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Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 29.12.2015
ISBN: eBook 9783959121354
Format: ePUB
Erich Fromms sozialpsychologische Untersuchung über "Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches" ist etwas ganz Besonderes: Entstanden 1930 als Untersuchung des Instituts für Sozialforschung, stellt sie die erste empirische Untersuchung über den Unterschied zwischen politischem Bekenntnis und charakterlicher Einstellung dar. Die psychoanalytische Untersuchung richtete sich an sich links bekennende Probanden. Fromm wollte herausfinden, ob deren revolutionäre Meinungsbekundungen auch mit einer entsprechenden unbewussten Einstellung der Persönlichkeit übereinstimmt.
Das Ergebnis war ernüchternd: Nur bei 15 Prozent der Untersuchten stimmte die bewusste Meinung mit den unbewussten Einstellungen überein. Bei einem erheblichen Prozentsatz fand Fromm sogar eine autoritäre Grundstrebung. Bereits Mitte der Dreißiger Jahre verstand Fromm den Erfolg der Nationalsozialisten aus der zu geringen Widerstandskraft der deutschen Arbeiterschaft heraus, wie er sie in dieser Untersuchung ermittelt hatte.
Noch in einer ganz anderen Hinsicht ist die Arbeiter- und Angestelltenerhebung von unschätzbarem Wert. Die genaue Erfassung der Antworten von Hunderten von Probanden gibt einen Einblick in die deutsche Gesellschaft um 1930, der einmalig ist: Welche Anschauungen die Menschen zu Fragen der Politik, der Kunst, des Geschmacks, der Moral, der Mode, der Genderfrage, der Erziehung usw. hatten, wie sie sich ihre Wohnungen einrichteten und welche Lektüre sie bevorzugten.
Aus dem Inhalt
- Ziele und Methoden der Untersuchung
- Die soziale und politische Situation der Befragten
- Auswertungen zum Beispiel zu Fragen wie:
- Wer war nach Ihrer Meinung an der Inflation schuld?
- Welche Menschen halten Sie für die größten Persönlichkeiten in der Geschichte?
- Gefällt Ihnen die heutige Frauenmode?
- Halten Sie es für richtig, dass die Frauen einen Beruf ausüben?
- Glauben Sie, dass man bei der Erziehung der Kinder ganz ohne Prügel auskommt?
- Wie stehen Sie zur Bestrafung der Abtreibung?
- Wie würden Sie Ihr Geld anlegen, wenn Sie Vermögen hätten?
- Persönlichkeitstypen und politische Haltungen
- Autoritäre, radikale und rebellische Haltungen
(The Working Class in Weimar Germany.
A Psychological and Sociological Study)
Erich Fromm
(1980a)
Die Printausgabe wurde von Wolfgang Bonß herausgegeben und kommentiert.
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk auf der Basis der Printausgabe.
Die Übersetzung des amerikanischen Originalmanuskripts besorgte Wolfgang Bonß unter Mitarbeit von Cornelia Rülke und Rosemarie Thrul.
Erstveröffentlichung 1980 unter dem Titel Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung, bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Bonß, bei der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart. Überarbeitet fand die deutsche Fassung Eingang in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band III, S. 1-224. – Das Originalmanuskript trägt den Titel German Workers 1929 – A Survey, Its Methods and Results. Eine englische Version erschien unter dem Titel The Working Class in Weimar Germany. A Psychological and Sociological Study, edited and introduced by Wolfgang Bonß, London (Berg Publishers) 1984.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band III, S. 1-224, in der die editorischen Anmerkungen von Wolfgang Bonß berücksichtigt wurden.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1980 by Erich Fromm; Copyright © 1981 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Die vorliegende Studie[1] wurde in Zusammenarbeit mit Anna Hartoch, Herta Herzog und Ernst Schachtel durchgeführt. Wichtige Beiträge leistete darüber hinaus Hilde Weiß. Paul F. Lazarsfeld war so freundlich, in allen Fragen der statistischen Materialbearbeitung zu beraten.[2]
[Anmerkung des Herausgebers: Da das Spezifische einer psychoanalytisch orientierten Sozialforschung in den zur Verfügung stehenden Quellendokumenten nicht erörtert wurde, werden in dieser Einleitung Abschnitte aus Erich Fromms zweiter empirischer Studie, Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes (1970b), zur Verdeutlichung eingefügt.[3]] Ausgangspunkt der Untersuchung ist die theoretische Annahme, dass Meinungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vertreten werden, relativ unverlässlich sind, falls sich die Umstände drastisch verändern. An sich ist eine Meinung nichts anderes als die Übernahme von Denkmodellen, die von der Gesellschaft allgemein geteilt oder von einer besonderen Gruppe vertreten werden, in diesem Fall von den deutschen Arbeitern und Angestellten. Wir nahmen an, dass nur solche Meinungen starke Motivationen zum Handeln darstellen, die in der Charakterstruktur eines Menschen verwurzelt sind – wenn es sich um „innerste Überzeugungen“ handelt; denn wenn eine Meinung in der Charakterstruktur verwurzelt ist, sollte man besser von einer Überzeugung als von einer Meinung sprechen. Tief verwurzelte Überzeugungen sind in der Tat sehr starke Motivationen für das Handeln, vorausgesetzt dass die Möglichkeiten für derartige Aktionen gegeben sind. (Das gilt im Übrigen für Überzeugungen jeder Art, ganz gleich ob sie rational oder irrational, gut oder böse, richtig oder falsch sind.) Wir folgerten aus dieser Annahme, dass nur dann, wenn wir die Charakterstruktur der deutschen Arbeiter und Angestellten genau kannten, ihre voraussichtliche Reaktion auf einen Sieg des Nationalsozialismus vorauszusehen sei. Unser Hauptinteresse galt also nicht dem Gesellschafts-Charakter im allgemeinen, sondern dem hinsichtlich der nationalsozialistischen Herausforderung relevantesten Aspekt: dem autoritären bzw. dem demokratisch-revolutionären Charakter. Wir wollten also eine Methode finden, mit der wir Befragungen durchführen und entsprechend unserer dynamischen Auffassung vom autoritären Charakter statistisch auch auswerten konnten.
Bei unserer Untersuchung gingen wir davon aus, dass es Analogien zwischen einem gesellschaftsbezogenen und einem persönlichen psychoanalytischen Interview gibt. Wenn ein Psychoanalytiker einen Patienten befragt, dann versucht er – noch bevor er die Methode der freien Assoziation und Traumdeutung anwendet – die unbewusste Bedeutung bestimmter Aussagen und Behauptungen, die der Betreffende vorbringt, [III-004] zu verstehen, eine Bedeutung, die der Patient vielleicht gar nicht zum Ausdruck bringen wollte oder die er zum Ausdruck bringt, ohne es zu merken. Psychoanalytische Interviews liefern eine Fülle von Beispielen für dieses Verfahren. Wenn jemand beim ersten Gespräch ungewöhnlich oft versichert, wie sehr er seine Frau liebt, dann aber ausführlich darüber spricht, was er im beklagenswerten Fall ihres Todes tun würde, dann braucht man kein Psychoanalytiker zu sein, um zu merken, dass er „es zu heftig beteuert“ und dass seine Liebesbeteuerungen vermutlich nicht das bedeuten, was er glaubt oder was er damit zum Ausdruck bringen möchte. Wir nahmen an, dass wir die gleiche Methode auch in Interviews zu ausgearbeiteten Fragen anwenden könnten. Technisch bedeutete das, dass uns auf unsere Fragen keine Antworten wie „ja“, „nein“, „sehr“, „ein wenig“ usw. hilfreich waren; vielmehr musste die spontane Antwort des Befragten vom Befragenden sofort wörtlich notiert werden. Die Einzelantworten wurden nicht mechanisch aufgelistet, sondern wir versuchten dadurch, dass wir jede einzelne Antwort sowie die Gesamtheit aller Antworten auf dem Fragebogen analysierten, die dynamischen Tendenzen im Charakter der Beantworter zu erkennen, welche für ihre politische Einstellung am meisten relevant waren. Außerdem interessierte es uns, die auf jedem Fragebogen zu erkennende Charakterstruktur mit allen übrigen sowie mit objektiven Daten wie Alter, Einkommen, Geschlecht und Bildungsgrad zu vergleichen.
Der Unterschied zwischen dieser Art des Fragens mit Hilfe eines „interpretativen Fragebogens“ und den meisten anderen für soziale Untersuchungen üblichen, betrifft nicht in erster Linie den Unterschied zwischen einem offenen Fragebogen und einem solchen mit vorformulierten Antworten. Der Unterschied liegt vielmehr vor allem in der unterschiedlichen Auswertung der Antworten begründet. Beim herkömmlichen Fragebogen benutzt man die Antworten als Rohmaterial oder man kodiert sie nach Verhaltenskategorien. Dann besteht die Aufgabe darin, sie statistisch zu analysieren, und zwar entweder nach der Häufigkeit jeder einzelnen Antwort oder durch eine Faktorenanalyse, bei welcher Gruppen von Antworten, die mit signifikanter Häufigkeit zusammen auftreten, nachgewiesen werden. Die Hauptaufgabe besteht dann darin, relevante Fragen auszuwählen und die Antworten auf möglichst fruchtbare Weise statistisch auszuwerten. Alle diese Schritte muss man auch bei einem interpretativen Fragebogen vornehmen, doch scheinen sie uns relativ einfach im Vergleich zu dem nur für den interpretativen Fragebogen charakteristischen Element, nämlich der Interpretation der Antworten auf ihre unbewusste oder unbeabsichtigte Bedeutung hin. Es handelt sich dabei – wie bei jeder anderen psychoanalytischen Deutung – um eine schwierige Aufgabe, die viel Zeit in Anspruch nimmt.
Man muss über die psychoanalytische Theorie und Therapie Bescheid wissen (und selbst eine Analyse gemacht haben), man braucht klinische Erfahrung und – wie bei allem andern auch – Geschicklichkeit und Begabung. Die psychoanalytische Interpretation von Assoziationen und Träumen wie auch von Antworten auf einem Fragebogen ist eine Kunst genau wie die medizinische Praxis, wobei bestimmte theoretische Grundsätze auf empirische Daten angewandt werden.
Die wichtigste Voraussetzung für eine zutreffende Deutung, das heißt die wichtigste Voraussetzung für die Richtigkeit der Ergebnisse der gesamten Untersuchung, ist die [III-005] Qualifikation dessen, der die Daten deutet. Die meisten Psychologen benützen Verhaltensweisen als Basis ihrer Arbeit. Sie sind unmittelbar demonstrierbar und leicht in beschreibbare Kategorien einzuordnen. Ihnen kommt die psychoanalytische Deutung höchst subjektiv, wenn nicht sogar unwissenschaftlich vor. Sie lehnen den „subjektiven“ Faktor bei der Deutung ab, weil er die Überprüfung der Angemessenheit der Deutung unmöglich mache. Wir wollen uns hier auf keine Diskussion über die wissenschaftliche Methode und die Probleme von „Tatsachen“ und „Beweisen“ usw. einlassen – eine Diskussion, die den Unterschied zwischen dem traditionellen mechanischen Modell der wissenschaftlichen Methode und dem Modell betrifft, wie es in der theoretischen Physik und in der Biochemie existiert. Wir möchten jedoch unterstreichen, dass das Problem der Subjektivität auch auf einem so respektablen Gebiet wie der Medizin vorhanden ist. Nehmen wir zum Beispiel die Auswertung eines Röntgenbildes. Wenn es sich um ein typisches Bild handelt, werden sogar die meisten Anfänger es auf die gleiche Weise deuten. Handelt es sich dagegen um ein atypisches Bild, so kann es vorkommen, dass sich selbst die erfahrensten Spezialisten nicht einig sind. Nur der weitere Verlauf der Krankheit oder eine Operation kann dann entscheiden, welche Interpretation richtig war. Ist die Auswertung einmal erfolgt und dient sie als Grundlage für die weitere Behandlung, dann muss man das Leben des Patienten der Annahme anvertrauen, dass die Interpretation eines tüchtigen Arztes vermutlich richtig ist. Tatsächlich ist seine Diagnose nicht im üblichen Sinn subjektiv. Er ist ein höchst geübter Beobachter, dessen Urteil das Resultat von Erfahrung, Geschicklichkeit, Intelligenz und Konzentration ist. Trotzdem kann er die Richtigkeit seiner Deutung nicht so beweisen, dass sie jeden überzeugen würde (was übrigens gelegentlich auch bei besonders komplizierten wissenschaftlichen Experimenten der Fall ist), und am wenigsten all jene Ärzte, die nicht über seine Geschicklichkeit und seine Begabung verfügen. Schließlich besteht ja auch noch die Möglichkeit, dass er sich irrt.
Im Fall der psychoanalytischen Deutung ist es nicht anders. Auch hier kann erst die zukünftige Entwicklung die Deutung „beweisen“. Außerdem dürfte – wie auf vielen anderen Gebieten der Wissenschaft – auch hier die innere Übereinstimmung der Deutung mit zahlreichen anderen Daten und mit theoretischen Annahmen dafür sprechen, dass sie richtig ist. Natürlich ist ein gewisses Maß an Ungewissheit der Preis, den der Psychoanalytiker zahlen muss, um zu einem tieferen Verständnis der wichtigsten Daten zu gelangen. Der traditionelle Verhaltenswissenschaftler besitzt oft eine größere Gewissheit, doch bezahlt er sie damit, dass er seine Forschung auf solche Probleme beschränken muss, die er mit seinen Methoden anzugehen vermag.
Wenn sich in dieser Studie auch nicht alle gestellten Fragen als für eine analytische Untersuchung fruchtbar erwiesen, so waren doch viele brauchbar und ließen eine bestimmte Struktur erkennen, die den gesamten Fragebogen durchzog, so dass man die Antworten auf die zweite Hälfte der Fragen bereits vermuten konnte, nachdem man die erste Hälfte analysiert hatte. [...]
Die offensichtliche Schwierigkeit der interpretativen Methode liegt darin, dass viele Antworten dem kulturellen Denkmuster der betreffenden Gesellschaft oder Gesellschaftsklasse entsprechen. Daher kommt in vielen Antworten nicht die emotionale Einstellung des einzelnen Beantworters, sondern vielmehr die Ideologie der von ihm [III-006] akzeptierten Gruppe zum Ausdruck. Woher wissen wir nun aber, was eigenständig und authentisch und was eine ideologische, übernommene Phrase ist? Zum einen ist es wichtig, die Ideologie und die Klischeevorstellungen der Gruppe zu kennen. Noch wichtiger aber ist das in der Psychoanalyse mit soviel Erfolg angewandte Prinzip, dass wir unsere Kenntnisse über die unbewussten Motivationen eines Menschen nicht in erster Linie daraus beziehen, was er mit allgemeinen oder sogar mit abstrakten Begriffen sagt, sondern aus den kleinen Details seiner Äußerungen und Formulierungen, aus der Wahl bestimmter Worte oder aus Widersprüchen zwischen verschiedenen Behauptungen, deren er sich selbst nicht bewusst ist, oder auch aus einer unangemessenen Überbetonung des einen oder anderen Gefühls. Es ist das kleine Detail in Verhalten und Ausdruck, das für die Psychoanalyse wichtig ist, und nicht die allgemeine Äußerung von Meinungen und Überzeugungen. Die beim interpretativen Fragebogen angewandte Methode berücksichtigt diese kleinen Details, welche die wichtigste Grundlage der Interpretation bilden.
Die Ergebnisse des interpretativen Fragebogens waren – so traurig sie vom politischen Standpunkt aus waren – hinsichtlich der angewandten Methode höchst ermutigend. Wir erhielten ein recht deutliches Bild von den autoritären, antiautoritären und ambivalenten Charakteren, das eine innere Konsistenz aufwies. Die statistische Auswertung ergab schließlich etwa 15 Prozent mit einem stark antiautoritären Charakter, etwa 10 Prozent mit einem autoritären Charakter und etwa 75 Prozent mit ambivalentem Charakter.[4]
Die vorliegende Studie wurde als ein erster Versuch durchgeführt, die sozialen und psychologischen Einstellungen von zwei großen Gruppen der deutschen Bevölkerung, nämlich der Arbeiter und Angestellten, zu erforschen. {Erkenntnisleitend für dieses Unternehmen} ⇒ war die Überzeugung, dass die Ausarbeitung einer Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung von einer allgemeinen Zunahme empirischen Wissens entscheidend abhängt, wobei vor allem Daten über gruppenspezifische individuelle Einstellungen und Persönlichkeitsstrukturen von Bedeutung sind.
Die amerikanische Sozialforschung hat den Weg zu umfassenden empirischen Untersuchungen aufgezeigt. Aber auch in der deutschen Literatur gab es einige Versuche in dieser Richtung. Wir wollen hier vor allem A. Lewensteins 1912 entstandene sozialpsychologische Untersuchung zur Arbeiterfrage erwähnen – die einzige Studie, die wie die unserige einen Fragebogen benutzte, um soziale Einstellungen und das Verhalten außerhalb der Arbeitssituation zu erfassen. In Lewensteins Arbeit vermisst man jedoch eine theoretische Interpretation des von ihm gesammelten Materials, während andere Autoren sich entweder nur mit isolierten Aspekten der Problematik (H. de Man, 1927) bzw. mit begrenzten Populationen (P. Lazarsfeld et al., 1933) befassten oder sich einer ausführlichen empirischen Materialsammlung bzw. -darstellung völlig entzogen (S. Kracauer, 1930).⇐[5]
Selbstverständlich gingen wir bei unserer Erhebung nicht davon aus, tiefgreifende Einsichten über den deutschen Arbeiter schlechthin zu gewinnen; dies wäre auf der Grundlage von insgesamt 3300 verteilten Fragebögen bei einer – wie zu erwarten – begrenzten Rücklaufquote auch kaum möglich gewesen. Wir glaubten jedoch, dass es vor dem Hintergrund der Erfahrungen und vorläufigen Ergebnisse möglich sein [III-008] werde, unsere Arbeit auf breiter Basis und mit verbesserten Texten fortzusetzen. ⇒Die Realisierung dieser Pläne wurde allerdings durch die politischen Bedingungen in Deutschland zunichte gemacht.⇐
Das Ziel unseres Fragebogens bestand in der Erhebung von Daten über Meinungen, Lebensformen und Einstellungen von Arbeitern und Angestellten. ⇒Wir wollten ein Bild davon bekommen, welche Bücher sie lasen, wie sie ihre Wohnungen einrichteten und wie ihre Lieblingsstücke in Theater und Film hießen. Uns interessierte, woran und an wen sie glaubten, was sie zu Themen wie Frauenarbeit, Kindererziehung und betriebliche Rationalisierung zu sagen hatten und wie sie zu ihren Kollegen und Vorgesetzten standen. Schließlich wollten wir ihre Einstellung zum Geldverleih an Freunde erfahren, ihre Beurteilung des deutschen Rechtssystems, ihre Meinung über die tatsächliche Machtverteilung im Staate – und ihre Ansichten zu einer großen Zahl anderer Themen, die später genauer darzustellen sind.⇐
Die Antworten der Befragten ermöglichten es, ein relativ umfassendes Bild vom Leben bestimmter Schichten der deutschen Bevölkerung zu rekonstruieren. Obwohl die erfasste Stichprobe numerisch gesehen nicht sehr groß war, hat dieses Bild eine beträchtliche historische Bedeutung, die um so höher ist, als die Befragten im allgemeinen repräsentativ für die gesellschaftlichen Gruppen waren, denen sie angehörten (vgl. „Zur Frage der Repräsentativität der Untersuchung“, unten S. 41-43). Trotz der inzwischen verstrichenen Zeit lohnt sich deshalb eine Veröffentlichung der Ergebnisse, denn die Jahre 1929-1930, in denen der Hauptteil des Materials gesammelt wurde, haben sich als ein Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung erwiesen.
