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Seiten: (ca.) 230
Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 28.12.2015
ISBN: eBook 9783959121347
Format: ePUB
Erich Fromm war ein Pionier der psychoanalytischen Sozialforschung. Mit der Untersuchung "Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes" wollten er und sein Mitarbeiter Michael Maccoby „eine neue Methode testen, welche die Anwendung der psychoanalytischen Theorie auf die Untersuchung von gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen sollte, ohne dabei die einzelnen Glieder der Gruppe einer Psychoanalyse zu unterziehen“.
Die 1957 begonnene und 1970 publizierte Studie verbindet quantitative und qualitative Untersuchungsmethoden und verfolgt zugleich das Ziel einer partizipatorischen Sozialforschung. Stellte Fromms frühe Arbeiter- und Angestelltenerhebung aus dem Jahr 1930 eine wissenschaftliche Pioniertat dar, so illustriert er mit der mexikanischen Untersuchung, dass sich seine Konzeption von Analytischer Sozialpsychologie mit Hilfe der Charaktertheorie operationalisieren und durch empirische Untersuchungsmethoden bestätigen lässt. Zugleich zeigt diese Studie, dass das benützte Konzept des Sozialcharakters weiterhin Aktualität besitzt.
Mit der E-Book-Ausgabe ist diese psychoanalytisch orientierte empirische Studie erstmals als Einzelpublikation in Deutscher Sprache zugänglich
Aus dem Inhalt
- Das sozio-ökonomische und kulturelle Bild des Dorfes
- Die Theorie der Charakter-Orientierungen
- Der Charakter der Dorfbewohner
- Die Faktorenanalyse
- Der Charakter und das Geschlecht
- Ursachen des Alkoholismus
- Die Entwicklung des Charakters in der Kindheit
- Der Charakter der Kinder im Vergleich zu dem der Eltern
- Beispiele für Veränderung durch Kooperation
- Beispiele für die Auswertung des Fragebogens
(Social Character in a Mexican Village.
A Sociopsychoanalytic Study)
Erich Fromm und Michael Maccoby
(1970b)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel
Erstveröffentlichung unter dem Titel Social Character in a Mexican Village. A Sociopsychoanalytic Study, Englewood Cliffs 1970 (Prentice Hall, Inc.). Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis. Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes wurde erstmals in Band III der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1980/1981 veröffentlicht.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band III, S. 231-540, macht den Untertitel aber, wie im englischen Original, zum Haupttitel: Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes. Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1970 by Erich Fromm und Michael Maccoby; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm und by Michael Maccoby. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Die Gründe für diese Untersuchung[1] werden in Kapitel 1 dargelegt. Hier möchten wir zunächst den Verlauf der Forschungsarbeit kurz skizzieren.
1957 stellte Fromm einen allgemeinen Forschungsplan auf und wählte ein bestimmtes Dorf dafür aus. Zwei Gründe sprachen für das ausgewählte Dorf: Zum einen war es für viele Dörfer in den fruchtbaren Talregionen südlich und südwestlich von Mexico City repräsentativ, da seine Einwohner spanisch-indianischer Abstammung (Mestizen) waren und da außerdem Ackerbaumethoden und Wirtschaftsstruktur im wesentlichen die gleichen sind wie die von Hunderten anderer Dörfer mit gleichem Klima und von gleicher Höhenlage. Auch war für die Wahl dieses Dorfes entscheidend, dass es sich um eine ejido handelt, um ein Dorf also, das aus kleinen Parzellen besteht, die den Dorfbewohnern nach der Revolution von 1910-1920 zugeteilt wurden, und wir uns besonders für den Einfluss der Ejido-Struktur auf die Persönlichkeit der Einwohner interessierten. (Eine ausführliche Beschreibung eines Ejidos steht in Kapitel 3; die Frage, wie typisch dieses Dorf ist, wird in Kapitel 5 erörtert.) Zum anderen war dieses Dorf ein Centro de Bienestar Rural (ländliches Fürsorgeamt), das vom Ministerium für öffentliche Gesundheit und Sozialfürsorge errichtet worden war. Hierdurch wurde uns der Zugang zum Dorf erleichtert und die Dorfbewohner akzeptierten uns eher. Der verstorbene Dr. José Zozaya, der sich sehr lebhaft für unsere Studie interessierte, trug sehr viel dazu bei, dass sich das mexikanische Gesundheitsministerium für unser Projekt aufgeschlossen zeigte. Zu besonderem Dank sind wir diesem Ministerium für seine finanzielle Unterstützung verpflichtet; wenn seine Mittel auch begrenzt waren, so halfen sie uns doch über die ersten Schwierigkeiten hinweg.
In der ersten Phase der Untersuchung arbeiteten sämtliche Mitarbeiter einschließlich des Leiters unentgeltlich. Dabei handelte es sich vor allem um Mitglieder der Mexikanischen Psychoanalytischen Gesellschaft, insbesondere um Dr. Aniceto Aramoni, Dr. José Diaz, Dr. Jorge Velasco Alzaga, Dr. Alfonso Millán, Dr. Guillermo Dévila, Dr. Francisco Garza, Dr. Jorge Silva, Dr. Armando Hinojosa, Dr. Ramón de la Fuente, Dr. Jorge Derbez und Dr. Arturo Higareda. Dr. Millán und Dr. Aramoni haben uns besonders bei der ersten Formulierung des Fragebogens geholfen. Dr. [III-234] Millán beteiligte sich sowohl an der allgemeinen Planung als auch an einem Programm zur Vorführung von Lehrfilmen für die Dorfbewohner, das dann mehrere Jahre lang weitergeführt wurde. Diese Filmvorführungen bedeuteten nicht nur eine Anregung für die Dorfbewohner und förderten die Bereitschaft, an der Untersuchung mitzuarbeiten, sie führten auch zu interessanten Beobachtungen über die Reaktionen auf diese Vorführungen, die Dr. Millán schriftlich festhielt.
1958 arbeitete Dr. G. Gilbert neun Monate lang unentgeltlich bei unserer Untersuchung mit. Seine Assistenten waren Dr. R. Núnez und Dr. Alicia Quiroz. Sie führten bei einer Stichprobe von 110 Dorfbewohnern den Rorschach-Test durch. Die Ergebnisse einiger dieser Tests benutzten wir dann, um die Werte, die sich aus den projektiven Interviews ergaben, mit jenen aus dem Rorschach-Test zu vergleichen (siehe Anhang).
Während der gleichen Zeit kam uns auch Paul Senior, der damals Psychologie studierte, zu Hilfe, indem er zwei Sommer lang mit Kindern Rorschach-Tests durchführte, deren Ergebnisse uns ein wichtiges vorläufiges Bild vom Charakter der Kinder gaben. Er führte außerdem den Andersen-Märchen-Test durch, sammelte Träume und nahm kurze Interviews vor, bei denen er die Grundeinstellung der Kinder und deren Ansichten über ihre Eltern ermittelte.
Im ersten Jahr kam es uns hauptsächlich darauf an, mit den Dorfbewohnern in engeren Kontakt zu kommen, und wir erreichten schließlich, dass sie bereit waren, die Fragebogen zu beantworten. Da diese – wie im Text noch zu zeigen sein wird – lang waren und man selbst die Antworten der Befragten einsetzen musste, nahmen die Sitzungen für einen einzigen Fragebogen oft drei bis sechs Stunden in Anspruch, die Zeit nicht mitgerechnet, die dem Interviewer noch dadurch verlorenging, dass er die Dorfbewohner erst suchen musste, wenn sie nicht auftauchten, die Verabredung nicht einhielten oder dergleichen. Außerdem wurden die Fragen auf dem ersten vorläufigen Fragebogen noch einmal überprüft und dabei gegebenenfalls abgeändert. Anfang 1958 war uns jedoch klar, dass wir unsere Studie nicht weiter auf der Basis einer unentgeltlichen Mitarbeit weiterführen konnten, da es sich niemand – einschließlich des Versuchsleiters – leisten konnte, unbezahlt soviel Zeit dafür zu opfern. Wir konnten unsere Arbeit dadurch auf eine neue Grundlage stellen, dass der Foundations Fund for Research in Psychiatry unsere Forschungsarbeit mit einer Zuwendung (FFRP Grant 58-176) unterstützte. Später wurde diese Zuwendung noch erhöht, so dass es uns möglich wurde, unseren Forschungsstab durch einen vollbeschäftigten Mitarbeiter zu erweitern. Im Verlauf des Jahres 1958 trat Dr. Theodore Schwartz, ein auf dem Gebiet der Feldforschung und Statistik erfahrener Anthropologe, die Stelle an, und seine Frau, Dr. Lola Romanucci Schwartz, die damals an ihrer Doktorarbeit auf dem Gebiet der Anthropologie arbeitete, stellte uns für die Dauer ihres Aufenthalts von 1958 bis 1961 ihre wertvolle Mitarbeit unentgeltlich zur Verfügung. Ihre Mitarbeit war für den Fortschritt der Arbeit von entscheidender Bedeutung. Das Ehepaar leistete uns in mehrerer Hinsicht wertvolle Hilfe; vor allem durch ihren engen Kontakt zu den Dorfbewohnern (sie wohnten 13 Monate lang im Dorf und besuchten es später drei- bis viermal in der Woche) waren sie in der Lage, eine Fülle direkter Beobachtungen zu sammeln, die es uns ermöglichten, ein lebendiges Bild von den [III-235] Dorfbewohnern zu bekommen, das unsere Testergebnisse, die aus konstruierten Situationen stammten, auf wertvolle Weise ergänzte. Durch ihre Beobachtungen erfuhren wir viel über das Privatleben der Dorfbewohner, so dass wir uns zum Beispiel ein Bild machen konnten, wer mehr oder weniger alkoholabhängig war, wie erfolgreich jemand war, welche Sitten die Dorfbewohner hatten und wie es in ihrer Ehe aussah. Aufgrund all dieser Beobachtungen waren wir in der Lage zu beurteilen, wieweit die Antworten, die wir für unseren Fragebogen bekamen, ideologisch waren und wieweit sie den Tatsachen im Leben der Dorfbewohner entsprachen. Dr. Lola Schwartz schrieb ihre Doktorarbeit über die Moralbegriffe der Dorfbewohner, und Dr. Theodore Schwartz stellte in einem umfangreichen, bis jetzt noch unveröffentlichten Manuskript eine Fülle von Beobachtungen und theoretischen Erwägungen darüber zusammen.
Außerdem führte Dr. Theodore Schwartz eine Anzahl von Interviews mit den Dorfbewohnern durch, die er anschließend auswertete. Er leistete damit einen direkten Beitrag zu dem in dieser Untersuchung verwerteten Material. Eine Erhebung über die wirtschaftlichen Verhältnisse wurde von ihm organisiert und unter seiner Mithilfe durchgeführt. Wie aus Kapitel 3 hervorgeht, wurde sie für unsere Untersuchung sehr wichtig. Schließlich entwickelte er noch den Index des sozio-ökonomischen Status, der eine recht befriedigende Analyse der Stellung eines jeden Dorfbewohners innerhalb der sozio-ökonomischen Struktur ermöglichte.
Es stellte sich heraus, dass die Untersuchung weit mehr Zeit in Anspruch nahm, als wir anfangs geschätzt hatten. Es war uns nur möglich, sie fortzusetzen, weil der Foundations Fund for Research in Psychiatry uns weitere Zuwendungen bewilligte, und zwar 1959-1961 (FFRP Grant 58-190), 1961-1962 (FFRP Grant 60-224) und 1962-1963 (FFRP Grant 62-248). Dies trug nicht nur dazu bei, dass wir die Gehälter für den Forschungsleiter und seinen Hauptassistenten weiterzahlen konnten, sondern dass wir auch eine Reihe von Mitarbeitern für ihre Arbeit entschädigen konnten, die uns bei den Tests und anderen Aktivitäten im Dorf halfen, auf die wir noch an späterer Stelle zurückkommen werden.
1960 konnten wir Dr. Michael Maccoby als Mitarbeiter gewinnen, einige Monate bevor Dr. T. Schwartz und Dr. L. Schwartz Mexiko verlassen mussten. Er erhielt vom Institute of Mental Health, U. S. Public Health Service ein Forschungs- und Ausbildungsstipendium. Sein Hauptinteresse ging in ähnlicher Richtung wie das des anderen Autors dieses Buches. Er machte eine Ausbildung zum Psychoanalytiker bei Fromm. Wie dieser war auch er an der tiefenpsychologischen Fragestellung des Gesellschafts-Charakters interessiert und von der Brauchbarkeit eines interpretativen Fragebogens überzeugt. Durch häufige Besuche im Dorf und durch zahlreiche Zusammenkünfte mit den Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern (einzeln und in Gruppen) hielt Maccoby den engen Kontakt zur Dorfbevölkerung, den Dr. T. und L. Schwartz aufgebaut hatten, aufrecht, so dass wir die Dorfbevölkerung noch besser kennen lernen konnten. Einen besonders guten Kontakt hatte er zu den Jugendlichen, da er den Jugendclub leitete (siehe Kapitel 10, S. 463-471). Außerdem beobachtete er die Dorfkinder, unterstützt von Dr. Nancy Modiano (vgl. Kapitel 9, S. 423-447); Dr. Modiano war besonders darum bemüht, das Material über die Entwicklung der Kinder schriftlich festzuhalten. [III-236]
Maccobys wichtigste Aufgabe bestand darin, sämtliche bei Interviews und Rorschach- bzw. TAT-Tests gewonnenen Daten zu bearbeiten und weitere Tests durchzuführen. Als Assistent half ihm hierbei Dr. Isidro Galván. Maccoby führte auch eine statistische Analyse der quantifizierbaren Daten durch. Gemeinsam mit Fromm war er verantwortlich für die endgültige Form der Studie, für die Analyse der Ergebnisse und deren Formulierung in diesem Buch. In einem fruchtbaren Meinungsaustausch, der sich über acht Jahre erstreckte, haben beide Autoren bis zur endgültigen Fertigstellung des Manuskriptes immer wieder neue Einsichten und Formulierungen gewonnen, von denen leider einige aus Platzmangel hier weggelassen werden mussten.
Ein weiterer wichtiger Helfer bei dieser Untersuchung war uns Dr. Felipe Sánchez, der viele Jahre als Leiter des Centro de Bienestar Rural und als Arzt im Dorf wohnte. Durch seinen engen Kontakt mit den Dorfbewohnern und seine genaue Kenntnis ihres Verhaltens war er uns eine große Hilfe. Unter der Anleitung der Autoren hat er die Interviews großenteils durchgeführt, und auch bei der sozio-ökonomischen Erhebung hat er mit Dr. T. und L. Schwartz zusammengearbeitet.
Während der ganzen Untersuchung fand ein regelmäßiges Seminar statt, bei dem Fromm mit den Mitarbeitern am Fragebogen die theoretischen Fragen der psychoanalytischen Charakterologie und des Gesellschafts-Charakters sowie die Interpretationsmethoden diskutierte. Bei diesen Diskussionen wurden viele wichtige theoretische und klinische Probleme besprochen, und man gelangte zu weitgehend gemeinsamen Auffassungen.
Während wir die Untersuchung durchführten, organisierte Dr. Guillermo Dávila mit den gleichen im Dorf angewandten Methoden eine Untersuchung städtischer Arbeiter in Mexico City. Wir hofften, dass sich dabei signifikante Daten hinsichtlich der Unterschiede zwischen diesen beiden sozialen Gruppen ergeben würden. Leider starb Dr. Dávila 1968, bevor seine Untersuchung so weit fortgeschritten war, dass Vergleiche möglich gewesen wären.
Als im Sommer 1963 die Mittel aus dem Foundations Fund for Research in Psychiatry aufgebraucht waren, hatten wir zwar das gesamte Material beisammen, doch es war noch nicht ganz aufgearbeitet und analysiert. In den folgenden Jahren haben beide Autoren gemeinsam das Material durchgearbeitet und neu analysiert, viele schwierige Probleme geklärt und den endgültigen Text verfasst. Eine Erkrankung Fromms und berufliche Verpflichtungen Maccobys verzögerten nochmals unverhofft die Fertigstellung, so dass die Untersuchung erst jetzt [1970] mit der Niederschrift dieser Einleitung abgeschlossen werden konnte.
Außer den bereits erwähnten Mitarbeitern möchten wir noch folgende erwähnen: Guadelupe Castro, Virginia Heras, Bertha Javkin und Italia Millán beteiligten sich an der Durchführung der projektiven Tests. Eine besonders interessante Arbeit leistete Marta Salinas in den Jahren 1959 bis 1962: Sie veranstaltete einen Literaturkurs mit Büchern, die dem Wissen und den Interessen der Dorfbewohner entsprachen. Zwar war es nur eine kleine Gruppe, die regelmäßig teilnahm und sich Bücher auslieh, um sie außerhalb der regelmäßigen Zusammenkünfte zu lesen. Es gab aber auch eine größere Gruppe, die nicht regelmäßig teilnahm. Marta Salinas bewies großes Verständnis für die Psychologie der Dorfbewohner und gewann so deren Interesse [III-237] und Mitarbeit. Ihre Arbeit brachte interessante Resultate in Bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen einer direkten kulturellen Beeinflussung. Eine große Hilfe war für unsere Untersuchung die Zusammenarbeit mit dem American Friends Service Committee [Quäker] über dessen Zentralstelle, der Casa de los Amigos, in Mexico City. Der Leiter der Zentralstelle, E. Duckles, zeigte großes Verständnis und Sympathie für unsere Untersuchung. Mitgliedern der Gruppe, die von Quäkern für die Arbeit in Mexiko ausgewählt wurden, hat er die Teilnahme an unseren Untersuchungen ermöglicht. So kam es, dass Thomas Fletcher, David Spinny und Ned Filor bei Maccobys Arbeit im Jugendclub halfen. Dr. Patricia Lander und Edith Churchill unterstützten uns beim Aufbau einer Bibliothek für die Kinder. Mary Elmendorf bewies ihr Interesse und ihre Sympathie für unsere Arbeit dadurch, dass sie half, den Jugendclub mit Werkzeug und Material auszustatten. Paul Stone vermittelte uns Tiere vom Heifer Project.
Dr. Adan Graetz traf die Vorbereitungen für eine Untersuchung über die Verbreitung der Parasitose im Dorf. Die Untersuchung selbst führten Dr. F. Biagi und seine Assistenten von der Faculdad de Medicina de la Universidad Nacional Autónoma de Mexico durch. Das sich anschließende Behandlungsprogramm stand dann unter der Leitung von Dr. Biagi. Danken möchten wir auch Professor Carlos Hank Gonzáles (dem späteren Gouverneur des Bundesstaates Mexico) und Lic. Ernesto Millán, die uns Gelegenheit gaben, das in Kapitel 10 beschriebene CONASUPO-Programm zu besichtigen (S. 456-458) und kennenzulernen, sowie Pater William Wasson für die wertvollen Informationen über die von ihm gegründete Waisenhaus-Einrichtung (ebenfalls Kapitel 10, S. 458-462).
Hinsichtlich der Statistiken der Untersuchung sind wir Professor Louis McQuitty – jetzt an der Universität Miami – zu Dank verpflichtet. Er hat die statistischen Probleme unserer Untersuchung mit uns durchgesprochen und uns dabei sehr geholfen, mit seinen Methoden der Faktoren- und Typenanalyse vertraut zu werden. Er hat uns auch das Rechenzentrum und andere Einrichtungen der Michigan State University zur statistischen Auswertung unserer Daten zugänglich gemacht. Außerdem danken wir Professor Arthur Couch (damals an der Harvard University, jetzt an der Tavistock Clinic) für seine Beratung und großzügige Hilfe bei der Durchführung der Faktorenanalyse vom Charakter Erwachsener, über die wir in Kapitel 5 berichten werden. Bei Dr. David Peizer vom Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences möchten wir uns für seine Vorschläge zur Interpretation der Faktorenanalyse bedanken. Ferner sind wir Professor Sergio Beltrán vom Centro Electrónico de Cálculo an der Universidad Nacional Autónoma de Mexico für seine Mitarbeit und Unterstützung bei der Verarbeitung unseres statistischen Materials mit Hilfe der Computer des Instituts zu Dank verpflichtet. G. U. de Beltrán hat uns bei dieser Aufgabe tatkräftig unterstützt, ebenso wie Mr. Adrian Canedo, der Dr. Maccoby bei den Statistiken half und seine Ideen zur Datenanalyse beisteuerte. Bei Professor George M. Foster von der University of California und bei Professor Albert Hirschmann von der Harvard University haben wir uns für wertvolle Hinweise bei früheren Fassungen unseres Manuskripts zu bedanken.
Es haben uns so viele bei dieser Studie unterstützt, dass es schwer ist, jedem gerecht [III-238] zu werden. Aber wir möchten zum Schluss nicht nur dem Foundations Fund for Research in Psychiatry als Institution unseren Dank zum Ausdruck bringen, sondern speziell auch Professor Frederick Redlich, der zusammen mit Dr. David Shakow vom National Institute of Mental Health, Education and Welfare uns bei unserer Untersuchung in Mexiko besucht und uns wertvolle Anregungen gegeben hat.
Wir wissen das nie ermüdende Interesse und große Verständnis des Fund, wenn unvorhergesehene Schwierigkeiten auftauchten, welche die Fertigstellung der Untersuchung hinauszögerten, hoch zu schätzen. Dabei gilt Dr. Max M. Levin, dem Präsidenten des Foundation Fund, und Dr. Clark J. Bailey, seinem Nachfolger, für ihr Interesse unser Dank. Auch der Faculdad de Medicina de la Universidad Nacional Autónoma de Mexico (U. N. A. M.), die uns das Stipendium gewährte, sind wir zu Dank verpflichtet.
Herzlich bedanken möchten wir uns für die Unterstützung durch die Albert and Mary Lasker Foundation. Sie gab uns die Möglichkeit, zusätzliche Ausgaben zu bestreiten, nachdem die Gelder des Foundation Fund aufgebraucht waren. Dankbar sind wir ferner für ein Jahresstipendium des Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences, das Dr. Maccoby die Möglichkeit gab, der Neufassung bestimmter Teile der Untersuchung mehr Zeit zu widmen, sowie für ein Stipendium am Institute for Policy Studies, wo er unsere letzten Verbesserungen vorgenommen hat.
Eine Erklärung dürfte notwendig sein, weshalb wir im Titel von „einem mexikanischen Dorf“ sprechen und den Namen dieses Dorfes nicht erwähnen: Wir wollten die Anonymität der Dorfbewohner unbedingt wahren, ohne deren Mitarbeit wir diese Untersuchung nicht hätten durchführen können. Wir gaben ihnen dieses Versprechen und wollten es auch halten. Doch ist die Tatsache, dass wir den Namen des Dorfes nicht nennen, von geringerer Bedeutung im Vergleich zu den weiteren Konsequenzen, die der Respekt vor der Anonymität der Dorfbewohner für das veröffentlichte Material unserer Untersuchung hat. Wir hätten viele anschauliche Beschreibungen einzelner Personen beifügen und vor allem unserem Wunsch entsprechend kurze „Fallgeschichten“ von Dorfbewohnern bringen können, in denen wir die verschiedenen Charaktertypen hätten vorstellen können, mit denen wir es zu tun hatten. Das wäre jedoch nur möglich gewesen, wenn wir Einzelheiten mitgeteilt hätten, an denen man die einzelnen Personen in dieser kleinen Gemeinde von nur 162 Haushalten hätte identifizieren können. (In einer Untersuchung einer Population von mehreren Tausenden ist die Möglichkeit einer Identifizierung praktisch auf ein Minimum reduziert.) Wir waren oft versucht, Beispiele zu bringen, welche diese Untersuchung sehr bereichert hätten. Aber vor die Alternative gestellt, die Intimsphäre der Dorfbewohner zu verletzen und unser Versprechen zu brechen oder wertvolles Material wegzulassen, haben wir uns für letzteres entschieden.
Cuernavaca, Mexiko Februar 1970
Erich Fromm, Michael Maccoby
Diese Untersuchung befasst sich mit dem Gesellschafts-Charakter des mexikanischen Bauern. Ihr Ziel ist die Analyse der Wechselbeziehungen zwischen den im Charakter wurzelnden emotionalen Einstellungen und den sozio-ökonomischen Bedingungen, unter denen der mexikanische Bauer lebt.
In diesem hinführenden Kapitel geht es uns zunächst um die Klärung der Grundbegriffe unserer Forschungsarbeit. Wir setzen uns also zunächst mit dem Begriff des Bauern und des bäuerlichen Charakters auseinander, dann mit dem dynamischen Verständnis von Charakter und Gesellschafts-Charakter sowie mit der Erörterung der in dieser Untersuchung des Gesellschafts-Charakters angewandten Methode.
Was ist ein Bauer? Wir bezeichnen im Folgenden solche Dorfbewohner als Bauern, deren Hauptbeschäftigung die Landwirtschaft ist, wenn sie auch nebenher zum Beispiel als Töpfer oder Fischer arbeiten. Das englische Wort peasant bedeutet genau wie das spanische campesino „Mann vom Lande“. Aber die Bauern unterscheiden sich sowohl von den modernen Farmern wie auch von vielen eingeborenen Stammesangehörigen, die ebenfalls auf dem Lande arbeiten.
Im Gegensatz zur Produktionsweise des modernen Farmers ist die des Bauern höchst individualisiert. Der Bauer lebt nahe am Rande des Existenzminimums. Er besitzt weder Kapital noch die vom modernen Farmer angewandte Technologie. Er arbeitet entweder allein oder mit seiner Familie und einer oder mehreren bezahlten Hilfskräften, und er benutzt bei der Arbeit nur so unkomplizierte Geräte wie Hacke und Pflug.
Der Bauer unterscheidet sich von den meisten eingeborenen Stammesangehörigen dadurch, dass er wirtschaftlich, kulturell und politisch von der städtischen Gesellschaft abhängig ist. Er muss seine Erzeugnisse auf dem städtischen Markt verkaufen und das damit verdiente Geld im Austausch dazu benutzen, die in der Stadt hergestellten [III-240] Waren zu kaufen. Seine Religion, viele seiner medizinischen Praktiken[2] und seine volkstümlichen Gebräuche (viele seiner Spiele und Lieder) sind in der Stadt entstanden. Außerdem untersteht der Bauer der Macht der Stadt oder des Staates, welcher Steuern erhebt, Gesetze erlässt und für deren Durchführung sorgt und ihn zum Wehrdienst einzieht. Dagegen wohnen viele Angehörige von Eingeborenenstämmen in isolierten Dörfern, wo sie sich selbst verwalten und kulturell und wirtschaftlich autonom sind. Verglichen mit diesen Angehörigen von Stammesverbänden sind die Bauern kaum in der Lage, grundlegende Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben beeinflussen.[3] [III-241]
Bei dieser Definition der Bauern bleibt ein theoretisches Problem bestehen: Wie soll man den landwirtschaftlichen Arbeiter bezeichnen, der kein unabhängiger Kleinfarmer ist, sondern als peon (eine Art Leibeigener) oder als jornalero (Taglöhner) auf einer hacienda (Plantage) arbeitet? Genau wie der Bauer arbeitet auch der Peon nach primitiven Methoden. Wie der freie Bauer ist auch er in Bezug auf seine Kultur und Religion von der Stadt abhängig; wirtschaftlich und politisch ist er sogar noch machtloser als dieser. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass der Bauer – juristisch oder faktisch – sein Land selbst besitzt und nur von der Natur und dem Markt abhängig ist; dagegen ist der Peon mehr ein Leibeigener als ein freier Bauer. Man könnte seine Klasse nach S. W. Mintz (1953-54) als „ländliches Proletariat“ bezeichnen. Die Bevölkerung von Bauerndörfern, wie wir eines untersuchten, setzt sich häufig sowohl aus Bauern wie auch aus Peonen zusammen.
Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt noch in Bauerndörfern. Diese Bauern sind in wachsendem Maß Pressionen ausgesetzt, da die meisten Länder – von den bereits hochindustrialisierten abgesehen – versuchen, von einer landwirtschaftlichen zu einer teilweise oder vorwiegend industriellen Produktion überzugehen. Bei diesem Industrialisierungsprozess strömen zahlreiche Menschen vom flachen Land in die Städte, deren Bevölkerung sie stark anwachsen lassen und wo sie sich, um ihren Lebensunterhalt zu erwerben, einer Arbeit anpassen müssen, die sich grundsätzlich von der unterscheidet, die sie seither verrichtet haben. Gleichzeitig stellt man an die Farmer die Forderung, mehr zu produzieren, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren und den Industrialisierungsprozess zu unterstützen. Man erwartet vom Bauern, dass er sowohl seine Einstellung als auch seine Methoden ändert, um den neuen, von der Stadt gesetzten Bedürfnissen zu entsprechen.
Die traditionelle bäuerliche Landwirtschaft erzeugte nur so viel, wie eine kleine und relativ stabile Bevölkerung benötigte. In der heutigen Welt dagegen erwartet man von der Landwirtschaft, dass sie eine ständig wachsende Bevölkerung versorgt. Technologische Fortschritte auf dem Gebiet der Landwirtschaft versprechen eine enorme Steigerung der Erträge. Zum ersten Mal nach Tausenden von Jahren wird der von Menschen und Tieren gezogene Pflug in seiner mehr oder weniger entwickelten Form durch den Traktor ersetzt, und die von menschlicher Hand verrichtete Arbeit des Pflügens, Pflanzens und Erntens kann jetzt von Maschinen besorgt werden. Neue Samen verlangen eine sorgfältige Düngung – wie zum Beispiel der mexikanische Zwergweizen – und versprechen weit größere Erträge, um den Hunger der wachsenden Bevölkerung zu stillen. Der „Bauer“ kann zum „Farmer“ werden, der Techniken und Methoden anwendet, welche sich grundsätzlich von denen unterscheiden, die in der Vergangenheit in der Landwirtschaft üblich waren.
Wie geht nun dieser Wechsel vor sich? Welche Forderungen stellt er an die Menschen? Der Bauer muss nicht nur komplizierte Maschinen bedienen lernen, eine optimale Produktion erfordert auch eine Änderung seiner traditionellen individuellen Arbeitsweise. Um die neuen Techniken zu erlernen, muss er mit Fortbildungsstellen zusammenarbeiten, er muss Hybride und neue Methoden ausprobieren und sich dabei mit anderen zusammentun. Möglicherweise muss er bei der Zusammenarbeit mit anderen sich in einen übergreifenden Organisationsplan einpassen, wie er in den großen [III-242] landwirtschaftlichen Unternehmen nötig ist, mögen sie nun kooperativ, kapitalistisch oder kommunistisch sein.
Möglicherweise empfindet der traditionelle Bauer die neuen landwirtschaftlichen Methoden von seinem Standpunkt aus mehr als Drohung, denn als Gelegenheit voranzukommen. Er muss dazu neue Fertigkeiten erlernen und tief verwurzelte Einstellungen ändern. Passt er sich der neuen Technik nicht an, so läuft er Gefahr, überrannt zu werden. In den kapitalistischen Ländern kann er mit den landwirtschaftlichen Unternehmern nicht konkurrieren, die die neuen Methoden als erste übernehmen. In den kommunistischen Ländern hat man die Bauern noch unmittelbarer gezwungen, sich dem neuen System anzupassen. Immer ist es dem Bauern nicht möglich, beim Alten zu bleiben. Die neue Technologie und die neuen Gesellschaftsformen haben die herkömmlichen Formen abgelöst.
