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Seiten: (ca.) 9
Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 5.1.2016
ISBN: eBook 9783959121316
Format: ePUB
Das Erscheinen des Kinsey-Reports im Jahr 1948 ist für Erich Fromm nur der Anlass, um sein Verständnis der Bedeutung der Sexualität zu präzisieren. Sigmund Freud sieht das Beziehungsgeschehen von der Sexualität geprägt, so dass die Art und Qualität der Sexualität immer auch über das Wohl und Wehe einer Beziehung mitentscheidet. Für Erich Fromm sind die den Charakter prägenden und in der Gesellschaft vorgegebenen Beziehungsmuster für das Partnergeschehen entscheidend. Die Charakterstrebungen wirken sich dann auch auf das Erleben der Sexualität aus und auf die Frage, welche Rolle die Sexualität im Partnererleben spielt.
Die Frage, welche Rolle die Sexualität für das Gelingen von Partnerschaft spielt, ist allgegenwärtig. Der Beitrag macht deutlich, dass in der Regel das Beziehungsmuster das Problem ist.
(Sex and Character.
The Kinsey-Report Viewed from the Standpoint of Psychoanalysis)
Erich Fromm
(1948b)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Übersetzungen aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.
Anmerkung des Herausgebers: Erstveröffentlichung 1948 unter dem Titel Sex and Character: The Kinsey Report Viewed from the Standpoint of Psychoanalysis, in: D. P. Geddes und E. Curie (Hg.), About the Kinsey Report, New York (The New American Library), S. 47-58; eine deutsche Übersetzung wurde erstmals 1981 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), Band VIII, S. 377-385 veröffentlicht.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, GA VIII, S. 377-385.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1948 by Erich Fromm; Copyright © 1981 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Freuds Sexualtheorie[1], die er zu Anfang unseres Jahrhunderts zum ersten Mal veröffentlichte, bedeutete eine Herausforderung für eine Generation, die noch immer unerschütterlich dem Glauben an die sexuellen Tabus des Viktorianischen Zeitalters verschworen war. Freud hatte gezeigt, dass die Verteufelung der Sexualität zu Schuldgefühlen führt und dass dadurch Neurosen entstehen. Außerdem hatte er gezeigt, dass Abweichungen vom sogenannten normalen Sexualverhalten keine seltenen Ungeheuerlichkeiten sind, sondern zur normalen sexuellen Entwicklung von der frühen Kindheit zur Adoleszenz gehören und dass sexuelle Anomalitäten beim Erwachsenen Überreste früherer sexueller Verhaltensweisen sind und deshalb als neurotische Symptome zu verstehen und nicht moralisch zu verurteilen sind.
Angesichts der Tatsache, dass Freud und seine Schule die Sexualität in den Mittelpunkt ihrer psychologischen Theorie stellten, ist es umso erstaunlicher, dass vor dem Kinsey-Report von 1948 von Psychoanalytikern kein ausführlicher Überblick über das Sexualverhalten durchgeführt worden ist. Man sollte darum meinen, der Kinsey-Bericht wäre allen Psychoanalytikern hochwillkommen gewesen als ein Bericht über Tatsachen, die den allgemeinen Trend der psychoanalytischen Einstellung bestätigen, auch wenn sich der Report nur mit dem manifesten Verhalten und nicht mit dem Problem unbewusster Motivationen und des Charakters befasst. Aber entgegen diesen Erwartungen hat eine ganze Reihe von Psychoanalytikern (eine Minderheit, wie ich hoffe) ihn mit einer recht unfreundlichen Kritik aufgenommen. Eine Kritik geht beispielsweise so weit zu behaupten, Kinsey habe unmöglich in so kurzer Zeit eine solche Fülle von Daten ans Licht bringen können, während es den Psychoanalytikern sehr schwerfalle, selbst in zahlreichen Interviews auch nur verhältnismäßig wenige Daten über einen einzelnen Patienten zusammenzutragen. Ein solches Argument kann man natürlich immer vorbringen, wenn ein Forscher mehr Erfolg hat als seine Vorgänger, aber eine ernstzunehmende Kritik ist sie nicht.
Will man die Bedeutung des Kinsey-Reports vom Standpunkt des Psychoanalytikers überprüfen, so muss man zunächst die theoretischen Unterschiede zwischen den einzelnen psychoanalytischen Schulen bezüglich der Rolle der Sexualität im menschlichen [VIII-378] Verhalten in Betracht ziehen. Freud und seine Schüler waren der Ansicht, die Energiequelle menschlichen Verhaltens sei weitgehend sexueller Natur. Man nahm an, dass die normale Entwicklung der Libido durch Umwelteinflüsse besonders in der frühen Kindheit gehemmt oder entstellt werden kann und dass Besonderheiten im Verhalten und Charakter von Erwachsenen in den Besonderheiten seiner sexuellen Begierden und Wünsche wurzeln. Die Merkmale des Sexuallebens eines Menschen waren dann für seine Gesamtpersönlichkeit von exemplarischer Bedeutung.
Dies gilt beispielsweise für sadistische Strebungen. Freud war der Ansicht, dass sadistische Impulse beim Kind während einer bestimmten Phase seiner Entwicklung einen Bestandteil seiner sexuellen Strebungen ausmachen. Wenn diese frühe Phase der sexuellen Entwicklung des Kindes in seinem späteren sexuellen Leben die Vorherrschaft behält, so wird der Betreffende als Erwachsener Sadismus entweder als sexuelle Perversion oder als Charakterstruktur entwickeln, in der der Wunsch, seine Mitmenschen zu unterdrücken, zu beherrschen und herabzusetzen, dominant ist.