Zusätzlich zu einer einfachen deskriptiven Darstellung der Antworten wurden diese auch in Abhängigkeit vom ökonomischen Status und von den politischen Orientierungen vergleichend analysiert. Hierbei traten spezifische Unterschiede zwischen den verschiedenen politischen und beruflichen Gruppen zutage. Diese wurden genauer herausgearbeitet und zu begründen versucht, um dann vorläufige Schlussfolgerungen zu ziehen. ⇒Es sei ausdrücklich betont, dass hiermit keine bestimmten Thesen „bewiesen“ werden sollen. Unser Material ist sowohl quantitativ als auch qualitativ viel zu gering, um dies leisten zu können. Es ging uns vielmehr darum, die angesichts des Datenmaterials naheliegenden theoretischen Schlussfolgerungen zu erörtern und Anregungen für neue empirische und theoretische Studien zu geben.⇐
Die Analyse der Antworten konzentrierte sich darauf, die Beziehung zwischen den emotionalen Antrieben eines Individuums und seinen politischen Meinungen herauszuarbeiten. Die Ereignisse in Deutschland nach Beendigung der Erhebung haben gezeigt, wie wichtig die Frage danach ist, in welchem Ausmaß die jeweiligen politischen Meinungen mit der Gesamtpersönlichkeit übereinstimmen; denn der Triumph des Nationalsozialismus enthüllte einen erschreckenden Mangel an Widerstandskraft in den deutschen Arbeiterparteien, der in scharfem Gegensatz zu deren numerischer Stärke stand, wie sie sich in den Wahlergebnissen und Massendemonstrationen vor 1933 gezeigt hatte.
Man könnte nun einwenden, dass das Engagement in politischen Organisationen wenig mit den Besonderheiten der Persönlichkeit zu tun habe, sondern ausschließlich durch Konvention und materielle Interessen bestimmt sei. Aber in diesem [III-009] Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass die deutschen Parteien, insbesondere die marxistischen, in der Regel jeweils bestimmte Weltanschauungen repräsentierten, die weit über politische Doktrinen im engeren Sinne hinausgingen. Es waren deshalb nicht nur die materiellen Interessen, die dazu führten, dass sich jemand einer der Linksparteien anschloss, sondern darüber hinaus boten diese Parteien auch genügend Spielraum, um individuellen Charakterzügen Ausdruck zu verleihen. Aber dies ist nur eine Seite des Problems.
Die Stärke und Verlässlichkeit der Überzeugungen ihrer Mitglieder waren auch wichtige Bestimmungsfaktoren für das Schicksal der politischen Parteien selber. Bei vielen Anhängern der Linksparteien bestand tatsächlich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Persönlichkeit und Parteiprogramm. Diese Menschen wünschten Freiheit, Gleichheit und Glück für alle: Sie hassten den Krieg und sympathisierten mit den Unterdrückten. Ihre Überzeugungen waren stark, und sie engagierten sich leidenschaftlich. Andere zeigten eine durchaus vergleichbare Einstellung, aber ihr gefühlsmäßiges Engagement war schwächer; ihre hauptsächlichen emotionalen Interessen konzentrierten sich auf die Familie, die Arbeit, das Hobby oder irgendwelche persönlichen Ziele. Sie hätten zwar niemals gezögert, die Linksparteien politisch zu unterstützen, aber die Stärke ihrer Überzeugungen war letztlich geringer. Sie folgten ihren Parteiführern, entwickelten jedoch kaum eigene Initiativen und tendierten dazu, den Kampf dann aufzugeben, wenn er mit persönlichen Risiken oder Opfern verbunden war.
Es gab schließlich noch einen dritten Typus, bei dem die politische Überzeugung, obwohl leidenschaftlich genug, nicht zuverlässig war. Diese Menschen waren von Hass und Ärger gegen alle erfüllt, die Geld besaßen und das Leben zu genießen schienen. Diejenigen Teile der sozialistischen Plattform, die auf den Umsturz der besitzenden Klassen zielten, sprachen sie sehr stark an. Auf der anderen Seite übten Programmpunkte wie Freiheit und Gleichheit nicht die geringste Anziehungskraft auf sie aus, denn sie gehorchten bereitwillig jeder mächtigen Autorität, die sie bewunderten, und sie liebten es, andere zu beherrschen, sofern sie selbst die Macht dazu hatten. Ihre Unzuverlässigkeit trat schließlich in dem Moment offen zutage, als ihnen ein Programm wie das der Nationalsozialisten angeboten wurde. Dieses Programm sprach nämlich bei ihnen nicht nur die Gefühle an, die das sozialistische Programm attraktiv erscheinen ließen, sondern auch jene Seite ihrer Natur, die der Sozialismus unbefriedigt gelassen oder der er unbewusst widersprochen hatte. In diesen Fällen wandelten sie sich von unzuverlässigen Linken in überzeugte Nationalsozialisten.
Angesichts der relativ großen Wahlerfolge der deutschen Linksparteien in den Jahren 1926 bis 1931 konnte damit gerechnet werden, dass die meisten der Befragten der einen oder anderen dieser Parteien nahestehen würden. Die Analyse und Interpretation ihrer Antworten musste deshalb auch auf die Grundüberzeugung der politischen Linken eingehen. Die Untersuchung der grundlegenden Persönlichkeitszüge der Probanden machte jedoch deutlich, dass diese häufig mit ihren politischen Überzeugungen nicht übereinstimmten – eine Diskrepanz, die beträchtlich zum Zusammenbruch dieser Parteien beigetragen haben dürfte.
Ein weiteres Ziel unserer Studie bezog sich auf das Feld der soziologischen [III-010] Forschungsmethoden selbst. Angesichts des häufigen Gebrauchs der Fragebogenmethode während der letzten Jahre ist die Überzeugung gewachsen, dass die reine Deskription und statistische Auszählung der bewussten Statements der Befragten nicht sehr weit führe. ⇒Vor allem, wenn das Ziel einer Untersuchung darin besteht, etwas über die Persönlichkeit der Probanden herauszufinden, halten wir es nicht für legitim, die Antworten in einem Fragebogen nur in ihrer vordergründigen Bedeutung zu präsentieren. Wir stützten uns dabei auf die grundlegende psychologische Arbeitsregel, dass die Äußerungen einer Person über ihre Gedanken und Gefühle auch bei größter subjektiver Ehrlichkeit nicht für bare Münze genommen werden können, sondern gedeutet werden müssen. Oder, um es genauer auszudrücken: Es ist nicht nur wichtig, was jemand sagt, sondern auch warum er es sagt. Die Antworten dürfen deshalb nicht bloß registriert werden, sie sind vielmehr auch inhaltlich zu interpretieren. Gleichzeitig wollten wir sie jedoch auch im politischen Sinne vergleichbar machen, und eben diese Kombination von quantitativem und qualitativem Ansatz bildet das methodologische Hauptproblem der Studie.⇐ Wir haben erkannt, dass dieser Kombinationsversuch noch zählreiche Mängel aufweist, aber andererseits sind wir der Überzeugung, dass es, wie auch in anderen Wissenschaften, besser ist, unter Inkaufnahme möglicher Fehler Neuland zu betreten, als nur bereits Bekanntes exakt zu wiederholen.
Da sich unser Fragebogen (s. Anhang 1, S. 212) auf Meinungen, Vorlieben und Gewohnheiten der zu untersuchenden Population bezog, konnten die erforderlichen Informationen nur durch eine Befragung der Probanden selbst gesichert werden. Hierbei boten sich grundsätzlich zwei Verfahren an: das direkte Interview oder der Fragebogen. Gegenüber dem Fragebogen hat das Interview einen großen Vorteil: Sofern es von jemandem geführt wird, der die psychologischen und sozialen Probleme der Interviewsituation gut kennt, ermöglichen die so gewonnenen Informationen einen bedeutend genaueren Einblick nicht nur in die gesellschaftliche Lage, sondern vor allem in die psychische Struktur der Befragten. Aus der Art und Weise, wie jemand antwortet – Intonation, Selbstsicherheit oder Mangel an Überzeugungskraft, Mimik und Gestik –, kann ein geschulter Interviewer in relativ kurzer Zeit ein präzises Bild von der untersuchten Persönlichkeit erhalten. Das „Wie“ der Antwort ist dabei häufig entscheidender als deren Inhalt, und es ist genau dieses „Wie“, das beim Fragebogen leicht verlorengeht. Darüber hinaus sichert das Interview gewöhnlich auch eine höhere Antwortquote, denn der Interviewer kann die Formulierung seiner Fragen der spezifischen Situation des Probanden anpassen und weitere Fragen stellen, falls dies notwendig sein sollte.
Für die hier vorliegende Untersuchung wurden jedoch diese Vorteile durch die Probleme des Interviews mehr als aufgewogen. Angesichts des höchst vertraulichen Charakters zahlreicher Fragen zu politischen Meinungen und Aktivitäten sowie zu persönlichen Verhältnissen war es von Anfang an klar, dass viele Leute auf Zusicherung strikter Anonymität bestehen würden. Unter diesen Umständen konnten selbst die [III-011] eindringlichsten Versicherungen zu Beginn eines persönlichen Gesprächs kaum so beruhigend wirken wie die Möglichkeit, einen ungekennzeichneten Fragebogen per Post zurückzusenden. Ein persönliches Interview wäre deshalb viel häufiger verweigert worden als die schriftliche Beantwortung eines Fragebogens. Da wir darüber hinaus Information von sehr vielen Leuten benötigten, hätte die Untersuchung auch wesentlich mehr geschulte Interviewer verlangt, als es Zeit und Geld erlaubten. Aus all diesen Gründen gelangten wir zu der Überzeugung, dass die Fragebogenmethode für unsere Zwecke besser geeignet sei.
Unsere erste, verhältnismäßig einfache Aufgabe bestand darin, die objektiven Lebensumstände der Befragten, also konkrete Fakten über ihren sozio-ökonomischen Status in Erfahrung zu bringen. Die Fragen zu diesem Problemkreis betrafen die berufliche Lage (Ausbildung, gegenwärtige Lage, Art des Betriebes, prozentualer Anteil und politische Ausrichtung der Angestellten), den Lebensstandard (Einnahmen und Ausgaben, Wohnverhältnisse, Aufwendungen für Kleidung, Nahrung, Tabak, Spirituosen und Vergnügungen), persönliche Daten (Alter, Geschlecht, Familienstand, Informationen über Eltern und Geschwister und deren sozialen Status), sowie schließlich Daten über Frau und Kinder (Herkunft der Frau, Ausbildung, Berufsaussichten und Gesundheitszustand der Kinder). Die Ausführlichkeit dieser Fragen bestimmte sich ausschließlich danach, wie genau wir die konkrete Lebenssituation der Probanden erfassen wollten.
Die Feststellung von Parteizugehörigkeit, Wahlverhalten, gewerkschaftlicher Betätigung und politischer Aktivität war gleichfalls relativ problemlos. Anders stellte sich jedoch die Situation bei jenen Fragen dar, die sich auf Weltanschauung und politische Orientierung sowie auf Vorlieben und Abneigungen der Befragten bezogen. Hier waren nicht nur unterschiedliche Akzentsetzungen bei der Formulierung, sondern auch völlig verschiedene Fragen und Fragenkomplexe denkbar. Die Auswahl der Fragen trug deshalb selbst experimentellen Charakter- konnte doch ihre Brauchbarkeit erst anhand der Ergebnisse beurteilt werden. Die für den Auswahlprozess maßgeblichen theoretischen Überlegungen sollen in den Analysen der Einzelfragen in Kapitel 3 („Politische, soziale und kulturelle Haltungen“, S. 44-164) kurz skizziert werden. Hierbei waren vor allem psychologische Erklärungen bedeutsam. Da wir es mit einer politisch interessierten Population mit ausgesprochenen Parteibindungen zu tun hatten, war insbesondere bei den politischen Fragen im engeren Sinne zu erwarten, dass die jeweiligen Antworten weniger die persönliche Meinung des Probanden wiedergeben würden, sondern eher die herrschende Parteilehre bzw. die aktuellen Kommentare der Parteipresse. Umgekehrt konnte aber auch vermutet werden, dass bei mehr persönlichen Fragen ohne offen erkennbare Verbindung zum politischen Bereich vorgeprägte Antworten in geringerem Maße auftreten würden; die Äußerung von Meinungen, Gefühlen und Einstellungen, welche der individuellen Persönlichkeitsstruktur entsprachen, dürfte in diesen Fällen vielmehr gefördert worden sein. So befasste sich beispielsweise eine Gruppe von Fragen mit Meinungen über Theater, Film, Literatur, Architektur, Musik und Radio. Der Durchschnittsbefragte wusste sicherlich, dass diese Gebiete in gewissen Grenzen mit der Politik verknüpft sind, aber die Fragen erlaubten trotzdem in einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß die Darstellung individueller Charakterzüge. Dies galt auch [III-012] für Fragen zum Verhältnis zu Kollegen, Freunden, Frau und Kindern, zu Wünschen und Hobbys sowie zur Einschätzung des eigenen Lebens und seiner Bestimmung; solche Fragen provozierten häufig Antworten, die – sofern sie nicht in konventioneller Form abgefasst waren – noch bedeutend mehr über den jeweiligen Charakter verrieten und durch politische Slogans nur indirekt tangiert wurden.
Um eine Beeinflussung des Antwortverhaltens durch den globalen Kontext zu verhindern, wurden die Fragen nicht gemäß der Logik der Untersuchung angeordnet, sondern absichtlich über den ganzen Fragebogen verstreut. Bei einer schriftlichen Befragung, die sich mit den Beziehungen zwischen politischer Einstellung, Persönlichkeitsstruktur und sozialem Status befasst, werden normalerweise skalierte Einstellungs- und Persönlichkeitstests verwendet. Beide Verfahren beanspruchen, Einstellungen und Persönlichkeitszüge messen zu können, und zwar mit einer größeren wissenschaftlichen Genauigkeit als alle anderen Methoden. Wenn dem tatsächlich so wäre, dann müsste es möglich sein, die Ergebnisse der Einstellungsmessungen mit denen der Persönlichkeitstests zu vergleichen und aussagekräftige Korrelationen zu entdecken. Auch hierbei treten spezifische Probleme auf, die uns bewogen haben, den Fragebogen in seiner vorliegenden Form vorzuziehen. (Vgl. zum Folgenden auch E. G. Schachtel, 1937.)
Einstellungsmessungen und Persönlichkeitstests, welche auf die Bildung von Skalen hinauslaufen, die sich aus einer Aufsummierung von Antworten mit festgelegten numerischen Werten ergeben, haben eine prinzipielle Homogenität der Antworten zur Voraussetzung: Diese dürfen nicht in freier Form erfolgen, sondern die Probanden müssen aus einer begrenzten Zahl vorgegebener Antworten eine auswählen. Die hierbei zur Verfügung stehenden Alternativen sind entweder nach dem „Ja-Nein“- oder nach dem „Mehr-Weniger“-Typus konstruiert, je nachdem, ob die Häufigkeit eines bestimmten Verhaltens oder die Abstufung spezifischer positiver bzw. negativer Einstellungen erfasst werden soll. Diese Einschränkung der Bandbreite der Antworten ermöglicht es dann, jeder Antwort einen bestimmten Standardwert zuzuordnen, wobei gelegentlich durch Subtraktion entgegengesetzter Momente oder durch Quotenbildung zusätzliche Verfeinerungen vorgenommen werden. Die durch Addition der jeweiligen Einzelwerte entstandene Punktzahl – das Ergebnis der „Messungen“ – bedeutet jedoch eine weitgehende Entwertung der individuellen Teilantworten. Dieselbe Gesamtpunktzahl kann sich bei zwei Probanden aus völlig unterschiedlichen Einzelantworten zusammensetzen, welche, ihrem Kontext entrissen und in Zahlen verwandelt, ihre ursprüngliche Bedeutung einbüßen. Was gemessen worden ist, bleibt so letztlich unklar und unbestimmbar; die individuelle Struktur der Einstellung oder der Persönlichkeitszüge geht auf diese Weise verloren.
Ein weiterer Nachteil der Einstellungsmessungen liegt in der Beschränkung der Antworten auf einige wenige festgesetzte Alternativen. In den meisten Fällen wird die vorgegebene Liste kaum alle möglichen Antworten berücksichtigen können. Sie legt dem Befragten Antworten in den Mund, die er nur gibt, weil er sich für eine Alternative entscheiden muss, auf die er vielleicht selber niemals gekommen wäre. Dieser Mangel wäre zum Beispiel bei der Frage 426 stark ins Gewicht gefallen, wo es um eine Aufzählung der am meisten geschätzten Personen in der Geschichte geht. Bei [III-013] der Anwendung des Multiple-Choice-Verfahrens wäre es unmöglich gewesen, auch nur die häufigsten Nennungen aufzuführen, ohne damit den Rahmen eines Fragebogens zu sprengen.
Bei vielen anderen Fragen zu Meinungen und Einstellungen erscheint es zwar durchaus möglich, eine einigermaßen vollständige Antwortliste zu erstellen. Aber insofern diese Fragen zur Analyse der Persönlichkeitsstruktur dienen sollten, bestanden zwei weitere Einwände. Betrachten wir beispielsweise die häufig gebrauchten „Wahr-Falsch“-Einstellungstests, bei denen der Befragte zu einer Reihe von Statements „wahr“ oder „falsch“, manchmal auch „unsicher“ ankreuzen kann. Ein „naiver“ Proband mag auf diesem Wege durchaus dasjenige Statement auswählen, das seiner tatsächlichen Einstellung am nächsten liegt, so dass fast die gleiche Meinung zum Ausdruck kommen würde, wie bei einer unstrukturierten Beantwortung. Für einige unserer Fragen konnte eine solche „naive“ Unvoreingenommenheit als vorherrschend angenommen werden. Vor allem bei politischen Fragen ließ sich diese Vermutung jedoch kaum aufrechterhalten. Ein Großteil der Befragten war politisch geschult und hätte deshalb von den vorgegebenen möglichen Statements genau jene positiv beurteilt, die ihrer Ansicht nach der jeweiligen Parteilinie entsprachen. So neutral die Formulierung der Antwortalternativen auch gehalten sein mochte, in diesen Fällen hätten die betreffenden Fragen stets einen suggestiven Beigeschmack bekommen. Sie riefen die Erinnerung an die verschiedenen Parteislogans wach oder an das Thema eines Artikels in der Zeitung vom Vortage. Konnte demgegenüber der Befragte seine Antwort eigenständig formulieren, so entsprach dies sicherlich weit eher seiner tatsächlichen Haltung.
