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Seiten: (ca.) 33
Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 30.11.2015
ISBN: eBook 9783959121255
Format: ePUB
Die Frage, ob der Mensch von Natur aus faul ist, erweist sich bei näherem Hinsehen als höchst aktuell. Die heutige Entfremdung des Menschen von seinen eigenen motivationalen, kognitiven und emotionalen Antriebskräften führt dazu, dass der Mensch sich zunehmend passiv, leer, antriebslos und langweilig erlebt, sofern er nicht animiert und stimuliert wird. Ist der Mensch also von Natur aus faul? Oder ist diese „Faulheit“ eine gesellschaftlich erzeugte Pathologie, die als „normal“ erlebt wird, weil es heute den meisten Menschen so geht?
Erich Fromm sucht in dieser aus dem Jahr 1974 stammenden Abhandlung Hinweise in den verschiedensten Wissenschaftszweigen, vor allem aber in der Neurobiologie, zu finden, dass der Mensch prinzipiell die Fähigkeit zur Selbsttätigkeit hat, aus der ein in ihm selbst wurzelndes aktives Interesse an der Wirklichkeit resultiert – das allerdings durch gesellschaftliche Einflüsse deaktiviert werden kann.
Aus dem Inhalt
• Das Axiom von der angeborenen Faulheit des Menschen
• Neurologische Erkenntnisse
• Erkenntnisse auf Grund von Tierversuchen
• Ergebnisse sozialpsychologischer Versuche
• Die kreative Kraft des Träumens
• Ergebnisse der Beobachtung von Säuglingen und Kleinkindern
(Is Man Lazy by Nature?)
Erich Fromm
(1991h [1974])
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Rainer Funk.
Ursprünglich als programmatische Schrift mit dem Titel Institute for the Science of Man im Jahr 1957 verfasst. Erstveröffentlichung 1991 in deutscher Übersetzung von Rainer Funk unter dem Titel Humanistische Wissenschaft vom Menschen in Band 6 der „Schriften aus dem Nachlass“ mit dem Titel Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen beim Beltz Verlag, Weinheim, S. 133-143. Reprint als Heyne Sachbuch 1995 beim Heyne Taschenbuchverlag in München. Überarbeitet fand der Beitrag 1999 Aufnahme in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag), Band XI, S. 545-551. – Die Erstpublikation der Schriften dieses Bandes in der englischen Originalsprache erfolgte 2010 unter dem Titel The Humanistic Science of Man, beim Verlag American Mental Health Foundation in New York, S. 101-108.
Die E-Book-Ausgabe des Beitrags orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 545-551.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1991 by The Estate of Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Niemand kann dem Einfluss eines Axioms entkommen, das uns allen von Kindheit an gelehrt wurde: das der angeborenen Faulheit des Menschen.[1] Dieses Axiom steht nicht für sich allein. Es ist Bestandteil der allgemeineren Annahme, dass der Mensch von Natur aus schlecht sei und deshalb die Kirche oder die staatliche Gewalt brauche, um den Versuch zu machen, das Böse in sich auszutreiben, selbst wenn er niemals darauf hoffen kann, bei diesem Versuch über ein bestimmtes Maß hinaus erfolgreich zu sein. Wenn – so wird argumentiert – der Mensch von Natur aus faul, gierig und destruktiv sei, dann braucht er Herrscher – geistliche und weltliche – die ihn daran hindern, seinen Neigungen nachzugeben.
Historisch gesehen ist es freilich korrekter, den Satz umzudrehen: Wenn Institutionen und Führer die Menschheit beherrschen wollen, ist es ihre wirkungsvollste ideologische Waffe, den Menschen davon zu überzeugen, dass man ihm nicht zutrauen kann, seinem eigenen Willen und seiner Einsicht zu folgen, weil beide vom Teufel in ihm gelenkt werden. Niemand hat dies klarer erkannt als Nietzsche: Gelingt es, den Menschen mit dem ständigen Gefühl von Sünde und Schuld zu belasten, dann wird er unfähig, frei und er selbst zu sein, weil sein Selbst verdorben ist. Es darf ihm deshalb nicht erlaubt werden, sich seiner selbst zu versichern. Der Mensch kann auf diese fundamentale Anklage mit verzweifelter Ergebenheit reagieren; oder er kann mit heftiger Aggression dagegen protestieren und sie somit scheinbar bestätigen. Er kann jedoch nicht frei sein, er kann nicht der Herr seines eigenen Lebens sein; er kann nicht er selbst sein. [...]