Oft wird angenommen, die neuen Aufgaben und die veränderte Arbeitsweise in der Industrie und in der mechanisierten Landwirtschaft erforderten nur eine gewisse Schulung und technisches Training. So betrachtet, braucht der Bauer dann nur dazu erzogen zu werden, sich den Erfordernissen der Industriegesellschaft anzupassen. Erfahrungen auf der ganzen Welt aber zeigen, dass Schulung und Vermittlung technischer Kenntnisse nicht genügen, um einen altmodischen Bauern in einen modernen Farmer zu verwandeln, selbst dann nicht, wenn er den guten Willen hat, die neuen Methoden zu lernen. Wir werden in Kapitel 3 (S. 284-286) sehen, dass die Schulung den Dorfbewohnern bei ihrer Arbeit kaum von Nutzen sein dürfte. Wissenschaftler, die das Problem eingehend untersucht haben, sind zu dem Schluss gekommen, dass eine Änderung der Einstellung – oder, wie wir lieber sagen würden, des „Charakters“ – notwendig ist, bevor das Lesen- und Schreibenlernen und die neuen technischen Kenntnisse eine entscheidende Wandlung zu bewirken vermögen.[4] Besonders interessant ist die Tatsache, dass die Bauern fast überall (Südostasien ausgenommen) im Großen und Ganzen die gleiche Einstellung und die gleichen Verhaltensmerkmale aufzuweisen scheinen. Sie sind äußerst individualistisch, konservativ, argwöhnisch und sparsam (vgl. auch Kapitel 6, S. 367-386). Wie wir noch an späterer Stelle zu zeigen versuchen, haben wir den Eindruck, dass diese Einstellung am besten zu der traditionellen landwirtschaftlichen Produktionsweise passt und dass sie sich nicht mit den Erfordernissen einer mechanisierten oder industrialisierten Landwirtschaft verträgt. Der [III-243] Farmer in der Industriegesellschaft muss für neue Ideen aufgeschlossen und bis zu einem gewissen Grad zur Zusammenarbeit bereit sein; er muss planen können und bereit sein, für die Zukunft zu investieren – und dies, obwohl sich das erst später auszählen wird. Wir treffen in allen Ländern, die sich im Prozess der Industrialisierung befinden – ganz gleich ob sie kapitalistisch oder kommunistisch sind –, auf eine Phasenverschiebung zwischen den neuen technologischen Möglichkeiten und der Fähigkeit der Bauern, sich den neuen Formen anzupassen und sie sich zunutze zu machen. Das gilt für die meisten Länder des Sowjetblocks, für den größten Teil Asiens, für die Länder im Mittelmeerraum genauso wie für eine Reihe von lateinamerikanischen Ländern. (Die gleichen Schwierigkeiten brachte natürlich auch die Veränderung des Bauernstatus in Nordeuropa und den Vereinigten Staaten vom neunzehnten zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit sich. Diese Umwandlung ging jedoch nur sehr langsam vor sich, wenn man sie mit dem rapiden Tempo der Industrialisierung vergleicht, wie sie heute erfolgt und in Zukunft auch in vielen der erwähnten Länder zu erwarten ist.)
Wenn wir von der Zukunft des Bauern sprechen, müssen wir uns mit einem wichtigen Punkt beschäftigen: Der allgemeine Trend in der Welt geht dahin, dass man überall immer weiter fortgeschrittene Technologien anzuwenden sucht. Das bedeutet aber, dass sich auch die Landwirtschaft in der gleichen Richtung entwickelt wie die Industriegesellschaft und dass auch sie auf optimale Weise Maschinen einsetzen und die Arbeit rationalisieren muss. Wäre dies alles so, dann gäbe es keine Probleme – höchstens vielleicht technische. Aber Hand in Hand mit den neuen Techniken gehen neue Wertvorstellungen einher, die auf maximalen Konsum und auf die Unterordnung des Menschen unter die Erfordernisse der Maschine und des Profits hinauslaufen und die zur Entfremdung und zur Zerstörung der traditionellen Bauernkultur führen mit ihren jenseits aller Nützlichkeit liegenden Werten der Freude am Leben in Kunst, Tanz, Musik und Ritualen. Es sieht so aus, als ob auf der ganzen Welt die Tendenz bestünde, in der Landwirtschaft technische Verbesserungen einzuführen (wenn auch bis jetzt in dieser Richtung erst sehr wenig geschehen ist) und dabei die Werte zu zerstören, bei denen das Leben im Mittelpunkt steht. Für die meisten mag das kein Problem darstellen; sie haben nichts dagegen, wenn die traditionelle Kultur begraben wird, sofern nur der neue „progressive“ Geist zu seinem Recht kommt.
Einige jedoch – und unter ihnen auch die Autoren dieses Buches – machen sich Sorgen wegen des hohen Preises an Humanität, den wir für die Industrialisierung bezahlen. Sie fragen sich, ob man nicht auch eine neue industrialisierte Landwirtschaft ins Leben rufen könnte, welche mit dem Geist des Humanismus vereinbar wäre (der in der traditionellen Kultur zum Ausdruck kam). Wir werden in Kapitel 10 (S. 448-456) auf diese Frage zurückkommen, doch möchten wir sie schon hier stellen, weil das ganze Buch unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen ist.
Viele Versuche, den Bauern dazu zu überreden, zu ermutigen oder zu zwingen, sich zu ändern, sind deshalb fehlgeschlagen, weil die Planer seinen Charakter entweder nicht verstanden oder ihn nicht respektiert haben. In den kommunistischen Ländern haben die Bauern lieber ihr Vieh geschlachtet, als den größten Teil davon der Regierung abzuliefern oder der Kommune zu geben. Oft haben sie sich auch dann [III-244] hartnäckig geweigert, wenn ein Kompromiss auf die Dauer vielleicht zu ihrem materiellen Vorteil gewesen wäre.[5]
In vielen vorwiegend agrarischen Ländern kommt es gegenwärtig jedoch zu Veränderungen in der Einstellung der Bauern. In vielen Dörfern gibt es Rundfunkgeräte und wenigstens ein paar Fernsehgeräte. Verbesserte Verkehrsverhältnisse ermöglichen vielen Bauern jetzt den Besuch der größeren Städte, wo in ihnen ein Verlangen nach den Waren geweckt wird, die die Industrie anbietet. Je verlockender ihnen die materiellen Produkte der Industriegesellschaft erscheinen, desto unzufriedener werden die Bauern mit ihrem herkömmlichen Lebensstandard und ihren traditionellen Vergnügungen. Sie wollen Geld, um sich auch die Konsumgüter kaufen zu können, für die Radio und Fernsehen Reklame machen, und um auch an den Herrlichkeiten der neuen Industriekultur teilhaben zu können. Viele mexikanische Bauern erreichten dieses Ziel (wenn auch auf sehr bescheidene Weise), indem sie als Saisonarbeiter (braceros) in die Vereinigten Staaten gingen und mit Armbanduhren, Rundfunkgeräten und Gebrauchtwagen zurückkehrten. Gerade die Aktiven entschlossen sich häufig für diese Lösung, so dass dem Dorf seine besonders energischen und aufgeschlossenen Glieder entzogen wurden. Aber diese Lösung in Form einer Übernahme fremder Wirtschaft und Kultur war natürlich für den mexikanischen Bauern im allgemeinen keine Lösung – auch nicht, solange die Möglichkeit dazu bestand. Solange sein gesamtes landwirtschaftliches System keine größeren Erträge einbringt und ihm keinen größeren Überschuss lässt, ist er einfach nicht in der Lage, sich die Waren zu kaufen, die er haben möchte, und seine „steigenden Erwartungen“ führen nur zu Enttäuschung und Apathie. Sehr oft verlässt er dann das Land in der Illusion, wenn er nur erst in der Stadt wäre, könne er an dem verlockenden Leben teilnehmen, das er auf der Filmleinwand gesehen hat, nur um anschließend festzustellen, dass sich seine Lebensbedingungen nicht gebessert haben, sondern dass er in die Slums getrieben wird. Ein stark verbessertes Schulsystem im Dorf und Ausbildungskurse der Industrie könnten seine Chancen in der Stadt verbessern. Aber selbst wenn Schulungs- und Ausbildungskurse erheblich verbessert würden, wäre doch sein persönlicher Charakter ein Hindernis, gut zu verdienen. Pünktlichkeit, Disziplin und die Fähigkeit, zu planen und systematisch zu denken, sind notwendige Voraussetzungen dafür, dass man aus den neuen Ausbildungsmöglichkeiten, selbst wenn sie reichlicher vorhanden [III-245] wären, das Beste machen könnte. (Zu den Unterschieden beim kognitiven Erfassen bei Dorf- und bei Stadtkindern vgl. M. Maccoby und N. Modiano, 1969.) Wer diese Charakterzüge nicht besitzt, wird nie über das Niveau einfacher Handarbeit hinauskommen. So kommt es, dass die Industrie zwar immer mehr Facharbeiter benötigt, dass aber die ständig wachsende Zahl ungelernter Bauern, die in die Stadt kommen, die Anforderungen der Industriegesellschaft nicht erfüllen und dass andererseits nicht viele der im Dorf verbliebenen Bauern die Voraussetzungen für fortgeschrittenere landwirtschaftliche Methoden mitbringen.
Wenn man sich erst einmal mit diesen Fragen beschäftigt hat, dann wird die Untersuchung des Charakters des Bauern und insbesondere der Interaktion von psychologischen und sozio-ökonomischen Faktoren bei der Bildung und möglichen Veränderung seines Charakters relevant für alle agrarischen Gesellschaften, die sich im Übergang befinden; wir glauben daher, dass ein besseres Verständnis für den mexikanischen Bauern auch das Verständnis für die Möglichkeiten der Bauern in anderen Gesellschaften fördern wird,
Selbstverständlich gibt es bereits eine umfangreiche Literatur über die Bauern aus soziologischer und anthropologischer Sicht, obwohl sie nicht so umfangreich ist, wie man angesichts der Wichtigkeit des Problems erwarten würde. (Vgl. die ausführliche Bibliographie in J. M. Potter et al., 1967.) Der größte Teil der Literatur über Bauern beschäftigt sich mit ihren Verhaltensweisen, Einstellungen, Ideen und ihrem Wirtschaftssystem, während es sich bei unserer Untersuchung um eine sozialpsychologische Studie handelt, in deren Mittelpunkt unsere dynamische Auffassung vom Charakter und vom „Gesellschafts-Charakter“ steht. Wie die Psychoanalyse den individuellen Charakter untersucht, um die ihm zugrunde liegenden Kräfte zu analysieren, welche die Charakterstruktur bilden und den Menschen veranlassen, auf bestimmte Weise zu fühlen und zu handeln, so gibt es unseres Erachtens auch einen einer ganzen Gruppe gemeinsamen Charakter, den Gesellschafts-Charakter,[6] der die gleiche dynamische Funktion hat und empirisch untersucht werden kann. Wir sind davon überzeugt, dass die zumeist in den Untersuchungen über Bauern und andere Gesellschaftsgruppen verwendeten behavioristischen Begriffe gerade nicht bis zu jenen psychischen Kräften vordringen, die die Einstellungen und Verhaltensmuster motivieren und unterstützen. [III-246]
Es geht um den alten Streit zwischen psychoanalytisch und behavioristisch orientierten Sozialwissenschaftlern. Die meisten Sozialwissenschaftler kritisieren den angeblichen Mangel an wissenschaftlicher Methode bei der Psychoanalyse. Die Psychoanalytiker revanchieren sich mit der Behauptung, die Behavioristen gingen mit ihren engen (und überholten) Kriterien für Wissenschaftlichkeit nur unbedeutende Probleme an, anstatt neue Methoden zu entdecken, die sich für die Lösung der wichtigeren Probleme eigneten. Wie dem auch sei: Wir erwarten nicht, mit dieser Untersuchung jene Sozialwissenschaftler zu überzeugen, die kein Zutrauen zur psychoanalytischen Theorie haben; vielmehr werden deren Mängel ihre negative Einstellung nur noch verstärken. Andererseits können wir nicht einmal mit der Zustimmung vieler unserer psychoanalytischen Kollegen rechnen, weil die von uns vorgenommenen Revisionen der Freudschen Theorien diesen wie eine Abkehr von Freuds wesentlichen Entdeckungen vorkommen werden, obgleich wir – wie nicht wenige andere – der Meinung sind, dass sie eine notwendige Entwicklung seiner Theorien und eine Bestätigung dessen sind, was an ihnen wesentlich ist.
Wenn wir diese Arbeit veröffentlichen, so rechnen wir damit, die Aufmerksamkeit all jener zu gewinnen, die ihre dogmatische Einstellung nicht hindert, sich für ein neues Wagnis wenigstens zu interessieren, nämlich für die Anwendung psychoanalytischer Kategorien auf die Untersuchung von Gesellschaftsgruppen. Dabei wird die Persönlichkeit eines jeden Mitglieds dieser Gruppe ebenso gewissenhaft untersucht wie alle sozio-ökonomischen Daten und kulturellen Muster. Schließlich versuchen wir, verfeinerte statistische Methoden zur Analyse der Daten zu verwenden.
Bei der Durchführung unseres Themas und der Anwendung unserer Methoden waren wir uns bewusst, dass wir hier sogar noch mehr als üblicherweise bei Forschungsarbeiten aus unserer Arbeit lernen mussten, und tatsächlich wäre es unserer Untersuchung erheblich zugutegekommen, wenn wir die Kenntnisse, die wir heute besitzen, von Anfang an gehabt hätten. Allerdings stört uns das nicht allzu sehr, weil wir nicht nur an der Korrektheit unserer Schlussfolgerungen und Hypothesen interessiert sind, sondern auch eine neue Methode für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Sozialwissenschaft demonstrieren wollten.
Für die Behavioristen ist bei der Erforschung des Menschen das Verhalten die letzte erreichbare und gleichzeitig wissenschaftlich befriedigende Gegebenheit. Für sie sind Verhaltensmerkmale und Charakterzüge identisch, ja von einem positivistischen Standpunkt aus mag es sogar als illegitim angesehen werden, den Begriff „Charakter“ in einem wissenschaftlichen Sinn zu gebrauchen.
Vom psychoanalytischen Standpunkt aus ist ein Charakterzug ein energiegeladener Teil des gesamten Charaktersystems, das man nur ganz verstehen kann, wenn man die Gesamtstruktur versteht. Die Charakterzüge sind die Wurzeln der Verhaltensmerkmale, und ein bestimmter Charakterzug kann in einem oder mehreren verschiedenen Verhaltensmerkmalen zum Ausdruck kommen; seine Existenz kann dem Betreffenden nicht bewusst sein, doch kann man aus verschiedenen Phänomenen (wie aus scheinbar unbedeutenden Einzelheiten des Verhaltens, aus Träumen usw.) darauf schließen.
Das Verhalten, das im wesentlichen eine Anpassung an reale Umstände ist, ändert [III-247] sich verhältnismäßig leicht, wenn die Umstände ein andersartiges Verhalten ratsamer erscheinen lassen; Charakterzüge bleiben gewöhnlich auch dann bestehen, wenn sie unter veränderten Umständen schädlich sind, was besonders für neurotische Charakterzüge gilt.
Die Entdeckung des dynamischen Charakterbegriffs war zweifellos einer der wichtigsten Beiträge Freuds zur Wissenschaft vom Menschen. Er begann 1908 mit seiner Entwicklung in seiner ersten Abhandlung über den analen Charakter. Das Wesentliche an der Abhandlung Charakter und Analerotik (S. Freud, 1908b) war die Erkenntnis, dass bestimmte Charakterzüge, nämlich Eigensinn, Ordentlichkeit und Sparsamkeit, auffallend häufig als ein Syndrom von Charakterzügen nebeneinander zu finden sind. War dieses Syndrom gegeben, so waren außerdem stets auch bestimmte Besonderheiten bei der Erziehung des Kleinkindes zur Sauberkeit und zur Kontrolle des Schließmuskels und besondere Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Verdauung und Defäkation zu beobachten. Zunächst brachte Freud die Entdeckung eines Syndroms von Verhaltensmerkmalen mit der (teilweise als Reaktion auf gewisse Forderungen der Erziehung entstandenen) Verhaltensweise des Kindes bei Verdauung und Defäkation in Zusammenhang. Neu und bemerkenswert an diesem Schritt war die Tatsache, dass er die beiden Verhaltenskomplexe aufgrund theoretischer Überlegungen, die sich auf seine frühere Annahme von der Entwicklung der Libido gründeten, zueinander in Beziehung setzte. Dieser Annahme gemäß wird der Anus in einer frühen Phase der kindlichen Entwicklung, nachdem der Mund aufgehört hat, das Hauptorgan von Lust und Befriedigung zu sein, zu einer wichtigen erogenen Zone, so dass sich die meisten libidinösen Wünsche jetzt um den Prozess von Zurückhaltung und Entleerung der Exkremente drehen. In einem zweiten Schritt erklärte Freud dieses Syndrom von Verhaltensmerkmalen als Sublimierung oder Reaktionsbildung auf libidinöse Befriedigung und Frustration der Analität. Im Eigensinn und in der Sparsamkeit sah er die Sublimierung der ursprünglichen Weigerung des Kindes, auf das Lustgefühl bei der Zurückhaltung des Stuhls zu verzichten, in der Ordentlichkeit die Reaktionsbildung auf seinen ursprünglichen Wunsch, sich zu entleeren, wenn es ihm gefiel. Das ursprünglich von Freud angenommene anale Syndrom, mit dem er diese Charakterzüge erklärte, hat er später noch durch andere Charakterzüge erweitert. (Übertriebene Reinlichkeit und Pünktlichkeit sind ebenfalls als Reaktionsbildungen auf die ursprünglichen analen Impulse zu verstehen.) Freud zeigte, dass diese drei ursprünglichen Züge des Syndroms, von denen man glaubte, dass sie in keinerlei Beziehung zueinander stünden, Teile einer Struktur oder eines Systems bilden, weil sie alle auf die gleiche Quelle der analen Libido zurückgehen, welche sich in diesen Charakterzügen entweder unmittelbar oder in Form einer Reaktionsbildung oder Sublimierung äußert. Auf diese Weise konnte Freud erklären, warum diese Charakterzüge mit Energie geladen und derart resistent gegenüber Veränderung sind. Prinzipiell das gleiche Verfahren wandte er bei der Untersuchung des oral-rezeptiven und des oral-sadistischen Charakters sowie des genitalen Charakters an. Die wichtigste spätere Hinzufügung zum Begriff des analen Charakters war die Annahme, dass sadistisches Verhalten ebenfalls Bestandteil des analen Syndroms ist.
Es ist unverkennbar, wie fruchtbar dieser neue dynamische Charakterbegriff für die [III-248] Erforschung des individuellen oder gesellschaftlichen Verhaltens ist. Ein einfaches Beispiel soll dies verdeutlichen: Wenn ein Mensch arm ist, dann kann sein Verhalten die Merkmale des Hortens und des Geizes aufweisen, das heißt, er wird nur mit größtem Widerstreben mehr Geld ausgeben, als unbedingt notwendig ist. Dabei kann es sich natürlich um ein Verhaltensmerkmal handeln, das den Erfordernissen seiner realen Situation entspricht. Ein armer Mensch muss sich notgedrungen so verhalten, wenn er überleben will. Sollte sich seine wirtschaftliche Lage bessern, änderte sich auch sein Verhalten und er scheute nicht mehr jede Ausgabe, die nicht unbedingt nötig ist. Wir bezeichnen einen solchen Menschen als sparsam. Ist Sparsamkeit jedoch ein Charakterzug, so ist sie von der wirtschaftlichen Lage des Betreffenden unabhängig. Wir bezeichnen diesen Typ des charakterologisch sparsamen Menschen als einen „Geizhals“, womit wir uns mehr auf seinen Charakter als auf sein sparsames Verhalten beziehen. (Den Charakter des Geizhalses haben Molière und Balzac meisterhaft beschrieben.) Solange ein solcher Mensch arm ist, wird man selbstverständlich geneigt sein, sein Verhalten als Reaktion auf die Armut zu erklären. Eine solche Erklärung straft sich jedoch selbst Lügen, wenn der Geizhals sich auch dann, wenn er zu Reichtum gekommen ist, noch immer so verhält wie früher.
Geiz als Charakterzug ist nicht angelernt und auch keine Anpassungsreaktion. Denn (1.) ist dieser Geiz auch bei Menschen zu finden, für die er keine Notwendigkeit darstellt und die ihn niemals gelernt haben. (Wir wissen von einem Millionär zum Beispiel, dass er nicht wenig Zeit und Energie darauf verwandte, um sicherzugehen, dass kein von ihm oder seinem Büro abgeschickter Brief überfrankiert war.) Der Geizige handelt (2.) nach dem Prinzip des Hortens, und zwar nicht nur hinsichtlich materieller Dinge und da, wo das Sparen noch als nutzbringend rationalisiert werden könnte, sondern auch wenn es darum geht, seine physische, sexuelle oder seelische Energie zu sparen, weil er alles, was er an Energie ausgibt, als Verlust empfindet. (3.) Wenn der Geizige seiner Charakterstruktur entsprechend handelt, empfindet er eine starke Befriedigung, die man gelegentlich an seinem selbstgefälligen Gesichtsausdruck ablesen kann. (4.) Jeder Versuch, seine Verhaltensstruktur zu ändern, stößt auf große Schwierigkeiten (Widerstand). Mancher Geizige, der in einem Milieu lebt, wo ein geiziges Verhalten nicht geschätzt wird, möchte sein Verhaltensmuster gern ändern, ist aber dazu nicht fähig. Wenn es sich nur um ein angelerntes Verhalten handelte, wäre das kaum zu verstehen. Es wird jedoch durchaus verständlich, wenn man darin einen mit Energie geladenen Charakterzug sieht, der Bestandteil eines Charaktersystems ist und der sich nur ändern kann, wenn sich das ganze System ändert. Hätten die Behavioristen Recht, dann wäre es in der Tat kaum zu verstehen, weshalb Einzelpersonen oder auch ganze Gesellschaftsklassen oft gegen ihre eigenen Interessen, ja sogar gegen ihr Interesse am Überleben handeln, obwohl vernünftig und realistisch gesehen alternative Verhaltensmuster zur Verfügung stünden. Tatsächlich sind alle irrationalen Leidenschaften des Menschen, von denen die Geschichte ein trauriges Zeugnis gibt, nicht ein Ausdruck der Anpassung, sondern sogar schädlich. Häufig ist die Unfähigkeit von Gesellschaften, ihre traditionellen Charakterzüge in angemessenere zu verändern, eine der Ursachen für ihren Untergang.
Als ein weiteres Beispiel, um den Unterschied zwischen einem Verhaltensmerkmal [III-249] und einem Charakterzug zu verdeutlichen, kann der Mut dienen. Mutiges Verhalten lässt sich beschreiben als ein Verhalten, bei dem sich der Mensch in der Verfolgung eines Zieles nicht so leicht durch Gefährdung seines Lebens, seiner Gesundheit und Freiheit oder seines Besitzes abschrecken lässt. Diese Definition gilt praktisch für alle Arten mutigen Verhaltens. Ganz anders sieht es aus, wenn wir die – oft unbewusste – Motivation für mutiges Verhalten betrachten. Ein mutiger Mensch (zum Beispiel ein Soldat im Krieg) kann durch seine Hingabe an ein bestimmtes Ziel oder durch sein Pflichtgefühl motiviert sein, und wir denken meist an diese Motivation, wenn wir vom Mut als von einer Tugend sprechen. Aber Mut kann auch von Eitelkeit, von dem Verlangen nach Anerkennung und Bewunderung motiviert sein; es können Selbstmordtendenzen im Spiel sein, und der Verlust des Lebens kann – wenn auch unbewusst – erwünscht sein. Ein Mensch kann auch aus Mangel an Vorstellungsvermögen mutig sein, der ihn blind macht gegen Gefahren, oder Angst haben, als Feigling angesehen zu werden. Auch Alkohol fördert ihn. (Im Ersten Weltkrieg wurden deshalb in manchen Armeen vor einem Angriff größere Mengen Alkohol ausgeteilt. So wussten etwa die italienischen Soldaten immer schon im Voraus, dass ein Angriff beabsichtigt war, weil große Mengen Wein herbeigeschafft wurden.) Natürlich können alle genannten Faktoren untereinander in Beziehung stehen.
Sind sich die Menschen ihrer Motivationen bewusst? Welches die Motive eines mutig handelnden Menschen auch immer sein mögen, sowohl er als auch die Zeugen seines Verhaltens werden im allgemeinen glauben, er sei von Hingabe oder Pflichtgefühl motiviert. Sobald die motivierende Kraft nicht Hingabe, sondern vielleicht ein weniger edler Impuls ist, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass die wahren Motive unbewusst bleiben.
Ist das Verhalten trotz unterschiedlicher Motivationen wirklich gleich? Oberflächlich besehen scheint es so zu sein, eine genauere Analyse des Verhaltens zeigt jedoch Unterschiede. Nehmen wir zum Beispiel einen Offizier, der einer Kompanie vorsteht. Sofern er aus einem Gefühl der Hingabe an ein hohes Ziel oder aus Pflichtgefühl handelt, wird er Risiken eingehen – und dies auch von seinen Soldaten verlangen –, die in einem angemessenen Verhältnis zu den taktischen Zielen stehen. Motivieren ihn dagegen Eitelkeit oder Selbstmordtendenzen, dann wird er das Leben seiner Soldaten (und auch sein eigenes) unnötigerweise aufs Spiel setzen. Unter Umständen führt er sogar die Befehle seiner Vorgesetzten nicht durch und beeinträchtigt so die allgemeine Taktik oder die strategische Gesamtplanung. Unterschiedliche Motivationen der führenden Generäle und Politiker können auf diese Weise über Leben und Tod ganzer Nationen entscheiden.
Noch ein anderer wichtiger Unterschied zwischen Verhaltensmerkmalen und Charakterzügen ist zu erwähnen: Verhaltensweisen sind Anpassungsvorgänge an eine bestimmte gesellschaftliche Situation und im wesentlichen das Ergebnis eines Lernprozesses. Darum lassen sie sich – wie bereits erwähnt – auch verhältnismäßig leicht verändern, sobald sich die Bedingungen ändern. Charakterzüge hingegen sind Teil eines dynamischen Systems, des Charaktersystems. Sie ändern sich nur, insofern sich das gesamte System ändert, jedoch nicht unabhängig vom System. Das System als Ganzes hat sich aber als Reaktion auf die gesellschaftliche Gesamtkonfiguration [III-250] herausgebildet. Diese Reaktion ist nicht willkürlich, sondern durch die Natur des Menschen bedingt, welche darüber entscheidet, in welche Kanäle menschliche Energie geleitet werden kann. Das Charaktersystem stellt die relativ beständige Form dar, in der menschliche Energie im Prozess der Bezogenheit auf andere und der Assimilierung mit der Natur Gestalt angenommen hat. Das System Charakter ist das Ergebnis der dynamischen Wechselwirkung zwischen dem System Mensch und dem System Gesellschaft, in dem der Mensch lebt.
Die Eigenart, dass der Charakter die Qualität eines Systems oder einer Struktur hat, ist für Freuds Charakterbegriff von ausschlaggebender Bedeutung. Vielleicht hat deshalb der Freudsche Charakterbegriff nicht das volle Verständnis und die verdiente Anerkennung gefunden. Es ist zu hoffen, dass das gegenwärtige Interesse am Begriff des Systems und der Struktur auch zu einer neuen Wertschätzung der psychoanalytischen Charakterauffassung führen wird.
Der dynamische Charakterbegriff gewinnt seine Bedeutung jedoch erst dann, wenn man ihn nicht wie Freud von einem mechanistisch-physiologischen Standpunkt aus betrachtet, sondern von einem sozio-biologischen. Die Determiniertheit des Handelns durch Instinkte ist ja beim Menschen schwächer als bei sämtlichen anderen Lebewesen. Tatsächlich gibt es im Menschen kaum noch ein rein instinktives Verhalten. Der Mensch muss aber dennoch wie alle anderen Lebewesen handeln und Entscheidungen treffen. Im Gegensatz zu diesen kann er sie jedoch nicht automatisch treffen, weil seine Entschlüsse nicht von Instinkten bestimmt sind. Müsste andererseits jeder Entschluss aufgrund bewusster Entscheidungen gefasst werden, wäre der Betreffende von der Informationsfülle und von Zweifeln überwältigt. Viele lebenswichtige Entscheidungen müssen innerhalb eines Zeitraumes gefällt werden, der kein langes Abwägen mehr zulässt. Der Charakter in diesem Sinne wird zu einem Ersatz für den Instinkt. Ein Mensch mit einem Charakter, den Freud als „anal“ bezeichnet, wird „instinktiv“ horten, Ausgaben scheuen und gegen eine Bedrohung seines Besitzes heftig reagieren. Er braucht über diese Reaktionen nicht erst nachzudenken, weil sein Charaktersystem ihn spontan – ohne Überlegung – handeln lässt, obwohl seine Handlungsweise nicht vom Instinkt beherrscht ist. (Der Widerspruch zwischen der Theorie des von Instinkten determinierten und des durch Lernen konditionierten Verhaltens könnte unserer Meinung nach dadurch gelöst werden, dass beide Seiten eingehend die Charakterleidenschaften studierten, die nicht instinktiv, aber im wesentlichen auch nicht erlernt sind, sondern bei denen es sich um eine dynamische Anpassung des Systems psychischer Energie [des Charakters] an die gegebenen Verhältnisse handelt.)
Eine weitere signifikante Funktion des Charakters im dynamischen Sinn ist darin zu sehen, dass er die Handlungsweise eines Menschen vereinheitlicht. Der anale Charakter, der zum Horten, zur Pünktlichkeit, zur übertriebenen Reinlichkeit und zum Argwohn neigt und sich ständig in der Defensive befindet, hat ein in sich geschlossenes System aufgebaut, das seine eigene Logik und Ordnung besitzt. Er ist nicht heute geizig und morgen großzügig oder heute kalt und zugeknöpft und morgen warm und aufgeschlossen. Anders gesagt, wird durch die vereinheitlichende Eigenschaft des Systems eine ständige Reibung zwischen unterschiedlichen Tendenzen vermieden. Zu [III-251] dieser Reibung käme es, wenn der Betreffende jede seiner Entscheidungen bewusst als Ergebnis von Entschlüssen und Stimmungen treffen müsste. Die Funktion der Vereinheitlichung ist deshalb wichtig, weil sonst die Reibung miteinander im Widerstreit stehender Tendenzen zu einem deutlichen Energieverlust innerhalb des Gesamtsystems führen würde. Tatsächlich wäre in diesem Fall das Leben recht schwierig.
Nachdem wir auf die Bedeutung von Freuds Entdeckung des dynamischen Charakterbegriffs hingewiesen haben, ist noch hinzuzufügen, dass dieser Begriff vor Freud natürlich keineswegs unbekannt war. Von Heraklit, der gesagt hat, der Charakter sei des Menschen Schicksal, und den griechischen Tragödien bis zu Shakespeares Dramen und Balzacs Romanen finden wir das gleiche Charakterkonzept, dass nämlich der Mensch dazu getrieben wird, sich auf bestimmte Weise zu verhalten, dass es mehrere Charaktersysteme gibt, die zu unterschiedlichen Verhaltensweisen führen und dass man eine Persönlichkeit nur verstehen kann, wenn man das dem Verhalten zugrunde liegende System begreift. Aber Freud war der erste Wissenschaftler und Psychologe, der auf wissenschaftliche Weise einen Charakterbegriff ausgearbeitet hat und der die Grundlagen für ein systematisches Studium der Charakterstruktur legte.
Obwohl die in dieser Untersuchung vertretene Auffassung des Charakters sich auf diese Grundlagen stützt, unterscheidet sie sich doch hinsichtlich einer Reihe theoretischer Elemente, die ein Bestandteil von Freuds ursprünglicher Theorie waren.
Vor allem sind wir nicht der Ansicht, dass der Trieb in menschlichen Beziehungen bestimmend ist. So gründet sich zum Beispiel die Bindung des Kleinkindes an seine Mutter nicht in erster Linie auf die Befriedigung des Saugtriebs, sondern ist in einem viel weiteren Sinn zu verstehen. Die Befriedigung des Saugbedürfnisses gehört zwar zu den Funktionen der Mutter, doch gibt es andere Funktionen, die wichtiger sind, wie zum Beispiel den Hautkontakt. (Vgl. H. F. Harlow, 1958, der dies in seinen Tierexperimenten mit „künstlichen Müttern“ überzeugend illustriert hat.)[7] Noch wichtiger jedoch ist die bedingungslose Liebe, die nicht mit einem spezifischen Bedürfnis zusammenhängt, sondern vielmehr mit der Gesamteinstellung der Mutter zum Kind. Die Mutter ist immer da, sie ist immer bereit zu helfen, einen unbehaglichen Zustand zu beheben, zu antworten. Für das Kind ist sie die Vermittlerin der gesamten Realität, ja sie ist die Realität, die Welt selbst. Sie ist wie eine Göttin, die tröstet und auf die sich das Kind jederzeit verlassen kann, zumindest in seinen ersten Lebensjahren. Die [III-252] entscheidende Frage ist deshalb für das Kind nicht eine mechanistische: welche Instinkte befriedigt werden, sondern die sozio-biologische: welche Funktion die Mutter im und für den Lebensprozess des Kindes an einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung erfüllt.
Freuds klinische Beschreibung des oral-rezeptiven, des oral-ausbeuterischen und des analen Charakters scheint uns im wesentlichen richtig und durch Erfahrungen bei der Analyse von Einzelpersonen wie auch durch die analytische Untersuchung der Charakterstruktur von Gruppen bestätigt. Der Unterschied zur Freudschen Auffassung liegt nicht in der Beschreibung des Charaktersyndroms, sondern in seiner theoretischen Erklärung, die wichtige Konsequenzen für die Anwendung der Charaktersyndrome, wie sie Freud beim Einzelnen gefunden hat, auf das Verständnis des Gesellschafts-Charakters hat. Freuds theoretische Leitideen bezogen sich, wie bereits gesagt, auf das Schicksal der Libidoentwicklung. Seine Stufen der Charakterentwicklung entsprechen den Stufen der Libidoentwicklung insofern, als die Reihenfolge in beiden Fällen die gleiche ist und außerdem die Energie, mit der das Charaktersyndrom geladen ist, aus der Sexualenergie stammt, die in den entsprechenden prägenitalen erogenen Zonen gespeichert ist.