Der Grad, in dem individuelle Antworten durch Suggestion beeinflusst werden, hängt von zahlreichen Momenten ab. Zu erwähnen ist hier etwa die „Fangkraft“ einer Frage, das heißt die Intensität ihrer Beziehung zu Themen, auf die gewöhnlich durch Außeneinwirkung stereotyp reagiert wird. Ferner die Fähigkeit des Probanden, diese Beziehung zu durchschauen und reflektierte Antworten zu geben. Ein weiterer äußerer Faktor liegt in der Situationseinschätzung des Befragten, welche ihn dazu veranlassen kann, „richtige“ Antworten zu geben. Hierbei ist die affektive Situation bei der Beantwortung des Fragebogens (Gedanken über dessen Ziel, über die Leute, die ihn verteilt haben usw.) ebenso wichtig wie die allgemeine gesellschaftliche Lage des Probanden. Frage 423 lautete zum Beispiel: „Wodurch kann Ihrer Meinung nach die Welt verbessert werden?“ Falls die Befragten in einer vorgegebenen Liste die Antwort „Sozialismus“ entdeckt hätten, so hätten wahrscheinlich die meisten, wenn nicht alle Anhänger der Linksparteien diese Alternative angekreuzt. Die überraschenden Ergebnisse, wie sie sich durch Zulassung der persönlichen Ausdrucksweise ergaben, insbesondere die relative Seltenheit der Antwort „Sozialismus“, wären hierdurch jedoch völlig verlorengegangen.[6] All dies führt bei Fragebögen mit vorstrukturierten Antworten zu einer kritikablen Einschränkung ihres Wahrheitsgehaltes. [III-014]
{Ein weiterer Einwand gegen die Verwendung der Multiple-Choice-Technik lässt sich folgendermaßen formulieren:} Abgesehen von der praktisch unumgänglichen Ausblendung möglicher Antworten und dem Problem einer inhaltlichen Verfälschung durch Suggerierung „richtiger“ Statements, gehen auch jene Momente an Individualität verloren, die sich in den Besonderheiten der sprachlichen Formulierung niederschlagen. Für eine richtige Beurteilung der Persönlichkeit ist aber die individuelle Ausdrucksform häufig entscheidender als die Antwort selber: C’est le ton qui fait la musique. Manchmal mag der eigentliche Inhalt einer Antwort völlig unerheblich sein, während die Art und Weise der Formulierung ein bezeichnendes Licht auf den Charakter des Befragten wirft. Bei genügender Erfahrung mit den Antworten in psychologischen Tests kann der Forscher bereits an geringfügigen Ausdrucksnuancierungen erkennen, dass der Befragte vielleicht genau das Gegenteil von dem meint, was er tatsächlich sagt. Die wichtige Frage, ob eine Antwort bloße Konventionen widerspiegelt oder innerer Überzeugung entspringt, kann auf der Grundlage von Prüflisten kaum entschieden werden, wohl aber häufig bei Betrachtung ihrer Formulierung. Auf eben diese Informationsquelle verzichtet man, wenn man keine offenen Frageformulierungen verwendet. Unsere Argumente gegen die Multiple-Choice-Technik lassen sich natürlich nicht auf alle Arten von Fragen beziehen. Fragen nach objektiven Gegebenheiten wie Familienstand, Kinderzahl und Wohnverhältnissen erlauben grundsätzlich keine Antworten, in denen Einflüsse der Persönlichkeit erkennbar wären. In diesen Fällen sind Prüflisten vorzuziehen, da mit ihrer Hilfe der hier gewünschte Informationstypus exakt abgefragt werden kann. Gerade in einer Untersuchung, die auf die Aufdeckung individueller Persönlichkeitszüge zielt, werden Prüflisten jedoch dann unfruchtbar, wenn eine Antwort in irgendeiner Weise individuelle Gesichtspunkte, Einstellungen, Vorlieben und Abneigungen mit einschließt.
In einigen Fällen war die Formulierung der Fragen unklar oder falsch, so dass Schwierigkeiten bei ihrer Beantwortung entstanden. Hier sind vor allem zwei wesentliche Fehler zu nennen: Zum einen wurden verschiedentlich zwei Fragen oder zwei Perspektiven in einer einzelnen Frage zusammengefasst (vgl. Frage 318). Zum anderen war in dem verteilten Vordruck nicht immer eindeutig zu erkennen, ob die Frage „Warum?“ bzw. „Was sind Ihre Gründe?“ sich nur auf die unmittelbar vorangehende oder auch auf die davor gestellte Frage bezog (vgl. Frage 324|25).
Die Verteilung der Fragebögen erfolgte durch Freiwillige, die aufgrund ihrer beruflichen Situation mit zahlreichen Arbeitern und Angestellten in Kontakt standen. Unsere Helfer waren Beschäftigte in kommunalen und staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen, [III-015] Ärzte, Zeitungsverleger, Lehrer in der Erwachsenenbildung, Mitglieder von Konsumvereinen sowie Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre. Sie bildeten einen repräsentativen Querschnitt durch alle politischen und gewerkschaftlichen Richtungen und waren daher in der Lage, eine Teilnahme von Mitgliedern dieser Gruppen zu sichern. Die relativ große Zahl der Mitglieder von Linksparteien in unserer Stichprobe entsprach dabei der tatsächlichen politischen Verteilung von Arbeitern und Angestellten in Großstädten zum Untersuchungszeitpunkt.
Jeder Fragebogen, den die Verteiler erhielten, war mit einem Begleitschreiben und einem frankierten Umschlag versehen, adressiert an das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt, das die Untersuchung durchführte. Der Brief enthielt einen Hinweis auf den rein wissenschaftlichen Charakter der Enquête sowie die Bitte, alle unklaren Fragen nicht zu beantworten. Auf der letzten Seite des Fragebogens befand sich ein abtrennbares Blatt für Name und Adresse des Befragten, das nur bei der Bereitschaft zur Teilnahme an weiterführenden Umfragen ausgefüllt werden sollte. Um auch hier die Anonymität zu sichern, sollten diese Zettel sofort nach Empfang des Fragebogens von diesem abgetrennt werden. Die ersten Bögen wurden 1929 verteilt, weitere folgten in periodischen Abständen; die letzten Rücksendungen erhielten wir dann Ende 1931.
Eine Untersuchung dieser Art war damals verhältnismäßig neu in Deutschland und traf deshalb auch auf manche Widerstände. Wie angedeutet gab es zwar schon früher eine Anzahl empirischer Studien, aber wie im Fall der Erhebung des Gewerkschaftsbundes der Angestellten im Jahr 1931 konzentrierten sich diese hauptsächlich auf eine deskriptive Darstellung ökonomischer Gegebenheiten, die kaum oder gar nicht weiterführend analysiert wurden. Die Bedenken gegen unsere Studie richteten sich entweder gegen den wissenschaftlichen oder praktischen Wert einer solchen Untersuchung oder waren direkt politischer Natur. So wurde eingewandt, dass eine ordnungsgemäße Ausfüllung des Fragebogens nicht gesichert sei, da die ins Auge gefassten Zielgruppen nicht über die notwendigen Informationen zur Beantwortung aller Fragen verfügten. Die politischen Parteien zeigten grundsätzlich eine mehr oder weniger ablehnende Haltung; offiziell erhoben sie den Einwand, dass der persönliche Charakter sowie die große Anzahl der Fragen ihre Mitglieder stören könnte, aber tatsächlich waren sie sehr misstrauisch in Bezug auf die möglichen Schlussfolgerungen der Untersuchung.
Angesichts der Widerstände der politischen Parteien war zu erwarten, dass die Teilnehmer der Umfrage überproportional häufig zu einer kritischen und unabhängigen Einstellung gegenüber ihrer Partei tendieren würden: Aber da die offizielle Ablehnung erst zu einem relativ späten Zeitpunkt der Enquête deutlich wurde, ist nicht anzunehmen, dass die Repräsentativität des gesammelten Materials über Gebühr gelitten hat. Unsere Stichprobe weist jedoch zweifellos einige Verzerrungen auf. Mit ihrer Bereitschaft, mehr als 200 Fragen zu beantworten, verkörperten die Teilnehmer einen ziemlich aktiven und aufgeweckten Typus. Sie verfügten über ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Interesse an den behandelten Problemen und waren couragiert genug, um das Risiko einer Beantwortung auf sich zu nehmen. Die Untersuchung erreichte sicherlich nicht jene völlig passiven Schichten, die den [III-016] sozio-ökonomischen Problemen ihrer Zeit gedankenlos und uninteressiert gegenüberstanden. Ebenso wurden die Furchtsamen und Misstrauischen kaum erfasst. Beide Typen dürften jedoch für die deutschen Arbeiter und Angestellten von 1931 kaum repräsentativ sein.
Einen Einblick in Antwortmotivation und allgemeine Einstellung der Befragten erlauben auch die eigenständigen Zusatzbemerkungen, welche die Fragebögen durchziehen oder am Ende vermerkt sind. Eine Gruppe kritisierte die Untersuchung überhaupt: Es wurde der praktische Wert solcher Studien in Frage gestellt und darauf hingewiesen, dass auch die größten Forschungsanstrengungen nicht in der Lage seien, den Lebensstandard der Unterprivilegierten zu heben. Andere bezweifelten die Brauchbarkeit der gestellten Fragen oder die Zuverlässigkeit bzw. Ernsthaftigkeit der zu erwartenden Antworten. Obwohl absolute Anonymität zugesichert worden war, fanden sich auch Argumente für eine Antwortverweigerung, und ein Mann bemerkte am Ende eines ziemlich komplett ausgefüllten Bogens, dass dieser „ein starkes Stück Indiskretion“ sei.
Von einigen Teilnehmern kamen auch kritische Vorschläge zur Modifikation des Fragebogens oder zur Aufnahme von Zusatzfragen. Hierbei handelte es sich hauptsächlich um Arbeitslose und Alleinstehende, die ihre spezifische Situation nicht erfasst sahen und bestimmte Ersatzfragen verlangten, während die vorgeschlagenen Zusatzfragen praktisch alle denkbaren Themen (Sexualität, Moral, Erziehung usw.) betrafen. Eine weitere Gruppe verfasste ausführliche Kommentare zu sozio-ökonomischen Problemen, und einige Befragte machten genaue Angaben über ihre persönlichen Lebensumstände. Diese Statements, die mit und ohne Verbindung zu unseren Fragen auftauchten, offenbarten zumeist Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen.
Wesentliche Antriebsmomente zur Beantwortung des Fragebogens schienen somit einerseits in dem Wunsch zu liegen, die eigene Meinung zu wichtigen Problemen zu artikulieren, um so vielleicht zur Schaffung besserer Bedingungen beizutragen, sowie andererseits in dem Bedürfnis, sich selbst und die eigene Einsamkeit mitzuteilen. Einige Arbeitslose erzählten sogar nicht nur von ihren persönlichen Schwierigkeiten, sondern baten auch direkt um Hilfe; offensichtlich hatten sie den Namen „Institut für Sozialforschung“ fälschlicherweise für die Bezeichnung einer Wohlfahrtseinrichtung gehalten.
Wie bereits angedeutet, enthielt der Fragebogen grundsätzlich zwei Typen von Fragen: Der eine bezog sich auf die objektiven Lebensumstände oder den Status der Befragten, der andere auf ihre spezifische Persönlichkeitsstruktur. Fragen des ersten Typus suchten anhand verschiedener Merkmale die Lage des Probanden als Mitglied einer sozialen Gruppe objektiv zu beschreiben. Hierzu zählten Alter, Wohnort, Beruf, Einkommen, Lebensstandard und Familienstand, aber auch die Mitgliedschaft in gesellschaftlich einflussreichen Verbänden oder Organisationen wie Kirchen oder [III-017] Parteien. Unsere Methode der Klassifizierung entsprach dabei den üblichen Verfahren und bedarf keiner weiteren Erläuterung. {Zur Differenzierung unserer Analysen wurden allerdings bei der Auswertung an einigen Stellen, wie beispielsweise bei der Gruppierung der Befragten nach politischen Typen, verschiedene Klassifikationen bzw. Fragen kombiniert und Indices gebildet, wobei wir uns auf die von Paul Lazarsfeld entwickelten Typologisierungsvorschläge bezogen haben. (Vgl. E. G. Schachtel, 1937.)} (...)
Bei Fragen zu persönlichen Gewohnheiten, Vorlieben, Meinungen oder Einstellungen variiert die Bandbreite möglicher Antworten grundsätzlich stärker als bei Fragen zum Status. Das Klassifikationsproblem verschärft sich und ist bei einem offenen Fragebogen noch bedeutend schwieriger als bei einem geschlossenen. Beim letzteren werden standardisierte Antworten gegeben, die aufgrund ihrer qualitativen Eindeutigkeit eine unmittelbare Quantifizierung erlauben. Bei offenen Fragen hingegen ist eine derartige Einheitlichkeit der Antworten nicht gegeben: Diese sind vielmehr von Person zu Person deutlich verschieden und manchmal ergeben sich vielleicht nur einige identische Antworten. Eine solche Ungleichheit wäre nur dann kein Handikap, wenn jeder Fragebogen ausschließlich als Gesamtheit analysiert werden würde. Sollen jedoch einzelne Fragen aus allen Bögen statistisch verglichen werden, so ist eine Vergleichsgrundlage zu schaffen. Trotz aller Differenzen im Ausdruck sind die Antworten deshalb auf eine kleine Anzahl statistisch bearbeitbarer Kategorien zu reduzieren. Ob dabei der Vorteil von offenen gegenüber geschlossenen Fragebögen, der in der Erfassung individueller Ausdrucksnuancen besteht, erhalten bleibt, hängt von der Sorgfalt ab, mit der diese Kategorien gebildet werden und die Zuordnung der Antworten erfolgt.
a) Deskriptive Klassifikationen: Die Perspektiven zur Klassifizierung der Antworten bestimmen sich stets aus dem Untersuchungsziel und den damit verbundenen Hypothesen. Oft interessierten uns Meinungen und Einstellungen, deren Struktur aus den Antworten unmittelbar sichtbar wurde. Die Antworten ließen sich in diesen Fällen nach ihrem gemeinten Sinn unter Bezug auf den klassifikatorischen Aspekt der Frage gruppieren (vgl. Vgl. E. G. Schachtel, 1937), so dass von einer deskriptiven Klassifikation zu sprechen ist. (...)
Manchmal beschränkt sich eine deskriptive Klassifikation allerdings nicht auf die Auflistung der Antworten unter einer bestimmten Perspektive, sondern bewertet sie zugleich. Bei den kritischen Antworten auf die Frage 242 („Wie gefallen Ihnen modern gebaute Siedlungshäuser?“) unterschieden wir beispielsweise zwischen inhaltlicher Ablehnung und nebensächlicher Kritik. Die Antworten wurden danach differenziert, ob sich die Kritik gegen zentrale Elemente des modernen Wohnungsbaus richtete oder nur gegen Details. Es handelte sich hier aber immer noch um eine deskriptive Klassifikation, auch wenn diese aufgrund der zugrunde gelegten Kategorien bewertenden Charakter erhielt. Eine klare Grenze zwischen „reiner“ und „bewertender“ Beschreibung lässt sich allerdings kaum ziehen. Durch die Auswahl bestimmter Aspekte der Antworten vollzieht jede Klassifikation implizit eine Bewertung. Die [III-018] Grade der Bewertung variieren jedoch beträchtlich, weshalb es wichtig ist, auf dieses Element der Klassifikation zu achten.
Bei vielen Fragen gibt es nun mehr als einen Klassifikationsaspekt. Häufig erwächst eine Kategorie aus einer Merkmalskombination, die sich auf verschiedene Klassifikationssysteme bezieht. So fanden bei der Frage 319 („Wie und wo verbringen Sie am liebsten das Wochenende?“) folgende Aspekte Berücksichtigung: Die Art der Aktivität, der Ort, an dem das Wochenende verbracht wurde, sowie die dabei beteiligten Personen. Nur sehr wenige Antworten erbrachten genügend Material zu allen drei Punkten; meist wurden zwei Aspekte benannt – wie z.B. der Ort („zu Hause“) – und fast immer die Familie als beteiligter Personenkreis. Aus diesem pragmatischen Grund ergab sich die Antwortkategorie „Zu Hause mit meiner Familie“, in der zwei Klassifikationsaspekte kombiniert wurden. Die Logik einer solchen Kombination sowie die Anwendung der „pragmatischen Reduktion“ sind von Paul F. Lazarsfeld (1937) beschrieben worden.
b) Interpretative Klassifikationen: Mit einer Anzahl von Fragen zielten wir auf die Aufdeckung von Persönlichkeitszügen oder Einstellungen, die nicht offen abgefragt werden können. Was die Befragten für ihre Handlungsmotivationen halten, sind oft „Rationalisierungen“, hinter denen sich die eigentlichen Motive verbergen. Wir wollten aber nicht nur verstehen, was jemand denkt oder tut, sondern auch, warum er dieses macht. Hätten wir ihn jedoch offen nach seinen Gründen gefragt, so wären zumeist nicht diese, sondern die Handlungsrationalisierungen zutage gekommen. Bestimmte Verhaltensformen haben aber nach unserer Vermutung einen „physiognomischen“ Charakter, das heißt sie können auf tiefer liegende Persönlichkeitszüge verweisen, die durch eine sorgfältige Deutung aufgedeckt werden können. Soweit wir an Informationen interessiert waren, die weder in der Frage noch in der Antwort direkt auftauchten, war eine Klassifizierung der Aussagen erst nach einer Deutung ihrer verdeckten Bedeutungen möglich. Gegenüber einem „deskriptiven“ Vorgehen, bei dem die Antworten unmittelbar nach ihren manifesten Inhalten gruppiert werden, lässt sich dieses Verfahren als deutende oder interpretative Klassifikation kennzeichnen.
Eine interpretative Kategorisierung muss die ursprünglichen Antworten in die Sprache der zugrunde liegenden Persönlichkeitszüge übersetzen. Hierbei spielen die individuellen Ausdrucksnuancen eine wesentliche Rolle, die bei einer Aufschlüsselung nach den manifesten Inhalten unbeachtet bleiben. Der Nachteil dieser Verfahrensweise liegt darin, dass die Klassifikationskategorien bereits auf den gedeuteten Antworten aufbauen, so dass der Leser mit dem eigentlichen Material nur indirekt in Berührung kommt. Eine interpretative Klassifikation ist deshalb unkontrollierbarer als eine deskriptive, und die möglichen Fehler hängen von der Sorgfalt der Interpretation selber ab. Der theoretische Teil der Fragebogenanalyse beschränkt sich aber nicht auf die Ausarbeitung eines stimmigen Klassifikationssystems und dessen Auswertung; auch die Zuordnung der Antworten zu den einzelnen Kategorien stellt eine wichtige theoretische Aufgabe der Untersuchung dar.[7]
Beispiele für eine interpretative Klassifizierung finden sich vor allem bei den Fragen zu kulturellen Themen (Lieblingsbücher, Filme, Bühnenstücke, Bilder). Bei der [III-019] Gruppierung der diesbezüglichen Antworten benutzten wir aufgrund unserer theoretischen Vorüberlegungen u. a. die Kategorien „individuell“ und „konventionell“. In der Regel gaben die Befragten nur einen Titel oder eine Liste mit Buchtiteln, Filmen, Theaterstücken oder den in ihrer Wohnung aufgehängten Bildern an. Eine Untersuchung, in der es um die statistische Erfassung der Verbreitung bestimmter Bilderarten geht, könnte die jeweiligen Antworten nach Kategorien wie „Kopie“, „Reproduktion“ und „Original“ einteilen oder mit Bezeichnungen wie „Genre“, „Stillleben“, „Landschaft“, „Porträt“ arbeiten. Wir befassten uns demgegenüber mit der Beziehung zwischen den Bildern und ihren Besitzern. Insofern die Informationen darüber „physiognomische“ Daten darstellten, interessierten uns die Bilder nicht als solche, sondern nur als Indikatoren für das spezifische Verhältnis der Befragten zu kulturellen Themen. Kennt man die jeweils angegebenen Objekte sowie deren schichtspezifische Bedeutung, so lässt sich die Art dieses Verhältnisses bereits aus den aufgeführten Titeln oder Namen erschließen.