Bevor wir die Frage, ob der Mensch von Natur aus faul ist, untersuchen, tun wir gut daran, neben der gerade erwähnten eine weitere Konsequenz der Antwort zu betrachten. Wenn der Mensch von Natur aus faul, indolent und passiv ist, wird er nur durch solche Anreize dazu bewegt, aktiv zu sein, die nicht dem Tätigsein (intrinsisch) selbst innewohnen, sondern (extrinsisch) außerhalb von ihm liegen; im wesentlichen handelt es sich um die Reize Lohn (Lust) und Strafe (Schmerz).
Ist der Mensch von Natur aus faul, dann erhebt sich die Frage, welche Anreize nötig [XII-164] sind, um diese angeborene Trägheit zu überwinden. Ist hingegen der Mensch von Natur aus ein tätiges (aktives) Wesen, stellt sich die Frage, welches die Umstände sind, die die natürliche Lebendigkeit des Menschen lähmen und ihn faul und desinteressiert machen.
Die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus faul sei und dass seine Aktivität durch extrinsische Reize angeregt werden müsse, ist, wie wir alle wissen, die Grundlage der allgemein anerkannten Vorstellungen über Erziehung und Arbeit gewesen. Der Schüler musste durch alle möglichen Arten von Belohnung oder Strafe zum Lernen gebracht werden. Erst seit relativ kurzer Zeit (etwa mit Friedrich Wilhelm August Fröbel und Maria Montessori) begann man zu erkennen, dass ein Kind lernen will, wenn der Lernprozess selbst interessant ist. Aber diese Ansicht ist immer noch nicht zum Allgemeingut geworden. Vielmehr gingen die Hauptanstrengungen in der Erziehung eher dahin, bessere äußere Anreize ausfindig zu machen, statt Lernmethoden zu entwickeln, die den natürlichen Wunsch des Schülers, zu lernen, zu wissen und zu entdecken, stimulieren. Man kann nicht einmal sagen, dass der Glaube an die ausschließliche Wirksamkeit von Lohn und Strafe überholt sei. Die Verhaltenswissenschaft, insbesondere in ihrer jüngsten und sehr ausdifferenzierten Erscheinungsform, dem Neo-Behaviorismus von Skinner, hat das Prinzip der ausschließlichen Wirkmächtigkeit einer extrinsischen Kompensation zum Eckstein ihres ganzen Systems gemacht. Lediglich die Einsicht, dass Belohnung zum richtigen Zeitpunkt effektiver ist als Bestrafung, stellt den Fortschritt gegenüber den älteren Ansichten dar.
Die Industriegesellschaft hat sich dasselbe Prinzip im Hinblick auf die Arbeit zueigen gemacht; dies braucht wohl kaum eigens aufgezeigt zu werden. Dass die Arbeit – besonders die der Industriearbeiter – unzuträglich und unangenehm war, bezweifelte vor hundert Jahren niemand, weil es so offensichtlich war. Die Dauer (bis zu 14 oder sogar 16 Stunden pro Tag), die physische Belastung und die Notwendigkeit, sehr viel körperliche Energie in gesundheitsschädlicher Umgebung aufbringen zu müssen, machte diese Art von Arbeit eindeutig abstoßend. Heutzutage hat sich viel verändert: Die Arbeitszeit hat sich stark verringert, Maschinen ersetzen menschliche Arbeitskraft, der Arbeitsplatz ist nicht mehr dunkel und gesundheitsschädigend; was noch an „schmutziger Arbeit“ übriggeblieben ist, wird hauptsächlich von den untersten Bevölkerungsschichten verrichtet, in den USA von Farbigen, in Europa von italienischen, spanischen und türkischen „Gastarbeitern“ – oder von Frauen.