Wir dagegen gehen von einer sozio-biologischen Überlegung aus: Welche Art von Bindungen an die Welt, an Personen und Dinge muss – und kann – der Mensch entwickeln, um zu überleben angesichts seiner spezifischen Anlagen und der Natur der ihn umgebenden Welt? Um zu überleben, muss der Mensch zwei Funktionen erfüllen: Er muss erstens seine materiellen Bedürfnisse (Nahrung, Unterkunft usw.) befriedigen und außerdem diejenigen, die dem Fortbestand der Gruppe dienen, das heißt er muss sich fortpflanzen und den Nachwuchs schützen. Fromm hat dies „Assimilierungsprozess“ genannt und in seiner Charakterologie darauf hingewiesen, dass es nur bestimmte spezifische Möglichkeiten gibt, wie der Mensch sich die Dinge zu seinem Gebrauch assimilieren kann (vgl. Psychoanalyse und Ethik, 1947a, GA II, S. 41): entweder indem er sie passiv in sich aufnimmt (rezeptiver Charakter), indem er sie sich mit Gewalt aneignet (ausbeuterischer Charakter), indem er alles, was er hat, hortet (hortender Charakter) oder indem er das, was er braucht, in eigener Arbeit erzeugt (produktiver Charakter). Da aber der Mensch ein Bewusstsein seiner selbst besitzt und das Bedürfnis hat, auszuwählen und zu planen, da er Gefahren und Schwierigkeiten voraussieht und seiner ursprünglichen Heimat in der Natur entwurzelt ist, weil ihn nicht mehr die Instinkte determinieren, kann er sich bei aller Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse dennoch nicht seine seelisch-geistige Gesundheit erhalten, wenn er nicht mit anderen Menschen in Beziehung tritt, so dass er sich „zu Hause“ fühlen kann und er vor der völligen affektiven Isolierung und Abgesondertheit bewahrt wird, die für schwere seelische Erkrankungen typisch sind. (Übrigens ist die Bezogenheit auf andere auch eine gesellschaftliche Notwendigkeit, weil es keine gesellschaftliche Organisation geben könnte, wenn es nicht das Gefühl gäbe, aufeinander bezogen zu sein.) Insofern der Mensch Tier ist, kämpft er gegen den Tod, insofern er Mensch ist, kämpft er gegen den Wahnsinn. Er tut dies, indem er im „Sozialisationsprozess“ auf verschiedene Weise auf andere bezogen ist.
Der Mensch kann symbiotisch (sadistisch oder masochistisch), destruktiv, narzisstisch [III-253] oder liebend auf andere bezogen sein. (Andere, nicht so grundlegende, dafür mehr rollenbezogene Einstellungen werden in Kapitel 5 erörtert. – Bei der destruktiven und narzisstischen Weise der Bezogenheit handelt es sich wirklich um negative Formen; es ist hier allerdings nicht der Ort, um darzustellen, warum diese negativen Formen der Bezogenheit dennoch als Versuche angesehen werden müssen, die Probleme der Sozialisation – wenn auch ohne Erfolg – zu lösen.)
Auf die Verwandtschaft der Charakterstrukturen aufgrund des Assimilierungs- bzw. des Sozialisationsprozesses soll später eingegangen werden. Beide Prozesse aber haben nicht nur das Überleben (das physische wie das psychische) zum Ziel, sondern dienen auch dazu, dass das Potenzial des Menschen durch die aktive Betätigung seiner physischen, affektiven und intellektuellen Kräfte zum Ausdruck kommt. Um in diesem Prozess das zu werden, was er potenziell ist, bringt der Mensch seine Energien auf die adäquateste Weise zum Ausdruck. Kann er sein Selbst nicht aktiv ausdrücken, so leidet er, ist passiv und wird krank. (Viele Philosophen zeigen eine tiefe Einsicht in dieses Problem. Unter den modernen Psychiatern und Psychologen hat Kurt Goldstein das Verständnis dafür vertieft und auf seine Bedeutung hingewiesen. Später haben A. Maslow und andere ihm ihre Aufmerksamkeit gewidmet.)
Um noch einmal zusammenzufassen: Wenn wir von der rezeptiven, der ausbeuterischen, der hortenden und der produktiven Orientierung sprechen, meinen wir damit nicht die Form der Bezogenheit auf die Welt, die durch gewisse Formen des Sexualtriebs vermittelt wird, sondern die im Lebensprozess entstehenden Formen der Bezogenheit des Menschen auf die Welt.[8] Diese Änderung der Vorstellung führt auch zu einer Änderung des Begriffs der Energie, mit der das Charaktersystem geladen ist. Für Freud war diese Energie Sexualenergie, Libido. Aus unserer Sicht handelt es sich um die Energie in einem lebendigen Gesamtorganismus, der überleben und sich ausdrücken möchte. Es ist dabei nicht nötig, von einer „desexualisierten Energie“ zu sprechen, denn damit würde nur am orthodoxen Standpunkt festgehalten. Rein [III-254] deskriptiv gesehen bedienen wir uns eines generalisierten Begriffs von Energie, der dem Verständnis von „Libido“ bei Jung nahekommt.
Freud hat seinen Charakterbegriff anhand von klinischen Beobachtungen Einzelner, und nicht an Gruppen entwickelt. Darüber hinaus sah er die Basis für die Entwicklung des individuellen Charakters in einem anderen „privaten“ Phänomen, nämlich in der jeweiligen Familie. Freud hat seinen Begriff des Charakters nicht auf Gesellschaften oder Klassen angewandt. Diese Feststellung besagt nun nicht, dass Freud nicht auch gesellschaftlich orientiert gewesen wäre. Für ihn war sehr klar, dass die Individualpsychologie die Beziehung der Menschen zueinander nicht vernachlässigen darf und dass – wie er in Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921c, S. 73) schrieb – „die Individualpsychologie (...) daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinn“ ist. Er ging sogar noch weiter und stellte Spekulationen an über die Möglichkeiten von kollektiven Neurosen, wobei er zu folgendem Schluss kam: „Trotz aller dieser Erscheinungen darf man erwarten, dass jemand eines Tages das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemeinschaften unternehmen wird.“ Aber trotz dieser Spekulationen ist Freud nie über die Untersuchung des individuellen Charakters und seiner Verwurzelung in der Familie hinausgegangen.
Der Begriff des Gesellschafts-Charakters gründet sich auf die Prämisse, dass nicht nur die Energie des einzelnen Menschen entsprechend dem dynamischen Charakterbegriff Freuds strukturiert ist, sondern dass es auch eine Charakterstruktur gibt, die den meisten Mitgliedern von Gruppen oder Klassen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft gemeinsam ist. Diese gemeinsame Charakterstruktur bezeichnet Fromm als „Gesellschafts-Charakter“. Der Begriff des Gesellschafts-Charakters entspricht nicht der vollständigen oder stark individualisierten – tatsächlich einzigartigen – Charakterstruktur, wie wir sie beim Einzelnen finden, sondern es handelt sich um eine „Charakter-Matrix“, um ein Syndrom von Charakterzügen, das sich bei der Anpassung an die ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen entwickelt hat, die jener Gruppe gemeinsam sind. Natürlich gibt es in einer Gruppe auch individuelle Abweichungen, also Einzelne, die einen völlig anderen Charakter aufweisen als die Majorität. Die gemeinsamen Charakterzüge sind aber deshalb so wichtig, weil das Gruppenverhalten – das Denken, Fühlen und Handeln der Gruppe – von ihnen motiviert wird. In den Gruppen werden jeweils gerade jene zu Führern, die mit ihrem individuellen Charakter den Gesellschafts-Charakter auf besonders intensive und vollkommene Weise repräsentieren. Und falls sie nicht die ganze Gesellschaft repräsentieren, so doch wenigstens die mächtigste Klasse innerhalb derselben.
Es gibt Beispiele, an denen man den Gesellschafts-Charakter einer Gruppe besonders leicht beobachten kann. In primitiven Gesellschaften zum Beispiel kommt es immer wieder vor, dass die ganze Gruppe den gleichen Gesellschafts-Charakter aufweist. Manchmal ist dieser Gesellschafts-Charakter friedliebend, freundlich, [III-255] kooperativ und nicht-aggressiv; manchmal ist er aggressiv, destruktiv, sadistisch und argwöhnisch. Für die erste Art sind die Hopi-Indianer ein gutes Beispiel, für die letztere die Kwakiutl. (Vgl. M. Mead, 1961, und R. Benedict, 1934.[9] – Im Gegensatz zu diesen vertritt der Anthropologe D. Freeman [1964] als strenger Freudianer entsprechend der Freudschen Lehre vom Todestrieb die Ansicht, dass sein anthropologisches Material nur die Allgegenwart der Destruktivität beweise.) In höher entwickelten Gesellschaften beobachten wir einen den Klassen entsprechenden, je verschiedenen Gesellschafts-Charakter, wobei der Gesellschafts-Charakter davon abhängt, welche Rolle die Klasse innerhalb der Gesellschaftsstruktur spielt. (Aus unseren Daten geht hervor, dass dies auch für die von uns untersuchte Gesellschaft gilt.) Ein gutes Beispiel für den schichtspezifischen Gesellschafts-Charakter ist der hortende Charakter des Mittelstandes im Kapitalismus des Neunzehnten Jahrhunderts. Dieser Mittelstand wirtschaftete sparsam, hielt seinen Besitz zusammen, war pünktlich und ordentlich, und zwar nicht nur im Geschäftsgebaren, sondern auch im sexuellen Verhalten. (Diese Charakterzüge finden sich besonders eindrucksvoll in den von Benjamin Franklin aufgestellten Lebensregeln. Zu den Tugenden, die Franklin für die wichtigsten hielt, gehörten unter anderen Mäßigkeit, Ordnungssinn, Sparsamkeit, Reinlichkeit, Gerechtigkeit und Keuschheit, während er Barmherzigkeit, Liebe und Mitgefühl nicht einmal erwähnte.[10]) Die europäische Oberschicht besaß einen völlig anderen Gesellschafts-Charakter. Sie hielt nichts vom Sparen, sondern gab lieber ihr Geld aus und freute sich des Lebens, ohne sich dabei an die strengen viktorianischen Moralvorschriften zu halten.
Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist das Kleinbürgertum in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Die Charaktermatrix dieser Klasse kann man als hortend, hasserfüllt und sadistisch bezeichnen. Fromm hat (in Die Furcht vor der Freiheit, 1941a) gezeigt, wie ihr sozialer Abstieg im historischen Prozess zu dieser Charakterbildung führte. Es war dies die Klasse, aus der Hitler seine ursprünglichen Anhänger rekrutierte und aus der auch die brutalsten und sadistischsten Elemente der nationalsozialistischen Bewegung hervorgingen.
Der Begriff des Gesellschafts-Charakters erklärt, wie sich die allgemeine psychische Energie in die spezifische Form der psychischen Energie verwandelt, die die jeweilige Gesellschaft braucht, um richtig. zu funktionieren. Um das zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass es keine „Gesellschaft“ an sich gibt; vielmehr gibt es nur gesellschaftliche Strukturen und die Forderung jeder Gesellschaft und jeder Klasse an ihre Mitglieder, auf spezifische Weise zu funktionieren. Die Produktionsweise wechselt von einer Gesellschaft bzw. Klasse zur anderen. Ein Leibeigener, ein freier Bauer, ein Industriearbeiter des Neunzehnten Jahrhunderts und ein solcher in einer automatisierten Gesellschaft – oder auch ein unabhängiger Unternehmer des Neunzehnten Jahrhunderts und ein Industriemanager des Zwanzigsten Jahrhunderts –, alle haben unterschiedliche Funktionen zu erfüllen. Außerdem verlangt der unterschiedliche gesellschaftliche Kontext, dass sie zu ihren Arbeitskollegen, zu ihren Vorgesetzten und ihren Untergebenen auf unterschiedliche Weise in Beziehung treten. Ein paar Beispiele sollen dies erläutern: Der Industriearbeiter muss diszipliniert und pünktlich sein; vom Bürger des Neunzehnten Jahrhunderts wurden Sparsamkeit, Individualismus und Selbstvertrauen gefordert; heute müssen die Angehörigen aller Klassen – die ganz Armen ausgenommen – in Teams [III-256] arbeiten, sie müssen gewillt sein, Geld auszugeben und immer neue Produkte zu konsumieren. Es ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit, dass der Mensch in die Ausübung dieser Funktionen einen großen Teil seiner psychischen Energie investiert. Wenn er zur Arbeit gezwungen würde, dann könnten nur Arbeiten verrichtet werden, zu denen man lediglich minimale Fertigkeiten braucht. Würde er andererseits seine Funktionen nur erfüllen, wenn er es für sein Überleben oder sein Wohlbefinden für notwendig hielte, könnte er gelegentlich zu dem Entschluss kommen, dass er sich lieber anders verhalten wollte, als die Gesellschaft es ihm vorschreibt. Das wäre aber keine ausreichende Grundlage für richtiges Funktionieren einer Gesellschaft. Die Erfordernisse seiner gesellschaftlichen Rolle müssen dem Menschen zur „zweiten Natur“ werden, das heißt der Mensch muss das tun wollen, was er tun muss. Die Gesellschaft muss nicht nur Werkzeuge und Maschinen, sie muss auch einen Persönlichkeitstyp produzieren, der seine Energie freiwillig zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Rolle einsetzt. Bei diesem Prozess der Umwandlung allgemeiner psychischer Energie in eine spezifische psycho-soziale Energie stellt der Gesellschafts-Charakter den Vermittler dar.
Wer sich den Forderungen des Gesellschafts-Charakters entsprechend verhält, fühlt sich befriedigt, wenn ihm die gesellschaftliche Norm die Möglichkeit dazu gibt. Die Mitglieder des Mittelstandes des Neunzehnten Jahrhunderts, die gerne sparten, waren zufrieden, wenn ihr Gesellschaftssystem ihnen die Gelegenheit zum Sparen gab. Die Gesellschaft hat also nicht nur die psychische Energie in eine ihr nützliche Energie verwandelt, sondern auch denen, die sich so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird, die Befriedigung ermöglicht. Darüber hinaus erhalten jene, deren individueller Charakter dem Gesellschafts-Charakter am meisten entspricht, auch noch die Belohnungen, welche ein richtiges gesellschaftliches Verhalten mit sich bringt, nämlich materiellen Erfolg und die Anerkennung, „gut“ und „tugendhaft“ zu sein. Diejenigen, die in Bezug auf ihren individuellen Charakter dem Gesellschafts-Charakter am ähnlichsten sind, werden – falls sie die nötige Begabung dazu besitzen – häufig zu Führern der betreffenden Gruppen.
Der Gesellschafts-Charakter bildet sich unter dem Einfluss der „Gesamtkultur“ heraus: der Methoden der Kindererziehung, des Schulsystems, der Literatur, der Kunst, der Religion und der Sitten. Der gesamte „Kulturapparat“ garantiert also seine Stabilität.[11] Tatsächlich könnte man die Kultur definieren als die Gesamtheit all jener [III-257] Institutionen, die den Gesellschafts-Charakter erzeugen und stabilisieren. Häufig hinkt der Gesellschafts-Charakter hinter neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen her, weil er in Tradition und Sitte wurzelt und daher stabiler ist. Dieses Nachhinken ist oft für bestimmte Klassen und ganze Gesellschaften nachteilig, die sich deshalb den neuen Umständen nicht anpassen können, weil ihr herkömmlicher Charakter ihnen diese Anpassung erschwert. Das auffälligste und alarmierendste Beispiel für diese Phasenverschiebung ist heute der Konflikt zwischen unserer traditionellen Einstellung zu nationaler Souveränität, nationaler Ehre und siegreichem Krieg und der neuen Technologie, besonders auf dem Gebiet der atomaren Rüstung und der biologischen Kriegführung. Es ist eben diese Phasenverschiebung und die Hartnäckigkeit, mit der der traditionelle Charakter sich behauptet, und die es so schwer macht, das gesellschaftliche Verhalten ausschließlich oder auch nur vorwiegend als angelernt oder durch Nachahmung vermittelt zu erklären.
An dieser Stelle müssen wir auf einen Unterschied zwischen der klassischen Charakterauffassung und unserer eigenen hinweisen, auf den wir bisher noch nicht zu sprechen kamen, der aber für das Verständnis des Gesellschafts-Charakters und der gesellschaftlichen Veränderung besonders relevant ist. Wie bereits dargelegt, erfolgt nach Freud die Charakterentwicklung stufenweise entsprechend den Phasen der Libidoentwicklung, von der angenommen wird, dass sie der physiologischen Struktur des Menschen inhärent ist. Für Freud war die Charakterbildung auf der ödipalen Stufe, etwa im Alter von sechs Jahren, mehr oder weniger abgeschlossen. Auf diese Stufe folgt die Latenzzeit und später die Pubertät, die Adoleszenz und das Erwachsenenalter, doch kommt es dabei nur höchst selten noch zu Charakteränderungen. (Gemäß einer späteren Auffassung von Charakteranalyse können derartige Veränderungen – wenn auch nur unter großen Schwierigkeiten – durch die psychoanalytische Behandlung bewirkt werden.) Für Freud waren die Kindheitserfahrungen nicht nur die Basis der Charakterbildung; für ihn wurde der Charakter auch in dieser Zeit fixiert und konnte ohne psychoanalytische Therapie nicht mehr geändert werden.
Wenn wir auch die grundsätzliche Bedeutung der Kindheitserfahrungen anerkennen, stehen wir doch theoretisch bezüglich der wesentlichen Einflüsse auf die Charakterbildung auf einem anderen Standpunkt, woraus sich auch eine andere Auffassung hinsichtlich der Möglichkeit späterer Veränderungen ergibt. Wie bereits dargelegt, hat der Mensch eine Reihe von nachweisbaren Möglichkeiten, Neues zu assimilieren und Beziehungen einzugehen. Die Stufen der Entwicklung des Kindes besitzen zwar eine bestimmte Reihenfolge, doch ist diese nicht so streng, wie Freud annahm. Ganz im Gegenteil scheint uns aus klinischen und gesellschaftlichen Daten hervorzugehen, dass das Kind sein Leben mit allen potenziellen Orientierungen beginnt, von denen einige konstitutionell stärker und andere schwächer gegeben sind, dass es mit verschiedenen Charakter-Orientierungen experimentiert und dass schließlich diejenigen dominant werden, die sich am besten zur Anpassung an seine jeweilige Umgebung eignen. Allerdings hat die dem Wachstum abträgliche Anpassung an die Gegebenheiten gewöhnlich wichtige „Nebenwirkungen“. Wenn sich zum Beispiel ein Kind den Forderungen einer sadistischen Mutter oder eines sadistischen Vaters nach unbedingtem Gehorsam fügt, geschieht etwas mit ihm, während es sich aus Angst den sich [III-258] aus der Situation ergebenden Notwendigkeiten anpasst. Es kann dann gegen den Elternteil, der es unterdrückt, eine intensive Feindseligkeit entwickeln, die es aber verdrängt, weil es zu gefährlich wäre, sie offen zum Ausdruck zu bringen oder sich ihrer auch nur bewusst zu werden. Diese verdrängte – nicht manifeste – Feindseligkeit ist bei der Entwicklung seiner Charakterstruktur ein dynamischer Faktor. Sie kann neue Angst erzeugen und so zu einer noch tiefer verwurzelten Unterwürfigkeit führen; sie kann auch zu einer unbestimmten Trotzhaltung führen, die sich nicht gegen einen bestimmten Menschen, sondern eher gegen das Leben an sich richtet, und sie kann sogar zu unerwarteten mörderischen Impulsen führen. (Nicht alle Familieneinflüsse sind jedoch pathogen. Produktiv-liebende Eltern werden ihr Kind respektieren und ihm Vertrauen zu seinen eigenen Gefühlen und Mut zur Entwicklung der ihm angeborenen Fähigkeiten einflößen.)
Es ist nachdrücklich zu betonen, dass der Einfluss der Familie, mag er noch so stark sein, stets durch die Konstitution des Kindes hindurch wirkt. Unter Konstitution (oder ererbte Anlage) verstehen wir mehr als nur das Temperament im klassischen Sinn. Wir bezeichnen damit vielmehr die Grundstruktur der Persönlichkeit. Die Beziehungen innerhalb der Familie tragen entweder dazu bei, diese Struktur bestmöglich zu entwickeln oder sie zu entstellen. Genau wie aus einem Birnenkern kein Apfelbaum werden kann, sondern nur ein besserer oder schlechterer Birnbaum, was von der Bodenbeschaffenheit und vom Klima abhängt, so kann auch ein Kind nur die ihm mitgegebene potenzielle Struktur entweder auf eine harmonische und höchst lebendige Weise oder in negativer Richtung entwickeln. So kann zum Beispiel ein höchst sensibles und nicht-aggressives Kind unter günstigen Einflüssen zu einem einfühlsamen, künstlerisch und geistig orientierten Menschen werden. Unter dem Einfluss kalter und autoritärer Eltern wird das gleiche Kind vermutlich eingeschüchtert, verängstigt und nachtragend werden, was dann zur Folge hat, dass es den größten Teil seiner Energie nicht darauf verwenden wird, das zu werden, was es sein kann. Das tritt besonders dann ein, wenn die Eltern dem Kind ein Persönlichkeitsmuster aufzuzwingen versuchen, das sie für gesellschaftlich wünschenswert oder besonders vorteilhaft halten, das aber im Widerspruch zu der konstitutionell vorgegebenen Persönlichkeit des Kindes steht. Das heranwachsende Kind kann sich dann entsprechend der ihm anerzogenen Persönlichkeit verhalten, es wird aber mit den tiefsten Quellen seines ursprünglichen Selbst nicht in Berührung kommen. Natürlich kann man ein Kind mit Belohnungen, Strafen oder durch Missbrauch seiner Angst dazu konditionieren, dass es zu dem wird, was es nicht ist, aber die Folge wird immer ein innerer Konflikt, eine Verschwendung von Energie, Freudlosigkeit, in vielen Fällen auch eine Neurose und gelegentlich sogar eine Psychose sein.
Alle diese Erwägungen gründen sich auf die Annahme, dass ein maximales Wohlbefinden nur zu erreichen ist, wenn der Betreffende das wird, was er potenziell ist, wenn er sein Selbst, sein Zentrum und daher ein authentisches Identitätsgefühl entwickelt.[12] [III-259]
Dass die Reaktion eines Kindes auf seine Umwelt in der Familie auch von seiner Konstitution abhängt, kann man erkennen, wenn man die Kinder aus einer Familie miteinander vergleicht. Das eine Kind wehrt sich vielleicht gegen die Anpassung, weil es einen stärkeren Willen hat, während ein anderes schnell nachgibt. Gleiches gilt auch für die Reaktion eines Kindes auf Druck von außen. Die Lebensbedingungen außerhalb wie innerhalb der Familie erlauben es dem Kind, seine Fähigkeiten zu üben, aber oft zwingen sie es auch, sich auf eine Art anzupassen, die mit seinen echten Wünschen in Konflikt steht. Wie es dann diesen Konflikt – entweder durch Widerstand oder durch Anpassung – löst, hängt zum großen Teil von konstitutionellen Faktoren ab.
So wird zum Beispiel ein Kind aus einer autoritären Familie sich gewöhnlich den Erwartungen entsprechend verhalten, doch besteht auch die Möglichkeit, dass es Widerstand leistet und damit seine ursprünglichen Tendenzen, seine Integrität, verstärkt und empfindlich für Sadismus wird. Die meisten Kinder werden also zwar wahrscheinlich so werden wie ihre beispielsweise autoritär-sadistischen Eltern, einige aber werden sich zu dem genauen Gegenteil entwickeln. Diese allgemeine Formulierung ist jedoch noch genauer zu qualifizieren. Wenn das Kind selbst eine starke angeborene sadistische Neigung aufweist, kann seine Anpassung an das elterliche Vorbild durch diese Neigung noch unterstützt werden. Andererseits kann ein Mensch sich äußerlich anpassen und doch darunter sein ursprüngliches Selbst bewahren, was einen inneren Konflikt zwischen beiden Tendenzen zur Folge hat. Darum gehört ja zu den wichtigsten Aufgaben der Psychoanalyse, solche Konflikte aufzulösen.[13]
Die Bedeutung von Kindheitserlebnissen schließt keineswegs spätere [III-260] Charakteränderungen aus. Das heißt, dass sich zwar der Charakter unter dem Einfluss frühkindlicher Erfahrungen und Veranlagung in den ersten Jahren formt, dass aber seine Struktur normalerweise so flexibel bleibt, dass es auch in späterer Zeit noch zu Veränderungen kommen kann. Wir möchten grundsätzlich keine Altersgrenze für die Möglichkeit solcher Veränderungen zum Besseren oder Schlechteren ziehen. Es gibt jedoch auch einen guten Grund für die Annahme, dass der Charakter völlig unveränderlich sei. Wie wir mit Freud annehmen, entwickelt sich der Charakter des Kindes in einer dynamischen Anpassung an die Familienkonstellation. Da die Familie den Geist der Gesellschaft repräsentiert, in die das Kind hineingeboren wird, formen die gleichen Einflüsse, die seine Entwicklung von Anfang an bestimmten, auch weiterhin die Charakterstruktur des Adoleszenten und des Erwachsenen. Die Institutionen von Schule, Beruf und Freizeitgestaltung unterscheiden sich nicht wesentlich von der dem Kind in der Familie übermittelten Lebensweise. So wird die in der Kindheit erworbene Charakterstruktur im späteren Leben ständig weiter verstärkt, wenn sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht drastisch ändern. Da dies kaum einmal der Fall ist, entsteht der Eindruck, dass der Charakter im Alter von sechs Jahren endgültig geformt ist und sich später nicht mehr ändern kann.
Die Tatsache, dass bestimmte Charakter-Orientierungen – im allgemeinen die, welche der Umgebung des Kindes angepasst sind – dominant werden, bedeutet jedoch noch nicht, dass die anderen einfach verschwinden oder durch Verdrängung unwiederbringlich verlorengehen. Verändern sich die Umstände nicht, so wird die am meisten angepasste Charakter-Orientierung immer stabiler. Ändern sich dagegen die Umstände erheblich, so hat das Kind und sogar noch der Erwachsene die Möglichkeit, Orientierungen zu wecken, die bisher latent vorhanden waren und die sich zur Anpassung an die neuen Umstände besser eignen. Dies ist ein komplizierter Veränderungsprozess. Das ursprüngliche Charaktersystem wird nicht verschwinden, sondern wird teilweise durch eine neue Charakterstruktur ersetzt oder auch mit ihr vermischt werden. Sie wird sich von der ursprünglichen vielleicht nicht radikal unterscheiden, aber doch in einem Maße anders sein, dass eine neue Reihe motivierender Charakterzüge entsteht. Andernfalls könnte durch ein psychoanalytisches Eingreifen keine Charakteränderung bewirkt werden. Dass die in frühen Jahren angenommene Charakterstruktur bei den meisten Menschen ihr ganzes Leben lang dominant zu bleiben scheint, liegt weniger daran, dass sie starr und einer Veränderung unzugänglich ist, als an der sich gegenseitig verstärkenden Beziehung zwischen Charakter und Umwelt.
An dieser Stelle scheint uns eine Mahnung angebracht: Die Charakterstruktur ist ein System und besitzt wie jedes andere System eine starke Kohäsionskraft, insofern alle Teile ineinandergreifen und die Veränderung eines Teils auch die Veränderung aller anderen Teile zur Folge hat. Dies ist der Grund, warum bloße Belehrung wenig Einfluss hat und der Versuch, einen Charakterzug oder ein Symptom gewaltsam – zum Beispiel durch Strafen oder Belohnen – zu ändern, wirkungslos bleibt. Ein System absorbiert sehr rasch die bei einem speziellen Charakterzug zustande gebrachten Veränderungen. Entweder taucht dann der betreffende Zug bald wieder auf, oder er wird tief verdrängt und wartet nur auf günstige Umstände, um wieder zum Vorschein [III-261] zu kommen. (Vgl. Freuds Begriff der „Wiederkehr des Verdrängten“.) Wie bei jedem anderen System ist auch hier eine Systemänderung nur möglich, wenn sich die Gesamtumstände so ändern, dass das ganze System betroffen ist und andere latente Systeme, die bisher verborgen waren, jetzt auftauchen. Ein Beispiel möge dies erläutern: Wenn man ein aggressives Kind bestraft oder aber seinem Verhalten gegenüber nachsichtig ist, dann kann sich sein aggressives Verhalten, nicht aber sein aggressiver Charakter ändern. Wenn dagegen eine neue Entwicklung die Gesamtlage ändert, wenn zum Beispiel eine Kombination von bedingungsloser Liebe, Anregung, Vermeidung von Strafen, Gelegenheit zu aktiver Beteiligung und Übernahme der Verantwortung eintritt, wenn es zu einer Situation kommt, in der Solidarität ohne Konkurrenzkampf und Sachlichkeit herrschen, dann kann diese neue Situation sehr wohl ein latentes Charaktersystem zum Vorschein bringen, das die Aggression „austrocknet“. Dieser Begriff des „Austrocknens“ ist wichtig. Jedes Umweltsystem nährt bestimmte Charakterzüge oder lässt sie vertrocknen. Beide Prozesse laufen langsam ab und entstehen nur, wenn man die Geduld aufbringt zu warten anstatt aufzugeben, sofern die neueingeführten Elemente keinen unmittelbaren Erfolg bringen.
Die Möglichkeit einer Veränderung hängt davon ab, dass alle Elemente des Charaktersystems eine gewisse Flexibilität oder – genauer gesagt – ihre regenerative Kraft bewahrt haben. Ist dies der Fall, so könnte man von einem prinzipiell gesunden Charakter sprechen, auch dann, wenn er sich in einer bestimmten Situation auf ungesunde Weise manifestiert. Es kommt jedoch gelegentlich vor, dass entweder aus konstitutionellen Gründen, oder weil frühe Kindheitserfahrungen allzu intensiv waren, bestimmte Teile des Charakters ihre Fähigkeit zu einer regenerativen Anpassung verlieren, dass sie verknöchern oder „absterben“. Wenn dies in stärkerem Ausmaß der Fall ist, verliert das psychische System seine Regenerationskraft, und man kann annehmen, dass es nicht mehr in der Lage ist, sich zu ändern. Ein solches System kann man als ernsthaft krank betrachten, und es ist eine Frage, die nur von Fall zu Fall zu entscheiden ist, ob grundsätzliche Veränderungen im sozialen System (oder ein therapeutischer Eingriff) diese Starrheit noch überwinden und jene Elemente zum Leben erwecken können, die verhärtet waren. (Vgl. hierzu auch Freuds Abhandlung Die endliche und die unendliche Analyse [1937c], in der er sich mit der Schwierigkeit befasst, selbst mit Hilfe der psychoanalytischen Therapie Veränderungen zu erreichen.)
Unser Interesse bei dieser Untersuchung galt in zweiter Linie einer Methode, die uns die Anwendung analytischer sozialpsychologischer Kategorien auf die Sozialforschung erlaubt, und zwar auf andere Weise als bei der individuellen oder Gruppenanalyse von Mitgliedern einer Gemeinschaft. Diese Möglichkeit war nicht nur in Mexiko, sondern auch überall sonst nahezu ausgeschlossen, zum einen weil sie einen Zeitaufwand erfordert hätte, für den uns weder die Mitarbeiter noch die Mittel zur Verfügung standen, andererseits aber weil ein Teil der Bevölkerung – und vielleicht kein geringer – nicht bereit gewesen wäre, sich der Prozedur zu unterziehen. [III-262]
Bisher hat die Sozialforschung hauptsächlich mit Methoden gearbeitet, welche auf Verhaltensdaten wie Meinungen und bewusste Einstellungen zielen. Man hat auch eine Reihe von Versuchen durchgeführt, um unbewusste Trends in einer sozialen Gruppe zu analysieren, wobei man sich auf intuitive Beobachtung oder vorhandene Berichte über Erfahrungen oder Verhalten von Gruppenmitgliedern stützte. Hierzu gehören zum Beispiel die anthropologischen Arbeiten von A. Kardiner, die Untersuchungen über den amerikanischen Charakter von David Riesman und über den Nationalcharakter von G. Gorer. Außerdem hat man Untersuchungen durchgeführt über die Beziehung zwischen unbewussten Motivationen und politischen Einstellungen, wobei man sich sowohl strukturierter Interviews (z.B. in den Arbeiten von B. Smith, J. S. Bruner, von R. White und von Robert Lane) bediente, als auch vorcodierter projektiver Fragen (besonders in The Authoritarian Personality von Adorno u. a. [1950] und in zahlreichen weiteren Untersuchungen, die sich darauf gründen).
