke an das Nazi-Deutschland, das einem Massensuizid zum Opfer gefallen wäre, wenn es nach dem Willen Hitlers gegangen wäre. Wir in der westlichen Welt sind bisher noch nicht am Zerfallen, doch es gibt Anzeichen dafür, dass es dazu kommen kann.
Um über die Liebe zum Leben zu sprechen, müssen wir uns zuerst darüber verständigen, was wir unter Leben verstehen. Es hat den Anschein, als wäre dies leicht. So lässt sich sagen, Leben sei das Gegenteil von Tod. Ein lebendiger Mensch oder ein lebendiges Tier können sich selbst bewegen und auf Reize reagieren. Ein toter Organismus kann solches nicht, ja, er zerfällt und hat nicht einmal wie ein Stück Holz oder ein Stein Bestand. Sicherlich ist es grundsätzlich möglich, Leben so zu definieren. Ich möchte jedoch das Besondere von Leben ein wenig genauer bestimmen: Leben hat immer die Tendenz, zu vereinen und zur Ganzheit zu kommen. Anders formuliert heißt dies, Leben ist notwendigerweise ein Prozess ständigen Wachstums und Wandels. Hören Wachstum und Veränderung auf, tritt der Tod ein. Leben wächst aber nicht wild und unstrukturiert; jedem Lebewesen ist eine eigene Form und Struktur zu eigen, die in seinen Chromosomen eingepflanzt ist. Es kann vollständiger und vollkommener wachsen, aber es kann nicht zu etwas heranwachsen, was in ihm nicht angelegt ist.
Leben ist immer ein Prozess – ein Prozess von Veränderung und Entfaltung und auch ein Prozess ständiger Interaktion zwischen der gegebenen Struktur und der Umwelt, in die etwas hineingeboren wird. Aus einem Apfelbaum kann nie ein Kirschbaum werden, doch Apfel- oder Kirschbaum können mehr oder weniger schöne Bäume werden, je nach der konstitutionellen Ausstattung und den Umweltbedingungen, in denen sie wachsen. Feuchtigkeit und Sonneneinstrahlung, die sich für die eine Pflanze segensreich auswirken, können für eine andere zum Verderben werden. Nicht anders ist es beim Menschen; leider nur wissen die meisten Eltern und Lehrer über das, was für den Menschen gut ist, weit weniger, als ein Gärtner über seine Pflanzen weiß.
Die Behauptung, das Leben entfalte sich nicht wild und unvorhersagbar, sondern nach vorgegebenen strukturellen Mustern, bedeutet nun aber gerade nicht – außer in einem ganz weiten Sinne –, dass die ganz besonderen Aspekte eines Lebewesens voraussagbar wären. Dies ist eine der großen Paradoxien alles Lebendigen: Es ist vorhersagbar, und doch auch wieder nicht. Hinsichtlich der großen Linien wissen wir mehr oder weniger genau, was aus einem Lebewesen werden soll. Das Leben ist jedoch voller Überraschungen. Im Vergleich mit der Ordnung, die es im nicht-lebendigen Bereich gibt, ist das, was lebt, „unordentlich“. Wer ganz von der Erwartung einer Ordnung bestimmt ist (wobei „Ordnung“ wohlgemerkt immer nur eine Kategorie des eigenen Geistes ist), so dass er eine Ordnung in allen Lebewesen erwartet, wird enttäuscht sein. Ist sein Verlangen nach Ordnung besonders intensiv, dann wird er gar versuchen, dem Leben eine Ordnung aufzuzwingen, um es besser beherrschen zu können. Stellt sich dann heraus, dass sich das Leben seiner Kontrolle nicht unterwirft, kann es zu einer solchen Enttäuschung und Wut kommen, dass er schließlich versucht, das Leben zu ersticken und zu töten. Er ist zu einem Lebenshasser geworden, weil er sich nicht von dem Zwang befreien konnte, es unter seine Kontrolle zu bekommen. Er [XI-341] scheiterte in seiner Liebe zum Leben, denn – wie ein französisches Lied sagt – „die Liebe ist ein Kind der Freiheit“.