Nachdem die augenfälligeren negativen Aspekte der Arbeit weitgehend verschwunden sind, tritt heute ein unerfreulicher Aspekt der Arbeit in den Vordergrund: die Langeweile. Diese zeigt sich nicht nur bei der Arbeit von Fabrikarbeitern, sondern auch bei der von Angestellten und in der Verwaltung Tätigen. Eine Ausnahme bilden nur jene, die an der Planung und Entscheidungsfindung beteiligt sind.
Ob es nun das physische oder das psychische Unbehagen der Langeweile ist, beide Seiten – Arbeiter und Arbeitgeber – waren sich darin einig, dass Arbeit notwendigerweise unerfreulich ist. Um einen Arbeiter deshalb überhaupt zum Arbeiten zu bringen, müsse man mit Hunger drohen; um ihn zu besserer und produktiverer Arbeit zu bewegen, sei er mit höheren Löhnen und einem kürzeren Arbeitstag zu belohnen. [XII-165] Obwohl sich beide Seiten darin prinzipiell einig waren, hoben die Arbeitgeber die Löhne nur widerwillig an; oft mussten sie dazu durch die Streikandrohungen der Arbeiter gezwungen werden. Gleichzeitig haben die fundamentalen Veränderungen des Wirtschaftssystems es auch den Arbeitgebern vorteilhaft erscheinen lassen, die Löhne zu erhöhen. Bei allen Konflikten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern ging es um die Höhe der Löhne und die Länge des Arbeitstages. Kaum einer der beiden dachte daran, die Qualität des Arbeitsprozesses so zu verändern, dass die Arbeit selbst interessant wird.
Dass sich dies, zumindest auf Seiten der Arbeiter, so verhielt, ist ein bemerkenswertes Phänomen, hatte doch bereits Marx, der in vielen anderen Hinsichten so einflussreich war, erkannt, dass das Kernproblem die Frage der Natur der Arbeit ist. Nach Marx ist die Arbeit des Arbeiters oder Angestellten im Kapitalismus entfremdete Arbeit. Der Arbeiter verkauft dem seine Arbeitskraft, der ihn anheuert, und er tut, was ihm gesagt wird, als sei er ein Teil einer Maschine. Die Ware, die „er“ produziert, steht über ihm und gegen ihn; er erfährt sich selbst nicht als ihren Schöpfer. Entfremdete Arbeit ist notwendigerweise langweilig, tut weh und ist unangenehm; folglich kann der Arbeiter nur dadurch dazu gebracht werden, die Unannehmlichkeiten der Arbeit auf sich zu nehmen, dass er mit materiellen Entschädigungen belohnt wird. Diese aber bestehen im wesentlichen aus einem gesteigerten Konsumverhalten. Meinungsverschiedenheiten gibt es nicht bezüglich des Prinzips, sondern nur über die Höhe der Entschädigung.
Die Situation wäre vollkommen anders, wäre die Arbeit nicht entfremdet, das heißt, würde sie sich aus sich selbst lohnen, weil sie interessant, anregend und belebend ist; und die Situation wäre völlig anders, wenn man mit dem, was man tut, in verantwortlicher Weise an der Arbeitseinheit (Fabrik, Krankenhaus usw.) als einer sozialen Organisation Anteil hätte.
Erst in den letzten Jahren kam es dazu, dass die Arbeiter Marx’ Ansichten aufgegriffen haben, wenn auch gewiss nicht durch den direkten Einfluss seiner Schriften. Diese neue Einstellung ist in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik Deutschland deutlich erkennbar. Seit einigen Jahren schon sind die Klagen über langweilige Arbeit und die Forderung nach Produktionsmethoden, die dem Arbeiter größeres Interesse, Einfluss auf den Arbeitsprozess und Dezentralisierung des überspezialisierten Arbeitsprozesses ermöglichen, zu zentralen Punkten bei Verhandlungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern geworden, auch wenn rein wirtschaftliche Forderungen nach höheren Löhnen (oder zumindest stabilen Löhnen im Hinblick auf ihre Kaufkraft) immer noch gleich wichtig sind. Auf Seiten der Industrie stießen diese Forderungen nach befriedigenderer Arbeit durchaus auf Verständnis, und es wurden einige Versuche in dieser Richtung unternommen, um neue Wege auszuprobieren.