Es liegt nicht in unserer Absicht, diese Analysen hier zu besprechen. Vielmehr geht es uns darum, entscheidende Unterschiede zu unserer eigenen Studie herauszustellen.[14]
Der wichtigste Unterschied ist theoretischer Art. Wir haben den Charakterkern eines jeden Dorfbewohners und die Beziehung zwischen seinem Charakter und seinen spezifischen Bedürfnissen herauszufinden versucht. Im Gegensatz zu The Authoritarian Personality [1950] haben wir uns dabei offener Fragebogen bedient, bei denen wir die Antworten auf die noch zu beschreibende Weise psychoanalytisch interpretieren mussten.[15] Eine solche Methode ging zum ersten Mal in eine Untersuchung ein, die vom Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt im Jahre 1931 begonnen wurde.[16] Eine kurze Beschreibung der in dieser frühen Studie angewandten Methode soll zugleich Grundelemente der Methode erklären, die wir bei unserer Untersuchung [III-263] des mexikanischen Dorfes benutzten. Der unmittelbare Anstoß für die damalige Untersuchung war das Interesse an der Frage, welcher Anteil der deutschen Arbeiter und Angestellten zuverlässige Gegner des Nationalsozialismus waren. Ihrer politischen Meinung nach waren fast alle Beantworter der Fragebögen Gegner des Nationalsozialismus, die meisten von ihnen erklärte Sozialisten oder Kommunisten. Wir stellten die Hypothese auf, dass im Falle eines Sieges von Hitler diejenigen mit einem autoritären Charakter Nationalsozialisten, die mit einem antiautoritären, demokratisch-revolutionären Charakter zu Kämpfern gegen den Nationalsozialismus und die mit einem gemischten Charakter weder begeisterte Nazis noch begeisterte Gegner des Nationalsozialismus werden würden.[17]
Diese Hypothese basierte auf der theoretischen Annahme, dass Meinungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vertreten werden, relativ unverlässlich sind, falls sich die Umstände drastisch verändern. An sich ist eine Meinung nichts anderes als die Übernahme von Denkmodellen, die von der Gesellschaft allgemein geteilt oder von einer besonderen Gruppe vertreten werden, in diesem Fall von den deutschen Arbeitern und Angestellten. Wir nahmen an, dass nur solche Meinungen starke Motivationen zum Handeln darstellen, die in der Charakterstruktur eines Menschen verwurzelt sind – wenn es sich um „innerste Überzeugungen“ handelt; denn wenn eine Meinung in der Charakterstruktur verwurzelt ist, sollte man besser von einer Überzeugung als von einer Meinung sprechen. Tief verwurzelte Überzeugungen sind in der Tat sehr starke Motivationen für das Handeln, vorausgesetzt, dass die Möglichkeiten für derartige Aktionen gegeben sind. (Das gilt im übrigen für Überzeugungen jeder Art, ganz gleich ob sie rational oder irrational, gut oder böse, richtig oder falsch sind.) Wir folgerten aus dieser Annahme, dass nur dann, wenn wir die Charakterstruktur der deutschen Arbeiter und Angestellten genau kannten, ihre voraussichtliche Reaktion auf einen Sieg des Nationalsozialismus vorauszusehen seien. Unser Hauptinteresse galt also nicht dem Gesellschafts-Charakter im allgemeinen, sondern dem hinsichtlich der nationalsozialistischen Herausforderung relevantesten Aspekt: dem autoritären bzw. dem demokratisch-revolutionären Charakter. (Vgl. auch Der revolutionäre Charakter, 1963b, GA IX, S. 343-353, sowie unten in Kapitel 4, wo verschiedene Typen des politischen Charakters ausführlicher behandelt werden.) Wir wollten also eine Methode finden, mit der wir Befragungen durchführen und entsprechend unserer dynamischen Auffassung vom autoritären Charakter statistisch auch auswerten konnten.
Bei unserer Untersuchung gingen wir davon aus, dass es Analogien zwischen einem gesellschaftsbezogenen und einem persönlichen psychoanalytischen Interview gibt. Wenn ein Psychoanalytiker einen Patienten befragt, dann versucht er – noch bevor er die Methode der freien Assoziation und Traumdeutung anwendet – die unbewusste Bedeutung bestimmter Aussagen und Behauptungen, die der Betreffende vorbringt, zu verstehen, eine Bedeutung, die der Patient vielleicht gar nicht zum Ausdruck bringen wollte oder die er zum Ausdruck bringt, ohne es zu merken. Psychoanalytische Interviews liefern eine Fülle von Beispielen für dieses Verfahren. Wenn jemand beim ersten Gespräch ungewöhnlich oft versichert, wie sehr er seine Frau liebt, dann aber ausführlich darüber spricht, was er im beklagenswerten Fall ihres Todes tun würde, dann braucht man kein Psychoanalytiker zu sein, um zu merken, dass er „es zu heftig [III-264] beteuert“ und dass seine Liebesbeteuerungen vermutlich nicht das bedeuten, was er glaubt oder was er damit zum Ausdruck bringen möchte. Wir nahmen an, dass wir die gleiche Methode auch in Interviews zu ausgearbeiteten Fragen anwenden könnten. Technisch bedeutete das, dass uns auf unsere Fragen keine Antworten wie „ja“, „nein“, „sehr“, „ein wenig“ usw. hilfreich waren; vielmehr musste die spontane Antwort des Befragten vom Befragenden sofort wörtlich notiert werden. Die Einzelantworten wurden nicht mechanisch aufgelistet, sondern wir versuchten, dadurch, dass wir jede einzelne Antwort sowie die Gesamtheit aller Antworten auf dem Fragebogen analysierten, die dynamischen Tendenzen im Charakter der Beantworter zu erkennen, welche für ihre politische Einstellung am meisten relevant waren. Außerdem interessierte es uns, die auf jedem Fragebogen zu erkennende Charakterstruktur mit allen übrigen sowie mit objektiven Daten wie Alter, Einkommen, Geschlecht und Bildungsgrad zu vergleichen.
Der Unterschied zwischen dieser Art des Fragens mit Hilfe eines „interpretativen Fragebogens“ und den meisten anderen für soziale Untersuchungen üblichen, betrifft nicht in erster Linie den Unterschied zwischen einem offenen Fragebogen und einem solchen mit vorformulierten Antworten. Der Unterschied liegt vielmehr vor allem in der unterschiedlichen Auswertung der Antworten begründet. Beim herkömmlichen Fragebogen benutzt man die Antworten als Rohmaterial oder man kodiert sie nach Verhaltenskategorien. Dann besteht die Aufgabe darin, sie statistisch zu analysieren, und zwar entweder nach der Häufigkeit jeder einzelnen Antwort oder durch eine Faktorenanalyse, bei welcher Gruppen von Antworten, die mit signifikanter Häufigkeit zusammen auftreten, nachgewiesen werden. Die Hauptaufgabe besteht dann darin, relevante Fragen auszuwählen und die Antworten auf möglichst fruchtbare Weise statistisch auszuwerten. Alle diese Schritte muss man auch bei einem interpretativen Fragebogen vornehmen, doch scheinen sie uns relativ einfach im Vergleich zu dem nur für den interpretativen Fragebogen charakteristischen Element, nämlich der Interpretation der Antworten auf ihre unbewusste oder unbeabsichtigte Bedeutung hin. Es handelt sich dabei – wie bei jeder anderen psychoanalytischen Deutung – um eine schwierige Aufgabe, die viel Zeit in Anspruch nimmt.[18] Man muss über die psychoanalytische Theorie und Therapie Bescheid wissen (und selbst eine Analyse gemacht haben), man braucht klinische Erfahrung und – wie bei allem andern auch – Geschicklichkeit und Begabung. Die psychoanalytische Interpretation – von Assoziationen und Träumen wie auch von Antworten auf einem Fragebogen – ist eine Kunst genau wie die medizinische Praxis, wobei bestimmte theoretische Grundsätze auf empirische Daten angewandt werden.
Die wichtigste Voraussetzung für eine zutreffende Deutung, das heißt die wichtigste Voraussetzung für die Richtigkeit der Ergebnisse der gesamten Untersuchung, ist die [III-265] Qualifikation dessen, der die Daten deutet. Die meisten Psychologen benützen Verhaltensweisen als Basis ihrer Arbeit. Sie sind unmittelbar demonstrierbar und leicht in beschreibbare Kategorien einzuordnen. Ihnen kommt die psychoanalytische Deutung höchst subjektiv, wenn nicht sogar unwissenschaftlich vor. Sie lehnen den „subjektiven“ Faktor bei der Deutung ab, weil er die Überprüfung der Angemessenheit der Deutung unmöglich mache. Wir wollen uns hier auf keine Diskussion über die wissenschaftliche Methode und die Probleme von „Tatsachen“ und „Beweisen“ usw. einlassen – eine Diskussion, die den Unterschied zwischen dem traditionellen mechanischen Modell der wissenschaftlichen Methode und dem Modell betrifft, wie es in der theoretischen Physik und in der Biochemie existiert. Wir möchten jedoch unterstreichen, dass das Problem der Subjektivität auch auf einem so respektablen Gebiet wie der Medizin vorhanden ist. Nehmen wir zum Beispiel die Auswertung eines Röntgenbildes. Wenn es sich um ein typisches Bild handelt, werden sogar die meisten Anfänger es auf die gleiche Weise deuten. Handelt es sich dagegen um ein atypisches Bild, so kann es vorkommen, dass sich selbst die erfahrensten Spezialisten nicht einig sind. Nur der weitere Verlauf der Krankheit oder eine Operation kann dann entscheiden, welche Interpretation richtig war. Ist die Auswertung einmal erfolgt und dient sie als Grundlage für die weitere Behandlung, dann muss man das Leben des Patienten der Annahme anvertrauen, dass die Interpretation eines tüchtigen Arztes vermutlich richtig ist. Tatsächlich ist seine Diagnose nicht im üblichen Sinn subjektiv. Er ist ein höchst geübter Beobachter, dessen Urteil das Resultat von Erfahrung, Geschicklichkeit, Intelligenz und Konzentration ist. Trotzdem kann er die Richtigkeit seiner Deutung nicht so beweisen, dass sie jeden überzeugen würde (was übrigens gelegentlich auch bei besonders komplizierten wissenschaftlichen Experimenten der Fall ist) und am wenigsten all jene Ärzte, die nicht über seine Geschicklichkeit und seine Begabung verfügen. Schließlich besteht ja auch noch die Möglichkeit, dass er sich irrt.
Im Fall der psychoanalytischen Deutung ist es nicht anders. Auch hier kann erst die zukünftige Entwicklung die Deutung „beweisen“. Außerdem dürfte – wie auf vielen anderen Gebieten der Wissenschaft – auch hier die innere Übereinstimmung der Deutung mit zahlreichen anderen Daten und mit theoretischen Annahmen dafür sprechen, dass sie richtig ist.[19] Natürlich ist ein gewisses Maß an Ungewissheit der Preis, den der Psychoanalytiker zahlen muss, um zu einem tieferen Verständnis der wichtigsten Daten zu gelangen.[20] Der traditionelle Verhaltenswissenschaftler besitzt [III-266] oft eine größere Gewissheit, doch bezahlt er sie damit, dass er seine Forschung auf solche Probleme beschränken muss, die er mit seinen Methoden anzugehen vermag.
Wenn sich in der deutschen Studie auch nicht alle gestellten Fragen als für eine analytische Untersuchung fruchtbar erwiesen, so waren doch viele brauchbar und ließen eine bestimmte Struktur erkennen, die den gesamten Fragebogen durchzog, so dass man die Antworten auf die zweite Hälfte der Fragen bereits vermuten konnte, nachdem man die erste Hälfte analysiert hatte. Ein einfaches Beispiel möge erläutern, wie wir die interpretative Methode angewandt haben: Auf die Frage „Welche großen Männer der Geschichte bewundern Sie am meisten?“ antworteten einige „Alexander den Großen, Nero, Marx und Lenin“, während andere „Sokrates, Pasteur, Kant, Marx und Lenin“ antworteten. Während man nun nach der herkömmlichen Methode die Antworten „Marx und Lenin“ als identisch angesehen hätte, haben die Antworten „Marx und Lenin“ nach der interpretativen Methode in beiden Fällen eine völlig unterschiedliche Bedeutung. Im ersten Fall sieht der Betreffende in ihnen Repräsentanten von Macht oder militärischer Stärke, im zweiten Fall dagegen Wohltäter der Menschheit. Das bedeutet, dass der erste Beantworter mächtige totalitäre Führerpersönlichkeiten und der zweite Humanisten bewundert. Ohne Rücksicht auf die objektive Validität des Urteils kann man subjektiv die erste Antwort als autoritär und die zweite als antiautoritär klassifizieren.
Ein weiteres Beispiel für die interpretative Methode ist folgendes: Auf die Frage: „Was halten Sie davon, dass Frauen einen Lippenstift benutzen?“ (dies war damals eine Streitfrage unter den deutschen Arbeitern, von denen viele den Lippenstift für eine bürgerliche Sitte hielten) antworteten einige: „Ich bin dafür, weil sich die Frauen dann weiblicher und anziehender vorkommen und sich glücklicher fühlen.“ Die Antwort wurde als Hinweis auf einen nicht-autoritären Charakter interpretiert, weil aus ihr hervorging, dass der Betreffende das Leben liebte und den Frauen gegenüber eine nicht-autoritäre Haltung einnahm. Wenn jemand antwortete: „Ich bin dagegen, weil es eine bürgerliche Sitte ist“, wurde diese Antwort als „keine Schlüsse zulassend“ klassifiziert und nicht interpretiert, weil sie eine Klischeevorstellung wiedergab und nur wenig über den Charakter des Beantworters enthüllte. Lautete die Antwort aber: „Ich bin dagegen, weil die Frauen dann wie Huren aussehen“ oder „weil Lippenstift giftig ist“, so wurde sie als Hinweis auf einen autoritär-sadistischen Charakterzug interpretiert. Der Grund für diese Deutung war, dass Worte wie „Hure“ oder „giftig“ eine destruktiv-feindliche Einstellung ausdrücken. Allerdings hielten wir eine einzige Antwort nicht für gewichtig genug, um die Charakterstruktur des Beantworters als autoritär oder als nicht-autoritär interpretieren zu können. Wenn jedoch mehrere Antworten die gleiche Qualität besaßen und keine anderen Antworten auf das Gegenteil hinwiesen, wurde der Charakter des Beantworters als autoritär oder als nicht-autoritär eingestuft. Ergab sich auf ein und demselben Fragebogen ein deutlicher Widerspruch zwischen den beiden Tendenzen, so wurde der Beantworter als ambivalenter oder gemischter Charakter klassifiziert.
Die offensichtliche Schwierigkeit der interpretativen Methode liegt darin, dass viele Antworten dem kulturellen Denkmuster der betreffenden Gesellschaft oder Gesellschaftsklasse entsprechen. Daher kommt in vielen Antworten nicht die emotionale [III-267] Einstellung des einzelnen Beantworters, sondern vielmehr die Ideologie der von ihm akzeptierten Gruppe zum Ausdruck. Woher wissen wir nun aber, was eigenständig und authentisch und was eine ideologische, übernommene Phrase ist? Zum einen ist es wichtig, die Ideologie und die Klischeevorstellungen der Gruppe zu kennen. Noch wichtiger aber ist das in der Psychoanalyse mit soviel Erfolg angewandte Prinzip, dass wir unsere Kenntnisse über die unbewussten Motivationen eines Menschen nicht in erster Linie daraus beziehen, was er mit allgemeinen oder sogar mit abstrakten Begriffen sagt, sondern aus den kleinen Details seiner Äußerungen und Formulierungen, aus der Wahl bestimmter Worte oder aus Widersprüchen zwischen verschiedenen Behauptungen, deren er sich selbst nicht bewusst ist, oder auch aus einer unangemessenen Überbetonung des einen oder anderen Gefühls. Es ist das kleine Detail in Verhalten und Ausdruck, das für die Psychoanalyse wichtig ist, und nicht allgemeine Äußerung von Meinungen und Überzeugungen. Die beim interpretativen Fragebogen angewandte Methode berücksichtigt diese kleinen Details, welche die wichtigste Grundlage der Interpretation bilden.
Die Ergebnisse des interpretativen Fragebogens in der deutschen Studie waren – so traurig sie vom politischen Standpunkt aus waren – hinsichtlich der angewandten Methode höchst ermutigend. Wir erhielten ein recht deutliches Bild von den autoritären, antiautoritären und ambivalenten Charakteren, das eine innere Konsistenz aufwies. Die statistische Auswertung ergab schließlich etwa 15 % mit einem stark antiautoritären Charakter, etwa 10 % mit einem autoritären Charakter und etwa 75 % mit ambivalentem Charakter. Unsere theoretische Annahme wurde durch dieses Ergebnis offenbar bestätigt. Wenn uns auch keine Daten zur Verfügung stehen, aus denen die politische Einstellung der Arbeiter und Angestellten unter Hitler genau hervorgeht (bezeichnenderweise hat Hitler die Betriebsratswahlen verboten, weil die NSDAP trotz Drohung und Terror bei den Arbeitern keine Stimmenmehrheit bekommen konnte), besteht doch kaum ein Zweifel, dass die Zahlen zwar nicht exakt waren, aber den bei den deutschen Arbeitern und Angestellten unter Hitler vorhandenen Verhältnissen entsprachen: Die allermeisten unter ihnen waren weder begeisterte Nationalsozialisten noch begeisterte Widerstandskämpfer; eine kleine Minderheit bekehrte sich völlig zum Nationalsozialismus, eine größere Minderheit blieb ihren antinazistischen Überzeugungen treu und kämpfte gegen den Nationalsozialismus, wo immer es möglich war – und die Konzentrationslager waren voll von ihnen! Dieses Ergebnis besagt nun freilich nicht, dass alle leidenschaftlichen Widerstandskämpfer einen demokratisch-revolutionären Charakter hatten. Unsere Zahlen gaben nur Trends, Affinitäten und Korrelationen wieder und können deshalb keine Feststellungen über jeden Einzelnen in diesen Gruppierungen treffen.
Bei unserer jetzigen Untersuchung wurde der interpretative Fragebogen dahingehend erweitert, dass er nicht nur den politischen Charakter testete, sondern auch den Fragen der Assimilierung und Sozialisation der Betreffenden nachging und den Grad der Fixierung an die Eltern zu bestimmen versuchte. Die Formulierungen des Fragebogens (siehe Anhang A) entstanden aufgrund von theoretischen Erwägungen darüber, welche Fragen welche Antworten herausfordern würden, die dann den [III-268] Charakter eines Menschen verrieten. Sie wurden noch einmal verändert, nachdem uns Vorlauftests gezeigt hatten, mit welchen Fragen man tatsächlich brauchbare Antworten von den Dorfbewohnern erhalten konnte. Nach diesem Vorstadium wurden von uns noch einige direkte und projektive Fragen hinzugefügt, die weiteres Material erbringen sollten, das gewisse Charakteraspekte klären konnte.
In Anhang A bringen wir Beispiele isolierter Antworten, die verschiedene Charaktertypen veranschaulichen. Dies ist jedoch keine leichte Aufgabe. Es entsprach unserer Interpretationsmethode, dass wir erst nachdem wir den ganzen Fragebogen gelesen hatten, bestimmten, ob die jeweilige Antwort einen Hinweis auf eine bestimmte Charakter-Orientierung enthielt. Wir taten dies, weil jede Antwort – genau wie jeder andere Charakterzug auch – ein unterschiedliches Motiv haben kann – entsprechend der Gesamtcharakterstruktur.
Das vorliegende Buch ist als Versuch anzusehen, die Methode des interpretativen Fragebogens auf die Charakterstruktur mexikanischer Bauern in einer umfassenderen Form und mit verfeinerteren Methoden anzuwenden, als dies bisher üblich war. Im Mittelpunkt unserer Untersuchung steht die Korrelation zwischen Arbeit, Produktionsweise, Familienbeziehungen und den unter den Bauern vorherrschenden Charakterstrukturen. Sie gründet sich auf die detaillierte Untersuchung eines jeden über sechzehn Jahre alten Dorfbewohners und der Hälfte der Kinder.
Unsere Untersuchung bezieht sich auf ein kleines Dorf mit etwa 800 Einwohnern im Bundesstaat Morelos etwa 80 km südlich von Mexico City. Das Dorf liegt in einem der grünen Täler Mexikos, das von unterirdischen Quellen und Bergbächen bewässert wird, die sich zu Flüssen vereinigen, welche das Tal kreuz und quer durchziehen. Es hat subtropisches Klima bei trockenem Winter. Die jährliche Durchschnittstemperatur beträgt ca. 23 Grad Celsius; es ist nie kalt und nur selten unbehaglich heiß. Jahrhundertelang wurden hauptsächlich Zuckerrohr und Reis angebaut; dies sind auch die beiden Hauptkulturen in unserem Dorf, in dem die meisten Bewohner in der Landwirtschaft tätig sind. Das Zuckerrohr wird vom Fluss und von unterirdischen Quellen bewässert. Der von Mai bis Oktober fallende Regen ermöglicht es den Dorfbewohnern, die abgegrenzten Reisfelder zu überfluten. Klima und relativer Wasserreichtum begünstigen auch den Anbau anderer Feldfrüchte das ganze Jahr über, und auch viele Obstbäume, Blumen und Arzneikräuter, wie sie überall im Tal zu finden sind, gedeihen auf dem fruchtbaren Boden.
Die Dorfbevölkerung besteht aus Mestizen, einer Mischbevölkerung mit indianischen und spanischen Vorfahren. Vor der spanischen Eroberung war das Gebiet von Tolteken und Chichimeken bewohnt, zu denen später noch Nahuatl-Stämme, insbesondere die Tlahuicas hinzukamen. Nach 1436 vollendeten die Azteken unter der Führung Montezuma Ilhuicaminas die Eroberung des Gebiets und gliederten die Provinz Tlalnahuac, den heutigen Bundesstaat Morelos, dem Aztekenreich ein. Als das Aztekenreich zusammenbrach, wurden seine Provinzen schnell dem neuen spanischen Herrschaftssystem unterstellt. Im April 1521 eroberte Hernán Cortes nach neuntägigem Kampf die Provinz. 1529 erhielt er vom spanischen König den größten Teil davon mit 23000 Vasallen unter der Bezeichnung Marquesado del Valle als Feudallehen. Heute ist im Dorf vom indianischen Erbe nichts mehr zu spüren. Die Dorfbewohner sind Kinder der spanischen Eroberung. Wie 90 % aller Mexikaner sprechen [III-270] sie ausschließlich Spanisch. In der Nähe gibt es Dörfer, in denen die Leute immer noch Nahuatl sprechen und auch einige der alten Sitten beibehalten haben. (Eine Beschreibung des Eingeborenendorfes Tepoztlán, das sich unweit unseres Dorfes befindet und wo einige Bewohner noch Nahuatl sprechen, findet sich in O. Lewis, 1951. Bemerkenswert ist, dass bereits 1910 nur noch 9 % der Bewohner von Morelos Nahuatl sprachen; vgl. J. Womack, 1969, S. 71.) Die von uns untersuchten Dorfbewohner haben jedoch keinerlei kulturelle Bindungen mehr an ihre aztekische Vergangenheit. Nur die Ortsbezeichnungen erinnern noch an die vorhispanische Kultur.
Die meisten Dorfbewohner identifizieren sich auch nicht mit ihrer Vergangenheit, sondern betrachten sich als unterprivilegierte, zurückgebliebene Mitglieder der modernen Gesellschaft. Sie möchten ihrer bäuerlichen Armut entrinnen und an den Gütern teilhaben, die erfunden wurden, um das Leben angenehmer und erfreulicher zu gestalten. Einige Dorfbewohner, besonders die neuen Unternehmer und wohlhabenderen Bauern mit eigenem Grundbesitz, haben hochfliegende Pläne für ihre Kinder, wenn nicht für sich selbst. Sie sehen in der Schulbildung das Mittel, den Einstieg in die neue Industriegesellschaft zu finden. Diese Bauern sind fast ausschließlich am materiellen Fortschritt und Profit interessiert und kaum noch an die Tradition gebunden. Dies sind die wohlhabendsten Bauern, die über das Existenzminimum hinausgelangt sind. Für viele der anderen stehen die Anforderungen der modernen Industriegesellschaft im Konflikt mit den traditionellen Lebensformen, mit ihrer Liebe zum Nichtstun und zu Fiestas und mit ihrem Argwohn gegenüber den modernen Lebensformen, die man für verderblich und gefährlich hält.
In den fünfziger Jahren geriet das Dorf in einen rapiden Veränderungsprozess. Vor 1910 war es eine Hazienda. Nach 1923 wurde es zu einer Gemeinde von kleinen Landeigentümern (ejidatarios). Als wir Ende der fünfziger Jahre dort eintrafen, war es zu einer aus zwei Klassen bestehenden Gesellschaft geworden, einer kleinen Gruppe von Landeigentümern und einer größeren Gruppe ohne Grundbesitz.
Heute haben die Ausweitung der Kommunikationsmittel und die neuen Technologien den Aufstieg einer neuen Klasse von Unternehmern begünstigt und zur Verbreitung der neuen Ideen und Bestrebungen beigetragen. In einer solchen Übergangsperiode kommen vielen Zweifel an den traditionellen Überzeugungen, die Zukunft des Dorfes scheint ihnen hoffnungslos, und die jüngere Generation sucht sich ihre Vorbilder außerhalb der Familie. In dem Maß, wie die Dorfbewohner ihr Leben nach den Konsumidealen der Stadt beurteilen, fühlen sie sich immer stärker benachteiligt, da das Dorf ihre Bedürfnisse niemals erfüllen kann. Der heutige Dorfbewohner fühlt sich vermutlich noch unzufriedener und hoffnungsloser als der Dorfbewohner der vorindustriellen Zeit, der noch nicht das Gefühl hatte, sich die Waren niemals kaufen zu können, von denen man ihm sagt, sie machten das Leben erst lebenswert. Außerdem gewinnen die Dorfbewohner immer mehr Geschmack an Radio, Fernsehen und Kino und haben ihr Interesse an aktiveren Formen der Unterhaltung, bei denen sie ihre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen könnten, verloren. Ein älterer Dorfbewohner meinte:
Früher bestand unsere einzige Unterhaltung in der Musik. Wir haben gesungen und auf Instrumenten gespielt. Wenn wir andere Vergnügen haben wollten, mussten wir [III-271] sie selbst erfinden. Deshalb haben wir Lustspiele und Dramen verfasst und bei unseren Fiestas vor dem Publikum aufgeführt. Damals gab es ja noch kein Kino, kein Fernsehen, kein Radio und auch kein elektrisches Licht. Wir haben versucht, aus unseren Fiestas ein bisschen mehr zu machen, indem wir diese Aufführungen organisiert haben. Später wurde mit großer Begeisterung eine Band gegründet, die nach einiger Zeit sehr gut spielen konnte. Aber dann ist die Elektrizität gekommen – und das Radio. Dann gab es Musikautomaten, das Fernsehen. Im Kino kam jede Woche ein neuer Film. Da hat sich niemand mehr für etwas anderes interessiert. Mit der Begeisterung für die Band und für die Theateraufführungen war’s auf einmal aus.
So setzte sich immer mehr das Gefühl durch, dass sich nichts, was im Dorf geboten wurde, mit der Herrlichkeit und den aufregenden Vergnügungen der Konsumwirtschaft in der Stadt vergleichen ließ und dass das Leben für die, deren trauriges Los es war, rückständig auf dem Land zu leben, kaum lebenswert war.
Das heutige Dorf wurde 1923 am Ende der Revolution nach der Zerstörung der Hazienda gegründet, welche das Gebiet dreihundert Jahre lang beherrscht hatte. Die Ruinen der Hazienda und das aus Steinen errichtete Aquädukt sowie einige Glaubensvorstellungen und Gebräuche sind Überreste der Vergangenheit. Aber daneben gibt es viele moderne Einflüsse. Die Straßen sind zwar noch ungepflastert, aber das Dorf hat sich große Mühe gegeben, elektrischen Strom und Wasserleitungen in viele Häuser zu bringen. Außer durch ihr Radio und eine wachsende Zahl von Fernsehgeräten kommen die Dorfbewohner durch ihre in den Städten arbeitenden Söhne und Töchter mit der Stadtwelt in Verbindung. Eine Reihe von Familien aus Mexico City, vom Klima und der Schönheit der Gegend angezogen, haben sich im Dorf ihre Wochenendhäuser gebaut. Die Modernisierung in Form der neuen in der Nähe errichteten Industrieanlagen, befestigten Straßen und betonierten Plätze anstelle der malerischen, mit Bäumen bepflanzten zocalos, repräsentieren für die meisten Dorfbewohner den Fortschritt. Die Mehrzahl der gegenwärtigen Bewohner kamen nach der Revolution auf der Suche nach Land und neuen Lebensmöglichkeiten ins Dorf. Die Revolution war für die Bauern der Gegend eine Zeit großer Umwälzungen, ganz gleich ob sie auf der einen oder auf der anderen Seite kämpften oder sich voller Angst vor beiden Armeen versteckten. Dorfbewohner haben uns Hungersnot und Krankheiten geschildert, die zusätzlich zu den Gewalttätigkeiten in den Revolutionsjahren 23 % der Bewohner von Morelos hinwegrafften. Es war allgemein der Fall, dass die Familien aus ihrem Dorf entwurzelt wurden und ins Gebirge fliehen mussten, wo sie von Kräutern und Gräsern lebten. Die Frauen waren schutzlos preisgegeben, da ihre Männer in den Kampf zogen oder von der Regierung eingezogen wurden und sich den Armeen im Norden anschließen mussten. In Morelos begannen die Kampfhandlungen 1911 und dauerten bis 1920. Man kann das Ausmaß der Zerstörung, vor allem durch die Armeen der Regierung, kaum übertreiben, die 1914 und später im Jahre 1916 die Dörfer niederbrannten und die Bauern, welche im Verdacht standen, auf der Seite des revolutionären Bauernführers Emiliano Zapata zu stehen, mitleidlos ermordeten oder deportierten. Als die Haziendas zerstört und die meisten der auseinandergerissenen Familien am Rande des Hungertodes lebten, forderte 1918 die große Grippeepidemie das Leben eines Viertels der Bevölkerung von Morelos, [III-272] welche die Gewalttaten der vorangegangenen acht Jahre überlebt hatte. 1919 begannen die geflohenen Bewohner zurückzukehren, und Tausende kamen hinzu, die in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren die Bevölkerung anschwellen ließen. Sie wurden durch die großzügige Bodenpolitik der Nachfolger Zapatas herbeigelockt, denen von der nationalen Regierung des Generals Álvaro Obregon die Verwaltung des Staates übertragen worden war.
Die Dorfbewohner kamen ursprünglich entweder von Haziendas oder aus freien Dörfern. Vor der Revolution befanden sich 38 Haziendas in den Händen von 21 verschiedenen Besitzern, welche 56 % des Staatsgebietes einschließlich eines noch größeren Prozentsatzes an fruchtbarem Talland besaßen. 26 % des Landes waren Gemeindeweide, einschließlich des Berglandes, während nur 18 % kleinen Grundeigentümern gehörten, die Grundeigentümer aus der Stadt miteingerechnet. Auf den Haziendas von Morelos wurde ausschließlich Zuckerrohr angebaut, während die kleinen Grundeigentümer Mais, Gartengemüse und Reis anpflanzten. Noch heute identifiziert man den Anbau von Zuckerrohr mit der Herrschaft der Haziendas und den von Reis und Gemüse mit Unabhängigkeit, und wenn dies den Dorfbewohnern vielleicht auch nicht bewusst ist, so geht es doch aus ihrer Einstellung zur Kultivierung dieser Erzeugnisse hervor. (Vgl. Kapitel 6, S. 367-385.)
Die Bauern der freien Dörfer besaßen kleine Parzellen und hatten gelegentlich auch Anteil an öffentlichen Grundstücken, die zum Anbau von Feldfrüchten oder als Weideland dienten. Der Hauptgrund für die Heftigkeit der Revolution im Bundesstaat Morelos ist darin zu sehen, dass viele freie Bauern in den Jahren vor der Revolution ihr Land an die Haziendas verloren und in die Rolle landloser Peonen gezwungen wurden. Wie Domingo Diez (1967, S. 130) in seiner Geschichte von Morelos schreibt, spielte dabei eine wichtige Rolle, dass die Haziendas eine neue Methode der Zuckerraffinade entwickelten. Auch die verbesserten Transportmöglichkeiten mit der Eisenbahn trugen dazu bei, dass es immer einträglicher wurde, Zuckerrohr anzupflanzen und das hierfür benötigte Land den freien Dörfern wegzunehmen:
In diesem Jahr [1880] wurden die ersten maschinellen Einrichtungen für die Zentrifugalmethode auf den Haziendas gebaut. (...) Dies bewirkte eine radikale Veränderung des Lebens im Bundesstaat. Um mehr Zucker produzieren zu können, bemühten sich die Eigentümer der Haziendas natürlich um größere Anbauflächen, was unausweichlich auf Kosten des Ackerlandes der freien Dörfer geschehen musste. (...) Kurzum, es kam nach der endgültigen Einführung der modernen Maschinen zu einer vollständigen Umwälzung. Der Wohlstand der Grundbesitzer wuchs, ihr Zuckerrohr brachte ihnen größere Gewinne, die Regierung nahm mehr Steuern ein, nur die (freien) Dörfer mussten ihr Land und ihr Wasser abtreten. Ihre Lage wurde immer aussichtsloser. Einige mussten sich ganz auflösen, und die soziale Ungleichheit verstärkte sich mehr und mehr, bis es dann 1910 zur Revolution kam.