Die Beziehung zu kulturellen Themen wurde als „individuell“ eingestuft, wenn der Befragte sich nicht an Schulweisheiten oder Tagesmoden orientierte, sondern seine Auswahl offenkundig gemäß seinen eigenen künstlerischen Interessen traf; er musste eine unvoreingenommene Einstellung zeigen, die Ergebnis reflektierter Erfahrungen war, und nicht bloß eine Anpassung an vorgeprägte Muster zum Ausdruck brachte. Eine „konventionelle“ Einstellung war demgegenüber frei von jedem mehr persönlichen Interesse und beruhte auf einer Einstellungsschablone, die von der Schule herrührte oder von Herrn Meier oder Müller abgeschrieben war. Aus den latenten und manifesten Inhalten der Antworten ließ sich der Schluss ziehen, ob jemand „konventionell“ oder „individuell“ eingestellt war, und mit diesen Kategorien beschrieben wir dann ein qualitatives Merkmal der Persönlichkeit des Befragten.
Ein weiteres Beispiel für eine interpretative Klassifikation bildete die Kategorie „Unternehmerstandpunkt“, wie sie bei der Frage 135 („Was denken Sie über Rationalisierungsmaßnahmen?“) Verwendung fand. Antworten, die unter diese Kategorie fallen, enthalten weder das Wort noch den Begriff „Unternehmerstandpunkt“ und weisen sowohl zustimmende als auch ablehnende Stellungnahmen auf. Eine Antwort wie: „Rationalisierung ermüdet den Arbeiter und macht ihn arbeitsunwillig“ unterscheidet sich auf rein deskriptiver Ebene kaum von dem Satz, dass Rationalisierungen für Übermüdung und nervliche Überbeanspruchung verantwortlich seien. Aber der Gebrauch des Ausdrucks „arbeitsunwillig“ lässt darauf schließen, dass der Befragte die als schädlich angenommenen Folgen der Rationalisierung aus der Perspektive des Unternehmers beurteilt. Wird demgegenüber allein die Tatsache herausgestellt, dass Rationalisierung für die Beschäftigten stets verschärften Stress bedeutet, so werden ihre Auswirkungen vom Blickwinkel des Arbeiters aus gesehen. Indem wir die erste Antwort als unternehmergeprägt ansahen, interpretierten wir sie nach der sie kennzeichnenden Einstellung zum Produktionsprozess, die als Identifikation mit dem Unternehmerstandpunkt beschrieben werden kann.
In diesem Fall widerspricht unsere Deutung kaum den bewussten Äußerungen des Probanden, aber der Gegensatz zwischen den latenten und manifesten Gehalten einer Antwort kann bisweilen durchaus scharf hervortreten. Illustrativ sind in diesem [III-020] Zusammenhang die Fragen 434|35 („Verleihen Sie Geld oder Gegenstände an Freunde? Ja-Nein; Warum (nicht)?“). Hiermit wollten wir einen Einblick in das Verhältnis der Befragten zu ihrem Freundeskreis gewinnen. Eine Bereitschaft zum Verleihen von Geld oder anderen Dingen deutet nach unseren Überlegungen darauf hin, dass der Wille zur Hilfe stärker ist als die Freude am Besitz oder die Furcht vor Verlusten. Ein Befragter gab an, dass er sowohl Geld als auch Gegenstände ausleihe, da Freunde einander helfen sollten. Eine andere Antwort lautete demgegenüber, dass man kein Geld verleihen solle, da hierdurch die Freundschaft zerstört werde. Beides mal wird hier die Bedeutung der Freundschaft betont, aber während der erste das Ausborgen unter Freunden für eine Pflicht hält, gelangt der zweite zu genau entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Würden wir beide Antworten wörtlich nehmen, so könnte man sie etwa der Kategorie „positive Bewertung von Freundschaft“ zuordnen. Aber es bedarf keiner großen psychologischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass hinter der Weigerung, etwas zu verleihen, nicht die Furcht vor dem Verlust eines Freundes steht, sondern Angst vor Verlust der Leihgabe. Die objektive Bedeutung der Antworten wird dabei auch nicht durch die Tatsache berührt, dass der Befragte tatsächlich das Gegenteil glaubt oder zumindest weismachen will. Dies ist vielmehr ein typischer Fall von Rationalisierung: Mit Hilfe einer moralischen Entschuldigung soll etwas legalisiert oder – besser – verheimlicht werden, was der Befragte anderen und wohl auch sich selbst nicht zugestehen will oder kann. Diese Art von Antworten haben wir unter die Kategorie „moralisierende Rationalisierungen“ subsumiert.
Im Gegensatz zu dem oben erwähnten Fall gibt es allerdings bei anderen Antworten auf diese Fragen keinen unmittelbaren Anhaltspunkt dafür, ob eine Rationalisierung oder ein unabweisbares Faktum vorliegt. So lässt sich aus der Aussage, dass man nichts verleihen könne, weil man selbst nichts habe, nicht ohne weiteres schließen, dass der Betreffende nichts verleihen will. Häufig stellt das Armutsargument aber selbst eine offene Rationalisierung dar, und wie wir feststellen konnten, wurde es vor allem von Befragten mit höherem Einkommen angeführt.
Ein schlagendes Beispiel für diese Einstellung findet sich im Fragebogen Nr. 66. Der Befragte lebte in ständiger Angst, er könne mit seinem Verdienst nicht auskommen und übte eine übertriebene Sparsamkeit. Das Rationalisierungsargument, er habe kein Geld, findet sich immer wieder. Sein Einkommen (Techniker, verheiratet, ein Kind) betrug DM 444,- im Monat und hiermit lag er über dem Durchschnitt unserer höchsten Verdienstgruppe. Trotzdem gab er folgende Antworten:
Trotzdem war das Problem immer eindeutig entscheidbar, so dass die Antworten letztlich mit eher deskriptiven Techniken bearbeitet worden sind. Wie bei vielen anderen Fragen wurden somit interpretative und deskriptive Klassifizierungen ergänzend gebraucht. Kann man die gewünschten Informationen vom Befragten ohne Schwierigkeiten bekommen, so sind die interpretativen Techniken auch zweifellos unnötig. Sie erweisen sich aber oft dann als fruchtbar, wenn die Probanden entweder nicht in der Lage sind, die gewünschte Auskunft zu geben oder sich gegen eine wahrheitsgemäße Beantwortung sperren. Die bereits umrissenen Kategorien „individuell“ und „konventionell“ waren beispielsweise deshalb notwendig, weil die Untersuchungsteilnehmer unfähig waren, direkt zu antworten: Die interpretative Klassifikation bezieht sich hier auf Einstellungen, die den Befragten kaum bewusst waren und die sie deshalb auch nicht als solche artikulieren konnten.
In anderen Fällen dürften gesellschaftliche Tabus dafür verantwortlich gewesen sein, dass die Probanden ausweichend oder gar nicht antworteten. Ausschlaggebend ist hier die Tatsache, dass sie ihre eigentlichen Gedanken oder Gefühle mehr oder weniger verdrängt haben, so dass sie ihnen nicht oder kaum mehr bewusst sind. Eine Mischung aus Widerstand und Unfähigkeit zeigt sich auch bei denjenigen Befragten, die ihre Weigerung, etwas an Freunde zu verleihen, mit moralisch-ideologischen Begründungen rechtfertigten. Einige Untersuchungsteilnehmer glaubten an ihre eigenen Angaben und waren sich des rationalisierenden Charakters ihrer Selbstdarstellung nicht bewusst; andere wussten jedoch durchaus, dass ihre vorgeschobenen Gründe die tatsächlichen Motive verdeckten, waren aber nicht bereit, dies zuzugeben.
Ein offener Fragebogen und insbesondere interpretative Klassifikationen setzen auf der Seite des Forschers eine intime Kenntnis der zu untersuchenden Probleme voraus. Wenn er z.B. darüber entscheiden soll, ob ein bestimmtes Bild oder ein Lieblingsfilm auf eine „individuelle“ oder „konventionelle“ Haltung hinweist, so muss er wissen, welche Bilder oder Filme in der von ihm befragten Schicht am beliebtesten sind; nur so lässt sich bestimmen, inwiefern die jeweilige Antwort einen individuellen Geschmack verrät. Er muss auch mit den gesellschaftstheoretischen Vorstellungen vertraut sein, die das Denken der Befragten beeinflussen. Die Fragen 442|43 („Glauben Sie, dass der einzelne Mensch an seinem Schicksal selbst schuld ist? Ja-Nein; Warum (nicht)?“) liefern hierfür ein gutes Beispiel. In der Marxschen Theorie, die zu diesem Problem dezidierte Aussagen entwickelt hat, erscheint das individuelle Schicksal im Grunde als gesellschaftlich determiniert, aber zugleich wird betont, dass der Einzelne durch politische Aktionen die Lage seiner Klasse und damit auch seine eigene Situation verändern kann. Häufig stießen wir auf die Antwort: „Nein, der Einzelne kann nichts für sein Schicksal tun, da er durch die gesellschaftlichen Bedingungen festgelegt ist.“ Hierin zeigen sich zwar Einflüsse der marxistischen Theorie, aber diese war selektiv perzipiert worden, denn ihre positiv handlungsbezogenen Seiten wurden nicht gesehen. Nur durch Bezug auf das gesamte theoretische Gebäude ist es somit möglich, die genaue Bedeutung der Antwort zu erfassen und sie dementsprechend zu klassifizieren.
Es bedarf schließlich auch methodischer Kenntnisse psychologischer Deutungen allgemein sowie eines theoretischen Wissens über spezifische Mechanismen wie [III-022] Verdrängung, Rationalisierung und Reaktionsbildung; beides zusammen macht einen wesentlichen Teil des psychologischen Deutungsinstrumentariums aus. Kann ein Forscher diese Anforderungen erfüllen, wird die Anwendung interpretativer Klassifikationen kaum weniger objektive Ergebnisse erbringen als rein deskriptive Techniken. Das Verhältnis zwischen diesen beiden entspricht dem von Erklärung und Beschreibung, und nur mit einer interpretativen Methode dürfte es möglich sein, die uns interessierenden Informationen zu sichern und Fragen zu beantworten.
Nach ihrer Klassifikation waren die Antworten in Abhängigkeit von Statusmerkmalen zu untersuchen, also nach Alter, Geschlecht, Familienstand, Einkommen, Beruf und politischer Orientierung aufzuschlüsseln. Hierdurch wurde die prozentuale Verteilung einzelner Antwortkategorien festgestellt, die es ihrerseits noch einmal theoretisch zu analysieren galt.
Wie schon mehrfach betont, lässt sich durch unsere Daten selbstverständlich nichts beweisen. Aber sofern die statistischen Ergebnisse unseren Erwartungen entsprachen, verliehen sie diesen doch zusätzliches Gewicht, und wo dies nicht der Fall war, ließen sie unsere These zweifelhaft erscheinen, auch wenn wir noch zusätzliche Erklärungsvariablen oder methodische Irrtümer hätten angeben können. Unterschiedliche Verteilungen bei den einzelnen Gruppen wurden für jede Kategorie hinsichtlich ihrer Reliabilität geprüft[8] und bei positivem Ergebnis als „signifikant“ gekennzeichnet. In den Fällen, in denen ein theoretisch erwartbarer Unterschied nicht signifikant, aber größer als die einfache Standardabweichung war, sahen wir ihn zumindest als eine tendenzielle Bestätigung unserer Vermutungen an. Dies geschah vor allem dann, wenn zwischen denselben Statusgruppen zwei oder mehr derartige Unterschiede bestanden, die in sich eine logische Konsistenz aufwiesen. Solche Differenzen können entweder in einer Einzelfrage oder in einer Fragenserie beobachtet werden. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Tendenz der Kommunisten, politische Fragen ungleich häufiger zu beantworten als Sozialdemokraten. Weitgehend gelang es auch, interessante Trends aufzudecken, wie zum Beispiel einen wachsenden Anteil radikaler Antworten in Abhängigkeit von einer zunehmend linken Orientierung. Waren die Unterschiede zwischen den Extremen statistisch signifikant, so wurden derartige „Trends“ oder „Tendenzen“ selbst noch als „signifikant“ in einem weiteren Sinne bezeichnet.
⇒Aber auch wenn die Antwortdifferenzen zweier Statusgruppen als reliabel bestätigt werden konnten, wenn also zum Beispiel die Sozialdemokraten ein bestimmtes Antwortverhalten signifikant eher zeigten als die Kommunisten, so wurden diese Differenzen doch nicht ohne weiteres dem jeweiligen politischen Standort zugeschrieben, da sie unter Umständen auch alters- oder berufsbedingt sein konnten. Sofern nicht [III-023] auszuschließen war, dass die Unterschiede zwischen den Statusgruppen auf einem solchen externen Faktor beruhten, wurden deshalb weitergehende Überprüfungen vorgenommen. Bestand beispielsweise die Vermutung, dass die vergleichsweise höhere Quote einer bestimmten Antwort bei den Sozialdemokraten altersbedingt sei, so wurden sowohl die Sozialdemokraten als auch die Kommunisten in verschiedene Altersgruppen unterteilt. Zeigte sich dann in den jeweiligen Altersgruppen erneut derselbe Unterschied, so konnte mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass das unterschiedliche Antwortverhalten den politischen Differenzen geschuldet war.
Derartige Zusatzanalysen wurden vor allem in zwei häufiger auftauchenden Fällen durchgeführt: zum einen, wenn bei ein- und derselben Frage sowohl berufliche als auch politische Unterschiede in den Antworten vorkamen. In diesen Fällen wurden beide Differenzen im Text nur dann als solche erwähnt, wenn die Aufschlüsselung der politischen Typen nach dem ökonomischen Status zeigte, dass sie wechselseitig unabhängig waren. Zum anderen wurden alle signifikanten Unterschiede zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten und zwischen den Antworten von Arbeitslosen oder Angestellten im Vergleich zu anderen Berufsgruppen geprüft, da die Kommunisten in unserer Stichprobe gegenüber den Sozialdemokraten mehr Arbeitslose aufwiesen, und die Sozialdemokraten gegenüber den Kommunisten einen größeren Prozentsatz an Angestellten. Es musste deshalb immer ermittelt werden, ob die „typischen“ Antworten der Kommunisten bzw. Sozialdemokraten nicht der unterschiedlichen beruflichen Zusammensetzung dieser beiden Gruppen geschuldet war, bzw. umgekehrt, ob nicht die „typischen“ Antworten der Arbeitslosen oder Angestellten auf die verschiedene politische Zusammensetzung dieser beiden Gruppen rückführbar waren.⇐ (...)
Die Aussagekraft der untersuchten Korrelationen war durchaus unterschiedlich: Am unergiebigsten erwiesen sich die Beziehungen der jeweiligen Antworten zu Geschlecht und Einkommen. Wir verfügten nur über sehr wenige Fragebögen von Frauen (47 Frauen gegenüber 537 Männern), und diese waren in ihrer sozialen und beruflichen Situation mit den Männern kaum vergleichbar; geschlechtsspezifische Differenzen konnten deshalb empirisch auch kaum erwartet werden. Die Untersuchungen des Antwortverhaltens in Abhängigkeit vom Einkommen war nur insofern interessant, als die mangelnde Signifikanz darauf hinzudeuten schien, dass die Gewohnheiten, Meinungen und Persönlichkeiten der Befragten nur in geringerem Maße durch die Höhe ihres Einkommens kausal determiniert waren.
Auch die Korrelation mit dem Familienstand erbrachte keine überraschenden Ergebnisse. Die festgestellten Unterschiede ließen sich teilweise auf die Variable „Alter“ zurückführen, da der geringere Altersdurchschnitt der Unverheirateten manche Besonderheiten ihres Antwortverhaltens zureichend erklärte. Andere Ergebnisse waren so offensichtlich, dass sie ohne weitere Erklärung stehengelassen werden konnten: So unternahmen Verheiratete öfter mit ihrer Familie Ausflüge als Unverheiratete und verbrachten weniger Zeit mit Freunden oder in Vereinen (Frage 320). Bei zahlreichen Fragen erwies sich aber auch das Alter als stark determinierender Faktor für das Antwortverhalten. Wir haben in den tabellarischen Teilen nicht alle Ergebnisse in Bezug auf Geschlecht, Einkommen, Familienstand und Alter dargestellt, [III-024] sondern nur diejenigen, in denen diese Variablen die Antworten in spezifischer Weise beeinflussen.
{Aufgrund unserer theoretischen Grundannahmen} erwarteten wir eine enge Beziehung zwischen dem ökonomischen Status und möglichen Typen von Antworten. Diese Erwartung wurde zwar bei vielen Fragen bestätigt, blieb aber bei einer noch größeren Anzahl unerfüllt. Dies scheint hauptsächlich den quantitativen und qualitativen Grenzen unseres Materials geschuldet. Differenziert man beispielsweise die Kategorie „Handarbeiter“ in Untergruppen wie gelernte, angelernte, ungelernte Arbeiter und diese wiederum nach der jeweiligen Betriebsgröße, so werden die so entstandenen Einheiten im Vergleich zu den vielen auftauchenden Antwortkategorien extrem klein. Diese Schwierigkeiten vergrößerten sich sogar noch dadurch, dass wir in unserer Stichprobe eine viel geringere Zahl von Angestellten als Arbeiter hatten. Zu schmale Abbilder jeder Gruppe sind jedoch wertlos für einen statistisch aussagekräftigen Vergleich. Umgekehrt sind aber auch die auf einer undifferenzierten Kategorie „Arbeiter“ beruhenden Ergebnisse unbefriedigend, da dieser Begriff keine Einheit im sozialpsychologischen Sinne bezeichnet, und als Durchschnittswert der verschiedenen Unterkategorien wären die Antworten deshalb letztlich ohne tiefer gehende Bedeutung. In manchen Fällen treten beispielsweise beträchtliche Unterschiede zwischen gelernten Arbeitern in Groß- und Kleinbetrieben auf, die bei Durchschnittsrechnungen unbeachtet bleiben; der Mittelwert entspricht dann unter Umständen vielleicht jenem, der sich aus einer Zusammenfassung der Antworten der Angestellten ergibt, obwohl diese in sich wiederum signifikante Unterschiede aufweisen, sobald wir sie nach Untergruppen differenzieren. Um einen Kompromiss zu schließen, haben wir die Aufschlüsselung nach der beruflichen Stellung nur so weit getrieben, dass stets noch statistisch verwertbare Gebilde erhalten blieben. Unsere theoretischen Erwartungen wurden dennoch weitgehend bestätigt. Der vom ökonomischen Status ausgehende Einfluss auf die Persönlichkeit trat dabei noch deutlicher zutage, als wir ihn mit bestimmten, häufig vorkommenden Charaktertypen verglichen. (Vgl. Kapitel 4, S. 165-211.)