An der Wichtigkeit dieser Frage für die Zukunft sollte es keine Zweifel geben. Je mechanischer, unpersönlicher und also entfremdeter die Arbeit ist, desto größer muss die Belohnung von außen sein, welche aus höheren Löhnen, das heißt aus größerem Konsum, besteht. Diese Entwicklung führt den modernen Menschen dazu, die immer größer werdende Langeweile bei der Arbeit und in der Freizeit mit einem immer größeren Konsum zu kompensieren, um wieder ein psychisches Gleichgewicht zu [XII-166] finden. Ist man sich der gefährlichen menschlichen Verelendung durch das gesteigerte Konsumverhalten bewusst, dann wird die Frage, ob der Mensch von Natur aus faul ist oder nicht, zu einer der wichtigsten psychologisch-anthropologischen Fragen überhaupt.
Es lässt sich kaum nachvollziehen, wie man angesichts so vieler gegenteiliger Beobachtungen so fest an die Vorstellung der natürlichen Faulheit und Passivität des Menschen glauben konnte. Zeigen nicht Tiere eine unwiderstehliche Neigung zu spielen? Sind Kinder nicht mit Eifer beim Spiel, und zwar so lange, bis sie müde werden? (Dass Freud die Neigung eines Kindes, dasselbe Spiel immer wieder zu wiederholen, als den Ausdruck eines „Wiederholungszwangs“ statt als Ausdruck seines Bedürfnisses nach Tätigsein missverstanden hat, ist wahrscheinlich auf das Axiom der natürlichen Faulheit zurückzuführen.) Zeigt der Mensch nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen das Bedürfnis nach Anregung und Stimulation? Sucht er es nicht in der Kunst, im Drama, in der Literatur, im Ritual, im Tanz zu befriedigen – und in unserer Kultur beim Betrachten des „Mannes auf dem fliegenden Trapez“, als Zuschauer von Autounfällen, beim Lesen von Berichten über Verbrechen und Krankheit? Tut er nicht alles, was er kann, um Langeweile und Nichtstun zu vermeiden?
Das reduktionistische Axiom behauptet, der Mensch suche nach einem Zustand der minimalen Erregung. Nach Freud besteht Lust in der völligen Abwesenheit von Erregung. Wären da nicht Langeweile und Trägheit geradezu ideale Zustände? Warum aber versucht der Mensch, sie zu vermeiden? Es gibt vielfältige Beweise dafür, dass es ein dem Menschen innewohnendes Bedürfnis nach Erregung und Stimulation gibt. Darauf will ich später zu sprechen kommen. An dieser Stelle möchte ich nur unterstreichen, dass bereits die noch nicht beweiskräftigen Erkenntnisse der alltäglichen Beobachtung dafür sprechen, dass die meisten Psychologen gegenüber dem dem Menschen innewohnenden Bedürfnis nach Anregung und Stimulation blind sind.
D. O. Hebb bietet eine überaus geniale Erklärung für dieses schwer verständliche Phänomen. Er nimmt an, dass die meisten der derzeitigen Probleme mit der Motivationstheorie durch die Tatsache verursacht werden, dass die Psychologen ihr Denken auf überholte neurologische Theorien gründen, die inzwischen durch angemessenere Theorien ersetzt wurden.
Charakterologisch betrachtet die Stimulus-Response-Theorie das Tier als mehr oder weniger inaktiv, es sei denn, es wird den besonderen Bedingungen einer „Arousal-Reaktion“ ausgesetzt. Solche Bedingungen sind in erster Linie Hunger, Schmerz und sexuelle Erregung; in zweiter Linie geht es um Stimulationen, die in Verbindung mit einer dieser primitiveren Motivationen gebracht wurden. (D. O. Hebb, 1955, S. 244.)