Von 1870 bis 1910 erhöhte sich die Zuckerproduktion ständig und wuchs von 8750 auf 48500 Tonnen. Während dieser Zeit nahmen die Haziendas den freien Bauern immer mehr Land, wobei die Regierung sie noch unterstützte, indem sie das Gesetz über brachliegendes Land missbräuchlich so auslegte, dass das Recht auf Seiten der [III-273] Haziendas war. Das im Plan de Ayala von 1911 festgelegte Hauptziel der Zapatistas war die Rückgabe des Landes, das die Hazendados an sich gerissen hatten.
Die enteigneten Bewohner der freien Dörfer waren die Vorkämpfer der Revolution in Morelos. In einigen Fällen liefen Familien, die jahrhundertelang Land besessen hatten, Gefahr, zu landlosen Peonen zu werden. Lieber als das hinzunehmen, waren sie bereit, ihre Besitzrechte mit ihrem Leben zu verteidigen.
Zapatas Ziele waren zunächst konservativ und beschränkten sich auf die Verteidigung der Rechte der kleinen Grundbesitzer. Es war zu erwarten, dass die Bauern, deren Familien generationenlang Peonen gewesen waren, eher resignieren und sich in ihr Schicksal fügen würden, von den Haziendas abhängig zu sein, da sie sich eine andere Lebensform nicht vorstellen konnten. Erst als die Regierung von Victoriano Huerta die Revolution in Morelos dadurch radikalisierte, dass sie alle Bauern als Zapatistas und Staatsfeinde behandelte, nahm Zapata auch Peonen in die Armee auf und änderte die Revolutionsziele dahingehend, dass er nun Land für alle und die Abschaffung der Haziendas forderte. Als dann die Haziendas zerstört waren und es mit dem alten Leben vorbei war, schürte der bis dahin unterdrückte Hass der Peonen gegen ihre früheren Herren das Feuer der Revolution. Es gab jedoch auch freie Dörfer, in welchen man die Revolution als Bedrohung einer friedlichen Existenz empfand, da hier keine Hazienda den Grundbesitz beansprucht hatte. Eine Gruppe von Familien in dem von uns untersuchten Dorf kam aus einem solchen Dorf, dessen Bewohner gegen die Zapatistas gekämpft hatten.
Vor 1910 war der gesamte Grund und Boden, der jetzt den ejidatarios (Pächter unveräußerlichen Grund und Bodens) gehört, in dem von uns untersuchten Dorf im Besitz der Hazienda, die Zuckerrohr darauf angebaut hatte. Damals lebte eine kleine Gruppe – nicht mehr als 40 bis 50 Familien – in strohgedeckten Hütten (jacales) außerhalb der Mauern der Hazienda. Einigen Dorfbewohnern war es möglich, von der Hazienda Land zu pachten und die Hazienda mit einem Teil ihrer Ernte und mit Arbeitsleistungen (faenas) zu bezahlen. Eine sehr geringe Anzahl waren Kleinunternehmer, wie zum Beispiel die Maultiertreiber (arrieros), die vertraglich das Recht hatten, Lasten vom Dorf nach außerhalb und zurück zu befördern. Diese Arrieros waren besonders unabhängige und tapfere Männer, die unterwegs ständig Gefahr liefen, von Banditen überfallen zu werden. Es war interessant festzustellen, dass zwei der fünf Unternehmer im Dorf Söhne von Arrieros waren. (Emiliano Zapata hatte sowohl als kleiner Grundbesitzer als auch als Arriero gearbeitet. Da er für seine Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit bekannt war, wählte ihn sein Dorf zum Führer, als es galt, die kleinen Grundbesitzer gegen die Haziendas zu verteidigen; vgl. J. Womack, 1969.)
Fast alle Dorfbewohner waren damals von der Hazienda abhängig. Einige arbeiteten als Vorarbeiter (mayordomos) oder als Aufseher (capatazes), die meisten jedoch waren Tagelöhner (peones), die völlig von der Hazienda unterjocht waren. Das Leben [III-274] des Peonen unterschied sich kaum von dem eines Sklaven. Im Gegensatz zum Gutshof eines Feudalherrn bot die Hazienda dem Peon weder eine garantierte Versorgung noch gesetzlichen Schutz. Die Hazienda machte ihre eigenen Gesetze. Wer dagegen aufbegehrte, wurde ausgepeitscht oder möglicherweise vertrieben und stand fortan auf der Schwarzen Liste der übrigen Haziendas. Ein Peon, der auf der Hazienda einen Diebstahl beging, konnte hingerichtet werden.
Der Peon lebte in ständiger Angst, geschlagen zu werden oder seine Erwerbsquelle zu verlieren. Er lernte, sich seinen Herren zu beugen, zu kleinen Begünstigungen ein freundliches Gesicht zu machen und eine demütige Unterwürfigkeit zur Schau zu tragen. Aber selbst dann bestand für ihn praktisch keine Hoffnung, dass es ihm einmal besser gehen würde. Angesichts seiner Armut und seiner dauernden Verschuldung hatte er keinerlei Möglichkeit, Land zu erwerben, das ohnehin knapp war; und die Eigentümer der Hazienda oder ihre Vertreter (denn einige von ihnen lebten in Europa) hatten kein Interesse daran, dass die Peonen eine Schulbildung erhielten, da sie in ihrer Unterwürfigkeit zum landwirtschaftlichen System dazugehörten.
Die Peonen wurden in der Regel in Naturalien bezahlt, oder sie bekamen ein Stückchen Acker oder Weideland zur Verfügung gestellt. Der geringe Geldbetrag, den sie zu bekommen hatten, gelangte nur selten in ihre Hände, denn sie mussten damit ihre Rechnung im Haziendaladen (tienda de raya) bezahlen, wobei die Söhne die vom Vater angesammelten Schulden erbten. Die meisten Peonen waren durch diese Schulden an die Hazienda gefesselt und konnten sie nicht einmal verlassen, wenn sie sich eine Arbeit außerhalb hätten vorstellen können. Außerdem fürchteten sie, das Leben an einem anderen Ort könnte noch schlimmer sein. Als Entgelt für ihren bedingungslosen Gehorsam und ihre harte Arbeit sorgte die Hazienda für ihren Lebensunterhalt und bestach sie mit billigem Schnaps, gelegentlichen Fiestas und öffentlichen Belustigungen.
Als die Revolution schließlich Hoffnungen auf Unabhängigkeit weckte, war die unterwürfige, alles hinnehmende Einstellung, die sich in Jahrhunderten herausgebildet hatte, nicht leicht auszurotten. Sofern der Peon Landeigentümer wurde, war er nicht nur psychologisch für die nachrevolutionäre Welt nicht gerüstet, es fehlte ihm auch an Übung und Erfahrung, sein Land zu verwalten, sich um die Ausgaben und um Kredite zu kümmern und sich zu überlegen, wie er seine Ware auf dem Markt absetzen konnte. Durch ihre Anpassung an die Hazienda waren die Peonen unterwürfig und abhängig geworden und besaßen weder die Charaktereigenschaften noch die Kenntnisse, die einem freien Bauern unentbehrlich sind. Wir werden sehen, dass die Bauern mit einer an die Hazienda angepassten Charakterstruktur große Schwierigkeiten haben, sich den heutigen Umständen anzupassen.
Abgesehen von diesen besonderen historischen Einflüssen müssen sich die meisten Dorfbewohner auf die gegenwärtigen Lebensbedingungen einstellen, die denen der meisten Bauerngesellschaften auf der ganzen Welt ähnlich sind. Diejenigen, welche das Glück haben, Land zu besitzen, bearbeiten es im Großen und Ganzen nach den gleichen unzulänglichen Methoden, wie sie schon vor Jahrhunderten üblich waren. Die Parzellen sind zu klein, als dass sich ein mechanisierter Ackerbau lohnen würde. Wie die meisten Bauern sind auch unsere Dorfbewohner abhängig von der Stadt, die [III-275] die Erzeugnisse kauft und die Preise diktiert. Sie haben keinerlei Einfluss auf die Gegebenheiten, die über Gewinn und Verlust entscheiden. Da der Bauer leicht auszubeuten ist, ist er, oft mit gutem Grund, misstrauisch gegenüber allen, die aus der Stadt kommen. Gleichzeitig ist er aber von der Stadt abhängig, und dies nicht nur des Marktes wegen, sondern auch wegen der Konsumgüter und der kulturellen Anregungen.
Die von uns untersuchten Dorfbewohner weisen viele der Eigenschaften auf, die in Berichten über Bauern an anderen Orten und zu anderen Zeiten zu finden sind. Sie sind egoistisch, argwöhnisch gegenüber anderen, pessimistisch hinsichtlich der Zukunft und fatalistisch. Viele machen einen unterwürfigen Eindruck, so als ob sie eine geringe Meinung von sich selber hätten, doch besitzen sie durchaus das Potenzial zum Aufbegehren und zur Revolution. Den Stadtbewohnern gegenüber fühlen sie sich unterlegen; sie halten sich für dümmer und unkultivierter. Der Natur stehen sie ebenso ohnmächtig gegenüber wie dem Industrieapparat, der sie bedroht.
Viele Dorfbewohner haben Träume wie die folgenden, die für ihre Gefühle typisch sind (die Träume sind von den 150, die wir bei den Dorfbewohnern gesammelt haben, genommen). Ein Mann träumt:
Ich habe geträumt, ich läge im Bett in meinem Haus mit meiner ganzen Familie, als ich einen Zug sah, eine Lokomotive, die uns alle überfahren wollte. Als ich die Lokomotive sah, sprang ich aus dem Bett und schrie den Lokomotivführer an, er solle seine Lokomotive anhalten, wenn er uns nicht töten wolle.
In anderen Träumen kommt die Hilflosigkeit gegenüber Tieren oder die Unfähigkeit, sich gegen Angreifer zu wehren, zum Ausdruck.
Der bäuerliche Dorfbewohner leidet unter Armut und Entbehrungen. Viele träumen von Reichtum, fürchten aber, solche Träume brächten Unglück. Zu hoffen ist gefährlich. Eine Frau von zweiunddreißig Jahren träumte:
Ich fand ein wenig Geld und fragte mich, was ich damit anfangen sollte. Dann sagte ich meinem Mann, ich hätte Geld gefunden, und ich wollte es ihm geben, dass er selbständig arbeiten könnte und sich nicht immer von den anderen herumkommandieren lassen müsste. Ich wachte sehr glücklich auf, aber gleichzeitig war ich auch enttäuscht, weil es ja nicht wahr war. Nach diesem Traum gab es eine Missernte.
Ein erwachsener Mann erinnert sich an einen Traum aus seiner Kindheit, der durch Hunger verursacht war:
Ich war fünf Jahre alt und schlief auf meinem Strohlager, als ich träumte, ich äße ein Stück Brot. Ich biss hinein, und es schmeckte mir köstlich, denn ich war hungrig. Plötzlich merkte ich, dass das Brot zu Ende ging, und ich biss noch einmal kräftig zu. Ich wachte auf, doch worauf ich biss, war nicht das Brot, sondern meine Finger.
In den Träumen der Bauersfrauen kommt besonders das Gefühl zum Ausdruck, von vielen Belastungen, den Schwangerschaften und der schweren unaufhörlichen Arbeit vorzeitig zu altern und verbraucht zu sein. Eine Frau von dreißig Jahren sagte: [III-276]
Manchmal, wenn ich schlafe, habe ich das Gefühl, eine schwere, kalte Last zu tragen und dass meine Füße zu Boden gezogen werden. Ich möchte laut aufschreien, aber ich kann nicht. Ich habe Angst. Ich stelle mir vor, es sind Geister oder Tote, die mich mit auf den Friedhof nehmen wollen.
Sie fühlt, dass die Last von Gegenwart und Vergangenheit sie in ein frühes Grab bringen wird.
Die Welt der Dorfbewohner ist hart und angsterregend. Viele Alpträume (pesadillas) lassen erkennen, dass sie ständig gegen den Tod ankämpfen. Ein Mann von vierzig Jahren träumte:
Ich saß im Bett, und der Tod kam zu mir. Ich saß im Bett, und er berührte mich, und ich rief laut: „Hija de la chingada! (Tochter des Stinktiers) Du bist der Tod.“ Und ich schlug ihm auf den Kopf und warf es zu Boden und hörte seine Knochen auf den Fußboden schlagen. Ich wachte entsetzt auf und sah nach den Knochen, aber ich fand nichts.“
Dieser Traum symbolisiert den ständigen Kampf dieses Mannes gegen Hunger und Krankheit. Die Dorfbewohner stellen sich dem Kampf mit dem Tod bereitwillig, wenngleich sie wissen, dass sie ihn am Ende verlieren werden.
In den Träumen der Bauern kommt auch das Gefühl zum Ausdruck, im Schmutz zu leben und ständig Gefahr zu laufen, sich durch Parasiten mit Krankheiten zu infizieren. Es gibt auch Träume, die den Wunsch enthüllen, zu entrinnen, sich über den Schmutz und die Armut zu erheben, aber meist fällt der Träumer wieder in den Schmutz zurück. Selbst in ihren Träumen empfinden die Dorfbewohner nur wenig Hoffnung. Trotz des gemeinsamen Elends ihres Lebens sind tiefe Freundschaften bei den Bauern selten, und die Dorfbewohner verbreiten Gerüchte übereinander, die ihnen oft schaden und nicht mehr wahr sind.[21] Dem außerordentlichen Misstrauen und der Angst vor anderen liegt die Erfahrung zugrunde, immer wieder belogen und betrogen worden zu sein, und das ist der Grund, warum es dem Bauern schwerfällt, gegenüber anderen ganz offen zu sein. Die engste emotionale Bindung des Dorfbewohners ist sein Leben lang jene an seine Mutter (vgl. hierzu später).
Im Traum eines Achtzigjährigen kommt dieses lebenslange Misstrauen zum Ausdruck, obwohl sich sein Argwohn in diesem Fall als unbegründet erwies. Tatsächlich war es so, dass der Träumer sich an diesen Traum als einen „Beweis“ für die Unzulänglichkeit eines angeblichen Freundes erinnerte: [III-277]
Vor langer Zeit hatte ich einen Traum, der mich sehr unglücklich machte. Ich war damals vierzehn Jahre alt. Ich träumte, ich stünde auf der Straße und jemand, der mein Freund war, käme zu mir herüber. Dann stieß er mir hier, wo das Herz ist, einen Dolch in die Brust, völlig grundlos. Als ich das Messer herauszog, sah ich, dass Blut herausfloss und eine Lache bildete. Ich wachte erschreckt auf. Ich weiß nicht, wieso ich das geträumt habe. Er war doch mein Freund. Später war er sogar compadre (eine rituelle elterliche Verantwortung als Pate eines Kindes oder als Trauzeuge). Es gab nie Schwierigkeiten zwischen uns.
Misstrauen, Pessimismus und Gehässigkeit kennzeichnen die eine Seite des bäuerlichen Lebens. Andererseits aber legen die Dorfbewohner auch Wert auf ein gutes Leben, wollen sie gute Menschen sein. Sie schämen sich über ihren Egoismus, über ihren Mangel an Vertrauen und Zusammenarbeit und sind unglücklich darüber. Einige unter ihnen – die aktiveren und produktiveren – messen sich an den Lehren des Christentums. Sie möchten gern an ihre Mitmenschen glauben, ihren Nächsten lieben, aber ihre Erfahrungen und ihr eigener Charakter machen es ihnen schwer. Um das Innere eines Bauern zu verstehen, muss man den ständigen Konflikt zwischen Zynismus und Hoffnungslosigkeit einerseits und seinem oft kindlichen Glauben andererseits kennen. Es ist derselbe Konflikt, den Huizinga (1924) als kennzeichnend für die europäischen Bauern des ausgehenden Mittelalters beschreibt, und der gelegentlich in den Erzählungen und Sprichwörtern der Bauern zum Ausdruck kommt. Einige dieser Sprichwörter sind fast dieselben wie die von Huizinga zitierten. Der mittelalterliche Bauer sagte: „Wer der Allgemeinheit dient, wird von niemandem bezahlt“, und: „Kein Pferd ist so gut beschlagen, dass es nicht einmal ausgleitet.“ Der mexikanische Bauer sagt in einer Mischung aus Humor und Resignation: „Wer in einer Seifenfabrik arbeitet, sollte darauf gefasst sein auszurutschen“, und „Wer mit Wölfen jagt, wird heulen lernen.“ Es gibt viele Erzählungen und Sprichwörter, die zeigen, wie gefährlich es ist, der Allgemeinheit helfen zu wollen.
Aber trotz der Unterwürfigkeit des Bauern ist man verblüfft über seine Würde und sein Selbstgefühl. Er weiß, wer er ist, und macht sich über sich selbst wenig Illusionen. In seinem Umgang mit anderen Bauern legt er Wert auf Formen und gegenseitigen Respekt. Die Dorfbewohner sprechen vom Familienoberhaupt als von Don José und von einer verheirateten Frau als Doña Maria, wobei sie sich der üblichen Anredeformen des spanischen Adels bedienen. Wenn der Bauer sich auch mächtigen Personen gegenüber demütig verhält, kommt es doch oft vor, dass er lieber seine Stelle aufgibt und Gefahr läuft, verhungern zu müssen, als dass er eine persönliche Beleidigung hinnimmt.
Aber der mexikanische Bauer findet in seinem Dorf auch Befriedigungen, die einzigartig sind. Zu den wichtigsten gehört das Gefühl des Verwurzeltseins, in einem kleinen Dorf zu leben, wo jeder jeden kennt. Wenn die Gerüchte auch Feindseligkeit säen, so gibt es doch auch das Gefühl, in einer gemeinsamen Welt zu leben. Bei unseren vergleichenden Untersuchungen der Denkweise von Dorfbewohnern im Gegensatz zu der von städtischen Mexikanern und Amerikanern (Maccoby und Modiano 1966; 1969) fanden wir, dass der Dorfbewohner konkreter, anschaulicher und spezifischer und weniger abstrakt und verallgemeinernd seine Erfahrungen ordnet. In [III-278] dieser unterschiedlichen Denkweise spiegeln sich Unterschiede in den Anforderungen, die die Kultur an das Denken stellt. In der Industriewelt ist Zeit Geld, und Werte werden ständig in abstrakte Begriffe verwandelt. Die Menschen müssen Aufgaben angehen, anstatt spezifische Handgriffe auszuführen, und da die Methoden ständig modernisiert werden, muss der Einzelne nicht mehr von Grund auf lernen. Die Industriewelt verlangt, dass man seine Erfahrungen abstrakt, funktional und flexibel anwendet. Die bäuerliche Welt stellt keine derartigen Forderungen. Die Arbeitsmethoden sind jahrhundertelang gleich geblieben. Der Bauer versucht nicht, abstrakte Verfahren zu verstehen; was ihn interessiert, sind konkrete Erfahrungen. Er interessiert sich für die Veränderungen des Wetters. Er beobachtet mit liebevollem Interesse, ob eine Pflanze oder ein Tier gesund oder krank ist. Er durchschaut mit einem ungewöhnlichen Scharfblick die Gefühle anderer, und besonders bei Menschen, die er schon lange kennt, weiß er oft den Charakter richtig zu beurteilen. Er verwendet sein ganzes Leben darauf, wenige Dinge gründlich kennenzulernen. Sein Wissen ist konkret und nicht übertragbar, weshalb viele Bauern sich völlig verloren und hilflos fühlen, wenn sie entwurzelt werden. Sie haben die Denkweisen und die abstrakten Prinzipien, die in der Industriewelt von Nutzen sind, nicht gelernt, aber das, was sie über ihresgleichen und ihre Umwelt gelernt haben, verleiht ihnen die Befriedigung, mit ihrer Umgebung in enger Beziehung zu stehen – es gibt ihnen ein Gefühl von Heimat. Der Bauer ist fest davon überzeugt, dass sich Erfahrungen nicht übertragen lassen, nicht einmal von einem Dorf auf ein anderes, und wenn jemand, der nicht im Dorf geboren wurde, etwas nicht weiß oder sich merkwürdig verhält, dann heißt es: „Er ist nicht von hier“ (No es de aqui), selbst wenn der Betreffende sein ganzes Leben als Erwachsener im Dorf verbracht hat.
Die Mexikaner erzählen eine Geschichte von einem Mann aus der Stadt, der in ein kleines Bauerndorf kommt und ein Haus in der Calle Revolución sucht. Er fragt einen am Weg stehenden Bauern nach der Straße, und der Bauer antwortet, er wisse es nicht. „Wie“, sagt der Mann aus der Stadt, „du wohnst in diesem kleinen Ort und weißt nicht einmal, welche Straße die Calle Revolución ist? Du musst ziemlich dumm sein!“ „Mag sein“, sagt der Bauer, „aber ich finde mich zurecht.“
Was die Annehmlichkeiten der modernen Gesellschaft betrifft, so bietet das Leben dem Bauern selbst hinsichtlich der Dinge, die er gern haben möchte, nur wenig Freuden im Vergleich zur Härte, Armut, Angst und den ständigen Entbehrungen, die mit seinem Dasein verbunden sind. Die Revolution hat den Peonen zwar die Freiheit und auch Land gegeben, doch die Zunahme der Bevölkerung hat es mit sich gebracht, dass heute schon wieder drei Viertel der Menschen ohne Land sind. Aber man wundert sich über den Humor, die Gastfreundschaft und den Takt dieser Dorfbewohner, über ihren Wirklichkeitssinn, ihre Lebensbezogenheit und ihre Fähigkeit – trotz ihres Argwohns und ihres Pessimismus – neue Möglichkeiten zu ergreifen.
Wie wir noch sehen werden, kann man die Einstellungen und Reaktionen der Dorfbewohner nicht einfach verallgemeinern. Sie haben zwar gewisse Denk- und Kulturformen gemeinsam, doch bewirken signifikante Unterschiede in Bezug auf die sozio-ökonomische Klasse wie auch auf den individuellen Charakter wichtige Unterschiede im Verhalten und in der Lebensauffassung.
Im Jahre 1960 führte unser Team eine Befragung aller männlichen Dorfbewohner über sechzehn Jahre und aller Dorfbewohnerinnen über fünfzehn Jahre durch. Die sozio-ökonomische und kulturelle Einschätzung, die wir von dem Dorf gewannen, gründet sich hauptsächlich auf diese Erhebung, die durch Beobachtungen der einzelnen Mitarbeiter über das dortige Leben ergänzt wurde.
Die Erhebung von 1960 umfasste 792 Dorfbewohner, darunter 209 männliche über sechzehn Jahre und 208 weibliche über fünfzehn Jahre. Die übrigen, nämlich 375 Kinder und jüngere Jugendliche, machen 47 % der Einwohnerschaft aus. Wenngleich viele männliche Vierzehnjährige bereits vollwertige Feldarbeiter sind und Mädchen in noch jüngerem Alter bereits die gesamte Hausarbeit verrichten, verlegten wir die Altersgrenze an den Zeitpunkt der Heirat und Familiengründung der Dorfbewohner. [III-280]
Mit sechzehn sind die männlichen Jugendlichen berechtigt, Land zugeteilt zu bekommen. Wir werden im Folgenden die 417 Dorfbewohner über sechzehn bzw. fünfzehn Jahre, die wir mit unserer Erhebung erfassten, als Erwachsene bezeichnen.
Tabelle 3.1: Altersverteilung der erwachsenen Dorfbewohner (Angaben in %)
Aus Tabelle 3.1 geht hervor, dass die meisten von ihnen unter dreißig Jahre alt und nur 5 % sechzig Jahre und älter waren. Wie in anderen Bauerngesellschaften auch, werden die Jugendlichen schnell erwachsen, heiraten jung und sterben früh.
Tabelle 3.2: Geburtsorte der Dorfbewohner (Angaben in %; N = 417)
Nur 31 % der Dorfbewohner sind im Dorf selbst geboren. Wie Tabelle 3.2 zeigt, kam der größte Anteil (36 %) nach der Revolution aus dem benachbarten Bundesstaat Guerrero, hauptsächlich zwischen 1927 und 1930, als das Land in Parzellen aufgeteilt wurde. Andere Dorfbewohner sind aus anderen Teilen des Bundesstaates Morelos bzw. aus dem Bundesstaat Mexico eingewandert. Keiner der Dorfbewohner wurde in Mexico City oder in einer anderen größeren Stadt geboren; alle waren bäuerlicher Herkunft.
Die meisten Einwanderer waren unter fünfundzwanzig Jahre, als sie im Dorf eintrafen (siehe Tab. 3.3).
Tabelle 3.3: Alter bei Ankunft im Dorf (Angaben in %; N = 417)
Einige wurden von ihren Eltern mitgebracht. Andere kamen auf [III-281] der Suche nach Land oder nach Arbeit, angelockt vom Klima und dem reichlich vorhandenen Wasser, die einen Anbau das ganze Jahr über ermöglichen. Von den Eltern der gegenwärtigen Dorfbewohner waren noch weniger im Dorf geboren.
Tabelle 3.4: Geburtsort der Eltern (Angaben in %; N = 417)
Wie aus Tabelle 3.4 hervorgeht, waren nur 9 % der Eltern im Dorf geboren, 46 % im Bundesstaat Guerrero und die übrigen meist in anderen Teilen des Bundesstaates Morelos oder im benachbarten Bundesstaat Mexico. Diese Situation ist nicht ungewöhnlich bei Dorfbewohnern in dieser Region von Morelos, da sie während der Revolution durch Gewalttaten, durch Hunger und Krankheit entvölkert wurde.
Tabelle 3.5: Zahl der Geschwister (Angaben in %; N = 417)
Die meisten Dorfbewohner stammen aus großen Familien mit durchschnittlich fünf Kindern (siehe Tab. 3.5). Nur 2 % berichten, dass sie keine Geschwister haben, während 14 % aus Familien mit zehn und mehr Kindern stammen. Von den 133 Familien, die zur Zeit der Befragung Kinder hatten, betrug die durchschnittliche Kinderzahl vier pro Familie (siehe Tab. 3.6), wobei die bereits verstorbenen Kinder nicht mitberechnet wurden, während viele junge Eltern eingeschlossen wurden, deren Familie [III-282] noch nicht vollständig war.
Tabelle 3.6: Zahl der lebenden Kinder in Familien mit Kindern
Die dreißigjährigen oder älteren Eltern hatten durchschnittlich drei lebende Kinder, was bedeutet, dass die Dorfbewohner sich in Bezug auf die Größe der von ihnen begründeten Familien nicht von ihren Eltern unterscheiden.
Tabelle 3.7: Familienstand der Dorfbewohner (Angaben in %)
Tabelle 3.7 bezieht sich auf den Familienstand der Dorfbewohner. 24 % sind ledig oder haben noch nicht geheiratet. Dieser Prozentsatz enthält mehr Männer (61 Personen) als Frauen (39 Personen), da Frauen früher heiraten. Von den unverheirateten Männern sind 90 % unter dreißig, davon 40 % unter zwanzig Jahren. Von den unverheirateten Frauen sind 80 % unter dreißig, davon 43 % unter zwanzig Jahren. Nur fünf Männer und acht Frauen über dreißig Jahre waren nie verheiratet. 8 % sind alleinstehend, nachdem sie sich von ihrem Partner getrennt haben bzw. geschieden [III-283] sind. 38 % der Dorfbewohner sind standesamtlich, darunter 26 % auch kirchlich getraut. 12 % sind ohne kirchliche Zeremonie verheiratet. Weitere 9 % sind nur kirchlich getraut und haben keine standesamtliche Urkunde unterzeichnet. 14 % der Dorfbewohner betrachten sich aufgrund freier Verbindung als verheiratet; meist handelt es sich bei diesen um die Ärmsten, die weder die Kosten für die standesamtliche Urkunde noch für die noch teurere kirchliche Feier aufbringen können. 6 % sind verwitwet, darunter 25 Frauen und nur 3 Männer. Dieses Missverhältnis rührt zum Teil daher, dass die Männer durchschnittlich eine kürzere Lebensdauer haben, da viele durch Gewaltakte umkommen; aber zum Teil ist es auch darauf zurückzuführen, dass es Frauen gibt, die von ihren Partnern verlassen wurden und sie dann als verstorben angeben und sich selbst als verwitwet bezeichnen.[22] 20 % der Dorfbewohner (davon 60 % Frauen und 40 % Männer) waren mehr als einmal verheiratet.
Man kann die 417 erwachsenen Dorfbewohner in 162 Haushaltungen oder Wirtschaftsgemeinschaften eingruppieren, die sich aus dem Haushaltsvorstand, der Ehefrau und den Abhängigen (falls vorhanden) zusammensetzen. In einigen dieser Haushaltungen arbeiten auch erwachsene Kinder bzw. verdienen Geld, aber gehören trotzdem mit zum Haushalt. In anderen Fällen kann auch eine andere Person, ein Verwandter, eine Dienstkraft oder vielleicht ein zahlender Gast mit im Haus oder auf dem Grundstück wohnen, ohne dass man ihn als zum Haushalt gehörig betrachtet. Solche Dorfbewohner (es gibt davon 11) zählen als eigener Haushalt. Von den insgesamt 162 Haushalten haben 127 (80 %) als Haushaltsvorstand einen Mann, 33 (20 %) eine Frau. Die meisten (70 %) der weiblichen Haushaltsvorstände sind „Witwen“. Die anderen sind unverheiratet oder verlassene Mütter. Wie bereits erwähnt, wurden einige dieser sogenannten Witwen in Wirklichkeit von einem oder auch nacheinander von mehreren Ehemännern verlassen. Es gibt auch Frauen, die eine Reihe von Gefährten haben, die sie dann mit Kindern zurücklassen. Von den Haushalten, an deren Spitze dem Namen nach ein Mann steht, werden 6 von einer Frau beherrscht, die schon mit einer Reihe von Männern in freier Ehe lebte. Wir werden auf die Bedeutung der Haushalte, deren Oberhaupt eine Frau ist, später noch zurückkommen.
Von den 162 Haushalten haben 79 (49 %) ein eigenes Grundstück. Die meisten anderen (42 %) wohnen auf dem Grundstück ihrer Eltern, Verwandten oder Freunde. Nur 14 Haushalte (9 %) zahlen für ihre Unterkunft Miete. Infolge der Knappheit an Grund und Boden kommt es nicht selten vor, dass man ein Grundstück mit zwei Häusern findet, von dem das eine den Eltern und das andere einem verheirateten Sohn und dessen Familie gehört. [III-284]
Unsere Erhebung erbrachte, dass 24 % der Dorfbewohner gut lesen und schreiben können; 44 % können einfache Bekanntmachungen lesen und ihren Namen und einfache Mitteilungen schreiben, während 32 % Analphabeten sind (siehe Tab. 3.8). Nur sehr wenige Dorfbewohner lesen zur Unterhaltung. Nicht mehr als 10 % lesen Zeitung, und noch weniger lesen Bücher. Bei der jüngeren Generation sind neuerdings Comics beliebt einschließlich solcher, die rührselige Liebesgeschichten mit Fotos enthalten (etwa Doctora Corazón und Risas y Lágrimas). Als unsere Studiengruppe im Dorf eine Bibliothek eröffnete, waren diese Comics neben Illustrierten bei den älteren wie bei den jüngeren Lesern am begehrtesten.
Tabelle 3.8: Schreibkenntnisse der Dorfbewohner (Angaben in %)
Das Niveau der Lese- und Schreibkenntnisse entspricht den Anforderungen des bäuerlichen Lebens. Das gedruckte Wort spielt nur für jene eine wirtschaftliche Rolle, die in der nahegelegenen Zuckerraffinerie arbeiten, oder für die Männer, die einen Führerschein brauchen, um einen Lastwagen oder einen Traktor zu fahren. Für die andern kann es von Nutzen sein, wenn sie Bekanntmachungen lesen oder einfache Zahlen zusammenzählen können, aber mehr wäre Luxus. Allerdings besserten sich die Lese- und Schreibkenntnisse in den letzten zehn Jahren durch häufigeren Schulbesuch. Von den Dorfbewohnern unter dreißig Jahren sind nur noch 21 % Analphabeten, gegenüber 43 % der über Dreißigjährigen. Wenn man die mexikanischen Bauern beobachtet, ist man erstaunt über ihr bemerkenswert gutes Gedächtnis. Das legt den Gedanken nahe, dass Menschen, die nicht schreiben können, vielleicht ein besseres Gedächtnis haben. Wenn das Gedächtnis dadurch, dass man das niederschreiben kann, was man behalten möchte, nicht gebraucht wird, verlässt man sich auf das geschriebene Wort, und das Gedächtnis lässt nach. Die Kunst des Schreibens und Lesens ist also vermutlich nicht nur ein Segen, vor allem wenn sie nicht dazu dient, sich wertvolle Kenntnisse anzueignen und sich an schönen Büchern zu erfreuen.