Die Abhängigkeit der Antworten von der Parteizugehörigkeit war allerdings eindeutiger. Ein Grund liegt darin, dass die politischen Gruppierungen abgeschlossene Einheiten im sozialpsychologischen Sinne bilden, die nicht weiter differenziert werden müssen, um spezifische Qualitäten feststellen zu können. Auch eine weitergehende Aufschlüsselung nach dem Kriterium der politischen Aktivität der Befragten ergab noch deutlich größere Einheiten als bei der Differenzierung nach Beschäftigungskategorien. Der empirisch sichtbar gewordene enge Zusammenhang zwischen Parteizugehörigkeit (bzw. Grad der politischen Aktivität) und Einstellungen verläuft dabei grundsätzlich in zwei Richtungen. Zunächst beeinflusst die Mitgliedschaft in einer bestimmten Partei sowie deren Agitation die Meinungen und Haltungen der Individuen. Diese übernehmen jene Lehren und Ideen, die ihre Bezugsparteien fortwährend propagieren. Aber es gibt auch einen entgegengesetzten Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsfaktoren und Parteizugehörigkeit. Sicherlich war es für einen Arbeiter damals – unabhängig von seinen Charaktereigenschaften – üblich, einer der beiden Arbeiterparteien anzugehören oder für sie zu stimmen. Aber ob er der SPD oder der [III-025] KPD angehörte und wie stark er sich politisch engagierte, dies hing zum Teil, wenngleich nicht vollständig, von seiner Persönlichkeitsstruktur ab. Die einzelne Antwort kann somit durch die Parteizugehörigkeit geprägt sein und diese wiederum durch den Charaktertyp, wie er in den Besonderheiten der Antwortmuster zum Ausdruck kommt. Häufig besteht eine Wechselbeziehung zwischen beiden Momenten und es lässt sich kaum klären, was Ursache und was Wirkung ist. Allgemein kann man jedoch davon ausgehen, dass die Antworten auf diese Themen, zu denen die Parteien bereits typisierte Ideen in ihrer Propaganda bereithielten, parteigeprägt sind. Bei Problemen, die in der Parteiagitation kaum behandelt wurden und die sich stärker auf persönliche Einstellungen beziehen, kommt demgegenüber in der Antwort eher die jeweilige Charakterstruktur zum Ausdruck, und diese bestimmt dann sowohl die Parteizugehörigkeit als auch den Grad der politischen Aktivität.
Bei den {bislang beschriebenen korrelationsstatistischen} Analysen haben wir die Antworten unabhängig vom Kontext des individuellen Fragebogens betrachtet. Um nun einige Aspekte der Persönlichkeit des jeweiligen Probanden herauszuarbeiten, die mit seinem politischen und ökonomischen Status in Beziehung gesetzt werden konnten, musste ein Verfahren gefunden werden, in dem jeder Fragebogen als eine integrierte Einheit behandelt wurde. Das Ziel bestand darin, zu entdecken, wie bedeutsam für jemanden die politischen Doktrinen waren, denen er anhing, und welche Persönlichkeitstypen den verschiedenen politischen und ökonomischen Gruppen entsprachen.
⇒Wenn wir vorschlagen, den Fragebogen insgesamt als Grundlage für das Verständnis der Persönlichkeit der Befragten zu nehmen, dann soll dies auf keinen Fall heißen, dass damit ein vollständiges Persönlichkeitsbild gewonnen werden kann. Selbst wenn dies durch eine schriftliche Befragung erreichbar wäre, so genügen die bislang verfügbaren Techniken zu Aufbau und Auswertung von Fragebögen einem solchen Ziel in keiner Weise, und der von uns erarbeitete Fragebogen entspricht erst recht nicht den erforderlichen Gütekriterien. Die Perspektive unseres Unternehmens war deshalb auch viel bescheidener: Wir wollten zunächst einmal ein Bild von bestimmten Persönlichkeitszügen gewinnen, denen auch innerhalb der Sozialpsychologie ein besonderer Stellenwert zugemessen wird. Die von uns herausgearbeiteten Aspekte der Persönlichkeit beziehen sich dabei vor allem auf folgende Momente: autoritaristische bzw. nicht-autoritaristische Tendenzen, individualistische bzw. kollektivistische Strebungen sowie, nicht zuletzt, der Konsistenzgrad des individuellen politischen Denkens.⇐ (...)
{Dass die verschiedenen Einstellungen nicht notwendig konsistent sein müssen, macht bereits das folgende Beispiel deutlich:} Wenn bei einem Befragten, der Anhänger einer Linkspartei ist, sich bei der Frage 424 („Wodurch kann nach Ihrer Meinung die Welt verbessert werden?“) die Antwort findet: „Durch die Zerschlagung der [III-026] herrschenden Klasse“, und die Antwort desselben Mannes auf die Frage, ob Kindererziehung ohne Prügel möglich sei (Frage 621|22), vielleicht lautet: „Nein, Kinder brauchen Prügel, um Respekt zu bekommen“, dann kann aus zwei solchen Antworten der Schluss gezogen werden, dass der Hass des Probanden auf die Kapitalisten wohl kaum auf einer inneren Verpflichtung auf Freiheit und Gleichheit beruht; denn dies stünde in Widerspruch zu seiner Methode, Kindern Respekt einzuflößen. Wahrscheinlicher ist demgegenüber einerseits eine tief sitzende Wut auf alle Mächtigeren und Glücklicheren schlechthin, und andererseits der Wunsch, all jene zu beherrschen, die schwächer sind. Zieht man nun andere Antworten zu der Kombination dieser beiden hinzu, so kann die darauf erwachsende größere Konfiguration die anfängliche Vermutung unter Umständen zu einer wohlbegründeten Gewissheit werden lassen.
{Um nun ein Bild von den verschiedenen Aspekten der jeweiligen Persönlichkeit zu gewinnen}, wurde eine Technik entwickelt, die es ermöglicht, für jeden Befragten ein „Syndrom“ seiner Einstellungen zu konstruieren, das dann mit seinen politischen Standorten verglichen werden kann. Diese Technik wird später ausführlich beschrieben, ⇒aber an dieser Stelle sind zumindest die grundlegenden Ziele zu skizzieren, die wir mit der Syndrombildung verfolgten. Hauptsächlich interessierte uns die Frage nach dem Verhältnis von Parteizugehörigkeit und Charakterstruktur; denn die Analyse dieser Beziehungen sollte es ermöglichen, ein Bild von der Gewichtigkeit und Konsistenz der politischen Meinung bei den Individuen zu gewinnen. (...) Unter der Gewichtigkeit politischer Überzeugungen verstehen wir die Stärke ihres Einflusses auf das Verhalten einer Person. Diese ist gering, wenn jemand – obwohl er eine bestimmte Partei bei Wahlen unterstützt, ihre Versammlungen besucht und Beiträge zahlt – seine Partei in dem Moment verlässt, sobald aktuelle Opfer von ihm verlangt werden; oder wenn jemand zwar einer Partei angehört, solange diese auf der Seite der Gewinner ist, aber ihr Programm bei ihrer Niederlage sofort anzweifelt. Der Stellenwert politischer Überzeugungen ist demgegenüber hoch, wenn der Glaube an die Ziele der eigenen Partei durch nichts zu ersetzen ist.
Zwischen diesen beiden Extremen liegt eine große Bandbreite von Einstellungen, die zahlreiche Zwischenpositionen markieren. Das Gewicht politischer Überzeugungen nimmt zu, je offenkundiger die Verwirklichung des jeweiligen politischen Programms eine unmittelbare Verbesserung der Lebensbedingungen bedeutet oder je größer die Erfolgsaussichten sind. Falls es sich jedoch um Erklärungen und Versprechungen handelt, die – obwohl sie an das Selbsterhaltungsinteresse appellieren – mit dem kollidieren, was der nüchterne Verstand als richtig ansieht, dann werden sie nur diejenigen beeindrucken, deren rationales Denkvermögen entweder unterentwickelt oder durch gleichsam hypnotische Kräfte paralysiert ist. Je rationaler umgekehrt die politischen Ziele und Erklärungsmuster, desto größere Bedeutung kommt der Parteilehre bei ihren Anhängern zu. Aber falls deren materielle Situation nicht hoffnungslos ist, sie also nicht an dem Punkt stehen, an dem sie das Gefühl haben, dass selbst der Tod besser wäre als das jetzige Leben, unter diesen Umständen wird die politische Überzeugung nur dann ein großes Gewicht erhalten, wenn sie auch emotional verankert ist. Je stärker die emotionalen Bindungen, und je deutlicher die darauf gerichtete Anziehungskraft des Programms, um so beherzter und energischer werden die [III-027] Individuen hinter ihrer Partei stehen und für deren Ziele kämpfen. Je geringer andererseits die Verwandtschaft zwischen Programm und emotionalen Bedürfnissen, desto eher werden sich die Einzelnen dem „Schön-Wetter-Typ“ in der Politik nähern, auf den in kritischen Augenblicken nicht gezählt werden kann.
Sicherlich lassen sich politische Lehren nicht immer gleichzeitig auf materielle und emotionale Bedürfnisse zurückführen. Sie können sogar in offenem Gegensatz zu den objektiven Interessen stehen, auch wenn der Einzelne sie selbst günstig beurteilt. Eine politische Doktrin kann tatsächlich gegen jede Vernunft sein, aber aufgrund ihrer engen Verbindung mit emotionalen Bedürfnissen trotzdem eine große Bedeutung erhalten. In diesem Fall müssen allerdings einzelne Momente emotional unwiderstehlich wirken, da die Lehre insgesamt den unmittelbaren Interessen des Individuums widerspricht und ihrem tatsächlichen Gehalt nach unfähig wäre, sein rationales Denken zu gewinnen. Die politische Doktrin wird dann zu einer Ideologie, deren Wirksamkeit sich an Ausmaß und Intensität ihrer emotionalen Ausstrahlung ebenso bemisst wie an ihrer Fähigkeit, rationales Denken durch Rationalisierungen zu ersetzen. Wir sprachen davon, dass die Art und Wirksamkeit der emotionalen Bedürfnisse in einem Individuum entsprechend der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur differieren können. Dies bedeutet jedoch weder, dass der Charakter durch individuelle und zufällige Bedingungen geformt wird, noch dass dieser einer biologisch gegebenen „menschlichen Natur“ entspringt. Sicherlich gibt es Persönlichkeitsunterschiede, die durch Erbfaktoren sowie individuelle Unterschiede in der Lebenserfahrung bewirkt werden, aber diese Lebenserfahrungen selber, obwohl in mancher Hinsicht zufällig, liegen stets innerhalb eines gewissen Rahmens, welcher allgemein durch den kulturellen Entwicklungsstandard sowie speziell durch die jeweilige Klassenlage bestimmt wird. Weiterhin sind die besonderen Gefühlskomplexe, wie sie sich empirisch feststellen lassen, das Ergebnis historischer Bedingungen, welche die biologischen und physiologischen Grundlagen der Menschennatur in etwas Neues und sich im Laufe der Geschichte Veränderndes verwandeln. Die gesellschaftlichen Bedingungen, denen eine Gruppe unterliegt, formen die Persönlichkeitsstruktur ihrer Mitglieder in einer Weise, die auf eine gewisse Einheitlichkeit des Grundbestands an Persönlichkeitselementen innerhalb einer Klasse hinausläuft.
So ist zum Beispiel das Bürgertum in Europa durch einen ausgeprägten Hang zur Sparsamkeit gekennzeichnet, ferner durch eine Verherrlichung des Starken und eine Verachtung des Schwachen, durch ihr Misstrauen gegenüber allem „Fremden“ sowie durch die Angst, dass die Privatsphäre der individuellen Existenz durch zu enge Kontakte zu anderen gestört werden könnte. Demgegenüber leben Arbeiter, und vor allem jene in Großbetrieben, unter völlig anderen Bedingungen: Hier gibt es notwendige Solidarität statt wechselseitiger Konkurrenz, keine Gelegenheit zur Kapitalansammlung und daher auch kein Bedürfnis zu Sparsamkeit, kein Zwang, sich gegenüber anderen zu separieren. Hierdurch entsteht eine völlig andere Art von Persönlichkeitsstruktur mit anderen emotionalen Bedürfnissen und anderen Formen der Befriedigung. Die Diskrepanz der Persönlichkeitsstruktur zwischen den Klassen ist aber empirisch nicht so eindeutig, wie man annehmen sollte. Zwischen der ökonomischen und der psychischen Entwicklung der Klassen besteht eine Kluft, deren [III-028] Ursachen zu diskutieren hier zu weit führen würde. Unser Material zeigt überaus deutlich, dass eine große Anzahl von Arbeitern Persönlichkeitseigenschaften aufweisen, wie sie für das Bürgertum mehr oder weniger typisch sind und die daher auch nicht mit ihren sozialistischen Meinungen übereinstimmen. Diese entsprechen vielmehr Strukturen, wie sie nur in den fortgeschrittensten Teilen der Arbeiterklasse sichtbar werden.⇐
Bei allen Fragen taucht die Kategorie der Antwortverweigerung auf. Das Fehlen einer Antwort ist keinesfalls nur ein negatives Datum, das weitergehende Interpretationen ausschließt. Lässt sich die Verweigerung auf subjektive Faktoren zurückführen, so stellt sie selbst eine Antwort dar, die oft nicht weniger aufschlussreich ist als irgendeine manifeste Aussage. Objektive Gründe für eine fehlende Antwort liegen meist darin, dass nicht jede Frage alle Probanden betrifft und manchmal auch die notwendigen Informationen für eine lückenlose Beantwortung fehlen. Viele Fragen richten sich beispielsweise nur an Familien mit Kindern (603, 605, 608, 609 und andere), und Fragen nach einem Berufswechsel des Schwiegervaters oder nach der Zahl der Beschäftigten in der Firma, in der man arbeitet, verlangen auch genaue Kenntnisse über die eigene Umwelt. Aber die Fälle, in denen eine Frage offensichtlich nicht beantwortet werden konnte, machen nur einen Bruchteil der gesamten Antwortausfälle aus.
Oft lässt sich kaum entscheiden, ob eine Frage aus objektiven oder subjektiven Gründen ausgelassen wurde. Vielleicht war der Befragte in dem festen Glauben, dass er nicht antworten dürfe oder brauche, aber häufig liegt das wahre Motiv vermutlich in einer Abneigung oder zumindest in einem mangelnden Interesse, sich mit der Frage auseinanderzusetzen. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn Befragte in der gleichen objektiven Situation unterschiedlich darüber urteilen, ob sie die anstehende Frage betrifft oder ob sie über die notwendigen Informationen zu ihrer Beantwortung verfügen. Das Antwortverhalten der Arbeitslosen ist hierfür ein gutes Beispiel: Viele von ihnen ließen die lange Serie von Fragen nach Arbeitsplatz und Arbeitsbedingungen (108-140) aus, weil sie zum Erhebungszeitpunkt nirgendwo beschäftigt waren. Die Mehrzahl jedoch bearbeitete diese Fragen, und zwar unter Bezug auf ihren letzten Arbeitsplatz.
Ein wenig anders liegt die Situation bei den zahlreichen Antwortausfällen (in allen Gruppen) zu den Frage 621|22 („Glauben Sie, dass man bei der Erziehung der Kinder ganz ohne Prügel auskommt?“) und 624 („Was halten Sie und Ihre Frau von einer frühzeitigen Aufklärung der Kinder über das Geschlechtsleben (Geburt, Zeugung, Geschlechtskrankheiten)?“). Diese Fragen stehen in einer Serie, bei der vorausgesetzt wird, dass die Probanden verheiratet sind und Kinder haben (601-620). Sie sind jedoch so formuliert, dass auch Unverheiratete und Kinderlose antworten konnten. Der Bezug auf die Probleme körperlicher Züchtigung als Erziehungsmittel und der geschlechtlichen Aufklärung bei Kindern ist sehr allgemein und die Beantwortung setzte keine spezifischen pädagogischen Erfahrungen voraus. Eine beträchtliche [III-029] Anzahl Unverheirateter äußerte auch durchaus ihre Meinung zu dieser Frage, während andererseits viele Verheiratete dies nicht taten.
In diesem Zusammenhang interessierten uns vorrangig jene Unverheirateten, die nicht geantwortet haben. Zunächst ist es denkbar, dass dieser Personenkreis nach einem kurzen Blick auf den Abschnitt VI des Fragebogens zu dem Schluss gekommen ist, dass dieser sie überhaupt nicht betreffe, da sich alle Fragen auf den Problemkreis Kinder und Erziehung bezogen. Diese Vermutung ist offensichtlich dann richtig, wenn die ganze Seite übergangen oder durchgestrichen ist. Meistens wurde jedoch der Fragebogen mit mehr Sorgfalt ausgefüllt; in diesen Fällen waren nicht ganze Seiten, sondern nur einzelne Fragen ausgelassen, durchgestrichen oder in einer anderen Weise als nicht beantwortbar gekennzeichnet worden. In solchen Fällen können wir davon ausgehen, dass die Probanden alle Fragen gelesen hatten und die Auslassung nicht aus Versehen, sondern absichtlich geschah. Beantwortet ein Unverheirateter diese Fragen, so zeigt er ein gewisses Interesse an ihnen. Ein Antwortausfall lässt demgegenüber entweder auf mangelndes Interesse schließen oder deutet eine Weigerung an, sich über die Problematik zu äußern.
Ob ein Proband eine Frage auf sich bezieht und meint, er müsse sie beantworten oder nicht, hängt auf keinen Fall nur von der Formulierung oder von der unmittelbaren Betroffenheit ab, sondern auch vom Grad seiner Interessen und seiner Widerstände. Ein ähnliches Problem stellt sich für den Befragten, wenn er entscheiden muss, ob er genügend weiß, um eine bestimmte Frage zu beantworten. Ein übertriebenes Genauigkeitsdenken kann häufig einen Antwortausfall zur Folge haben, da jemand beispielsweise nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen kann, ob in seiner Firma 500 oder 510 Menschen beschäftigt sind. Eine derartige Einstellung, die wir allerdings nur sehr selten beobachteten, braucht durchaus nicht aus einem eventuellen Anspruch auf absolute Richtigkeit herrühren, sondern kann selbst Rationalisierung einer fehlenden Antwortbereitschaft sein.