Hebb betont besonders, dass die Neurologie vor 1930 zu der Annahme neigte, die Nervenzelle sei von sich aus untätig, bis etwas von außen her mit ihr geschehe, und dass dasselbe für die Ansammlung von Zellen gelte, die das Nervensystem bildeten. Seit 1930 hat sich die Neurologie in dieser Hinsicht beträchtlich verändert. Man begann zu erkennen, dass das Nervensystem wie alle [XII-167] lebenden Dinge aktiv ist, dass das menschliche Gehirn gerade zu dem Zweck, tätig zu sein, geschaffen ist, und dass alles, was es braucht, angemessene Nahrung ist. Das einzige Verhaltensproblem, das es zu erklären gilt, ist die Inaktivität, nicht die Aktivität. (Vgl. D. O. Hebb, 1955, S. 244.) Jüngste neurologische Entdeckungen zeigen, dass das Gehirn immer aktiv ist, dass es aber seine „Aktivität nicht immer in jener Art übermittelt, die zu einem Verhalten führt“ (D. O. Hebb, 1955, S. 248; Hebb zitiert als Beweis die Unterscheidung zwischen der langsamer ablaufenden Aktivität der Dendriten und der blitzartigen Aktivität, die in den Spikes [elektrische Impulse] angezeigt wird).
So eindrucksvoll Hebbs Feststellung ist, dass die Theorien der Psychologen daran leiden, auf einer veralteten neurologischen Theorie zu basieren, sie versäumt die Frage zu beantworten, warum die Psychologen keine aktuellere Theorie benützt haben. Warum sollten sie Daten außer acht gelassen haben, die vorlagen und benützt werden konnten?
Vielleicht liegt der Glaube an das Axiom von der angeborenen Passivität des Menschen gerade im Wesen der Arbeit in der Industriegesellschaft begründet. Dies wird sofort klar, wenn wir die industrielle Arbeit – von der Herstellung von Stoffen am mechanischen Webstuhl über das Förderband zum Fließband in einer Autofabrik – mit der Arbeit des mittelalterlichen Handwerkers vergleichen. Der Schmied oder der Zimmermann arbeitete in einer Art und Weise, die seine ständige Konzentration und das dauernde Interesse an seiner Arbeit erforderte. Diese Arbeit war ein ununterbrochener Lernprozess, der mit der Lehrzeit begann und sich durch das ganze Leben des Handwerkers fortsetzte. Im Arbeitsprozess vergrößerte er seine Fertigkeit, das heißt, er entwickelte sich selbst, seine Sinne, seine Kenntnis des Materials, der Techniken; seine Fähigkeit, zu fühlen und zu sehen, wuchs im Lauf seines Lebens. Er selbst wuchs bei diesem Prozess des Tätigseins, der auf der Bezogenheit auf seine Materialien, seine Werkzeuge und viele andere Faktoren in seiner Umgebung beruhte. So war seine Arbeit niemals langweilig, sondern interessant, wie jedes Tätigsein interessant ist, das Konzentration, Aufmerksamkeit und die Ausübung einer Fertigkeit erfordert.
Heute entdecken wir noch immer Reste dieser älteren Einstellung zur Arbeit beim Künstler, sei er ein Maler oder ein Cellist; ebenso bei der Arbeit eines Chirurgen, eines Fischers, eines Zirkusartisten usw. (Dies scheint auch der Grund zu sein, warum Menschen heutzutage fasziniert jeder Arbeit zuschauen, die eine Fertigkeit voraussetzt, ob es nun um das Cellospiel Pablo Casals oder um die Arbeit am Webstock geht.) Wir wissen, dass sich bei einer Arbeit, die konstante Übung und Praxis verlangt, Fähigkeiten entwickeln, die dem Außenstehenden wunderhaft vorkommen: Es soll Schäfer geben, deren Sehkraft das Zehnfache eines heutigen Durchschnittsmenschen beträgt; arabische Zimmerleute können nur auf Grund ihres Augenmaßes und der Berührung – aber ohne Messinstrumente zu benützen – eine Marmorplatte so vorbereiten, dass sie genau in den dafür vorgesehenen Zwischenraum eines Tisches passt (ich verdanke die vorstehenden Beispiele persönlichen Gesprächen mit dem Maler [XII-168] Max Hunziker[2]); Geiger, die eine unglaubliche Anzahl von schwierigen Musikstücken auswendig spielen können, würden diese außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht entwickeln ohne konstantes Tätigsein und andauernde Übung; freilich spielt auch ihre Talentierung eine wesentliche Rolle für die Qualität ihres Spiels. Die Beispiele mögen genügen, um an diese Art von Arbeit zu erinnern.