Unter denen, die lesen und schreiben können, gibt es mehr Männer als Frauen. Wie [III-285] Tabelle 3.9 zeigt, gibt es jedoch keinen signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern hinsichtlich der Länge ihrer Schulzeit. Wahrscheinlich nutzen die Männer das Lesen- und Schreibenkönnen besser als die Frauen, die vielleicht ein oder zwei Jahre lang die Schule besucht haben und hinterher nie mehr lesen oder schreiben.
Tabelle 3.9: Schulbesuch der Dorfbewohner (Angaben in %)
69 % der Dorfbewohner sind eine Zeitlang in die Schule gegangen, aber nur 16 % haben eine abgeschlossene Grundschulbildung. 6 %, die Söhne und Töchter der reicheren Bauern, haben eine weiterführende Schule, eine Höhere Schule, ein Technikum in der nahegelegenen Stadt oder ein Lehrerseminar besucht, um Dorfschullehrer zu werden. Ein Dorfbewohner war Diplomlandwirt, ein anderer hatte Architektur studiert, und ein dritter begann ein Medizinstudium, kurz nachdem unsere Befragung beendet war.
Dass mehr Kinder heute weiter in die Schule gehen, zeigt, dass eine Gruppe von Dorfbewohnern entschlossen ist, ihren Söhnen und Töchtern die Chance zu geben, ein besseres Leben zu führen als mit der Arbeit auf dem Acker. Die Knappheit des Bodens und die wachsende Bevölkerung tragen dazu bei, dass sich die Dorfbewohner stärker für die Stadt interessieren, für die nahe gelegenen neuen Industriebetriebe, wo man nur Arbeit findet, wenn man gut lesen und schreiben kann. Ende der dreißiger Jahre wurde die erste Grundschule eröffnet, nachdem ein Antrag bei der Regierung gestellt worden war und man selbst Geld beigesteuert hatte, das man dadurch einsparte, dass man einige der kostspieligen Fiestas abschaffte, die den kleinen Überschuss des Dorfs verschlangen. Hinter dieser Aktion stand eine Gruppe von Männern, meist Einwanderer vom Ende der zwanziger Jahre, die besonders fleißig und „progressiv“ waren. Sie unterstützen die Schule auch weiterhin und ermutigen ihre Kinder, besonders die Jungen, an ihre Zukunft zu denken. [III-286] Korreliert[23] man das Alter mit der Zahl der Schuljahre, dann sieht man, dass die Sechzehn- bis Dreißigjährigen einen signifikant längeren Schulbesuch aufweisen als irgendeine andere Altersgruppe (r = .35 ; p < 0,01), während die Altersbereiche einundvierzig bis fünfzig Jahre (r = –.30; p < 0,01) und einundfünfzig bis sechzig Jahre (r= –.30; p < 0,01) beide mit den Schuljahren negativ korrelieren. Der Altersbereich von einunddreißig bis vierzig Jahren steht in der Mitte und korreliert ebenfalls negativ mit der Zahl der Schuljahre (r = –.13), doch ist die Korrelation nicht signifikant.
Die Erhebung betraf auch den Umgang der Dorfbewohner mit Krankheiten und den Kontakt zu den traditionellen curanderos (Heilkundigen) oder, zu ausgebildeten Ärzten. Zu wem die Dorfbewohner Kontakt aufnehmen, ist keine Frage des Geldes, da Heilkundige und Ärzte im allgemeinen das gleiche Honorar fordern. Es kommt auch vor, dass Angehörige der Zuckergenossenschaft, die Anspruch auf eine kostenlose ärztliche Versorgung haben, dennoch den Heilkundigen aufsuchen.
Tabelle 3.10: Medizinische Versorgung der Dorfbewohner (Angaben in %)
Wie Tabelle 3.10 zeigt, lassen sich 52 % der Dorfbewohner ausschließlich von Ärzten behandeln. 36 % gehen manchmal zum Arzt, gelegentlich auch zum Heilkundigen. Bisweilen gehen sie auch zuerst zum Heilkundigen und wechseln dann, wenn dieser sie nicht heilen kann [III-287] oder die Krankheit noch verschlimmert, zum Arzt. Andererseits gibt es aber auch Dorfbewohner, die zuerst beim Arzt Hilfe suchen und erst dann, wenn dieser ihnen nicht helfen kann, was bei psychosomatischen Beschwerden gern vorkommt, zum Heilkundigen gehen, der oft für hysterische Leiden mehr Verständnis hat und der sich der Suggestion oder der symbolischen Krankheitsaustreibung bedient, um die [III-288] Symptome zu mildern. 12 % der Dorfbewohner gehen nur zum Heilkundigen, zumeist die älteren Dorfbewohner, die noch an den alten Sitten festhalten. Die Korrelation zwischen Alter und einer Skala, die von 1 (ausschließliche Versorgung durch Ärzte) bis 3 (ausschließlich Heilkundige) reicht, ist signifikant (r = .39, p < 0,01). Es verlassen sich also 61 % der unter Vierzigjährigen gegenüber 28 % der über Vierzigjährigen ausschließlich auf die moderne Medizin.
Das Vertrauen zur modernen Medizin scheint ein Ergebnis der Schulbildung zu sein. Von den Dorfbewohnern ohne Schulbildung gehen 31 % zum Arzt und 25 % zum Heilkundigen, 44 % wechseln zwischen beiden. Von den Bewohnern, die einen Grundschulabschluss besitzen, gehen 80 % zum Arzt, und keiner unter ihnen überlässt die Sorge für seine Gesundheit ausschließlich dem Curandero. Eine ähnliche Beziehung besteht zwischen dem Lesen- und Schreiben-Können und dem wachsenden Zutrauen zur modernen Medizin. So zieht eine formale Ausbildung und die Vertrautheit mit dem gedruckten Wort die Dorfbewohner von ihren herkömmlichen Sitten weg, hin zur modernen städtischen Kultur.
Die Hauptbeschäftigung der Dorfbewohner ist die Landwirtschaft, und die Haupttätigkeit von 85 % der Männer ist der Ackerbau (siehe Tab. 3.11).
Tabelle 3.11: Arbeit und Beruf
Die übrigen Männer gehen verschiedenen Tätigkeiten nach. 9 Männer sind Handwerker, wie z.B. [III-289] Tischler, Maurer, Elektriker, Schneider, Schlachter, Mechaniker oder Traktorfahrer. 16 Männer arbeiten als ungelernte Arbeiter auf nicht-landwirtschaftlichem Gebiet, z.B. als ungelernte Bauarbeiter oder als Verwalter der Wochenendhäuser der reichen Leute aus Mexico City.
Eine besondere Kategorie von Landarbeitern sind Männer, die wiederholt (dreimal oder auch öfter) als braceros (landwirtschaftliche Saisonarbeiter) in die Vereinigten Staaten gegangen sind. Zu dieser Gruppe gehören 31 Männer (15 % aller Männer im Dorf). Sie arbeiteten hauptsächlich in Kalifornien oder Arizona und wurden dort für die schweren landwirtschaftlichen Arbeiten eingesetzt, wofür sie einen geringeren Lohn als die amerikanischen Arbeiter erhielten (70 Cent bis 1 Dollar pro Stunde), was aber im Vergleich zu den Löhnen im Dorf ein unvorstellbar hohes Entgelt ist; zur Zeit der Untersuchung erhielt ein jornalero (Tagelöhner) selten mehr als einen Dollar am Tag. Selbst ein kleiner Landeigentümer konnte mehr Geld verdienen und ersparen, wenn er drei Monate in den Vereinigten Staaten arbeitete, als wenn er ein Jahr lang sein eigenes Land bebaute. Die Knappheit an Land und die relativ hohen Löhne in den Vereinigten Staaten lockten 20 % der Männer irgendwann über die Grenzen. 15 % davon waren als regelmäßige Saisonarbeiter anzusehen. 17 % der Männer verließen das Dorf, um gelegentlich in anderen Teilen Mexikos Arbeit zu suchen, während 63 % nur im Dorf oder in der näheren Umgebung arbeiteten.
Einige der Dorfbewohner arbeiteten in der nahegelegenen Zuckerraffinerie, und zwar 8 Männer und 2 Frauen. Zu ihren Pflichten gehören Hausverwaltung, Arbeit in den von der Raffinerie unterhaltenen Läden, Büroarbeiten und Arbeiten im Betrieb; ein Mann bedient einen fahrbaren Kran. Andere Dorfbewohner sind in drei nicht-handwerklichen Bereichen beschäftigt: im Geschäftsleben, in Handel und Spekulation und als Lehrer. 21 Personen (10 Männer und 11 Frauen) betreiben 7 kleine Läden, 6 cantinas (Bars) und 3 molinos de mixtamal (Mühlen, welche Mais zu masa mahlen, woraus die Tortillas hergestellt werden). In den Läden werden Kaffee, Bohnen, Zucker, Eier, Konserven, alkoholfreie Getränke, Bier, Zigaretten und Seife verkauft, außerdem Haushaltswaren, wie Seile, Nägel, Eimer und Glühbirnen. In manchen Läden gibt es auch Feuerwerkskörper zu kaufen, und ein Geschäft hat sich auf Kleiderstoffe spezialisiert. Die meisten Dorfbewohner kaufen alles, was sie brauchen, in diesen Läden, meist nur sehr wenig und oft auf Kredit. Die Rechnungen werden üblicherweise wöchentlich bezahlt.
Eine andere Gruppe von 26 Personen (10 Männer und 16 Frauen) beschäftigt sich mit Handelsgeschäften und Spekulation. Es gibt darunter kleine Händlerinnen mit sehr geringem Umsatz. Zwei davon kaufen Erzeugnisse aus dem Dorf und verkaufen sie mit kleinem Gewinn auf den Märkten der nahegelegenen Städtchen und der Hauptstadt. Zwei Frauen besitzen kleine puestos (Verkaufsbuden) auf dem Dorfplatz, wo sie Zuckerwaren, Obst, tacos und tamales feilbieten. Am Wochenende kommen gelegentlich noch ein oder zwei Frauen hinzu, die carnitas (gekochtes Fleisch) und pozole verkaufen. Zwei weitere Frauen verkaufen Milch und manchmal auch Obst aus dem eigenen Garten. Drei reichere Bauern treiben Handel größeren Stils; sie haben Lastwagen, kaufen ganze Ernteerträge auf, und verkaufen sie auf den großen Märkten in Mexico City. Andere betreiben derartige Spekulationen in einem [III-290] bescheideneren Rahmen. Das Dorf hat zwei Lehrer und drei Lehrerinnen, von denen drei an der Dorfschule und zwei in benachbarten Ortschaften beschäftigt sind.
Es gibt außerdem noch eine Gruppe von 17 jungen Leuten im Dorf (9 junge Männer und 8 Mädchen), die die Höhere Schule, eine Fachschule oder die Universität besuchen.
Die meisten Männer sind in der Landwirtschaft tätig; die Hauptbeschäftigung der Frauen (77 %) ist der Haushalt. Einige Frauen arbeiten auch in der Zuckerraffinerie, in kleinen Büros und Läden, oder sie unterrichten. Daneben gibt es noch 24 Frauen, die als Hausgehilfin arbeiten, zumeist in den Wochenendhäusern des Dorfes, doch sind einige auch bei wohlhabenderen Bauern beschäftigt. 17 Frauen arbeiten auf den Feldern und verrichten dort Arbeiten, die sonst Sache der Männer sind. 10 Frauen verdienen sich ihr Geld als Schneiderin, und 3 arbeiten auf dem Gebiet der medizinischen Versorgung: eine verabreicht gegen ein kleines Entgelt Injektionen, eine ist Hebamme (partera), und eine dritte ist Krankenschwester.
Zur Zeit unserer Erhebung wurden 1936 tareas Ackerland, das zum Dorf gehörte oder auch von anderen nahegelegenen Dörfern gepachtet war, von den Bauern bewirtschaftet, die Parzellen von 2 bis 180 Tareas bearbeiteten. Die Tarea ist das übliche Flächenmaß. Das Wort bedeutet eigentlich soviel wie „Aufgabe“ im Sinn eines guten Tagewerks (vgl. das deutsche „Morgen“). Die Tarea misst 1000 Quadratmeter oder 10 Ar. Auf dem größten Teil des Bodens (54 %) wird Zuckerrohr angepflanzt. Reis ist die zweitwichtigste Kultur; etwa 23 % des Ackerlandes ist ihm vorbehalten. Der Rest wird mit Mais, Bohnen, Tomaten, Zwiebeln, Melonen und anderen Gartenerzeugnissen bepflanzt, je nach der stark fluktuierenden Marktlage. 117 Tareas, die den Dorfbewohnern gehören, liegen brach. Bemerkenswert ist, dass die Bewohner in wachsendem Maß das anpflanzen, was auf dem Markt verlangt wird, und nicht mehr das, was ihren eigenen Konsumbedürfnissen entsprechen würde. Ebenso wenig pflanzen sie den traditionellen Mais an, dessen Anbau in einigen Eingeborenendörfern einer religiösen Tradition entspricht. Es gibt allerdings immer noch Dörfer, die sich ihre Anhänglichkeit an den Mais bewahrt haben und wenigstens um das Haus herum etwas Mais anbauen. Der Hauptgrund, weshalb nicht mehr Mais angebaut wird, sind schlechte Erträge und der von der Zuckerindustrie ausgeübte Druck, Zuckerrohr anzupflanzen, was im übrigen auch weniger Mühe macht und garantierte Einkünfte verspricht (siehe Kapitel 6).
Tabelle 3.12: Landwirtschaftlich genutzte Fläche pro Haushalt
Tabelle 3.12 zeigt die Verteilung des bebauten Landes nach Haushaltungen und veranschaulicht, dass die Landwirtschaft zwar die Hauptbeschäftigung und Unterhaltsquelle der Dorfbewohner ist, dass aber trotzdem die meisten Haushalte (53 %) kein Land besitzen. Einige landlose landwirtschaftliche Arbeiter arbeiten als Braceros. Die anderen arbeiten entweder als Peonen bei den reicheren Unternehmern, oder sie haben Land von ihnen gepachtet, für das sie mit einem Ernteanteil zahlen. Bei den Haushalten, die eigenes Land bebauen, beträgt dieses jeweils durchschnittlich 11 [III-291] bis 19 Tareas. Die Landverteilung nach Haushaltungen zeigt eine Pyramidenform, wobei einige wenige Dorfbewohner an der Spitze relativ große Grundstücke zur Verfügung haben (allerdings sind diese im Vergleich zu denen im Mittelwesten der Vereinigten Staaten klein), eine größere Anzahl hat kleinere Parzellen, und die Mehrheit ist landlos. Um diese ungleiche Verteilung des Landbesitzes zu verstehen, muss man wissen, dass einige Dorfbewohner nach der Revolution Land bekamen, während andere schon besonders viel Glück haben und hart arbeiten mussten, um das Kapital zusammenzubekommen, das sie brauchten, um Land zu kaufen oder auch nur zu pachten.
Dorfbewohner, die Land zugewiesen bekamen, werden als ejidatarios oder Mitglieder des Dorf-Ejido bezeichnet. Das Wort ejido bezeichnete vor der Revolution von 1910 in den freien Dörfern das gemeinsame Weide- oder Ackerland. Es diente außerdem zur Bezeichnung des Landes, das man den umherschweifenden Indianern in der Kolonialzeit gab, um sie in Dörfern sesshaft zu machen. Heute bedeutet Ejido eine Gemeinde, die Land zugewiesen bekam, das gemäß den Vorschriften des Bodenreformgesetzes zu bebauen ist, welches in den letzten fünfzig Jahren entwickelt wurde und sich auf Artikel 27 der Verfassung von 1917 gründet. In unserem Dorf bestand die Möglichkeit, das der Hazienda enteignete Land den neuen Besitzern zuzuweisen. In anderen Fällen wurde Ejido-Land auch einer Gemeinde zurückgegeben, wenn diese es auf eine Weise, die als ungesetzlich angesehen wurde, verloren hatte. In anderen Fällen kam es auch vor, dass einer Gemeinde der Besitz von Ländereien bestätigt wurde, die sich generationenlang in ihrem Besitz befunden hatten. Gewöhnlich besteht ein Ejido aus mindestens 20 Bauern, die nach dem Bodenreformgesetz zum Empfang von Land berechtigt waren. (Vgl. die Beschreibung der Ejidos nach dem Bodenreformgesetz bei N. L. Whetten, 1948, S. 182°ff.) Die beiden wichtigsten [III-292] ökonomischen Klassen sind die Ejidatarios, die über Land verfügen, das ihnen nach der Revolution bei der Aufteilung der Ländereien der Hazienda zugewiesen wurde, und die Nicht-Ejidatarios, von denen die meisten kein Land besitzen. Im Dorf gibt es 69 Ejidatarios, darunter 54 Männer und 15 Frauen. Demnach sind 26 % der erwachsenen Männer Ejidatarios, und 74 % sind Nicht-Ejidatarios. Von den 155 Männern, die Nicht-Ejidatarios sind, haben 87 % überhaupt kein Land. Die übrigen 13 % konnten soviel Geld zusammensparen, dass sie Farmland kaufen oder pachten konnten, aber nur 2 % dieser Nicht-Ejidatarios bearbeiten mehr als 2 Hektar, die den durchschnittlichen Besitz eines Ejidatarios darstellen. Der durchschnittliche Landbesitz der Nicht-Ejidatarios beträgt 1 Hektar.
Die Revolution von Morelos galt zunächst der Verteidigung des Rechtes auf Land gegenüber den Haziendas, aber während des Kampfes forderten die Zapatistas als radikaleres Ziel, dass jeder Bauer seine eigene Parzelle innerhalb des Gemeindelandes haben sollte. Dieses Grundstück sollte so groß sein, dass es einer Familie ein angemessenes Auskommen gewährte. Es sollte unveräußerlicher Besitz sein, weder aufteilbar noch verkäuflich, und war dem vom Ejidatario ausersehenen männlichen oder weiblichen Erben ungeteilt weiterzuvererben. Die Bauerngemeinde sollte zu einem Ejido werden, d.h. zu einer Gemeinschaft freier Landeigentümer, in der Entscheidungen auf demokratische Weise getroffen und jeder Ejidatario eine eigene Stimme haben sollte. Theoretisch sollten alle kleinen Farmer mit zum Ejido gehören. Die Zapatistas, die selbst Bauern waren, merkten aber, dass die verschiedenen Dörfer unterschiedliche Gebräuche hatten, und ließen daher die Möglichkeit offen, dass einige Dörfer vielleicht ein gemeinschaftliches Ejido wollten, während andere dagegen lieber das Land in kleine Parzellen aufgeteilt haben wollten. (In einigen Dörfern gab es – nach F. Tannenbaum, 1929, S. 3 – bereits schon vor der spanischen Eroberung ein System zur Verteilung von Grundbesitz, das dem Ejido-System ähnlich war. Damals verwalteten Sippengruppen (calpulli) das Gemeindeland und die Familien besaßen Grundstücke, die unveräußerlich waren.) Die nationale Politik gründete sich ursprünglich auf Artikel 11 des Gesetzes von 1915, welches das individuelle Eigentumsrecht an den Parzellen betonte und zugleich den Dörfern das Recht zuerkannte, Gemeinschaftsland zu besitzen. Über diese Agrargesetze schreibt F. Tannenbaum (1929, S. 239):
Man muss klar erkennen, dass die Gesetzgebung die individuelle Bebauung des Ackerbodens anstrebt und nur aus Zweckmäßigkeitsgründen, aus Gründen der Disziplin und als Einübung für einen zukünftigen individuellen Besitz vorübergehend auf den Gemeinschaftsbesitz zurückgreift.
Nach dem Bodenreformgesetz kann aber eine einem Ejidatario zugeteilte Parzelle weder verkauft noch verpachtet werden, und der Ejidatario darf sie nur so lange behalten, wie er selbst das Land bewirtschaftet. Bei der Weiterentwicklung des Bodenreformgesetzes – insbesondere in den dreißiger Jahren unter Präsident Lázaro Cárdenas – trat man jedoch mehr für kooperative Strukturen ein. Nach dem Gesetz war sämtliches Weideland, der gesamte Wald sowie anderes, nicht landwirtschaftlich genutztes Land als Gemeinschaftsland anzusehen und zu nutzen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass der Ejido die Struktur eines Kollektivs dem Zusammenschluss mehrerer kleiner Landbesitzer vorzieht. Dass man sich aufs Neue für Kooperativen einsetzte, hatte seinen Grund darin, dass man [III-293] die Wirtschaftlichkeit der Kleinbetriebe erhöhen und gleichzeitig den extensiven Anbau landwirtschaftlicher Produkte nach modernen Methoden fördern wollte. Wie wir noch sehen werden, stellt der Charakter des Bauern ein Hindernis dar, mit dem man rechnen muss, wenn man derartige kooperative Strukturen einführen will. Die überwiegende Mehrheit der mexikanischen Ejidos gehört einzelnen kleinen Landbesitzern innerhalb einer Gemeindeorganisation, die der des hier beschriebenen Dorfes sehr ähnlich ist.[24]
In unserem Dorf begann die Landverteilung im Jahre 1924 und wurde bis 1935 fortgesetzt. Die einzelnen Parzellen sind ungleich groß, zwischen 5 und 70 Tareas, weil einiges Land besser bewässert war und man es deshalb für ebenso wertvoll hielt wie ein Stück unbewässertes größeres Land. Außerdem erhielten einige Dorfbewohner größere Bauplätze anstelle von landwirtschaftlich nutzbaren Parzellen. Ausschlaggebend war zur Zeit der Landverteilung auch, dass ein Bauer genug Kapital besitzen musste, um den Boden bebauen und einfrieden zu können, so dass es auch Dorfbewohner gab, die entweder nicht genügend Kapital oder auch nicht den Ehrgeiz hatten, um Anspruch auf ein größeres Stück Land erheben zu können. Andere, welche das nötige Geld gehabt hätten, weigerten sich, ihren Anteil zu übernehmen, weil sie fürchteten, die Regierung oder die früheren Besitzer der Hazienda würden eines Tages das Land von denen, die es kultiviert hatten, zurückfordern. Hier verhinderten bäuerlicher Argwohn und Misstrauen, dass man seinen Anspruch auf Land erhob. Entschlossen sich diese vorsichtigen Dorfbewohner dann doch, Land zu erwerben, dann mussten sie sich oft mit kleineren Parzellen zufriedengeben. Anfang der dreißiger Jahre, als das Dorf etwa 300 Einwohner hatte, war genügend Land für jeden vorhanden. Seitdem hat es aber durch Geburtenzuwachs und Zuwanderung fast die doppelte Einwohnerzahl. Daher ist für die Söhne der ursprünglichen Bewohner und für die der ersten Einwanderer nicht mehr genügend Land vorhanden. Von den 155 männlichen Nicht-Ejidatarios sind 36 % Söhne von Ejidatarios, und 64 % sind Männer und deren Söhne, die zu spät ins Dorf kamen, um noch Land zu erhalten. [III-294]
Ein Ejidatario zu sein, heißt im Dorf, einer privilegierten Klasse anzugehören. Vor allem heißt es, dass man die Chance hat, eigenes Land zu bebauen, über ein bloßes Existenzminimum aufzusteigen, bei seiner Arbeit nicht von anderen abhängig zu sein und es nicht nötig zu haben, die niedrigsten Arbeiten zu übernehmen, nur um nicht verhungern zu müssen. Außerdem können die Ejidatarios auch Mitglieder der Zuckergenossenschaft werden, die Darlehen gewährt, die ärztliche Versorgung (im Rahmen des Programms für Soziale Sicherheit) übernimmt, Lebensversicherungen in der Höhe von 10°000 Pesos abschließt, den Kindern der Ejidatarios Möglichkeiten für Stipendien eröffnet und arbeitslosen Familienmitgliedern Arbeitsplätze in der Raffinerie bereitstellt. All das bleibt den Nicht-Ejidatarios versagt. Die Ejidatarios bestimmen die Dorfpolitik; sie besitzen mehr als die andern; die meisten kleinen Geschäfte gehören ihnen, und sie sorgen dafür, dass ihre Kinder eine bessere Schulbildung erhalten. Außerdem sind die meisten Taglöhner von ihnen abhängig. So gibt es zwei grundsätzlich verschiedene sozio-ökonomische Klassen im Dorf, obwohl die Revolution den Großgrundbesitz aufgeteilt und versucht hat, eine klassenlose Gesellschaft freier Bauern zu begründen.
Eine exakte Korrelation zwischen dem Status eines Ejidatario und dem materiellen Wohlstand besteht nicht. Der Hauptgrund ist, dass manche Ejidatarios nicht erfolgreich waren, weil sie entweder Pech hatten oder ihr Charakter schlecht angepasst war. 10 % der Ejidatarios verpachten regelmäßig ihr gesamtes Land, während weitere 20 % nur einen Teil davon verpachten oder gegen einen Anteil an der Ernte von anderen bewirtschaften lassen. Die Gründe hierfür werden wir in den Kapiteln über den Charakter und die sozio-ökonomischen Variablen (Kapitel 6) und über den Alkoholismus (Kapitel 8) ausführlich erörtern. Es wäre demnach richtiger, zu sagen, dass die tatsächliche Klasse der Ejidatarios jene 70 % sind, die ihr Land persönlich bewirtschaften.
Die Revolution erreichte nicht nur, dass das Farmland aufgeteilt wurde, man teilte den Bauern auch im Dorf Bauplätze für ihre Wohnungen zu. Die ersten Ejidatarios hatten Anspruch auf noch nicht in Besitz genommenes Land, und diese Grundstücke konnten im Gegensatz zu den unveräußerlichen Ejidos gekauft und veräußert werden. Aus unserer Erhebung ging hervor, dass 51 % der Haushalte kein eigenes Hausgrundstück besitzen. 14 % besitzen zwischen 1 und 5 Ar, 11 % zwischen 6 und 10 Ar, 9 % zwischen 11 und 20 Ar, 8 % zwischen 21 und 30 Ar und 3 % über 30 Ar. Das größte Hausgrundstück im Dorf misst 77 Ar. Wer kein Farmland besitzt, hat meist auch kein Grundstück im Dorf. Die Korrelationen zwischen der Größe des Ejido-Landes und der des Hausgrundstücks ist zwar signifikant (r = .31, p < 0,01), sie ist jedoch niedrig, weil einige Ejidatarios zwar kleine Parzellen, aber größere Hausgrundstücke besitzen, die sie gelegentlich auch als Gärten benutzen, wo sie besonders Avocados ziehen, oder wo sie Haustiere wie Hühner oder Schweine halten. Da man außerdem Hausgrundstücke im Gegensatz zum Ejido-Land kaufen und verkaufen [III-295] kann, haben einige einen Teil ihres Hausgrundstücks verkauft, während sie ihre Parzelle ganz behalten haben.
Bei unserer Erhebung haben wir auch die verschiedenen Haustypen im Dorf erfasst. 24 % der Haushalte leben auf sehr engem Raum in den jaceles, Hütten, die aus Stäben und Lehm hergestellt werden und einen Fußboden aus Erde und ein Dach aus Stroh haben, das gegen die schweren Sommerregen nur geringen Schutz bietet. Weitere 29 % leben in Adobe-Häusern mit Fußböden aus Erde und mit Dächern, die gewöhnlich aus Stroh oder Palmblättern, gelegentlich aber auch aus Dachpappe oder Asbestplatten bestehen. Diese Häuser sind, auch wenn sie aus luftgetrockneten Lehmziegeln bestehen, nicht in einzelne Räume unterteilt, sondern weisen – genau wie die jaceles – nur einen einzigen Raum auf, in dem man kocht, isst und schläft. Weitere 21 % wohnen in Häusern aus Beton oder aus Lehmziegeln. Diese haben Steinfußböden und sind in einzelne Räume zum Wohnen und Kochen unterteilt; die Dächer bestehen aus solidem Material. Unter diesen 21 % gibt es einige Häuser (9 % aller Haushalte), die nicht nur solide gebaut, sondern auch ihrem Aussehen und ihrer Größe nach recht komfortabel sind.
Einige der Bewohner haben sich Kapitalgüter zusammengespart, wie zum Beispiel einen Laden, Vieh, Maschinen oder Zinskapital, das ihnen weitere Gewinne einbringt. Zur Zeit unserer Erhebung stellte bereits ein Fernsehgerät eine Kapitalanlage dar, weil der Besitzer von anderen Dorfbewohnern ein geringes Eintrittsgeld erheben konnte. Seitdem hat sich die Zahl der Fernsehgeräte erheblich vergrößert, und die meisten Bewohner haben jetzt einen Verwandten, einen padrino oder compadre, der sie einlädt, sich das Fernsehprogramm bei ihm anzusehen.
Wir haben eine Skala erstellt, bei der jeder Besitz von Konsumgütern im Wert von über 10°000 Pesos (oder 800 Dollar) mit 5 Punkten und jeder Konsumgüterbesitz im [III-296] Wert zwischen 2°000 und 5°000 Pesos (160-400 Dollar) mit 4 Punkten bewertet wurde. 5 Punkte gaben wir für den Besitz eines Lastwagens, eines Traktors (der mitsamt dem Fahrer an andere vermietet wird), einer Bar, eines Ladens, eines Billardsaals oder eines Zinskapitals in Höhe von 10°000 Pesos oder darüber. 4 Punkte bekamen ein alter Wagen (der auch als Taxi zu benützen war), ein Fernsehgerät, eine Maismühle (molina), der Besitz von Vieh oder ein Zinskapital zwischen 2°000 und 5°000 Pesos.
Tabelle 3.13: Kapitalbesitz der Dorfbewohner
Tabelle 3.13 zeigt, dass nur sehr wenige Bauern es fertiggebracht haben, Kapital anzusammeln, weder in Form von Geld noch in Form von anderem Besitz. 88 % (142 Haushalte) besitzen überhaupt nichts. Zu den restlichen 12 % gehören 7 Haushalte, deren Besitz bis zu 5°000 Pesos wert ist, 7 mit einem Besitz im Wert bis 10°000 Pesos und 1 Haushalt mit zwei Kapitalgütern. Ein Mann, der allein an der Spitze der Wirtschaftspyramide steht, weist 50 Punkte auf der Kapitalgüter-Skala auf.
Von zwei Ausnahmen abgesehen ist der Vorstand aller Haushalte, die derartige Kapitalgüter besitzen, immer ein Ejidatario. Der Mangel an Kapital bei den meisten – selbst bei denen, die Land besitzen – verdeutlicht die Armut der Dorfbewohner. Die meisten leben am Rande des Existenzminimums, und die, welche einen geringen Überschuss erzeugen, geben dieses Geld meist zuerst für bessere Wohnverhältnisse und in zweiter Linie für Essen, für kostspielige Fiestas an Prozessionstagen, für eine Examens- oder Hochzeitsfeier aus, oder auch für ein paar Konsumgüter, die ihr Ansehen erhöhen, anstatt Kapital zu investieren.
Zu den von den Dorfbewohnern am höchsten geschätzten Konsumgütern gehören ein Gasherd, ein gutes Bett mit Matratze und eine Nähmaschine (die manchmal auch [III-297] ein Kapitalgut ist); sie alle wurden mit 3 Punkten bewertet. Andere begehrte Konsumgüter, wie zum Beispiel elektrisches Licht, Rundfunkgeräte, ein Petroleumofen, ein Fahrrad oder ein elektrisches Bügeleisen, erhielten 2 Punkte.
Tabelle 3.14: Besitz der Dorfbewohner an Konsumgütern
Tabelle 3.14 zeigt 55 Haushalte (33 %), in denen keines der genannten wertvollen Konsumgüter anzutreffen war. Weitere 16 Familien (10 %) besitzen eines davon, z.B. ein Rundfunkgerät oder ein gutes Bett. Zwei Familien erreichen 26 Punkte, von denen die eine zugleich an der Spitze der Kapitalgüter-Skala steht. Wer sind nun aber die Besitzer solcher Konsumgüter? Von der Ejidatarios besitzen 72 % Konsumgüter, gegenüber 23 % der Nicht-Ejidatarios. Von den 47 Ejidatarios, die eigenes Land bewirtschaften, erreichen 43 % auf der Skala zehn oder mehr Punkte, während von den Ejidatarios, die ihr Land verpachten, nur siebzehn zehn oder mehr Punkte haben. 14 % der Nicht-Ejidatarios haben zehn oder mehr Punkte, und 70 % dieser Nicht-Ejidatarios arbeiten als Braceros in den Vereinigten Staaten und bringen entweder Geld oder Konsumgüter nach Hause.