Die subjektive Motivation für eine Antwortverweigerung liegt unserer Ansicht nach häufig in einem mangelnden Interesse begründet. Aber ebenso wie die Interessen Teil der Persönlichkeit sind, gibt der Antwortausfall bei bestimmten Fragen einen bedeutsamen Hinweis auf Besonderheiten der Persönlichkeitsstruktur. Das Interesse etwa an der Frage nach den Möglichkeiten zur Verhinderung eines neuen Weltkrieges lässt sich mit dem an der Frage, ob man gerne Jazz höre, kaum vergleichen. Psychologisch gesehen besteht ein großer Unterschied zwischen der Anziehungskraft der zuletzt genannten Frage und Fragen danach, ob man lange leben möchte oder wie man sein Geld anlegen würde, sofern man welches hätte. Wenn wir etwas über die psychologische Bedeutung der Interessiertheit oder Uninteressiertheit anhand der Antworthäufigkeit erfahren wollen, müssen wir zunächst stets die Frage selbst betrachten. Hierbei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Fragen, die sich auf allgemeine, politische oder kulturelle Interessen beziehen und solchen, die ausschließlich das persönliche Leben des Einzelnen betreffen. Die Beziehung zwischen dem Interesse an privaten und sozialen Problemen kann dabei unter Umständen nicht nur für die Individuen, sondern auch für Gruppen typisch sein.
Daneben gibt es aber noch einen anderen Bereich von Interessen, in dem sich [III-030] individuelle Unterschiede feststellen lassen. Es handelt sich hier um das Interesse an allen Fragen, die sich auf die individuelle Glücks- und Genussfähigkeit beziehen, also Fragen nach persönlichen Wünschen, nach Lieblingsfilmen usw. Wer primär an Pflichterfüllung, Arbeit und Leistung orientiert ist, wird solche Fragen mangels emotionalen Interesses und manchmal sogar aus innerer Abneigung heraus häufig unbeantwortet lassen. Ein Antwortausfall dieser Art kann somit selbst noch aufschlussreiche Informationen zum Verständnis seiner Persönlichkeitsstruktur liefern. Angst und Misstrauen bilden einen weiteren Komplex subjektiver Beweggründe für eine Nichtbeantwortung. Manchmal findet man eine offene Angst vor nachteiligen Konsequenzen, die sich aus der Beantwortung bestimmter Fragen ergeben könnten. Angesichts der Anonymität unserer Erhebung bestand eigentlich keine reale Basis für solche Befürchtungen, so dass diese selbst auf einen misstrauisch-ängstlichen Charakterzug bei den Befragten hindeuteten. Häufiger waren jedoch die Fälle, in denen der Proband trotz einer prinzipiellen Antwortbereitschaft aufgrund von Misstrauen und Verschlossenheit alle Fragen so kurz und unverbindlich wie möglich beantwortete. Bei den Fragen nach der Beurteilung der jeweiligen Parteien und Gewerkschaften, ihrer Führer, ihrer Politik und ihres organisatorischen Aufbaus dürfte schließlich noch ein weiteres Moment für die große Zahl der Antwortverweigerungen verantwortlich sein, nämlich die Loyalität gegenüber der Partei oder der Gewerkschaft sowie der Wunsch, sie gegenüber Außenstehenden keiner negativen Kritik auszusetzen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Antwortausfälle nicht als allzu großer Datenverlust anzusehen sind, denn mit einer entsprechenden analytischen Technik können sie selbst noch interpretiert werden. Diese Interpretierbarkeit hat Auswirkungen auf die statistische Bearbeitung. Will man Umfang und Bedeutung der Antwortverweigerung bestimmen, so hat man die Wahl zwischen zwei Verfahrensweisen, die jedoch in einigen Fällen offensichtlich zu sich gegenseitig ausschließenden Ergebnissen führen können. Nach dem ersten Verfahren lässt sich die Antwortverweigerung als eine von verschiedenen Kategorien betrachten, die jeweils für bestimmte Einstellungen stehen. In diesem Fall erscheint sie als Teil der Gesamtheit aller Antwortgruppen, so dass sich der prozentuale Anteil der tatsächlichen Antworten entsprechend verringert. Bei dem anderen Verfahren werden die Antwortverweigerungen völlig ignoriert, und der Prozentsatz positiver Antwortkategorien erscheint dann in Prozenten der tatsächlichen Antworten. Ein Beispiel soll die Funktionsweise beider Methoden verdeutlichen:
Angenommen, wir haben zwei Gruppen zu je 100 Personen, nämlich zum einen die unter 21jährigen und zum anderen die über 51jährigen. Bei der Auswertung der Frage nach den Lieblingsfilmen zeigt sich nun, dass in der jüngeren Gruppe 5 die Antwort verweigerten, während 25 „russische Filme“ angaben; die entsprechenden Werte der älteren Gruppe lauteten 65 bzw. 10. In Prozenten ausgedrückt ergibt sich folgende Verteilung:
[III-031]Wenn wir nun Antwortverweigerungen außer acht lassen und nur den Prozentsatz der Antworten „russische Filme“ berechnen, so ändert sich das Bild völlig:
Die Zahlen in Klammern geben die absoluten Werte an. Eine Berechnung nach der zweiten Methode vermittelt den Eindruck, als seien russische Filme für die Älteren attraktiver als für die Jüngeren. Bei der ersten Technik, also unter Berücksichtigung der Antwortverweigerungen, ist das Ergebnis genau umgekehrt. Welches der beiden Verfahren das „richtige“ ist, hängt offensichtlich davon ab, wie man die Tatsache der Antwortverweigerung interpretiert. Geht man davon aus, dass die positive Beantwortung der Fragen bloßer Zufall war, so ist die Vermutung berechtigt, dass die jeweiligen positiven Antwortkategorien durch die Antwortverweigerer anteilsmäßig verstärkt worden wären, hätten diese nicht „vergessen“, eine Antwort zu geben. Das heißt, die relative Stärke jeder Gruppe würde sich durch die Hinzufügung der Antwortausfälle nicht verändern. In unserem Beispiel würde dies bedeuten, dass ältere Leute tatsächlich eine größere Vorliebe für russische Filme zeigen als jüngere, da wir fest annehmen, dass 28,6 % der 65 Antwortverweigerer der älteren Gruppe sich bei einer tatsächlichen Antwort auch für diese Art von Filmen entschieden hätten und ebenso 26,4 % der 5 Ausfälle in der jüngeren Gruppe.
Gehen wir jedoch davon aus, dass eine Antwortverweigerung kein Zufall ist, sondern beispielsweise aus mangelndem Interesse herrührt, so würde diese Berechnungstechnik zu einem völlig falschen Bild führen. In diesem Falle bestünde die Vermutung, dass die Antwortverweigerer bei positiven Äußerungen angeben würden, sie hätten keine Lieblingsfilme, sie gingen nicht ins Kino oder sie wüssten nicht, welche Art von Filmen sie bevorzugten. Nach dieser These würden sie also alles Mögliche vorschlagen, aber keinerlei Präferenz für eine spezifische Art von Film zeigen. Hält man daran fest, dass auch Antwortausfälle interpretiert werden können, so wird man also nur dann ein zuverlässiges Bild der tatsächlichen Bedingungen erhalten, wenn man sie in der gleichen Weise behandelt wie die anderen Antwortgruppen, das heißt als eine Kategorie mit einer bestimmten eigenständigen Bedeutung. Demgemäß würden die Ergebnisse dahingehend interpretiert, dass die Präferenz für russische Filme in der Gruppe der Jüngeren sehr viel höher ist als bei den älteren (25 gegen 10 %), während das Interesse an Filmen überhaupt bei den Älteren bedeutend geringer ist als bei den Jüngeren.
Die Auswahl der passenden statistischen Technik hängt von der Interpretation des Faktums der Antwortverweigerung ab. Auf der Grundlage der oben skizzierten Überlegungen sowie einiger Untersuchungsergebnisse können wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass eine Antwortverweigerung auf spezifische Beweggründe verweist, vor allem auf einen Mangel an Interesse. In fast allen Fällen haben wir sie deshalb als eine von verschiedenen Einstellungskategorien gegenüber bestimmten Themen gewertet.
⇒Auf den folgenden Seiten findet sich ein kurzer Überblick über die personale, soziale, ökonomische und politische Zusammensetzung unserer Stichprobe. Hierbei werden wir zunächst Merkmale wie Herkunft, Religion, Alter, Einkommen, Beruf, Familienstand, Lebensstandard und gewerkschaftliche Organisierung untersuchen. Daran anschließend soll die Verteilung der politischen Gruppierungen herausgearbeitet werden, die es dann ihrerseits mit den zuvor genannten Merkmalen zu korrelieren gilt.⇐
Die meisten der 584 Fragebögen, nämlich 71 %, kamen aus den städtischen Zentren zwischen Frankfurt und Berlin. 25 % stammten aus den Gebieten südlich der Mainlinie sowie aus dem Rheinland, während die verbleibenden 4 % den sonstigen Regionen Deutschlands mit Ausnahme des weitgehend landwirtschaftlich strukturierten Ostens zuzuordnen sind.
Im Gegensatz zu den vorwiegend protestantischen nördlichen und mittleren Regionen weisen Süddeutschland und das Rheinland eine weitgehend katholische Bevölkerung auf. 11 % der Befragten bekannten sich zur katholischen Kirche, und diese Gruppe lebte in den meisten Fällen in den zuletzt genannten Territorien. 25 % waren protestantisch und 7 % gehörten zu religiösen Minderheiten, einschließlich der Juden; nicht weniger als 57 % jedoch bezeichneten sich als Atheisten.
Die Befragten lebten fast ausschließlich in städtischen Regionen, auch wenn 26 % noch auf dem Lande geboren waren. Selbst die mit 3 % verschwindend kleine Gruppe der Landbewohner arbeitete entweder in den Städten oder zumindest doch bei großen Unternehmen wie der Reichsbahn. Da bei 74 % bereits die Eltern in der Stadt lebten, ist zwischen den Generationen nur eine geringe lokale Mobilität feststellbar. Diese wird durch eine ebenso geringe strukturelle Mobilität ergänzt, denn in den meisten Fällen entspricht auch der soziale Status der Probanden dem ihrer Eltern. Eine Ausnahme bilden nur die Landbewohner, bei denen der Wechsel in die Stadt im [III-033] allgemeinen auch eine Statuserhöhung bedeutete. Ein größerer sozialer Aufstieg ließ sich jedoch für die Kinder der Befragten prognostizieren: Die Hälfte von ihnen hatte eine Ausbildung absolviert, die gewöhnlich mit einer höheren sozialen Stellung verbunden war, als sie ihre Eltern innehatten.
59 % der Probanden waren verheiratet, 2 % verwitwet oder geschieden; das durchschnittliche Heiratsalter lag dabei zwischen 27 und 28 Jahren. 38 % bezeichneten sich als ledig, und wie zu erwarten, waren dies hauptsächlich die jüngeren unter den Befragten. Die unter 20jährigen waren allesamt unverheiratet, während dies nur noch für 3 % der über 40jährigen zutraf. Eine Sonderstellung kam in unserem Material jedoch den Frauen zu: Unter den 47 weiblichen Probanden fanden sich nur 7 verheiratete. Von den verheirateten Männern waren drei Viertel schon länger als 5 Jahre verheiratet. Obwohl 17 % dieser Ehen kinderlos geblieben waren, betrug die durchschnittliche Kinderzahl 1,8.
Bei 66 % der Verheirateten standen auch die Ehefrauen in einem Arbeitsverhältnis und hatten bis auf 6 % bereits seit dem Krieg ununterbrochen gearbeitet. Nur 31 % der Befragten gaben jedoch an, dass auch ihre Mütter berufstätig seien oder gewesen wären, aber 58 % hatten demgegenüber berufstätige Schwestern, und bei nicht weniger als 27 % gingen alle weiblichen Familienmitglieder einer Arbeit nach, die bezahlt wurde.
Die uns vorliegenden Daten zum Lebensstandard der Befragten erlauben es zwar nicht, statistisch zuverlässige Vergleiche zwischen verschiedenen Gruppen vorzunehmen, aber es sollen zumindest einige allgemeine Merkmale genannt werden, um so den sozialen Hintergrund ein wenig zu erhellen. Die Wohnverhältnisse können grundsätzlich als ärmlich bezeichnet werden. Nur bei einem Drittel der Befragten gab es für jeden Familienangehörigen ein Zimmer mit Bett, während 28 % der Haushalte nicht einmal über ein Bett für jeden verfügten. Die Möblierung war demgegenüber üppiger, als es die Wohnverhältnisse erwarten ließen; vermutlich stammte der Hausrat aus besseren Zeiten, als man sich noch größere Wohnungen leisten konnte. So wiesen zum Beispiel die engen Räumlichkeiten der Arbeitslosen ein Mobiliar auf, das zweifellos unter glücklicheren Bedingungen erworben worden war. Nur 9 % der Befragten verfügten über nicht mehr als die notwendigsten Möbelstücke wie Stühle, Tisch, Waschtisch, Schrank sowie gelegentlich eine Nähmaschine oder Uhr. Die große Mehrheit jedoch besaß darüber hinaus Bücherschränke, Regale und manchmal auch einen Schreibtisch.
Ungefähr 10 % – die Hälfte davon waren Arbeitslose – gaben zu Protokoll, dass sie an weniger als zwei Tagen in der Woche Fleisch essen würden und kein Geld für Alkohol oder Zigaretten ausgeben könnten. Bei 57 % der Befragten – der Anteil der Arbeitslosen betrug jetzt nur noch ein Sechstel – kam bis zu fünfmal pro Woche Fleisch auf den Tisch, und für Spirituosen bzw. Tabak standen mäßige Beträge zur Verfügung. Fleisch, Alkohol und Tabak in reichlichen Mengen konnten sich [III-034] schließlich 33 % der Probanden leisten; der Prozentsatz der Arbeitslosen sinkt hier noch weiter, denn nur jeder achtzehnte in dieser Gruppe war ohne Arbeit.
Versucht man, die über den unmittelbaren Lebensbedarf hinausgehenden Ausgaben danach zu differenzieren, ob sie dem Vergnügen oder der Weiterbildung dienen, so ergibt sich folgendes: 11 % favorisierten eindeutig das Vergnügen und gaben ihr Geld hauptsächlich für Alkohol oder Zigaretten aus. 51 % entschieden sich eher für Weiterbildungsinvestitionen (Bücher und Vorträge), während die restlichen 38 % keine auffälligen Gewichtungen erkennen ließen.
Altersverteilung, Einkommensverhältnisse und beruflicher Status der Befragten werden aus Tabellen 2.1, 2.2 und 2.3 ersichtlich.
Tabelle 2.3: Beruflicher Status
Das Altersspektrum unserer Stichprobe reichte demnach von weniger als 21 (6 %) bis zu über 60 Jahren (3 %). Die größte Gruppe bildeten dabei die 21-40jährigen, und das Durchschnittsalter lag insgesamt bei 31 Jahren.
Sieht man von den Einkommen unter 51 Mark ab, so ergibt sich für die Befragten ein Durchschnittsverdienst von 197 RM. Die Einkommensverteilung sieht jedoch anders aus, wenn man sie nach Altersgruppen oder Geschlecht aufschlüsselt. Die 21-30jährigen verdienten im Schnitt 172 RM, in der Gruppe der 31-50jährigen stieg dann der Verdienst auf 209 RM und bei den 51-60jährigen erreichte er schließlich 215 RM. Das durchschnittliche Einkommen der vollzeitbeschäftigten Frauen betrug demgegenüber 160 RM und lag damit beträchtlich unter dem ihrer männlichen Kollegen.
Die wesentlichen Berufsgruppen unserer Untersuchung bildeten Angestellte sowie gelernte und ungelernte Arbeiter. Unter die Kategorie „Angestellter“ fielen Beschäftigte im öffentlichen Dienst ebenso wie Angestellte und Vorarbeiter in der Privatwirtschaft. Mit 64 % waren die gelernten und ungelernten Arbeiter in unserer Stichprobe in der Mehrheit. 29 % der Befragten waren Angestellte. Die restlichen 7 % („Sonstige“) setzten sich aus Studenten, Hausfrauen und kleineren Gewerbetreibenden zusammen, deren Anzahl für eine eigenständige Klassifikation zu gering war. 16 % der Befragten waren arbeitslos. Damit war jeder dritte Angelernte, jeder sechste Gelernte, aber nur jeder dreizehnte Angestellte ohne Beschäftigung. Zu der Gruppe der Angestellten werden jedoch auch die Beamten gerechnet, die von der Arbeitslosigkeit meist nicht berührt wurden. Grundsätzlich waren deshalb die Arbeiter bedeutend stärker von der Krise betroffen, denn von ihnen waren 20 % arbeitslos gegenüber 16 % der Befragten insgesamt.
Die meisten Arbeitslosen waren ausschließlich auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen und fielen deshalb in die niedrigste Verdienstgruppe mit weniger als 51 RM im Monat. Tabelle 2.4 zeigt nun die Beziehung zwischen beruflicher Lage bzw. Beschäftigungssituation und Einkommen im einzelnen:
Tabelle 2.4: Berufsgruppe und Einkommen (Angaben in %)
Abgesehen von den Arbeitslosen verfügten die ungelernten Arbeiter über das niedrigste Einkommen. Der Verdienst der gelernten Arbeiter liegt demgegenüber nur geringfügig unter dem der Angestellten. Aus den der Auswertung zugrunde liegenden [III-036] Antworten war allerdings nicht immer klar ersichtlich, ob das Einkommen aller Familienmitglieder mitgerechnet worden war oder nicht.
Die Altersverteilung war bei den einzelnen Beschäftigungsgruppen relativ identisch; auffallend ist hier nur die große Zahl der unter 30jährigen Arbeitslosen:
Tabelle 2.5: Berufsgruppe und Alter (Angaben in %)
16 % der Befragten arbeitete in Betrieben mit weniger als 10 Beschäftigten, 33 % in Unternehmen mit 10-100, 32 % in Fabriken mit 100-1000 und 19 % schließlich in Großbetrieben mit mehr als 1000 Beschäftigten. Die verbleibenden 20 % waren entweder Hausfrauen, Studenten und Selbständige oder häufiger noch Arbeitslose, die keine Angabe über die Größe des Unternehmens machten, bei dem sie zuletzt beschäftigt waren.
Bis auf die Gruppe der Kleinstbetriebe gab es in allen Unternehmen einen Betriebsrat, der durch die Arbeiter gewählt und von ihnen, den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend, als ihr unabhängiges Interessenorgan begriffen wurde. Nach Abzug der Arbeitslosen, Selbständigen sowie der Beschäftigten in Kleinstunternehmen verblieben noch 390 Fragebögen, von denen nur drei keinerlei Information über einen Betriebsrat enthielten.