Derart qualifizierte Arbeit braucht zu ihrer Verrichtung keine äußere Belohnung, Drohung oder Bestrafung. Sie trägt die innere Belohnung des Interesses in sich, der Ausübung einer Fertigkeit, die einen auf die Welt bezogen sein lässt durch einen kreativen Akt und – wichtiger als alles andere – die einen damit belohnt, dass man wächst und man selbst wird.
Um das Besondere dieser Art von Arbeit begreifen zu können, muss man sie ganz in ihrem gesellschaftlichen Kontext verstehen. Dem Handwerker des Mittelalters ging es – wie noch dem Handwerker in allen nicht-industrialisierten Ländern heute – nicht um die Maximierung des Profits oder der Produktion. Er wollte seinen traditionellen Lebensstandard beibehalten und war nicht besessen vom Hunger des modernen Konsumenten nach Waren. Außerdem waren durch die Regelungen der Gilden die Zahl der auszubildenden Lehrlinge sowie die Produktionsmenge beschränkt. Er hätte sich sehr über die Ansicht gewundert, dass die Arbeit, die er verrichtete, langweilig sei und dass die finanzielle Prämie eine Entschädigung für die Unerfreulichkeit der Arbeit sei – ja der Hauptanreiz, sie zu verrichten. (Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Werner Sombart, Max Weber, Richard Henry Tawney und Karl Marx sowie meine eigenen Analysen in Die Furcht vor der Freiheit (1941a), Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a) und Die Revolution der Hoffnung (1968a).)
In den Industriegesellschaften hat sich dies alles geändert. Die Arbeit hat nur das eine Ziel, denen Profit einzubringen, welche die Maschinen besitzen, und diejenigen zu ernähren, die „angestellt“ sind, um die Maschinen zu bedienen. Der Arbeiter von heute dient der Maschine, wozu er nur begrenzt Fertigkeiten braucht. Selbst den „gelernten“ Arbeiter kann man nicht mit jemandem vergleichen, der die Fertigkeit eines mittelalterlichen Handwerkers hat. Er gleicht eher einem spezialisierten Werkzeug als einem durch Fertigkeiten ausgezeichneten Menschen. Der ungelernte Arbeiter führt eine sehr begrenzte Anzahl von Bewegungen aus; beim Arbeiter am Fließband ist dessen ganzer Körper ein Gefangener, der dem Rhythmus des Fließbandes zu folgen hat; sein Tätigsein beschränkt sich auf eine oder zwei monotone Bewegungen. Er kommt nie mit „seinem“ Produkt in Berührung, das heißt, er stellt es nicht selbst her, sondern ist höchstens der Käufer, wenn er es vielleicht erwirbt und sein eigen nennt. (Bezeichnenderweise geht aus einem jüngsten Bericht über italienische Werftarbeiter hervor, dass es bei ihnen weitaus weniger Unzufriedenheit und Langeweile gibt, weil ihre Arbeit so angelegt ist, dass sie immer das ganze Produkt – das Schiff – sehen und sein Wachsen vom ersten Tag an bis schließlich zu seiner Vollendung beim Stapellauf mitverfolgen.) Man weiß sehr wohl, dass der Arbeiter von heute an furchtbarer Langeweile leidet und dass er seine Arbeit hasst. Er als Mensch wird durch den Arbeitsprozess nicht bereichert, sondern verkrüppelt, weil keine einzige seiner Fähigkeiten die Chance bekommt, geübt zu werden und zu wachsen. [XII-169]
Dies kann auch kaum anders sein in einem System, in dem man für den Profit, den die Ware bringt, produziert und nicht wegen des sozialen oder kulturellen Wertes. Man produziert viele Waren mit eingebauten Verschleißteilen; völlig wertlose Dinge werden hergestellt, die nur durch die suggestive Macht der Werbung und der Verpackung den Anschein erwecken, nützlich zu sein. Natürlich werden auch wertvolle Waren, die wir brauchen, produziert, sonst könnte das Wirtschaftssystem nicht funktionieren. Aber Profit, nicht Nützlichkeit oder Schönheit, ist der vorrangige Zweck der kapitalistischen Produktion. Darum kann man auch nicht erwarten, dass die Arbeit aus sich heraus interessant wäre.