Der Unterschied zwischen einem Ejidatario und einem Nicht-Ejidatario ist ein guter Indikator dafür, welcher sozio-ökonomischen Klasse ein Dorfbewohner angehört. Bei jeder ökonomischen Einstufung bekamen die Ejidatarios mehr Punkte als die Nicht-Ejidatarios. Wir entschlossen uns jedoch, ein zweites Messverfahren für die sozio-ökonomische Klasse zu konstruieren, da es auch einige Nicht-Ejidatarios gibt, die sich Land oder andere Kapitalwerte zusammengespart haben, während manche Ejidatarios ihren Besitz vertan und andere es zu mehr Land und sonstigem Besitz gebracht haben als der Durchschnitt. Zur Berücksichtigung dieser Unterschiede hinsichtlich des Reichtums hätte es vielleicht genügt, der Einstufung lediglich das Einkommen zugrunde zu legen, doch machten wir aus drei Gründen nicht den Versuch, das Einkommen zu messen. Erstens informiert ein Bauer einen Außenstehenden nur sehr ungern über seine Finanzen; am Ende könnte die Regierung diese Information dazu benutzen, die Steuern zu erhöhen. Aber selbst wenn er dem Interviewer vertraute, würde es ihm schwerfallen, sein tatsächliches Einkommen zu berechnen. Dazu gehört ja auch, was er von seiner eigenen Ernte und aus seinem eigenen Viehbestand selbst verzehrt. Weitere Einkünfte können ihm Gelegenheitsarbeiten einbringen, über die er nicht Buch führt. Außerdem schwanken die Einkünfte eines Bauern beträchtlich nach Jahren und Jahreszeiten. Im einen Jahr kann er davon profitieren, dass das, was er gerade angepflanzt hat, auf dem Markt knapp ist; in einem anderen Jahr kann er das Gleiche anpflanzen, und der Markt kann davon so übersättigt sein, dass der Bauer nur noch einen Bruchteil dessen verdient, was er im Vorjahr erzielen konnte. Im nächsten Jahr können eine ungünstige Witterung, Pflanzenkrankheiten oder Schädlinge den größten Teil seiner Ernte vernichten. Auch das Einkommen eines Taglöhners schwankt beträchtlich je nach dem Arbeitsmarkt, der Jahreszeit und der Art der angepflanzten Kulturen. Daher kann eine Einschätzung der Einkünfte eines Bauern während einer bestimmten Periode aufgrund seines [III-298] Durchschnittseinkommens recht irreführend sein. Wir hielten daher eine Skala, welche den Landbesitz, das Kapital und den Sachbesitz berücksichtigt, für einen genaueren Maßstab des realen Einkommens der Bauern, als es irgendeine sich nur über eine kurze Zeit erstreckende Schätzung seiner in Geldwert berechneten Einkünfte gewesen wäre. Um eine exaktere Einschätzung seiner sozio-ökonomischen Klasse zu ermöglichen, kombinierten wir für jeden erfassten Haushalt die Punkte für die in seinem Besitz befindlichen Produktionsgüter, für seine Konsumgüter, für das von ihm angebaute Land, für seinen Grundbesitz im Dorf und für den Typ seines Hauses. Diese Punktwerte haben wir so gewichtet, dass wir jedem seinen relativen ökonomischen Wert – soweit möglich – zuwiesen. Auf diese Weise kamen wir zu dem Ergebnis, dass 10 Punkte für Kapitalgüter etwa die gleiche Einkommensquelle darstellen wie 30 Tareas Land; daher multiplizierten wir die Punkte für die Kapitalgüter mit 3 und bewerteten das bebaute Land nach seiner Größe in Tareas. Für den Grundbesitz im Dorf gaben wir für je 100 Quadratmeter einen zusätzlichen Punkt, eine Verteilung, die etwa dem Kapitalwert großer Gebäudegrundstücke (Baumplantagen, Gartenland) entspricht. Was den Haustyp betrifft, so gaben wir 20 Punkte für den besten Haustyp (aus Ziegelsteinen oder Beton mit festem Dach, abgeteilten, geräumigen Wohnräumen und Toilette). 12 Punkte gaben wir für den gleichen Haustyp, wenn er kleiner und weniger aufwendig gebaut war; 5 Punkte bekam ein Lehmhaus mit nur einem Raum; und 0 Punkte erhielten die jacales. Schließlich fügten wir der Vollständigkeit halber noch die Punkte für die Konsumgüter hinzu. Die sozio-ökonomische Skala [III-299] bietet einen Annäherungswert für den materiellen Besitz der bäuerlichen Haushalte. Dem Besitz an Land und Kapital wurde dabei mehr Gewicht beigemessen, weil sich damit Geld verdienen lässt. Relativ geringes Gewicht wurde der Art der Unterkunft und dem Besitz an Konsumgütern beigemessen. Die Skala zeigt, was der jeweilige Haushalt erwirtschaften konnte, ferner seine laufenden Verdienstmöglichkeiten und seinen Lebensstil, wie er im Haustyp zum Ausdruck kommt. Die Skala korreliert mit dem subjektiven Eindruck, den die an der Untersuchung beteiligten Beobachter von dem jeweiligen Besitzstand der Betreffenden hatten. Wie noch zu sehen sein wird, erweist sich die Skala auch als überzeugender Maßstab aufgrund signifikanter Korrelation ihrer Messwerte mit anderen sozio-ökonomischen Messungen und dem Charakter.
Tabelle 3.15 zeigt die Verteilung der einzelnen von uns erfassten Haushalte auf der Skala. 45 Haushalte (28 %) haben 0 Punkte, was bedeutet, dass mehr als ein Viertel der Familien in Jacales ohne elektrischen Strom wohnen und auf Strohmatten auf dem Boden schlafen. Sie besitzen kein Land, und ihre Arbeit erbringt nichts. Es ist dies der Teil der Bevölkerung, der am Rand des Existenzminimums lebt. Zu dieser Gruppe gehören auch einige Personen, die mit bessergestellten Familien zusammenleben, darunter Dienstboten, Kostgänger und arme Verwandte ohne eigenes Haus. Weitere 20 Haushalte (12 %) haben 1 bis 5 Punkte. Die Haushalte in dieser Gruppe verfügen vielleicht über ein anständiges Bett oder über ein batteriebetriebenes Radio, aber wenn sie nicht bei reicheren Familien wohnen, haben sie die gleiche armselige Unterkunft, weitgehend die gleiche Ernährungsweise und denselben Lebensstil wie die mit 0 Punkten.
Der Mittelwert der Punktzahlen liegt bei 12 Punkten, die etwa für eine Familie gelten mit einem Lehmhaus, einem richtigen Bett, einem Radio und eventuell einer Nähmaschine oder einem Gasherd, die aber wahrscheinlich kein Land besitzt. Am oberen Ende der Skala stehen 9 Haushalte (6 %) mit über 90 Punkten. Dies sind die Dorfbewohner – meist Ejidatarios –, welche die besten Häuser bewohnen, über Kapital, Land und Konsumgüter verfügen. Zwischen dieser Gruppe und dem Mittelwert gibt es Abstufungen von relativem Wohlstand, doch sollte man nicht vergessen, dass diese Gruppen – gemessen am amerikanischen Lebensstandard – sämtlich als arm zu bezeichnen sind.
Um die sozio-ökonomische Skala zu Vergleichen und Korrelationen benützen zu können, haben wir sie auf zwei verschiedene Arten kodiert. Bei der einen Kodierung wurde sie zu einer Ordinalskala mit 9 Kategorien (siehe Tab. 3.15) gemacht, die von 1 (0 Punkte) bis 9 (90 Punkte und mehr) reicht. Alle Produkt-Moment-Korrelationen (r) zwischen diesen Werten und anderen Variablen basieren auf dieser Kodierung.
Tabelle 3.15: Verteilung der Haushalte auf der sozio-ökonomischen Skala
Eine andere Möglichkeit, die sozio-ökonomischen Werte zu Vergleichszwecken zusammenzufassen, ist die Bildung von 3 Klassengruppen: einer unteren, einer mittleren und einer oberen Klasse. Wir haben uns bemüht, soweit wie möglich gleich große Gruppen zu bilden, doch mussten wir bei der Unterteilung auch die natürlichen Gruppierungen berücksichtigen. So bezieht sich die untere Klasse, die die Kategorien 1 und 2 umfasst, auf 41 % der Haushalte. Die mittlere Klasse, die von Kategorie 3 bis 5 reicht, bezieht sich auf 32 % und die obere Klasse (Kategorie 6 bis 9) auf 27 % der [III-300] erfassten Einheiten. Die untere und die obere Klasse lassen sich am exaktesten beschreiben. Die untere Klasse besteht größtenteils aus Taglöhnern und alleinstehenden Müttern, die in den armseligsten Verhältnissen leben. Außerdem gehören noch einige Dienstboten, arme Verwandte und eine sehr kleine Anzahl von Landbesitzern dazu, die durch Alkoholismus auf die unterste Stufe der gesellschaftlichen Pyramide abgesunken sind (siehe Kapitel 8, S. 399-422); zur oberen Klasse gehören Familien, die in Häusern aus Ziegelsteinen oder Beton oder in einigen Fällen auch in besonders großen Lehmziegelhäusern leben und sich genügend Land oder Kapital (oder beides) angespart haben, um sich über das bloße Existenzminimum zu erheben und nicht mehr von anderen abhängig zu sein.
Die mittlere Klasse ist schwieriger zu beschreiben. Sie reicht von Haushalten mit nur wenigen Konsumgütern (6 bis 10 Punkte) bis zu Haushalten mit etwas Land, einigen Besitzgütern und vielleicht etwas Kapital. Diese Gruppe ist als Mittelfeld anzusehen, dem Haushalte angehören, die weder (relativ) wohlhabend sind, noch mit dem absoluten Existenzminimum auskommen müssen, während die untere und die obere Gruppe klarer abgegrenzten sozio-ökonomischen Klassen entsprechen, die ein unterschiedliches Verhältnis zum Besitz, unterschiedliche Interessen und Lebensweisen haben und ein unterschiedliches Ansehen im Dorf genießen.
Bei 94 % der Einheiten der unteren, 50 % der mittleren und 11 % der oberen Klasse stehen Nicht-Ejidatarios an der Spitze. Dagegen finden sich bei 89 % der oberen, [III-301] 50 % der mittleren und bei nur 6 % der unteren Klasse Ejidatarios an der Spitze.
Tabelle 3.16 stellt die Verteilung der Haushalte in den drei Klassen hinsichtlich ihres Landbesitzes und dessen Bewirtschaftung zusammenfassend dar, und zwar unterteilt nach dem Geschlecht des jeweiligen Haushaltsvorstandes.
Tabelle 3.16: Landbesitz und Stellung auf der sozio-ökonomischen Skala, getrennt nach dem Geschlecht des Haushaltsvorstandes
Tabelle 3.17: Anzahl der Haushalte in den drei sozio-ökonomischen Klassen, gestaffelt nach Landbesitz (Angaben in %)
Tabelle 3.17 zeigt den jeweiligen Prozentsatz der Haushalte in den drei Klassen entsprechend dem Landbesitz. Es wird deutlich, dass 70 % der Ejidatarios, die ihr eigenes Land bebauen, der oberen, 26 % der mittleren und nur 4 % der unteren Klasse angehören. Die Ejidatarios, die nur einen Teil ihres Landes selbst bewirtschaften, gehören meist (79 %) zur mittleren Klasse, 21 % gehören der oberen Klasse an, und zur unteren Klasse zählt keiner von ihnen. Die Ejidatarios, die ihr Land nicht selbst bewirtschaften, verteilen sich fast gleichmäßig auf die drei Klassen, was darauf hinweist, dass es einem Ejidatario möglich ist, von der eingenommenen Pacht zu leben, ohne in die untere Schicht der Gesellschaft abzusinken. Von den Nicht-Ejidatarios gehören 66 % der unteren, 29 % der mittleren und nur 5 % der oberen Klasse an. Sämtliche männlichen Nicht-Ejidatarios in der oberen Klasse sind Söhne von Ejidatarios, die zunächst von zu Hause unterstützt wurden und die Möglichkeit hatten, ihre Verhältnisse zu verbessern. Einer nutzte als Startkapital das Geld, das er während des Zweiten Weltkriegs in den Vereinigten Staaten verdient hatte.
Zwischen der sozio-ökonomischen Skala (1 bis 9) und der Frage, ob jemand ein Ejidatario ist, besteht eine signifikante Korrelation (r = .50, p < 0,01). Tatsächlich hängt die Stellung auf der sozio-ökonomischen Skala entscheidend davon ab, ob einer ein Ejidatario ist; und falls dieser Ejidatario sein eigenes Land selbst bestellt und kein Alkoholiker ist, steigt er fast mit Sicherheit zur Spitze der Dorfgesellschaft auf (siehe Kapitel 8, S. 399-422). [III-302]
Tabelle 3.18: Anzahl der Haushalte in den drei sozio-ökonomischen Klassen, nach Geschlecht unterteilt (Angaben in %)
Tabelle 3.18 zeigt, dass die prozentualen Anteile der männlichen und der weiblichen Haushaltsvorstände in den drei Klassen einander ähnlich sind. Von den 11 weiblichen Haushaltsvorständen in der oberen Klasse sind 8 Ejidatarios, und die übrigen betreiben Läden. Ein größerer Anteil der von einer Frau geleiteten Haushalte hat jedoch 0 Punkte (39 %), gegenüber 25 % der von Männern geleiteten Haushalte. Einige der männlichen Haushalte mit 0 Punkten sind ältere Männer, die bei reicheren Familien wohnen, oder jüngere Männer, die mit ihren Familien zunächst im Haus ihrer Eltern leben, während die meisten Frauen, die einem Haushalt vorstehen (10 von 13) unverheiratete oder alleinerziehende Mütter sind, die kaum hoffen können, ihre wirtschaftliche Lage, auf sich allein gestellt, ändern zu können.
Schließlich korrelieren noch beide Merkmale der sozialen Klasse (die Einstufung auf der sozio-ökonomischen Skala und die Frage, ob Ejidatario oder nicht) signifikant mit dem Alter und dem Familienstand des männlichen Haushaltsvorstandes. Die reichste Altersgruppe und jene mit dem höchsten Prozentsatz an Ejidatarios liegt bei fünfzig bis sechzig Jahren. (Die Korrelation zwischen der Altersgruppe einundfünfzig bis sechzig und der sozio-ökonomischen Skala beträgt r = .29.) Die Korrelation zwischen der Gruppe der Einundfünfzig- bis Sechzigjährigen und dem Status eines Ejidatarios beträgt r = .41. Beide Korrelationen sind signifikant auf dem 1-Prozent-Niveau. Andererseits korrelieren die Altersgruppen der Zwanzig- bis Dreißigjährigen und der unter Zwanzigjährigen beide negativ mit der sozio-ökonomischen Skala und dem Ejidatarios-Status. Auch die meisten wohlhabenderen weiblichen Haushaltsvorstände – im allgemeinen auch Ejidatarios – gehören zu den älteren Dorfbewohnern. Von den 11 der oberen ökonomischen Klasse angehörenden Frauen sind 8 fünfzig Jahre alt oder älter, 2 sind achtundvierzig und eine ist vierunddreißig Jahre alt. Korrelationen wurden nicht verzeichnet, weil die Zahl der Fälle zu gering ist, um statistisch signifikant zu sein. Im Ganzen gilt jedoch, dass die älteren Dorfbewohner [III-303] (mit Ausnahme der sehr alten) überwiegend zu den Ejidatarios gehören; 78 % der männlichen und 80 % der weiblichen Ejidatarios sind vierzig Jahre oder älter.
Für die männlichen Haushaltsvorstände besteht ebenfalls eine signifikante Korrelation zwischen der sozio-ökonomischen Skala und der Tatsache, dass sie offiziell verheiratet und entweder kirchlich oder zivil getraut sind (r = .41, p < 0,01). Bei den ärmeren Männern ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie alleinstehen oder in einer freien ehelichen Verbindung leben, wodurch sie sich die erheblichen Kosten einer kirchlichen Trauung oder die (nicht ganz so hohen) Kosten für eine Ziviltrauung sparen. (Bei der Korrelation zwischen der sozio-ökonomischen Skala und der freien ehelichen Verbindung beträgt r = –.23, bei jener zwischen der sozio-ökonomischen Skala und dem Merkmal „alleinstehend“ ist r ebenfalls –.23.)
Wir, die wir in der modernen Industriegesellschaft leben, würden erwarten, eine signifikante Beziehung zwischen dem Lesen- und Schreibenkönnen und der sozialen Klasse zu finden. Tatsächlich fanden wir eine solche jedoch nicht. Für einen Bauern hängt sein Vorankommen nicht davon ab, ob er lesen und schreiben kann; dies bringt in einer bäuerlichen Wirtschaft nichts ein. Wenn der Schulbesuch in den letzten Jahren zugenommen hat, so deshalb, weil man auf Arbeitsmöglichkeiten außerhalb des Dorfes hofft, und es ist unverkennbar, dass Dorfbewohner, die für ihre Kinder nur wenig Ehrgeiz haben, nicht einsehen, weshalb sie diese weiter in die Schule schicken sollten. Weder Schulbildung noch die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, ein wohlhabender Bauer zu werden.
Sowohl bei dem Haushaltsvorstand als auch bei seiner Ehefrau korreliert die Schulbildung nicht mit ihrer sozio-ökonomischen Klassenzugehörigkeit. Allerdings erhalten die Söhne und Töchter der wohlhabenderen Familien eine bessere Schulbildung als die Kinder der armen Dorfbewohner. (Die Korrelation zwischen den Jahren des Schulbesuchs der Söhne und den Werten auf der sozio-ökonomischen Skala der Familie beträgt r = .55; für die Töchter beträgt sie .34; beide Korrelationen sind auf dem 1-Prozent-Niveau signifikant. Für die Familienvorstände und ihre Ehefrauen sind die Korrelationen zwischen Schulbesuch und sozialer Klasse nahezu Null.)
Immer wieder muss das Dorf als Gemeinde Entscheidungen treffen. Bei solchen Gelegenheiten trifft man sich in der ayundantía (Rathaus) und entscheidet darüber, ob ein neues Projekt in Angriff genommen werden soll und in welchem Maße man sich mit Geld oder möglicherweise auch mit seiner Arbeitskraft daran beteiligen muss. Es kann sich zum Beispiel um einen neuen Kindergarten handeln oder um die Befestigung des Wegs, der ins Dorf führt, um die Verschönerung des zocalo (Dorfplatz), indem man ihn asphaltiert, damit er ein „modernes“, städtisches Aussehen gewinnt, oder auch um ein Gesuch an die Regierung, eine Wasserleitung ins Dorf zu legen oder es an das Elektrizitätsnetz anzuschließen. Diese Projekte wurden bereits durchgeführt. In Zukunft könnten die Dorfbewohner etwa gepflasterte Straßen und eine Kanalisation ins Auge fassen. Alle Familienoberhäupter, Männer wie Frauen, werden [III-304] zu diesen Versammlungen eingeladen, wo ein jeder eine Stimme hat, wenn auch nur selten offiziell abgestimmt wird. In der Praxis ist es meistens so, dass einige der älteren und geachtetsten Dorfbewohner eine bestimmte Meinung vertreten und die übrigen ihnen entweder zustimmen, falls sie einverstanden sind, oder ihre Ablehnung zu erkennen geben. Eine Demokratie dieser Art kann nur funktionieren, wo die Leute einander gut kennen und ein feines Gefühl für ihre Reaktionen haben. Der mexikanische Bauer gibt sich große Mühe, offene Konflikte zu vermeiden. Es kann sein, dass er einem Vorschlag höflich zustimmt, aber erwartet, dass die anderen merken, ob es ihm mit seiner Zustimmung wirklich ernst ist. Hat er starke Einwände, so kann er sich darauf beschränken, zögernde Zweifel zu äußern. Die wenigen, die üblicherweise heftigen Widerspruch laut werden lassen, wirken störend. In der Praxis spüren die Führer meistens die Gruppenstimmung, und wenn sie merken, dass die anderen nicht einverstanden sind, treten sie den Rückzug an, indem sie entweder ihren Plan auf später verschieben oder ihn ganz aufgeben. Das Ideal ist, dass das Dorf einem Projekt einstimmig zustimmt.
Die Ejidatarios und die wohlhabenden Nicht-Ejidatarios werden als Führer, als diejenigen, welche die Vorschläge machen, anerkannt. Sie ergreifen die Initiative für neue Projekte, denn man muss sich darauf verlassen können, dass sie die größten Beiträge zu jedem Projekt beisteuern, für welches das Dorf Geld aufbringen muss, und sie sind diejenigen, von denen man erwarten kann, dass sie am ehesten ihre Zeit und Arbeitskraft zur Verfügung stellen. (Sowohl die Trinkwasserleitung wie auch die Stromversorgung wurden zur Hälfte vom Dorf und zur Hälfte von der Bundesregierung finanziert.)
Nur sehr selten werden Projekte gegen eine spürbare Opposition durchgesetzt. Die Schule verdankt ihr Bestehen der Begeisterung der „progressiven“ Einwanderer, die auf die neuen Möglichkeiten der Industriegesellschaft hin orientiert waren und die sich gegen die Bauern durchsetzen mussten, welche ihren traditionellen Fiestas den Vorzug gaben. Die Straßen des Ortes wurden auf das Drängen und unter der Leitung eines Lehrers Ende der dreißiger Jahre verbreitert und begradigt. Dieser hatte sich einen anderen Lehrer zum Vorbild genommen, der einen Genossenschaftsladen ins Leben gerufen, eine Basketball-Mannschaft und einen Jugendklub gegründet hatte. Unterstützt von den meisten Ejidatarios, konnte er den heftigen Widerstand von Seiten derer überwinden, die Teile ihres Hausgrundstücks für die neuen Straßen opfern mussten. Aber solche Persönlichkeiten bilden die Ausnahme. Häufiger sind die Führer darauf bedacht, Streitigkeiten zu vermeiden. Sie verlassen sich darauf, mit der Zeit auch die Widerstrebenden für ihren Plan gewinnen zu können.
Die Dorfbewohner hatten mit den öffentlichen Arbeiten nur Erfolg, wenn die Ejidatarios sich für diese Projekte einsetzten. Schlugen Versuche, kooperative Einrichtungen einzuführen, fehl (wie zum Beispiel der Laden und die Reisanbau-Genossenschaft), so lag das daran, dass sich die Angehörigen dieser Gruppe nicht einig waren. Die Voraussetzung für das Zustandekommen eines Projektes ist immer, dass ein oder zwei Dorfbewohner die Hauptverantwortung übernehmen und für eine Unterstützung des Projekts bis zu seiner Beendigung sorgen. Manchmal werden auch die Führer damit beauftragt, übergeordnete Behörden um Hilfe anzugehen. Am meisten [III-305] wird der Dorfbewohner bewundert (und beneidet), der rhetorisch gewandt ist, der seinesgleichen zu etwas zu überreden vermag und der auf die Verwaltungsbehörden oder auf reiche Gönner, die das Dorf unterstützen könnten, Eindruck zu machen versteht.
Die Beobachtungen der Teilnehmer an unserer Studie ergaben, dass 25 Männer (27 % der Familienoberhäupter) sehr aktiv waren, wenn es um Angelegenheiten des Dorfes, um die Teilnahme an Zusammenkünften, um die Äußerung ihrer Meinung und die Durchführung von Dorfprojekten ging. Diese Männer sind im allgemeinen Ejidatarios, und sie sind meist älter als der Durchschnitt (der höchste Prozentsatz ist zwischen vierzig und sechzig Jahre alt), und sie gehören außerdem zu den wohlhabenderen Bauern. Die politische Aktivität korreliert signifikant mit den beiden Messwerten, die sich auf die soziale Klasse beziehen: Die Korrelation mit der sozio-ökonomischen Skala ist r = .42, und die zwischen der politischen Aktivität und der Tatsache, dass der Betreffende ein Ejidatario ist, ist r = .34; beide Korrelationen sind auf dem 1-Prozent-Niveau signifikant. Eine andere Möglichkeit, das politische Interesse und die Führereigenschaften zu messen, bezieht sich auf die öffentlichen Ämter, die ein Dorfbewohner bekleidet. Alle drei Jahre wird von allen Dorfbewohnern ein Ayudante municipal (Bürgermeister) gewählt, der die Gemeindeversammlungen leitet. Erziehungsausschüsse (zur Überwachung des Schulgeländes und für finanzielle Zuweisungen an die Schule) sowie Ausschüsse für das bienestar (Sozialfürsorge) und für die Verschönerung des Dorfes (des zocalos) werden ebenfalls gewählt. Außerdem wählen die Dorfbewohner einen Juez de Paz (Friedensrichter) und einen Comandante de vigilancia (Dorfpolizisten). Geringfügige Streitigkeiten werden entweder vom Friedensrichter geschlichtet oder sie werden von den Dorfbewohnern vor die ordentlichen Gerichte gebracht. Die meisten Fälle werden aber auf Gemeindeebene entschieden.
Andere wichtige Amtsträger werden von der Versammlung der Ejidatarios gewählt, die die Dorfelite darstellen. Sie wählen vor allem den Comisariado Ejidal, den Ejido-Vorsteher, der mit der Überwachung und Durchführung des Bodenreform-Gesetzes betraut ist, und der – falls notwendig – Streitigkeiten an übergeordnete Amtsstellen weiterleitet.
Wir haben die politischen Ämter im Dorf mit Punkten gewertet, um eine Vorstellung vom Anteil der Dorfbewohner zu geben, die eine oder mehrere Aufgaben in der Dorfverwaltung wahrnehmen. Die Punkteskala wurde folgendermaßen konstruiert: 4 Punkte bekam ein Dorfbewohner, der Ayudante municipal gewesen war; 3 Punkte erhielt, wer Comisariado Ejidal gewesen war; 2 Punkte bekamen die Inhaber des Amtes des Comandante de vigilancia und des Friedensrichters sowie der Vorsitzende eines größeren Dorfausschusses, wie z.B. des Erziehungsausschusses oder des Ausschusses zur Verschönerung des Dorfes. Ferner erhielten einige Dorfbewohner 2 Punkte, die Mayordomos bei größeren religiösen Fiestas gewesen waren, und 1 Punkt erhielten schließlich noch solche Dorfbewohner, die einem der größeren Ausschüsse angehört hatten.
Die meisten Dorfbewohner (74 % der Männer und 99 % der Frauen) hatten nie ein Amt inne. Die offizielle politische Entscheidungsgewalt im Dorf liegt in den Händen [III-306] der übrigen 26 % der Männer, die praktisch alle ältere Ejidatarios sind. 5 % (12 Männer) weisen auf der Skala mehr als 20 Punkte auf: 64 % der Männer, die Ämter bekleidet haben, sind über vierzig Jahre alt, und 70 % sind Ejidatarios. Die mittlere Punktzahl für die Ejidatarios beträgt 7; für die Nicht-Ejidatarios ist sie Null. Nur 10 % der Nicht-Ejidatarios bekamen im Dorf irgendwann ein offizielles Amt übertragen, und bei diesen handelte es sich meist um Söhne von Ejidatarios, um die gleichen Männer, denen es mit dem Kapital, das sie als Braceros verdient hatten, oder mit Unterstützung ihrer Väter gelang, in die obere sozio-ökonomische Klasse aufzusteigen.
Für die Familienoberhäupter besteht eine signifikante Korrelation zwischen der Skala der Verwaltungsposten und der sozio-ökonomischen Skala (r = .48; p < 0,01).
Wie in den Bauerndörfern überall auf der Welt, befinden sich die offizielle Entscheidungsgewalt und der Besitz vorwiegend in den Händen der älteren Männer. Doch besteht bei den Männern keineswegs eine Eins-zu-eins-Korrelation zwischen Macht und Alter. Um materielle Erfolge und eine angesehene Stellung im Dorf zu erreichen, muss ein Mann vor allem das Glück haben, Land zu besitzen. Außerdem muss er, wie wir in Kapitel 6 sehen werden, eine auf materiellen Gewinn und Profit orientierte Charakterstruktur aufweisen.
Das Bauerndorf bietet wenig Freizeitbeschäftigung und kulturelle Anregung. Wir sahen bereits, dass Theateraufführungen und regelmäßige Musikveranstaltungen, wie sie früher üblich waren, nicht mehr stattfinden. Die Hauptfiestas sind zu Ostern, die Nationalfeiertage im September und die Posadas zu Weihnachten: Meist laufen Radio oder Fernseher – bei manchen Leuten vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Sonntags wird im Reis-Lagerhaus für die, die zwei Pesos bezahlen können, ein Film vorgeführt. Ein paar junge Männer haben vor 20 Jahren eine Basketball-Mannschaft aufgestellt und sind stolz auf ihre Leistungen und auf die Trophäen, die sie bei überregionalen Wettkämpfen gewonnen haben. Diese Spieler (23 Mann) sind eine besonders aktive Gruppe. Weitere 19 Männer spielen regelmäßig Billard und kommen in ihrer Freizeit oft im einzigen Billardsaal des Dorfes zusammen. 11 – meist ältere – Männer bilden eine Musikgruppe für die Fiestas und üben in ihrer Freizeit. Die übrigen beteiligen sich vielleicht gelegentlich an einer Fiesta im eigenen Dorf oder in einem der nahegelegenen Städtchen, aber meist sitzen sie in der Freizeit einfach herum. Frauen und Männer unterhalten sich, einige Männer trinken, andere „ruhen sich nur aus“. Die Art, wie jemand mit seiner Freizeit umgeht, ist großenteils eine Funktion seines Charakters, wie wir in späteren Kapiteln noch ausführlich erörtern werden. Doch ist zu betonen, dass es selbst für die aktivsten und interessiertesten Dorfbewohner nur wenige Möglichkeiten gibt.
Eine traditionelle Form der Anregung bietet die Kirche mit ihren religiösen Zeremonien. Außer drei Evangelischen bezeichnen sich sämtliche Dorfbewohner als Katholiken. Bemerkenswert ist jedoch, dass 34 % der Dorfbewohner (40 % der Männer und 27 % der Frauen) nie eine Messe besuchen (siehe Tab. 3.19). 40 % gehen häufig oder [III-307] regelmäßig zur Messe oder zu anderen religiösen Veranstaltungen. Dies gilt für 34 % der Männer und 45 % der Frauen.
Tabelle 3.19: Teilnahme an der Messe und anderen kirchlichen Veranstaltungen (Angaben in %)
Während die Frauen häufiger in die Kirche gehen als die Männer, besteht keine signifikante Beziehung zwischen Alter und Kirchenbesuch, wenn auch die jungen Mädchen in den Jahren kurz nach ihrer Erstkommunion die Neigung zu einem häufigeren Kirchenbesuch erkennen lassen. Was die älteren Männer betrifft, so steht bei ihnen der Besuch des Gottesdienstes mehr mit ihrem Charakter als mit anderen Variablen in Beziehung.
Weder bei den Familienoberhäuptern noch bei deren Ehefrauen, noch bei den Töchtern, korreliert der Besuch des Gottesdienstes signifikant mit der sozio-ökonomischen Skala. Dagegen besuchen die Söhne der wohlhabenden Dorfbewohner häufiger den Gottesdienst (r = .31, p < 0,01). Bei diesen jungen Männern aus den reicheren Familien könnte die Tatsache, dass sie häufiger in die Kirche gehen, auf ihr etwas höheres kulturelles Niveau zurückzuführen sein, denn im allgemeinen gibt es keinen Beweis dafür, dass die Kirche die Reicheren stärker anzieht als die Ärmeren im Dorf.
Wir konnten jedoch nachweisen, dass Dorfbewohner mit besserer Schulbildung häufiger in die Kirche gehen. Von den Bewohnern, die gut lesen und schreiben können, besuchen 57 % regelmäßig oder häufig den Gottesdienst. Von denen, die überhaupt nicht oder nur wenig lesen und schreiben können, gehen nur 35 % häufig oder regelmäßig in die Kirche. (Das Chi-Quadrat dieser Korrelation ist mit 9,9 auf dem 1-Prozent-Niveau signifikant.) In einer Gesellschaft, die so wenige kulturelle Möglichkeiten besitzt, wird die Kirche diejenigen anziehen, die sich am meisten für das gesprochene Wort, für Ideen und moralische Gebote interessieren.
Bevor wir über die Ergebnisse unserer Beobachtungen über den Charakter der Dorfbewohner berichten, dürfte es angebracht sein, die Theorie der dynamischen Charakter-Orientierung zu umreißen. Sie leitete uns bei unserer Untersuchung und führte zur Formulierung von Kategorien zur Bewertung. Die nachfolgende Erörterung der Arten von Assimilierung und Produktivität basiert weitgehend auf den Ausführungen in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 39-47); Beispiele von Antworten auf die Fragen des interpretativen Fragebogens, in denen diese Orientierungen zum Ausdruck kommen, finden sich in Anhang A, S. 489-517).