451 der 584 Befragten waren Gewerkschaftsmitglieder. 92 % von ihnen gehörten den „Freien Gewerkschaften“ an, die unter sozialdemokratischer Kontrolle standen. In 62 % der erfassten Unternehmen bestanden die Betriebsräte ausschließlich aus Sozialdemokraten, aber um 1930 waren auch die meisten Kommunisten noch Mitglieder sozialdemokratischer Gewerkschaften. Nur 4 % der Untersuchungsteilnehmer berichteten von rein kommunistischen Betriebsräten, und nur drei Befragte waren Mitglieder der damals neu entstandenen „Revolutionären Gewerkschafts-Opposition“. Ein Viertel der Betriebsräte setzte sich schließlich aus den verschiedensten Gruppierungen zusammen: Hier saßen Kommunisten gemeinsam mit Sozialdemokraten neben Mitgliedern der Hirsch-Dunckerschen, der Christlichen sowie der Handlungsgehilfen-Gewerkschaft. Die Stärke der sozialdemokratischen Gewerkschaften ergab sich in diesem Zusammenhang nicht zuletzt aus der hohen Verbandstreue ihrer Mitglieder: 20 % der sozialdemokratisch organisierten [III-037] Untersuchungsteilnehmer hatten ihren Gewerkschaften schon vor 1918 angehört, und die durchschnittliche Mitgliedschaftsdauer betrug ungefähr zehn Jahre.
Die Gewerkschaften stellten im allgemeinen beträchtliche Anforderungen an das zeitliche Engagement ihrer Mitglieder. Nur 7 % der Gewerkschaftsangehörigen in unserem Material waren jedoch völlig passiv; 22 % beteiligten sich an Versammlungen oder lasen Gewerkschaftszeitungen, die restlichen 71 % nahmen darüber hinaus an den unterschiedlichen Angeboten des gewerkschaftlichen Lebens aktiv teil; jedes dritte Gewerkschaftsmitglied war offizieller Funktionsträger.
Die Antworten auf die Frage 442 („Welche Partei wählen Sie?“) dienten als Ausgangspunkt für die Klassifikation der Befragten nach politischen Gruppierungen. Hierbei wurde eine Aufschlüsselung nach folgenden Gruppen zugrunde gelegt: Sozialdemokraten, Kommunisten, Nationalsozialisten, Bürgerliche sowie Nichtwähler. Die Kategorie „Bürgerliche“ beinhaltete dabei alle Organisationen rechts der Sozialdemokratie, also die deutsche Volkspartei, das Zentrum, die Schwäbische Bauernpartei und andere, ausgenommen die Nationalsozialisten. Diese Zusammenfassung war aus methodischen Gründen notwendig, da die einzelnen Organisationen stets nur durch sehr wenige Befragte repräsentiert wurden. Sie rechtfertigte sich auch dadurch, dass die Antworten dieser Probanden nur zu Vergleichszwecken herangezogen werden sollten. Obwohl die Zahl der Nationalsozialisten relativ gering war, wurden sie dennoch als selbständige Einheit behandelt; da die äußerste Rechte damals gerade zur Eroberung der Macht ansetzte, war diese kleine Gruppe für uns vor allem von historischem Interesse.
Innerhalb der Sozialdemokratie gab es einen ziemlich ausgeprägten linken Flügel, der sich vom Kern der Partei sowohl in der Interpretation der sozialistischen Theorie als auch hinsichtlich der unmittelbar politischen Strategie unterschied. Aufgrund dieser Differenzen war es früher schon zur Abspaltung der USPD gekommen, und einige Zeit nach Abschluss unserer Erhebungen wurde die SAP als neue linkssozialistische Partei gegründet. Die offizielle Sozialdemokratie konzentrierte sich in ihrer Politik auf die Aufrechterhaltung und Verteidigung der demokratischen Republik gegen die Angriffe der Reaktion, während die Linkssozialisten stärker auf eine beschleunigte Transformation in eine sozialistische Gesellschaft drangen. Die Antworten auf die Frage 423 („Welche Regierungsform halten Sie für die beste?“) wurden nun dazu benutzt, die Sozialdemokraten in zwei Gruppen aufzuteilen: Als Linkssozialisten innerhalb der Sozialdemokratie galten hiernach diejenigen, die für eine „sozialistische Republik“ oder gar für ein „Sowjetsystem“ votierten, denn mit diesen Antworten ließen sie eine gravierende Differenz gegenüber dem offiziellen Parteiprogramm erkennen. (...)
Angesichts der politischen Überzeugungen der deutschen Arbeiter und Angestellten bildeten Sozialdemokraten und Kommunisten zum Zeitpunkt unserer Untersuchung [III-038] zwangsläufig die beiden größten politischen Gruppierungen. Nur diese beiden Stichproben waren in unserer Stichprobe auch groß genug, um eine weitergehende Aufschlüsselung nach dem Grad der politischen Aktivität vornehmen zu können. Grundsätzlich kann sich das politische Engagement entweder auf die Partei oder auf die Gewerkschaft konzentrieren. In beiden Fällen unterschieden wir dabei aus quantitativen Gründen nur zwischen zwei Graden von Engagement, nämlich zwischen „aktiv“ und „inaktiv“. Unter „aktiv“ werden in diesem Zusammenhang alle Funktionäre gefasst; der Rest der Partei- und Gewerkschaftsmitglieder gilt demgegenüber als „inaktiv“, so dass sich zunächst vier Kombinationsmöglichkeiten ergeben.
Gewerkschafts- und Parteiarbeit sind allerdings keine austauschbaren Indikatoren für politisches Interesse, denn die Gewerkschaften befassten sich primär mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen und nicht unmittelbar mit politischen Problemen. Die Motive, die jemanden dazu veranlassten, seine Freizeit der Gewerkschaftsarbeit zu widmen, waren somit nicht notwendig ein Zeichen für politische Aktivität. Engagierte sich demgegenüber ein Befragter in der Partei, so war dies ein deutlicher Hinweis auf großes politisches Interesse; die Frage der Gewerkschaftsarbeit konnte in diesem Falle außer Acht gelassen werden. Zeigte sich jemand inaktiv auf beiden Gebieten, so hatten wir einen eindeutigen Anhaltspunkt für mangelndes politisches Interesse.
Tabelle 2.6: Kombinationsmöglichkeiten (aktiv – inaktiv)
Für die Zwecke der Auswertung lassen sich die vier Kombinationen dementsprechend auf drei reduzieren: (1) „Funktionäre“, die in der Partei und evtl. auch in der Gewerkschaft aktiv waren, (2) „Wähler“, die weder in der Partei noch in der Gewerkschaft aktiv waren, und (3) „Unentschiedene“, die zwar in der Gewerkschaft, nicht jedoch in der Partei aktiv waren. Tabelle 2.7 zeigt die Verteilung der verschiedenen Gruppen im einzelnen.
Tabelle 2.7: Politische Orientierung und politische Aktivität
Gut zwei Drittel auf beiden Flügeln der Sozialdemokratie waren eingeschriebene Parteimitglieder, während dies nur auf weniger als die Hälfte der kommunistischen Wähler zutraf. Andererseits wiesen die Kommunisten einen bedeutend höheren Prozentsatz an Funktionären unter den eingeschriebenen Mitgliedern auf, nämlich zwei Drittel im Vergleich zu weniger als 50 % bei den Sozialdemokraten. Ähnlich wie im Fall ihrer gewerkschaftlichen Organisationen verfügten die Sozialdemokraten auch als Partei über einen größeren Anteil an Altgenossen: 11 % der Mitglieder der 1918 gegründeten KPD waren vor der Revolution Mitglieder der Sozialdemokratie gewesen, wohingegen 18 % der SPD-Mitglieder schon vor 1918 bei der SPD organisiert gewesen waren.
13 % der sozialdemokratischen Wähler gehörten religiösen Vereinigungen an; jeder sechste in dieser Gruppe war zusätzlich eingeschriebenes Parteimitglied. Bei den Kommunisten organisierten sich demgegenüber nur 2 % in kirchlichen Kreisen. Die Mehrheit sowohl der Kommunisten als auch der Sozialdemokraten bekannte sich jedoch als Atheisten, wobei jeder neunte einer atheistischen Vereinigung angehörte. Im Gegensatz dazu waren fünf Sechstel der bürgerlichen Wähler überzeugte Glaubensanhänger, und es gab hier keinen einzigen Atheisten. Die Nationalsozialisten unter den Befragten bezeichneten sich schließlich meist als Protestanten mit Ausnahme von zwei Konfessionslosen.
Für die Verteilung der Altersgruppen in den verschiedenen Parteien ergibt sich aus unserem Material folgendes Bild:
Tabelle 2.8: Politische Orientierung und Alter (Angaben in %)
Mit 38 Jahren wiesen die Bürgerlichen das höchste Durchschnittsalter auf, gefolgt von den Sozialdemokraten mit 32 Jahren. Danach kamen die Kommunisten und [III-040] Linkssozialisten mit 29 bzw. 28 Jahren, während die NSDAP als jüngste Partei auch den niedrigsten Altersdurchschnitt, nämlich 26 Jahre, aufwies. Vergleicht man die politische Orientierung mit dem beruflichen Status, so ergeben sich folgende, interessante Resultate:
Tabelle 2.9: Politische Orientierung und Berufsgruppe (Angaben in %).
Die nationalsozialistischen Wähler fallen hauptsächlich in die Kategorie „Angestellte“ sowie „Sonstige“. Allgemein gilt, dass das jeweilige Verhältnis von Arbeitern und Angestellten unmittelbar von dem Grad der „linken“ Orientierung einer politischen Partei abhängt: In der KPD war der Anteil der Angestellten mit 14 % am geringsten, und er wuchs bis auf 36 % bei der NSDAP auf der äußersten Rechten. In den linken Parteien war der Anteil der Arbeiter weitgehend gleich, aber die Kommunisten wiesen einen höheren Prozentsatz von Arbeitslosen auf. Die sich hierin andeutende Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und politischer Orientierung gilt nicht nur für aktuell, sondern auch für ehemals Arbeitslose: So waren 40 % der Sozialdemokraten niemals arbeitslos gewesen, aber nur 25 % der Kommunisten konnten dies von sich behaupten.
Ein Vergleich zwischen dem Einkommen und der politischen Orientierung war [III-041] angesichts der ungleichen Verteilung der Arbeitslosen innerhalb der verschiedenen Gruppen recht schwierig (siehe Tab. 2.10).
Tabelle 2.10: Politische Orientierung und Einkommen (Angaben in %).
Lässt man die Sonderproblematik der Arbeitslosen außer Acht, so zeigen sich zwischen den Anhängern der verschiedenen Parteien nur relativ geringe Lohnunterschiede. Sofern sie Beschäftigung hatten, verfügten vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten über vergleichbare Einkommen; die feststellbaren Einkommensunterschiede ließen sich hauptsächlich auf den größeren Anteil der ungelernten Arbeiter bei den Kommunisten (15 % gegenüber 7 %) zurückführen.
Um beurteilen zu können, in welchem Grade die von uns untersuchte Stichprobe als repräsentativ für die deutsche Bevölkerung insgesamt gelten kann, ist eine Analyse der allgemeinen sozio-ökonomischen Situation Deutschlands in der damaligen Zeit unumgänglich. Auch wenn wir nicht über das statistische Material verfügen, um die Frage der Repräsentativität Punkt für Punkt zu überprüfen, so gibt es doch gute Gründe für die Annahme, dass die Befragten mit ihren Strukturmerkmalen weitgehend den von ihnen vertretenen Gruppen entsprachen. Zumindest die politischen Orientierungen und ihre Verteilung können als typisch für Deutschland in der damaligen Zeit gelten. 79 % der Probanden wählten eine der beiden Linksparteien; ähnliche Zahlen finden sich auch bei einer entsprechenden Aufschlüsselung der Statistiken der großen deutschen Wahlbezirke. Zwar scheinen Ergebnisse aus dem agrarisch orientierten Ostpreußen oder aus dem katholisch geprägten Baden einem solchen Vergleich zu widersprechen, aber diese Gebiete weisen selbst strukturelle Besonderheiten auf. Charakteristisch für den Hintergrund unserer Befragung sind die protestantischen und industrialisierten Bezirke Hessen-Nassau (einschließlich Frankfurt) und Sachsen. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Arbeiter, Angestellten und Beamten betrug der Anteil der sozialdemokratischen und kommunistischen Stimmen in Hessen-Nassau 79,8 % und in Sachsen 73,9 %, und diese Ergebnisse liegen sehr nahe bei den von uns festgestellten Zahlen.
Die von uns untersuchte Population bestand zu 53 % aus Sozialdemokraten und zu 29 % aus Kommunisten. Im Jahre 1930 verfügten diese beiden Parteien im Reichstag über 193 bzw. 77 Abgeordnete. Diese Zahlen verdeutlichen, dass das Verhältnis von SPD und KPD unter den Befragten der Verteilung im Reich insgesamt recht nahekommt. Auch die verschwindend kleine Anzahl von Nationalsozialisten in unserem Material entspricht dem geringen Einfluss, den diese Partei bei den Industriearbeitern zumindest 1930/31 hatte.
Ferner zeigt die Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, dass sozialdemokratische Gewerkschaften auf nationaler Ebene das gleiche Übergewicht besaßen wie in unserer Stichprobe. Entsprechendes gilt auch für die sozialdemokratische Vorherrschaft in den Betriebsräten, die sich in Deutschland insgesamt ebenso feststellen lässt wie in den Betrieben der von uns Befragten.
Die Einkommensverhältnisse der Befragten lagen etwas über dem nationalen [III-042] Durchschnitt der entsprechenden Gruppen. Dies ist allerdings bei Studien wie der unsrigen nicht ungewöhnlich, vor allem, da relativ arme Leute dazu neigen, ihr Einkommen eher zu hoch als zu niedrig anzugeben. In unserem Fall waren die Differenzen jedoch kleiner als üblich, und da keine große Einkommensstreuung vorlag, wird die Zuverlässigkeit der Stichprobe nicht in Frage gestellt.
Die Arbeitslosenstatistiken in Deutschland sind leider nicht so differenziert, als dass sie zu Vergleichszwecken herangezogen werden könnten. Zwar war der Anteil von rd. 16 % Arbeitslosen in unseren Unterlagen nur geringfügig höher als die durchschnittliche Quote von 14 % am Ende des Jahres 1930, aber für unsere Untersuchung wäre es wichtiger zu wissen, ob der höhere Prozentsatz der Kommunisten unter den Arbeitslosen repräsentativ für das ganze Land war. Auch wenn keine Statistiken über die politische Orientierung der Arbeitslosen vorliegen, so gehen doch die meisten Kenner der deutschen Szene diesbezüglich von einem relativ hohen Anteil von KPD-Anhängern aus. (Vgl. A. Rosenberg, 1935.) Die jeweiligen Begründungen für diesen allgemein akzeptierten Trend sind jedoch nicht einheitlich. Einige Beobachter führen ihn darauf zurück, dass kommunistische Arbeiter aufgrund ihrer politischen Überzeugung von den Unternehmern entlassen wurden, andere glauben, dass die radikale Programmatik der Kommunisten gerade jene Arbeiter ansprach, die durch die Arbeitslosigkeit in besonders großes Elend gestürzt wurden. Wie dem auch sei, auf jeden Fall besteht kein Grund zu der Annahme, dass der Anteil der Arbeitslosen unter den kommunistisch orientierten Befragten mit 25 % zu hoch sei.
Für die Frage nach der Verteilung der Beschäftigtengruppen innerhalb der politischen Parteien fehlen praktisch alle Daten. So gibt es keinerlei statistisches Material über die berufliche Situation von KPD-Mitgliedern. Nur die Sozialdemokraten haben für ihren Bereich etwas Derartiges zu erstellen versucht, aber ihre Statistik deckt nicht mehr als ein Achtel Mitglieder ab und vernachlässigt die reinen Wähler vollständig. Der sich aus unserem Material ergebende größere Prozentsatz von Angestellten innerhalb der Sozialdemokratie scheint jedoch der allgemeinen Beobachtung zu entsprechen, dass in der SPD mehr Angestellte organisiert waren als in der KPD. Der sehr hohe Angestelltenanteil bei den Nationalsozialisten schließlich bestätigt ebenfalls die Urteile der meisten Beobachter, denn bei den Arbeitern verfügte die NSDAP damals über kaum einen Rückhalt.
Auch die Altersverteilung unserer Stichprobe ist mit der in den verschiedenen Parteien kaum vergleichend analysierbar. Einschlägige Daten liegen nur für die Mitglieder der SPD vor, und im Vergleich dazu zeigten die Sozialdemokraten unter den Befragten ein geringeres Durchschnittsalter als die Partei insgesamt. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass jüngere Leute sich mehr für Fragebögen interessieren als ältere und dementsprechend auch eher zur Beantwortung bereit sind. Darüber hinaus ist aber anzumerken, dass die von der SPD erstellten Zahlen sich nur auf die eingeschriebenen Parteimitglieder, nicht jedoch auf den einfachen Wähler beziehen. Über den Altersaufbau der KPD gibt es keine Untersuchungen, aber alle Kenner der Verhältnisse stimmen darin überein, dass die Kommunisten einen größeren Prozentsatz an jüngeren Mitgliedern und Wählern aufwiesen als die Sozialdemokraten. Die Tatsache, dass nach unserem Material die Nationalsozialisten den geringsten [III-043] Altersdurchschnitt zeigten, entspricht gleichfalls der einmütigen Meinung aller Beobachter, obwohl auch hier keine Statistiken greifbar sind.
Zusammenfassend lässt sich deshalb mit guten Gründen behaupten, dass die Befragten repräsentativ für die deutschen Arbeiter und Angestellten zum Zeitpunkt unserer Untersuchung waren. Auch wenn die statistische Beweisführung dieser These nicht immer möglich ist, so wird sie durch das vorhandene Material doch grundsätzlich bestätigt, und dies gilt vor allem für die politischen Orientierungen. Beachtliche Indizienbeweise sprechen ebenfalls für unsere Behauptung. Zweifellos gibt es einige Differenzen gegenüber den nationalen Durchschnittswerten, aber diese sind nicht gravierend. Auch wenn unsere Studie nur von einer kleinen Stichprobe ausgeht, so gibt sie dennoch Hinweise auf Entwicklungstendenzen, die für die deutschen Arbeiter und Angestellten der damaligen Zeit durchaus bezeichnend waren.