Neuerdings beginnt das Management zu erkennen, dass die Stumpfsinnigkeit der Arbeit auch vom Standpunkt des Profites aus produktivitätssenkend wirkt. Deshalb hat man damit angefangen, die Arbeit wieder zu dezentralisieren, um sie weniger langweilig zu machen. Der radikalste Versuch, die entfremdete Natur der Arbeit zu verändern, wurde im jugoslawischen System des Sozialismus unternommen. Dort produzierte man mancherorts in „Selbstverwaltung“, bei der alle Mitarbeiter eines Unternehmens für das Management verantwortlich sind. Das Unternehmen gehört keinem privaten Eigentümer, und auch nicht dem Staat (wie in den sowjetischen Blockstaaten), es „gehört“ im eigentlichen Sinn des Wortes nicht einmal den Arbeitern. Der legale Besitz hat seine zentrale Rolle verloren, weil es nicht auf den Besitz, sondern auf die Leitung und die Teilhabe ankommt. Auch wenn das jugoslawische System in dem kleinen Land und umgeben von sozialen Systemen, die auf privater oder staatlicher Herrschaft basieren, erwartungsgemäß in der Praxis nur sehr unvollkommen funktionierte, ist es dennoch die originellste und neueste Idee bezüglich Arbeitsorganisation und Besitz. (Vgl. hierzu die Verfassung der sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawiens, Kapitel II, Art. 6 und Kapitel V, Art. 96, zit. in I. Kolaya, 1966.) Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass die revolutionären Arbeiterbewegungen in Polen und der Tschechoslowakei von Arbeiterräten regiert wurden. Wahrscheinlich gibt es nichts, das von der Sowjetunion mehr abgelehnt wird als dieser Trend; er hatte seine frühen Repräsentanten in Deutschland in Rosa Luxemburg und am Anfang der russischen Revolution in der „Arbeiteropposition“, die sich beide in Opposition zu Lenins bürokratischen Methoden befanden.
Das entfremdete industrielle System in seiner kapitalistischen Version oder als sogenannter „Sozialismus“ gründet sich auf Prämissen, denen zufolge der Mensch seine Zeit und Energie ohne Interesse vergeudet und ausschließlich vom Wunsch nach wachsendem Konsum motiviert ist. Das Axiom zu bezweifeln, dass von außen kommende Anreize die einzige Motivation des Menschen zur Arbeit darstellen, bedeutet, das ganze System in Frage zu stellen und Sand in das Getriebe der Maschine zu streuen, die so gut zu funktionieren scheint.
Die Mehrheit der Psychologen neigt wie die meisten Sozialwissenschaftler nicht dazu, das System anzuzweifeln. Tatsächlich sind ihre Theorien nicht nur vom System beeinflusst, sondern sind dabei behilflich, das System ideologisch zu unterstützen. Sie übersteigen die grundlegenden Axiome nicht einmal in ihren Experimenten, von denen die meisten nur die Tendenz haben, die unserer Gesellschaft zugrunde liegenden Prämissen wissenschaftlich zu beweisen. Dies ist alles umso einfacher, da sie sich [XII-170] kaum mit den harten Daten auseinandersetzen, wie dies zum Beispiel die Neurophysiologen tun, und weil sie – wenn auch zumeist nicht bewusst – ihr Material in einer gesellschaftlich wünschenswerten Art und Weise manipulieren.
Gerade die Tatsache, dass bei der ganzen akademischen Diskussion um die Frage von extrinsischer oder intrinsischer Motivation kaum eine Bemerkung über die Verbindung zwischen diesem Problem und der allgemeinen Annahme über die Motivation zur Arbeit gemacht wird, legt die Vermutung nahe, dass eine Art Verdrängung dieser Verbindung stattgefunden hat, um den Sozialwissenschaftler zu blenden und ihn daran zu hindern, die Quelle seines Vorurteils zu sehen. (Einige Industriepsychologen wie Lickert, McGregor und White haben wertvolle Beiträge zum Verständnis der Motivation zur Arbeit geleistet, doch auch sie lassen sich noch immer vom Prinzip der Harmonie zwischen den Interessen des Profites und den Interessen des Menschen leiten; vgl. meinen Beitrag Humanistische Planung (1970e, GA IX, S. 29-36).