Wie bereits in Kapitel 1 (S. 254-261) erwähnt, liegt der Hauptunterschied zwischen der hier vorgeschlagenen Charaktertheorie und der Freuds darin, dass wir die entscheidende Charaktergrundlage nicht in den verschiedenen Typen der Libido-Organisation sehen, sondern in den spezifischen Formen der Bezogenheit des Menschen auf die Welt. Im Lebensprozess tritt der Mensch zur Welt in Beziehung, 1. indem er sich Dinge aneignet und sie assimiliert, und 2., indem er zu Menschen (und zu sich selbst) in Beziehung tritt. Ersteres stellt den Assimilierungsprozess, letzteres den Sozialisationsprozess dar. Beide Formen des In-Beziehung-Tretens sind „offen“ und nicht durch Triebe determiniert. Man kann sich Dinge aneignen, indem man sie von außen empfängt, oder indem man sie sich von einer Quelle außerhalb seiner selbst nimmt, oder indem man sie durch eigenes Bemühen aus sich hervorbringt. Immer aber gilt, dass der Mensch, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, sich Dinge aneignen, assimilieren muss.
Darüber hinaus gilt, dass der Mensch nicht allein und ohne Beziehung zu anderen Menschen leben kann. Er muss sich mit anderen zusammentun, um sich zu verteidigen, um zu arbeiten, um sexuelle Befriedigung zu finden, um zu spielen, um seine Kinder zu erziehen, um sein Wissen weiterzugeben und um sich materiellen Besitz zu erwerben. Aber auch unabhängig von diesen praktischen Notwendigkeiten gilt, dass der Mensch auf andere bezogen sein muss. Völlige Isolation ist nicht auszuhalten und mit geistig-seelischer Gesundheit unvereinbar.
Die genannten Orientierungsarten, mit der Welt in Beziehung zu treten, machen den Kern des Charakters aus. Charakter lässt sich deshalb definieren als die (relativ [III-309] beständige) Form, in der die menschliche Energie im Prozess der Assimilation und Sozialisation strukturiert wird.
In der nachfolgenden Analyse stellen wir nicht-produktive Orientierungen der produktiven Orientierung gegenüber. Zu beachten ist dabei, dass es sich bei diesen Begriffen um „Idealtypen“, nicht um Beschreibungen des Charakters bestimmter Individuen, handelt. Wenn sie hier auch aus didaktischen Gründen getrennt behandelt werden, so ist der Charakter eines bestimmten Menschen doch in der Regel eine Mischung aus allen oder einigen dieser Orientierungen, wobei eine dominant ist. Außerdem haben wir bei der Beschreibung der nicht-produktiven Orientierungen nur deren negative Aspekte dargestellt und werden auf ihre positiven Aspekte erst im letzten Teil dieses Kapitels kurz eingehen.
Die folgende Beschreibung der nicht-produktiven Orientierungen entspricht dem klinischen Bild des prägenitalen Charakters, wie ihn Freud und andere dargestellt haben. Die nicht-produktiven Orientierungen entsprechen Freuds prägenitalen Stufen der Libido. Speziell entspricht die rezeptive Orientierung dem oral-rezeptiven, die ausbeuterische dem oral-sadistischen und die hortende dem analen Charakter. Die produktive Orientierung entspricht Freuds „genitalem Charakter“, den er einmal als die Fähigkeit des Menschen definiert hat zu lieben und zu arbeiten. Zweifellos beschreibt Freud die prägenitalen Charaktertypen weit anschaulicher und detaillierter als den genitalen Charakter. Unsere Kategorien gründen sich zwar auf die Freuds, sind jedoch nach Struktur und Genese anders zu verstehen. Dies wird sich bei der nachfolgenden Erörterung noch zeigen. (Den in Psychoanalyse und Ethik, 1947a, GA II, S. 47-56, genannten Marketing-Charakter lassen wir hier außer Acht, da wir keine Dorfbewohner antrafen, die diese Orientierung deutlich aufwiesen.)
Für die rezeptive Orientierung gilt, dass der Betreffende glaubt, „die Quelle alles Guten“ sei außerhalb von ihm. Was immer er haben möchte – materielle Werte oder auch Zuneigung, Liebe, Wissen oder Lust –, immer meint er, dass er dies nur aus einer Quelle außerhalb von ihm bekommen könne. Beim Erwerb materieller Dinge fällt es dem rezeptiven Charakter – in extremen Fällen – schwer, dafür zu arbeiten; er erwartet, dass ihm alles geschenkt wird, weil er „gut“ ist oder vielleicht auch, weil er „krank“ oder „bedürftig“ ist. In weniger extremen Fällen zieht er es vor, unter einem anderen oder für diesen zu arbeiten, und neigt dann zu der Ansicht, er verdanke das, was er dafür bekommt, der Güte seines Chefs, anstatt es als Lohn für die eigene Arbeit anzusehen, auf den er Anspruch hat. Bei dieser Orientierung bedeutet Liebe fast ausschließlich „geliebt zu werden“, und nicht zu lieben. Solche Menschen sind oft wahllos in Bezug auf ihr Liebesobjekt, weil von jemand geliebt zu werden für sie eine so überwältigende Erfahrung ist, dass sie jedem „verfallen“, der ihnen Liebe oder etwas, was sie für Liebe halten, schenkt. Sie reagieren äußerst empfindlich, wenn die geliebte Person sich von ihnen zurückzieht oder sie abweist. Ihre Orientierung auf geistigem Gebiet ist die gleiche. Sind sie intelligent, so geben sie die besten Zuhörer [III-310] ab, da sie auf das Aufnehmen und nicht auf das Produzieren von Ideen hin orientiert sind; sich selbst überlassen, fühlen sie sich wie gelähmt.
Ebenso wie der rezeptiven liegt auch der ausbeuterischen Orientierung das Gefühl zugrunde, dass die Quelle alles Guten außerhalb liege, so dass alles, was man haben möchte, dort zu suchen sei und man nichts aus sich selbst schaffen könne. Der Unterschied zwischen beiden Orientierungen liegt jedoch darin, dass der ausbeuterische Typ nicht passiv darauf wartet, von anderen etwas zu bekommen, sondern dass er es den anderen mit Gewalt oder mit List wegnimmt. Diese Orientierung erstreckt sich auf alle Aktivitätsbereiche.
Solche Menschen neigen dazu, sich Liebe und Zuneigung rücksichtslos anzueignen und zu stehlen. Sie fühlen sich nur von Menschen angezogen, die sie einem anderen wegnehmen können. Ihre Zuneigung zu einem anderen hat zur Voraussetzung, dass dieser gebunden ist. In jemanden, der noch keine Bindung eingegangen ist, verlieben sie sich gewöhnlich nicht. Dieselbe Haltung nehmen sie auch in Bezug auf ihr Denken und ihre intellektuellen Interessen ein. Solche Menschen pflegen keine eigenen Ideen zu produzieren, sondern sie anderen zu stehlen.
Ebenso gilt dies gegenüber materiellen Dingen: Was sie anderen wegnehmen können, kommt ihnen wertvoller vor als das, was sie selbst produzieren könnten. Sie nutzen jeden aus und eignen sich alles an, was sie erreichen können. Ihr Motto lautet: „Am besten schmecken die Früchte aus Nachbars Garten“. Weil sie andere ausnützen und ausbeuten möchten, „lieben“ sie solche Menschen, die ausgesprochen oder unausgesprochen geeignete Ausbeutungsobjekte zu sein versprechen, und werden sie „leid“, sobald sie sie ausgenommen haben. Ein extremes Beispiel ist der Kleptomane, der an Dingen nur dann Freude hat, wenn er sie stehlen konnte, obwohl er genug Geld hätte, sie sich zu kaufen.
Da wir im ersten Kapitel bereits auf die hortende Orientierung eingegangen sind, können wir uns hier kurzfassen. Während die rezeptive und die ausbeuterische Einstellung insofern einander ähnlich sind, als der Betreffende in beiden Fällen erwartet, die Dinge von außen zu bekommen, ist die hortende Orientierung ihrem Wesen nach anders. Bei ihr haben Menschen nur wenig Zutrauen zu etwas Neuem, das sie von der Außenwelt bekommen könnten. Ihr Sicherheitsgefühl gründet sich auf Sparen und Horten, während sie im Geldausgeben etwas Bedrohliches sehen. Sie haben sich sozusagen mit einem Schutzwall umgeben, und ihr Hauptziel besteht darin, soviel wie möglich in diese Festung hereinzuholen und sowenig wie möglich davon herauszulassen. Ihr Geiz bezieht sich ebenso auf Geld und materielle Dinge wie auf Gefühle und Gedanken. Liebe bedeutet für sie im wesentlichen Besitz. Sie schenken keine Liebe, sondern suchen sie für sich zu bekommen, indem sie den „Geliebten“ besitzen. Menschen mit einer hortenden Orientierung hängen oft mit einer besonderen Art von Treue an anderen Menschen, ja sogar an ihren eigenen Erinnerungen. Es handelt sich dabei um eine Sentimentalität, die die Vergangenheit wirklicher erscheinen lässt als die Gegenwart. Sie klammern sich daran und schwelgen in Erinnerungen vergangener Gefühle und Erlebnisse.
Die bisher beschriebenen Charakter-Orientierungen sind keineswegs so voneinander [III-311] getrennt, wie es nach dieser skizzenhaften Darstellung scheinen könnte. Eine von ihnen mag bei einem Menschen zwar dominant sein, sie ist aber trotzdem mit anderen vermischt. Klinische Daten zeigen jedoch, dass zwischen einigen Orientierungen stärkere Affinitäten bestehen als zwischen anderen. Es bedarf noch vieler Forschungsarbeit, um verlässliche Informationen über diese Affinitäten zu gewinnen. Auf die Mischung zwischen nicht-produktiven und produktiven Orientierungen werden wir noch zu sprechen kommen.
Der Mensch ist nicht nur ein rationales und gesellschaftliches Wesen. Er ist auch ein produzierendes Wesen, das fähig ist, vorgefundenes Material mit Hilfe seiner Vernunft und seiner Vorstellungskraft umzuwandeln. Er kann nicht nur selbst etwas produzieren, er muss produzieren, um zu leben. Die materielle Produktion ist jedoch nur der häufigste Ausdruck oder das häufigste Symbol von Produktivität als einem Aspekt des Charakters. Die produktive Orientierung der Persönlichkeit entspricht einer Grundhaltung, einer bestimmten Art des Bezogenseins in allen Bereichen menschlicher Erfahrung. Sie umfasst körperliche, geistig-seelische, emotionale und sensorische Reaktionen auf andere, auf sich selbst und auf die Welt der Dinge. Produktivität ist die Fähigkeit des Menschen, seine Kräfte zu nutzen und die in ihm angelegten Möglichkeiten zu verwirklichen. Wenn ich sage, dass er seine Kräfte nutzen müsse, so besagt das, dass er frei sein muss und nicht von einem anderen abhängig sein darf, der seine Kräfte unter Kontrolle hält. Es besagt außerdem, dass er sich von seiner Vernunft leiten lassen muss, da er seine Kräfte nur nutzen kann, wenn er weiß, welcher Art sie sind, wie er sie einsetzen und wozu er sie gebrauchen kann. Produktivität bedeutet, dass er sich selbst als die Verkörperung seiner Kräfte und als „Akteur“ erlebt; dass er sich als Subjekt seiner Kräfte empfindet und dass er diesen Kräften nicht entfremdet ist, das heißt, dass er sie nicht mit fremden Masken versieht und auf zu Götzen erhobene Objekte, Personen und Institutionen überträgt.
Man kann die Produktivität auch so beschreiben, dass der produktive Mensch alles, was er anrührt, belebt. (Dies steht im Gegensatz zu einem Charakter wie dem von König Midas, dem sich alles, was er berührte in Gold verwandelte, wobei „Gold“ ein Symbol des Todes und – wie S. Freud, 1908b, gezeigt hat – des Kots ist.) Wir sagen „beschreiben“, denn wie jede andere Erfahrung lässt sich auch diese nicht definieren, sondern nur auf eine Weise beschreiben, dass andere, die die gleiche Erfahrung gemacht haben, wissen, was gemeint ist.[25] Der produktive Mensch beseelt alles in seiner Umgebung. (Diesen Begriff der Seele wieder zu Ehren gebracht zu haben, ist das [III-312] Verdienst radikaler Schwarzer. Sie verstehen unter „Seele“ eine beseelte Aktivität, und nicht wie herkömmlich etwas Metaphysisches.) Der produktive Mensch bringt seine eigenen Fähigkeiten, andere Menschen und Dinge zum Leben. Aufgrund seiner produktiven Haltung ruft er auch bei anderen eine produktive Reaktion hervor, vorausgesetzt, diese anderen sind nicht derart nicht-produktiv orientiert, dass sie sich überhaupt nicht beeindrucken lassen. Der produktiv Orientierte sensibilisiert also sowohl sich selbst als auch andere; er fühlt und nimmt sich selbst und seine Umgebung in optimaler Weise wahr. Diese Empfindungsfähigkeit bezieht sich auf den Bereich des Denkens ebenso wie auf den des Fühlens. Entscheidend ist nicht das Objekt – Menschen, die Natur oder auch Gegenstände –, sondern die grundsätzliche Einstellung. Die produktive Orientierung wurzelt in der Liebe zum Leben (Biophilie – vgl. Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 185-187). Ihr geht es um das Sein, nicht um das Haben.[26]
Im allgemeinen bringt man das Wort „Produktivität“ in Zusammenhang mit Kreativität, insbesondere mit künstlerischer Kreativität. Tatsächlich ist der echte Künstler das überzeugendste Beispiel von Produktivität. Dennoch sind nicht alle Künstler produktiv; aus einem konventionellen Gemälde zum Beispiel kann nichts weiter sprechen als die technische Fähigkeit, eine bestimmte Person auf der Leinwand ähnlich zu reproduzieren oder ein modernes Sujet nach Art einer Fotografie wiederzugeben, und ein modernes expressionistisches Gemälde kann regressive Empfindungen mit einer raffinierten Technik zum Ausdruck bringen. Andererseits kann aber jemand produktiv sehen, fühlen und denken, auch wenn er nicht die Begabung besitzt, etwas Sichtbares oder Vermittelbares zu schaffen. Produktivität ist eine Haltung, die jeder Mensch haben kann, wenn er nicht geistig oder emotional verkrüppelt ist.
Man kann Produktivität auch so beschreiben, dass man sagt, die produktive Haltung sei durch Aktivität, die nicht-produktiven Orientierungen durch Passivität gekennzeichnet. Diese Aussage ist für modernes Denken verwirrend, weil Aktivität in unserem Sprachgebrauch gewöhnlich als ein Verhalten definiert wird, welches durch den Einsatz von Energie eine Veränderung in einer bestehenden Situation herbeiführt. Sie ist dann gleichbedeutend mit „Geschäftigkeit“. Im Gegensatz dazu pflegt man einen Menschen als passiv zu bezeichnen, wenn er unfähig ist, durch Energieeinsatz eine bestehende Situation zu ändern oder offensichtlich zu beeinflussen, und wenn er sich von Kräften außerhalb seiner selbst beeinflussen lässt. Diese übliche Auffassung von Aktivität berücksichtigt nur den tatsächlichen Energieeinsatz und die durch ihn bewirkte Veränderung. Sie unterscheidet nicht zwischen den zugrunde liegenden psychischen Bedingungen, welche den Aktivitäten die Richtung geben. (Vielleicht sollte man besser von „Tätigsein“ (activeness) sprechen als von „Aktivität“ (activity), um einen produktiven Menschen zu kennzeichnen.)
Ein – wenngleich extremes – Beispiel ist die Aktivität eines Menschen unter Hypnose. Wer sich in einem tiefen hypnotischen Trancezustand befindet, kann die Augen offen haben, kann umhergehen, reden und alles Mögliche tun, kurz er kann „agieren“. Die heute allgemein übliche Definition der Aktivität würde auf ihn zutreffen, da er Energie einsetzt und irgendwelche Veränderungen bewirkt. Wenn wir jedoch den besonderen Charakter und die spezielle Qualität dieser Aktivität in Betracht ziehen, so erkennen wir, dass der „Akteur“ in Wirklichkeit nicht der Hypnotisierte, sondern der [III-313] Hypnotiseur ist, der mittels seiner Suggestionen durch ihn agiert. Der hypnotische Zustand ist zwar ein künstlicher Zustand und ein extremes, aber dennoch charakteristisches Beispiel für eine Situation, in welcher der Betreffende aktiv und doch nicht der Akteur ist, da seine Aktivität von Kräften stammt, deren Zwang er unterliegt und die er nicht unter Kontrolle hat.
Die Charakterisierung der „Aktivität“ als einer produktiven Orientierung entspricht dem, was sowohl Aristoteles als auch Spinoza unter „aktiv“ und „Aktivität“ bzw. unter „passiv“ und „Passivität“ verstanden haben. Für Aristoteles war die Kontemplation der höchste Zustand von Aktivität, und für Spinoza bedeutete passiv zu sein, von irrationalen Leidenschaften getrieben werden, während der bei irgendetwas erreichte Grad der Vollkommenheit dem Grad der dabei eingesetzten „Aktivität“ entspricht.
Wie am Anfang dieses Kapitels angedeutet, gehören zum Lebensprozess zwei Arten der Bezogenheit auf die Außenwelt: Assimilierung und Sozialisation. Erstere haben wir sehr ausführlich in diesem Kapitel diskutiert, weil es sich herausstellte, dass sie für ein Verständnis des Charakters der Dorfbewohner von zentraler Bedeutung ist. Auf letztere Art wollen wir hier nur kurz eingehen und möchten den an einer vollständigeren Analyse interessierten Leser auf Die Furcht vor der Freiheit (1941a) und Die Seele des Menschen (1964a) verweisen.
Wir können zwischen folgenden Arten der zwischenmenschlichen Beziehungen unterscheiden: (1) die symbiotische Bezogenheit, (2) die durch Rückzug gekennzeichnete Destruktivität, (3) der Narzissmus und (4) die Liebe.
Bei der symbiotischen Bezogenheit steht der Betreffende zwar mit anderen in Beziehung, doch verliert er dabei seine Unabhängigkeit, bzw. erreicht er sie nie. Er entgeht der Gefahr des Alleinseins dadurch, dass er zum Teil eines anderen Menschen wird, entweder indem er sich von diesem „verschlingen“ lässt oder indem er diesen „verschlingt“. Ersteres ist die Wurzel dessen, was wir klinisch Masochismus nennen. Wir verstehen darunter den Versuch, sich seines individuellen Selbst zu entledigen, der Freiheit zu entfliehen und dadurch nach Sicherheit zu suchen, dass man sich an einen anderen Menschen hängt. Diese Abhängigkeit kann mannigfache Formen annehmen. Sie kann als Opfer, als Pflicht oder auch als Liebe rationalisiert werden, besonders wenn kulturelle Muster eine solche Rationalisierung legitimieren. Manchmal sind masochistische Strebungen mit sexuellen Impulsen vermischt und daher lustvoll (masochistische Perversion); oft stehen die masochistischen Strebungen in einem so scharfen Konflikt mit den nach Unabhängigkeit und Freiheit strebenden Teilen der Persönlichkeit, dass sie als schmerzhaft und quälend empfunden werden.
Der Impuls, andere zu verschlingen – die sadistische, aktive Form der symbiotischen Bezogenheit – taucht in mannigfachen Rationalisierungen auf, etwa als Liebe, übertriebene Fürsorge, „berechtigte“ Bevormundung, „gerechtfertigte“ Rache; als [III-314] sexueller Sadismus ist er mit sexuellen Impulsen vermischt. Alle Formen des sadistischen Triebes gehen zurück auf den Trieb nach Allmacht, auf das Verlangen, einen anderen völlig in seine Gewalt zu bekommen und ihn zum hilflosen Objekt des eigenen Willens zu machen. Die völlige Herrschaft über einen machtlosen Menschen ist das Wesen dieser symbiotischen Bezogenheit. Sie wurzelt in einem tiefen, oft unbewussten Gefühl der Impotenz und Ohnmacht, das sie zu kompensieren sucht.
Während die symbiotische Beziehung eine enge und intime Beziehung mit dem Objekt – wenn auch auf Kosten von Freiheit und Integrität – darstellt, ist die zweite Art der Bezogenheit dadurch gekennzeichnet, dass der Betreffende Distanz wahrt, sich auf sich selbst zurückzieht, sich destruktiv verhält. Man kann nämlich das Gefühl der individuellen Ohnmacht dadurch überwinden, dass man sich von jenen zurückzieht, die als bedrohlich empfunden werden. Bei dem hier beschriebenen Phänomen wird dieses Sich-Zurückziehen zur Hauptform der Beziehung zu anderen, sozusagen zu einem negativen Bezogensein. Sein emotionales Äquivalent ist das Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber anderen, das oft mit einem kompensatorischen Gefühl der Selbstaufblähung Hand in Hand geht. Das Sich-Zurückziehen und die Gleichgültigkeit können – müssen aber nicht unbedingt – bewusst sein. Tatsächlich verstecken sie sich in unserer Kultur meist hinter einer oberflächlichen Interessiertheit und Geselligkeit.
Die Destruktivität ist eine extreme Form des Sich-Zurückziehens von anderen; der Impuls, andere zu vernichten, resultiert aus der Angst, von ihnen vernichtet zu werden, und aus einem Hass gegen das Leben. (Vgl. die eingehende Analyse dieser Art von Destruktivität unter dem Begriff der „Nekrophilie“ in Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 179-198.) – Die bisherige Erörterung der Destruktivität hat stark darunter gelitten, dass nicht zwischen dieser Art von Destruktivität, sadistischer Grausamkeit und der zur Verteidigung des Lebens und lebenswichtiger Interessen eingesetzten Aggression unterschieden wurde. Jede dieser drei Arten hat ihre eigenen Ursachen und Bedingungen. Vgl. hierzu Quellen menschlicher Destruktivität (1968e, GA VIII, S. 253-258) sowie Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a, GA VII, S. 295-334). Die [nekrophile[27]] Destruktivität ist die Perversion des Lebenstriebes. In ihr ist die Energie ungelebten Lebens verwandelt in eine Energie zur Zerstörung des Lebens.
Eine andere Form des Sich-Zurückziehens, die hinsichtlich der Intensität sehr verschieden ist, ist der Narzissmus. Der Begriff des Narzissmus ist eine der fruchtbarsten und wichtigsten Entdeckungen Freuds. Da er oft missverstanden wird, soll auf ihn hier ausführlicher eingegangen werden. Freud hat die Hauptlinien der Entwicklung beim „normalen“ Menschen skizziert. Sie sollen im Folgenden zusammengefasst werden. (Vgl. auch Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 200, wo auch auf den Unterschied zwischen dem Libidobegriff Freuds und dem hier gebrauchten Energiebegriff eingegangen wird.)
Der Fötus im Mutterleib lebt noch im Zustand eines absoluten Narzissmus. „So haben wir mit dem Geborenwerden den Schritt vom absoluten selbstgenügsamen Narzissmus zur Wahrnehmung einer veränderlichen Außenwelt und zum Beginn der Objektfindung gemacht“ (S. Freud, 1921 c, S. 146). Es braucht Monate, bis das Kind [III-315] Gegenstände außerhalb seiner selbst als zu einem „Nicht-Ich“ gehörig auch nur wahrnehmen kann. Dadurch, dass das Kind mit seinem Narzissmus viele Enttäuschungen hinnehmen muss, dass es außerdem die Außenwelt und deren Gesetzmäßigkeiten immer besser kennen lernt, verwandelt sich der ursprüngliche Narzissmus „notwendigerweise“ in „Objektliebe“. „Aber“, sagt Freud, „der Mensch bleibt in gewissem Maße narzisstisch, auch nachdem er äußere Objekte für seine Libido gefunden hat“ (S. Freud, 1912-13, S.110). Die Entwicklung des Individuums kann man nach Freud geradezu als Entwicklung vom absoluten Narzissmus zu objektivem Denken und zur Objektliebe bezeichnen, wobei es sich jedoch um eine Fähigkeit handelt, der gewisse Grenzen gesetzt sind. Beim „normalen“, „reifen“ Menschen ist der Narzissmus auf das sozial akzeptierte Minimum reduziert, ohne jedoch jemals ganz zu verschwinden. Unsere Erfahrungen im täglichen Leben bestätigen Freuds Beobachtungen. Bei den meisten Menschen scheint ein narzisstischer Kern vorhanden zu sein, an den man nicht herankommt und der jeden Versuch, ihn ganz aufzulösen, scheitern lässt.
Lesern, die mit den stärksten Manifestationen des Narzissmus in Psychosen nicht vertraut sind, dürfte es besonders hilfreich sein, wenn wir eine Beschreibung des Narzissmus anfügen, wie er bei Neurotikern zu finden ist. Ein besonders einfaches Beispiel kann man in der Einstellung eines Menschen zu seinem eigenen Körper beobachten.
Sehen wir uns zwei Frauen näher an, die scheinbar äußerst verschieden voneinander und trotzdem beide narzisstisch sind. Eine Frau beschäftigt sich täglich viele Stunden vor dem Spiegel mit ihrer Frisur und ihrem Make-up. Sie ist nicht einfach eitel; vielmehr ist sie von ihrem Körper und von ihrer Schönheit besessen. Ihr Körper ist die einzige Realität, die ihr wichtig ist. Sie kommt vielleicht der griechischen Sage von Narziss am nächsten. Der schöne Jüngling Narziss, der die Liebe der Nymphe Echo zurückwies, so dass diese an gebrochenem Herzen starb, wird von Nemesis damit bestraft, dass er sich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser des Sees verliebt. Hingerissen von der Bewunderung seiner selbst, stürzte er ins Wasser und ertrank. Die griechische Sage weist deutlich darauf hin, dass diese Art von „Selbstliebe“ ein Fluch ist und dass sie in ihrer extremen Form in Selbstdestruktion endet. (Vgl. Psychoanalyse und Ethik, 1947a, GA II, S. 78-91, wo gezeigt wird, dass die wahre Liebe zu sich selbst nicht von der Liebe zu anderen getrennt werden kann, dass aber jene Art von „Selbstliebe“, die bei egoistischen und narzisstischen Menschen zu finden ist [– die Selbstsucht –], weder fähig ist, sich selbst noch andere zu lieben.) Eine andere Frau (es könnte dieselbe ein Jahr später sein) leidet unter Hypochondrie. Auch sie beschäftigt sich ständig mit ihrem Körper, allerdings nicht so, dass sie ihn verschönern möchte, sondern aus Angst vor Krankheiten. Weshalb jeweils das positive oder das negative Bild gewählt wird, hat natürlich seine Gründe, mit denen wir uns aber hier nicht befassen müssen. Wir wollen hier nur zeigen, dass hinter beiden Phänomenen die gleiche narzisstische ausschließliche Beschäftigung mit der eigenen Person steckt, wobei für die übrige Welt nur noch wenig Interesse übrigbleibt. (Eine andere Form des Narzissmus ist die moralische Hypochondrie, bei der man sich ständig mit Hilfe der Frage, ob man richtig oder falsch gehandelt hat, mit sich beschäftigt.) Wir haben zwar hier Frauen als Beispiel für den Narzissmus gewählt, doch gibt es die gleiche ausschließliche Beschäftigung mit dem eigenen Körper auch bei Männern, allerdings handelt es sich angesichts [III-316] unserer heutigen gesellschaftlichen Bedingungen beim männlichen Narzissmus häufiger um die gesellschaftliche Stellung, Prestige oder Besitz.
Gemeinsam ist allen Formen des Narzissmus, dass nur das, was sich auf das eigene Ich, das heißt auf den eigenen Körper, seine Empfindungen, Gefühle, Gedanken usw. bezieht, als real und daher allein wichtig empfunden wird. Die Wirklichkeit außerhalb wird zwar wahrgenommen, besitzt aber kein Gewicht, keine Bedeutung, weil man keine Beziehung zu ihr hat. In dem Maß, wie ein Mensch narzisstisch ist, erlebt er die Außenwelt ohne Tiefe und Intensität. Beim Psychotiker erreicht das oft ein solches Ausmaß, dass er nicht einmal fähig ist, die Realität so wahrzunehmen, wie sie ist, und dass es für ihn überhaupt nur seine subjektive Realität gibt; Halluzinationen und Wahnvorstellungen sind hierfür symptomatischer Ausdruck.
Im Gegensatz zur symbiotischen Bezogenheit, zum Sich-Zurückziehen, zur Destruktivität und zum Narzissmus ist die Liebe die produktive Form der Bezogenheit auf andere und auf sich selbst. Sie hat zur Voraussetzung: Verantwortungsgefühl, Fürsorge, Achtung und Erkenntnis sowie den Wunsch, dass der andere „wächst“ und sich entwickelt. Sie ist Ausdruck der Intimität zweier Menschen bei gleichzeitiger Wahrung der Integrität jedes Einzelnen.[28]
Ein weiteres für ein Verständnis des Charakters wesentliches Element ist der Begriff der inzestuösen Bindung, besonders die inzestuöse Fixierung an die Mutter. Freud sah in diesem Begriff einen der Ecksteine seines wissenschaftlichen Gebäudes, und auch wir halten seine Entdeckung der Mutterbindung für eine der weitreichendsten auf dem Gebiet der Wissenschaft vom Menschen. Aber auch auf diesem Gebiet hat Freud – genau wie in den vorher beschriebenen Bereichen – seine Entdeckung und deren Konsequenzen dadurch beeinträchtigt, dass er sich gezwungen sah, sie in seine Libidotheorie einzubetten und daher die auf den andersgeschlechtlichen Elternteil gerichteten sexuellen Strebungen für den Kern des Inzests zu halten. Nichtsdestoweniger erkannte er auch die Wichtigkeit der nicht-sexuellen Bindung an die Mutter, die er als „präödipale“ Bindung bezeichnet, doch maß er dieser im Vergleich zur inzestuösen sexuellen Bindung, mit der er sich in den meisten seiner Schriften befasst, nur eine relativ geringe Bedeutung zu.
Die Tendenz, an die Mutter oder an Mutter-Äquivalente, etwa an Blut, Familie oder Sippe gebunden zu bleiben, findet sich bei allen Menschen. Sie steht in ständigem Konflikt mit der entgegengesetzten Tendenz, geboren zu werden, Fortschritte zu machen und zu wachsen. Im Fall einer normalen Entwicklung siegt die Wachstumstendenz. In pathologischen Fällen siegt dagegen die regressive Tendenz zu einer symbiotischen Vereinigung, so dass ein solcher Mensch lebensunfähig wird. Bisher gab es in der Geschichte die inzestuöse Fixierung an Familie, Sippe, Nation, Staat und Kirche bei den meisten Menschen zwar nicht extrem ausgeprägt, aber doch als wirksame Kraft. Sie ist einer der wichtigsten Faktoren gegen die menschliche Solidarität, und sie ist eine der tiefsten Quellen von Hass, Destruktivität und Irrationalität. Das [III-317] patriarchalische Äquivalent der Mutterbindung, die gehorsame Unterwerfung unter den Vater, hat ähnliche Auswirkungen, wenn auch die Tiefe und Intensität der Bindung an die Mutter oder die Furcht vor ihr noch größer zu sein scheint. Tatsächlich gibt es viele klinische Gründe, die für die Annahme sprechen, dass die Unterwerfung unter den Vater einen Versuch darstellt, der inzestuösen Regression zu entfliehen. Viele Initiationsriten scheinen auf eine Durchtrennung oder Reduzierung der Bindung an die Mutter abzuzielen, wenn auch hierdurch neue Bindungen an den Vater oder die männliche Gruppe geschaffen werden.
Freuds Annahme, dass bei jedem Kind diese inzestuösen Strebungen anzutreffen sind, ist völlig richtig. Aber die Bedeutung dieser Auffassung geht weit über das hinaus, was Freud selbst annahm. Inzestuöse Wünsche sind nicht in erster Linie das Ergebnis sexueller Begierden, sondern stellen eine der grundlegenden Tendenzen im Menschen dar: den Wunsch, die Bindung an eine all-beschützende Figur beizubehalten, die Furcht vor der Freiheit und die Angst, von der Mutter vernichtet zu werden, von derselben Figur, der er sich selbst hilflos ausgeliefert hat.
Bei unserer Beschreibung der verschiedenen nicht-produktiven Orientierungen und der produktiven Orientierung haben wir diese so behandelt, als ob sie deutlich getrennt und voneinander verschieden seien. Dies war aus didaktischen Gründen notwendig, weil wir zunächst einmal das Wesen einer jeden Orientierung verstehen müssen, bevor wir dazu übergehen können, uns um ein Verständnis ihrer Mischung zu bemühen. In Wirklichkeit haben wir es stets mit Mischungen zu tun, denn ein Charakter repräsentiert niemals nur eine einzige der nicht-produktiven Orientierungen oder ausschließlich die produktive Orientierung.