{Nachdem wir die wichtigsten gesellschaftsstrukturellen Merkmale unserer Stichprobe herausgearbeitet hatten, gingen wir nun zur Analyse der Meinungen und Einstellungen über. Zu diesem Zweck werteten wir zahlreiche Einzelfragen aus, die sich unter systematischen Gesichtspunkten fünf verschiedenen Problemfeldern zuordnen lassen, nämlich dem Bereich der politischen Meinung (3,a – S. 44-69), der allgemeinen Weltanschauung (3,b – S. 69-87), der kulturellen und ästhetischen Einstellung (3,c – S. 87-124), der Einstellung gegenüber Frau und Kindern (3,d – S. 124-140) sowie der Einstellung zum Mitmenschen und zu sich selber (3,e – S. 140-164). Das Ziel unserer Arbeit bestand dabei vor allem darin, den Einfluss der politischen Orientierung und des ökonomischen Status auf die jeweiligen Einstellungen und Meinungen zu klären, aber in einigen Fällen wurden auch zusätzliche Faktoren, wie Alter und Geschlecht, analysiert.}
{Um die politischen bzw. gesellschaftspolitischen Einstellungen der Probanden zu dokumentieren, haben wir folgende sieben Fragen ausgewählt:
Frage 432: | Wer hat nach Ihrer Meinung heute die wirkliche Macht im Staate? |
Fragen 427|28: | Welche Regierungsform halten Sie für die beste? Was veranlasst Sie zu dieser Meinung? |
Frage 430: | Was halten Sie von der deutschen Justiz? |
Frage 429: | Wie kann nach Ihrer Meinung ein neuer Weltkrieg verhindert werden? |
Frage 431: | Wer war nach Ihrer Meinung an der Inflation schuld? |
Fragen 134|35: | Ist in Ihrem Betrieb eine Rationalisierung durchgeführt worden? Wie denken Sie darüber? |
Frage 444: | Wie urteilen Sie über Ihre Partei? |
Systematisiert man die genannten Fragen, so beziehen sich die ersten drei auf die Einschätzung der allgemeinen politischen Ordnungsstrukturen, während die beiden nachfolgenden die wohl einschneidendsten politischen Ereignisse seit Beginn des Jahrhunderts, nämlich Weltkrieg und Inflation, thematisieren. Die Frage nach der Rationalisierung betrifft eine häufig kaum als politisch verstandene, aber dennoch gesellschaftspolitisch höchst wichtige Entwicklungstendenz, und mit der letzten Frage wollten wir schließlich das Verhältnis der Probanden zu den offiziellen politischen Positionen in der Weimarer Republik erfassen.}
Gemäß Art. 1 der Weimarer Verfassung ging die Macht im Staat grundsätzlich vom Volk aus: Die gesetzgebende Gewalt lag dementsprechend bei dem allgemein und frei gewählten Reichstag, und auch der Reichspräsident wurde in direkter Wahl bestimmt. Dieser wiederum ernannte das Kabinett, das seinerseits vom Vertrauen des Reichstags abhing und bei einem Misstrauensantrag zurücktreten musste. Zum Zeitpunkt unserer Untersuchung bestanden jedoch in Deutschland erhebliche Zweifel, ob die eigentliche Entscheidungsgewalt tatsächlich beim Volk lag. Es braucht kaum betont zu werden, wie wichtig diese Frage für die Stabilität der deutschen Demokratie war. Eine Regierung, die für ohnmächtig gehalten wird, kann sich weder viel noch lange Respekt verschaffen, und diejenigen, die sich nach einer starken Autorität sehnen, werden sie ablehnen und verunglimpfen.
Nach der marxistischen Theorie und nach der Propaganda der Linksparteien, auf die sich viele Befragte in ihren Antworten bezogen, liegt auch in einer demokratischen Verfassung das eigentliche Machtzentrum im Bereich der Ökonomie. Es war deshalb nicht verwunderlich, dass gegenüber den Mechanismen der parlamentarischen Demokratie von allen Seiten immer wieder starkes Misstrauen geäußert wurde. Obwohl die Arbeiterpartei die stärkste Fraktion im Reichstag bildete, herrschte innerhalb der Arbeiterklasse selbst große Enttäuschung über ihr tatsächliches Machtpotenzial. Antworten, die ganz allgemein das ökonomische System dafür verantwortlich machten, wurden in die Kategorie Kapital, Kapitalisten, Industrie und Banken eingestuft. Hierunter fällt auch die nicht gesondert erfasste Antwort Industrie und Banken, da die Befragten hiermit wahrscheinlich den Kapitalisten insgesamt die Schuld gaben. Die Antwort Bourgeoisie wurde indes mit der Kategorie Kapital nicht identisch gesetzt: Zum einen haften diesem Begriff im Deutschen bedeutend aggressivere Konnotationen an als im Französischen oder Englischen, und zum anderen bezieht er sich schärfer auf die besitzende Klasse selbst, und zwar unter Einschluss der mittelgroßen und kleinen Unternehmer.
Der Kategorie Großindustrielle, allein oder zusammen mit Großgrundbesitzern ist gegenüber der Antwort Kapital eine spezifische Bedeutung zuzumessen. Es wird hierin ein Versuch sichtbar, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft Machtabstufungen festzulegen. Die Betonung des Groß- bezieht sich dabei auf die monopolistischen [III-046] Tendenzen in Deutschland und macht deutlich, dass sich die Kritik nur auf diese quantitativ kleinen, aber mächtigen Gruppen des Kapitals bezieht. Allerdings war es für den durchschnittlichen Lohn- und Gehaltsempfänger ungleich einfacher, die für ihn unerreichbare „Großindustrie“ zu kritisieren als das ganze System einschließlich des Kleingewerbes, dem anzugehören das Lebensziel von vielen war. Die nationalsozialistische Propaganda nutzte diese Gefühle geschickt aus und gewann viele Anhänger durch das Versprechen, die Macht der Trusts zu brechen und den Großgrundbesitz zu verteilen.
Die Antwort Banken, Börse ist ebenfalls gesondert zu betrachten, da sie sich auch auf eine Teilfraktion des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs bezieht. Obwohl nicht viele derartige Antworten vorliegen, sind sie dennoch wichtig, da hier gerade jenen Institutionen Macht zugesprochen wird, die den meisten fremd und rätselhaft waren. Zum Teil dürften die Probanden aber auch schon unter dem Einfluss der NS-Propaganda gestanden haben, denn diese unterschied zwischen dem „schaffenden“ und dem „raffenden“ Kapital, den Banken und Spekulanten (siehe Tab. 3.1).
Tabelle 3.1: Frage 432: Wer hat nach Ihrer Meinung heute die wirkliche Macht im Staate?
Antworten in Abhängigkeit von der politischen Orientierung (Angaben in %)
Bei einer Frage, in der es um die Grundlagen der politischen Herrschaft geht, ist das Antwortverhalten der verschiedenen politischen Gruppierungen höchst interessant. Das größte Kontingent an Antwortverweigerungen stellten (...) die bürgerlichen Wähler; mit 30 % war hier die Quote der Antwortausfälle bedeutend höher als bei den Sozialdemokraten, die ihrerseits wiederum häufiger die Antwort schuldig blieben als Linkssozialisten (5 %) und Kommunisten (4 %). Das Interesse an der Frage nach der Macht im Staat wächst also in Abhängigkeit von der politischen Radikalität. Die Nationalsozialisten, von denen nur 6 % nicht antworteten, lagen in dieser Hinsicht nahe bei den Kommunisten. Obwohl sie das Problem aus einer ganz anderen Perspektive beurteilten, war die Frage nach der tatsächlichen Machtverteilung auch für sie von vitaler Bedeutung.
Die meisten Antworten, nämlich 56 % fielen unter die Rubrik Kapital, Kapitalisten, und diese Meinung war bei den Linken bedeutend häufiger zu finden als bei Bürgerlichen und Nationalsozialisten. Dieses Ergebnis entspricht weitgehend der marxistischen Lehre, dass unabhängig von der politischen Verfassung die tatsächliche Macht in den Händen derjenigen liegt, die die Produktions- und Distributionsmittel besitzen oder kontrollieren. Auch die Antwort Großindustrielle bzw. Großgrundbesitzer wurde fast ausschließlich von Anhängern der Linksparteien gegeben, von Seiten der Kommunisten noch häufiger als von den Sozialdemokraten. Die Befragten, die sich für diesen Ausdruck entschieden, versuchten damit vor allem die mächtigsten Kapitalisten zu charakterisieren; häufig dürfte jedoch auch eine Personalisierung struktureller Momente vorliegen. Ausschließlich bei den Linken fand sich die Antwort Bourgeoisie mit ihren aggressiven Konnotationen gegen die besitzenden Klassen, wobei Kommunisten diesen Begriff bedeutend häufiger wählten als Sozialdemokraten.
Banken, Börse ist eine Kategorie, die das Bedürfnis nach einem ganz besonderen Feindbild verdeutlicht, das weniger anonym und eher personifizierbar ist als die Kapitalisten allgemein. Bei den Anhängern der Linksparteien wurde diese Antwort von keinem einzigen Funktionär und nur von einigen Wählern gegeben. Dem [III-048] Antwortverhalten nach zu schließen, erfüllen Banken und Börse weitgehend eine Sündenbockfunktion. Die irrationale Auswahl derartiger Sündenböcke zeigte sich am besten bei der Kategorie Juden, alleine oder mit Freimaurern und Jesuiten, die von 50 % aller Nationalsozialisten gegeben wurde.
Das weitverbreitete Misstrauen gegenüber demokratisch-parlamentarischen Machtpotenzialen zeigte sich darin, dass nur 2 % der Antworten der Kategorie Regierung, Parlament zugerechnet werden konnten, und ebenso hielten auch nur ganz wenige irgendeine der politischen Parteien für die wahren Machthaber.
Die Antwort Faschisten, Militaristen usw. blieb fast völlig den Kommunisten vorbehalten, von denen sich 5 % zu dieser Auffassung bekannten. Bei politischen Unruhen sowie bei den Nachspielen zu Versammlungen und Demonstrationen waren die Kommunisten oft in gewalttätige Auseinandersetzungen mit den paramilitärischen Organisationen der extremen Rechten, aber auch mit den regulären Streitkräften geraten. Darüber hinaus war für sie bedeutend früher und schärfer als bei anderen Parteien der Terminus Faschist ein Synonym für die allgemeine politische Reaktion. Einer, aber auch nur ein einziger Befragter, und zwar ein Sozialdemokrat, sprach von der Arbeit als der wahren Macht im Staate, und nur 1 % der Sozialdemokraten und Kommunisten hielten den Verfassungsgrundsatz für gegeben, dass alle Macht vom Volke ausgehe oder dass diese zwischen Arbeit und Kapital gerecht verteilt sei.
Einige Befragte antworteten schließlich Niemand. Dies deutet u. U. auf eine mangelnde Kenntnis jener Entwicklungen hin, die sich hinter der parlamentarischen Bühne vollzogen. Andererseits kann diese Meinung aber auch unter dem Eindruck der endlosen Stockungen innerhalb der parlamentarischen Beratung entstanden sein. Für diese Antwort entschieden sich einige Nichtwähler, ein paar sozialdemokratische Wähler und, sonderbar genug, ein Funktionär auf der Seite der Linkssozialisten.
Die Frage nach der besten Regierungsform spielte in den Programmen der deutschen Parteien in den zwanziger Jahren stets eine zentrale Rolle. Die Antworten der Probanden machten deshalb zunächst nur deren politische Orientierungen deutlich, so dass wir die Frage 427 selbst noch als ein Hilfsmittel zur Klassifikation der politischen Typen benutzen konnten (vgl. Kap. 2, d, S. 37-41).
Aufschlussreicher als die jeweiligen Voten war allerdings deren Begründung, denn letztere spiegelte weniger die offizielle Parteilinie wider, sondern war stärker durch die persönlichen Ansichten und Einstellungen der Befragten geprägt. 7 % der Probanden ließen beide Teilfragen unbeantwortet, und weitere 16 % gaben keine Begründung für ihre Meinung. Die verbleibenden 77 % beantworteten jedoch auch die Frage 428, wobei sich ihre Stellungnahmen unter der Perspektive der Begründung sieben übergreifenden Kategorien zuordnen ließen. Natürlich sind die angegebenen Gründe jeweils selbst noch auf unterschiedliche Regierungsformen bezogen. Da sich [III-049] jedoch die Mehrheit in den jeweiligen politischen Gruppen stets für ein und dasselbe Ordnungsmodell aussprach, ist es möglich, Begründungen und Regierungsform in der Analyse unabhängig voneinander zu behandeln. Bei diesem Interpretationsverfahren musste allerdings die Gruppe der Nicht-Wähler ausgeklammert werden, da hier zu viele Faktoren bei einer zu kleinen Gruppe ins Spiel kamen.
Die meisten politischen Gruppen legten bei ihrer Entscheidung jeweils eigenständige Begründungsstrukturen an den Tag. So zogen die Sozialdemokraten die Demokratie signifikant häufiger vor, weil diese Freiheit und Gleichheit für den einzelnen Bürger bedeutet (26 % gegenüber durchschnittlich 4 % der anderen Parteien). Auch die Kommunisten argumentierten bei ihrer Begründung der besten Regierungsform mit der Situation des Bürgers; sie betonten jedoch die sozio-ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse stärker als die individuelle Freiheit und verwiesen mit gewichtigen 37 % (gegenüber 12 % in anderen politischen Gruppen) auf die Lage der unterprivilegierten Gesellschaftsmitglieder. In gleichfalls signifikanter Weise votierten sie auch eher für das Sowjetsystem als der einzigen Verwirklichung ihrer politischen Theorie (17 % im Vergleich zu 4 % bei den anderen Gruppierungen).
Die Linkssozialisten zeigten eine Einstellung, die zwischen den Sozialdemokraten und Kommunisten liegt. Mit den Kommunisten stimmten sie in dem argumentativen Bezug auf die Interessen der Arbeiterklasse überein. Sie unterscheiden sich von ihnen jedoch insofern, als sie von der Brauchbarkeit des Sowjetsystems nicht so überzeugt sind und stattdessen das Ideal einer sozialistischen Republik favorisieren.
Bei den Nationalsozialisten wurde zur Begründung zumeist auf die Weltanschauung verwiesen. Es ist allerdings eine Tautologie, sich auf die persönlichen Überzeugungen oder die Weltanschauung zurückzuziehen, wenn – wie von den meisten der Befragten richtig erkannt – nach den jeweiligen Vor- und Nachteilen verschiedener Regierungsformen gefragt wurde. Aber dies mag dafür sprechen, dass die Nationalsozialisten über keine rationalen Gründe für ihr Votum für den Typus einer faschistischen Diktatur verfügten. Von den Antworten der Nationalsozialisten unterscheiden sich die Stellungnahmen der bürgerlichen Wähler nicht unerheblich: Diese unterstützten entweder die Demokratische Republik oder die Monarchie. „Es geht ganz gut, warum sollen wir es ändern“ oder: „Es ging früher besser, warum sollten wir nicht dorthin zurückkehren“ – dies waren ihre Hauptargumente, sofern sie überhaupt Gründe anführten, und in beiden Fällen ist die Begründung in ihrem Kern konservativ (siehe Tab. 3.2).
Tabelle 3.2: Frage 427|8: Welche Regierungsform halten Sie für die beste? Was veranlasst Sie zu dieser Meinung?
Begründung in Abhängigkeit von der politischen Orientierung (Angaben in %)
{Um die Struktur der Begründungen zu verdeutlichen, wollen wir einige exemplarische Antworten anführen, die wir nach der Reihenfolge der von uns unterschiedenen Antwortkategorien geordnet haben.}
Exemplarische Antworten nach Antwortkategorien:
(2) | „Demokratische Republik. Mein Wunsch ist, dass die Individuen das größte Maß an Freiheit haben sollen.“ „Demokratische Republik. In einer Demokratie hat jeder das Sagen. Minderheiten fügen sich. Diktaturen produzieren nur gewalttätige Gegenbewegungen.“ „Demokratische Republik. Jede Nation entscheidet selbst über ihre [III-051] Regierungsform. Wer hat das Recht, sich als etwas Besseres als der Nächste zu fühlen? Alle Leute sind gleich geboren – alle Söhne einer edlen Rasse.“ |
(3) | „Rätesystem. Diese direkt gewählten Räte, die ihren Wählern verantwortlich sind und jederzeit zurückgerufen werden können, sind am besten geeignet, die Interessen der Arbeitenden zu sichern.“ „Sowjetsystem. Keine Ausbeutung unter diesem System.“ „Demokratische Republik. Die Arbeit bekommt ein wenig mehr Beachtung.“ |
(4) | „Monarchie. Da hatten wir mehr Ordnung.“ „Sozialistische Demokratie. Die gegenwärtige Lage – Ausbeutung der Massen -ist eine armselige Stiftung.“ „Demokratische Republik. Das Verhalten von Wilhelm II. und der Weltkrieg.“ „Monarchie. Es gibt mehr Frieden, politisch. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass in einer Republik einer gegen den anderen kämpft, und aus diesem Grunde glaube ich, dass eine Monarchie eine bessere Regierungsform ist. Es gibt zu viele Parteien.“ |
(6) | „Demokratische Republik. Unter einer solchen Regierungsform kann sich eine mündige Nation selbst regieren (USA).“ „Sowjetsystem. Unter sehr schwierigen Umständen kämpft sie um eine neue Form der Wirtschaft, die Westeuropa vor eine Entscheidung von großer Tragweite stellen wird.“ „Sowjetsystem. Wir sehen den Fortschritt, den Russland gemacht hat. Dort kann kein einziges Individuum Millionen anhäufen.“ „Sowjetsystem. Eine Regierungsform, die ausgehalten und großen sozialen Fortschritt erzielt hat, trotz zwölf Jahren unaufhörlichen Kampfes gegen Feinde von draußen, muss gut sein.“ „Monarchie. Was wir wollen, ist wieder eine Monarchie. Zu dieser Zeit brauchte niemand hungrig einhergehen, und es gab Gerechtigkeit für alle.“ |
(7) | „Sowjetsystem. Die Kollektivierung besteht dort ihre erste Probe. Es ist der erste Schritt in Richtung Sozialismus.“ „Demokratische Republik. Ich bin Sozialdemokrat und deshalb gibt es keine andere Meinung.“ „Sowjetsystem. Der einzige Weg durch den das Proletariat den Sozialismus erreichen kann, ist die Diktatur des Proletariats. Die Bourgeoisie ist verständnisvoll gegenüber den Sozialdemokraten, die glauben, dass sie den Sozialismus allmählich über den Stimmzettel erreichen. Die Bourgeoisie wird von diesem Glauben profitieren und wird ihre Position festigen, wenn notwendig unter einer anderen Maske (Faschismus).“ |
(8) | „Demokratische Republik. Aus religiösen Gründen lehne ich Gewalt ab; Gewalt zieht immer Gewalt nach sich.“ „Meine Weltanschauung.“ „Demokratische Republik. Mein Glaube an Humanität und Sozialismus.“ „Monarchie. Sie stimmt mit den göttlichen Prinzipien überein.“ [III-052] |
Der Glaube an die Unparteilichkeit und Zuverlässigkeit des juristischen Apparates ist grundlegend für die Aufrechterhaltung eines geordneten Gemeinwesens. Aber zum Zeitpunkt unserer Untersuchung wurde ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Gerichten laut, das unter dem Stichwort der „Vertrauenskrise“ ein breit diskutiertes Thema bildete. Unsere Frage war somit höchst aktuell, und die Antworten ließen sich selbst als Hinweis auf die Stabilität der sozialen Ordnung interpretieren.
Nur 4 % der Kommunisten verweigerten die Antwort, während die Zahlen der Sozialdemokraten und bürgerlichen Wähler in diesem Punkt beträchtlich höher lagen (18 % bzw. 31 %). Ebenso wie die Kommunisten waren aber auch die Linkssozialisten (6 % Antwortausfälle) durchweg bereit, ihre Meinung zu äußern. Die hohe Ausfallquote der Sozialdemokraten erklärt sich unter Umständen daraus, dass ihre eigene Partei an den Regierungen in Preußen sowie im Reich beteiligt war. Eine Kritik an der Rechtspflege wäre in diesen Fällen zugleich eine Kritik an ihrer eigenen Partei gewesen, die nur durch eine Antwortverweigerung zu vermeiden war. Die bürgerlichen Wähler schließlich antworteten weniger häufig, weil sie wahrscheinlich im geringeren Umfang an dieser Thematik interessiert waren.