Es sind also zwei Gründe, warum das Axiom von der natürlichen Faulheit des Menschen und seinem Bedürfnis, durch äußere Stimuli der Freude oder des Schmerzes aktiviert zu werden, für das Denken der meisten Psychologen vorherrschend blieb: Der eine Grund ist die zentrale Rolle der Maschine in Verbindung mit der Arbeitsorganisation, wie sie für die Industriegesellschaft typisch ist; der andere Grund ist das Bedürfnis, die Menschen sich schuldig fühlen zu lassen, damit man sie besser manipulieren kann. Es ist ein bezeichnendes Beispiel für ideologische Beeinflussung, dass viele Neurophysiologen von Belohnungs- und Strafzonen als Äquivalenten für Lust und Schmerz sprechen. Es wird als selbstverständlich angenommen, dass selbst unser Gehirn den Gesetzen des christlich-kapitalistischen Denkens folgt, das heißt, dass Lust eine Belohnung und Schmerz eine Strafe sei.
Doch das Prinzip der Belohnung funktioniert nicht mehr einwandfrei. Die Auswirkungen der Langeweile lassen sich an zahlreichen Manifestationen beobachten: am mangelnden Interesse an der Arbeit bei vielen jungen Menschen, an der sich ausbreitenden Popularität von Drogen, an Gewalt, an stiller oder offener Verzweiflung. Eine wachsende Anzahl von Menschen fühlt, dass die Langeweile während 40 Stunden Arbeit pro Woche nicht durch den Lohn des wachsenden Konsums entschädigt wird und auch nicht werden kann, insbesondere wenn das Konsumieren selbst langweilig wird und nicht zu größerer Aktivität, Wachstum der Persönlichkeit und verbesserten Fertigkeiten führt. Das „Krankfeiern“ wie auch die Zahl der psychosomatischen Erkrankungen hat bei den Arbeitern ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Auch zeigt sich ihre Unlust an der Arbeit in der Schlampigkeit, mit der produziert wird.
Wir befinden uns in einer ernsten Krise des patriarchalen Systems, das um Pflicht und Gehorsam als höchste Werte kreist und nicht um Leben, Interesse, Wachstum, Tätigsein; das Haben und Gebrauchen sind die Leitwerte, und nicht das Sein. Es ist nicht überraschend, dass unter der Wirkung der sozialen und kulturellen Krise alte Doktrinen in Frage gestellt werden, und dass die Menschen zu zweifeln anfangen, ob innere Freude am Tätigsein nicht doch wichtiger ist als der äußerliche Spaß an Geld und Konsum.
Es gibt genügend Beweise gegen das Axiom von der angeborenen Faulheit des Menschen. Die meisten Beweise wurden innerhalb der letzten Jahrzehnte (wieder-)entdeckt. Immer mehr Menschen zweifelten am Dogma von der angeborenen Faulheit und erkannten, dass es nur dem Zweck diente, sie abhängig zu halten. Einige der wichtigsten Beweisgrundlagen werde ich in diesem Kapitel darlegen; sie lassen sich in den folgenden Bereichen finden: in den Neurowissenschaften, der Tierpsychologie, der Sozialpsychologie, der Entwicklungstheorie des Kindes, in der Lernprozesstheorie und im Phänomen des Träumens.
Die Entdeckung der im Menschen selbst gründenden Aktivität (intrinsic activity) nahm mit dem russischen Neurologen Ivan Michailowitssch Setschenow und seinem Buch Reflexe des Großhirns (1863) ihren Anfang (zit. bei D. B. Lindsley, 1964). Auf die Frage, ob ein Neugeborenes passiv oder aktiv auf äußere Sinneseinflüsse reagiert, antwortete Setschenow (zit. nach D. B. Lindsley, 1964):