Zusammenfassung
In diesem Band geht es Fromm nicht um die Pathologie des Hörigen und Unterwürfigen, sondern um den sich frei fühlenden Menschen, der etwas aus sich macht und immer erfolgreich sein muss. Dieser Erfolgsmensch und Gewinnertyp findet es ganz normal, dass er kein Eigenleben mehr spürt und keinen Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen und Antriebskräften mehr hat. Er ist sich seiner selbst fremd geworden, setzt auf Belebung und Konsum und fühlt ohne Animation nur Langeweile.
Nirgendwo im Werk Erich Fromms wird das Problem der Pathologie der Normalität so anschaulich und überzeugend erörtert, wie in den vier Beiträgen dieses Bandes aus den nachgelassenen Schriften.
Aus dem Inhalt
• Die Pathologie der Normalität des heutigen Menschen (1953)
• Zum Verständnis von seelischer Gesundheit (1962)
• Humanistische Wissenschaft vom Menschen (1957)
• Ist der Mensch von Natur aus faul? (1974)
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen
- Inhalt
- Vorwort von Rainer Funk
- Die Pathologie der Normalität des heutigen Menschen
- 1. Seelische Gesundheit in der modernen Welt
- a) Was ist seelische Gesundheit?
- b) Merkmale der modernen Gesellschaft
- c) Bedingungen des Menschseins und psychische Bedürfnisse
- d) Psychische Gesundheit und das Bedürfnis nach Religion
- 2. Aspekte der Sinnfrage in der gegenwärtigen Kultur
- a) Der Mangel an Religiosität
- b) Vom Sinn der Arbeit
- c) Produzieren und Konsumieren
- d) Glück und Sicherheit
- 3. Die Entfremdung als Krankheit des Menschen von heute
- a) Der Prozess der Abstraktion und die Entfremdung von Dingen
- b) Entfremdung in der Wahrnehmung von Menschen
- c) Entfremdung in der Sprache
- d) Entfremdung des Fühlens in der Sentimentalität
- e) Das Bezogensein auf die Welt als Ausdruck psychischer Gesundheit
- f) Entfremdung und Langeweile als Ausdruck psychischer Krankheit
- g) Entfremdung in der Politik
- h) Entfremdung des Denkens und der Wissenschaft
- i) Entfremdung in der Liebe
- 4. Aspekte zur Überwindung der kranken Gesellschaft
- a) Die Vision des Sozialismus und ihre Entstellungen
- b) Notwendige Schritte
- Zum Verständnis von seelischer Gesundheit
- 1. Das an der Gesellschaft orientierte und in der Medizin vorherrschende Verständnis von seelischer Gesundheit
- 2. Seelische Gesundheit und evolutionäres Denken
- 3. Mein eigenes Verständnis von seelischer Gesundheit angesichts der seelischen Krankheiten der heutigen Gesellschaft
- a) Der Narzissmus und seine Überwindung
- b) Die Entfremdung und ihre Überwindung
- c) Die Nekrophilie und ihre Überwindung
- d) Die gesellschaftliche Determiniertheit seelischer Gesundheit
- Humanistische Wissenschaft vom Menschen
- Ausgangsbetrachtungen
- Allgemeine Ziele
- Spezielle Zielsetzungen
- Allgemeine Bemerkungen
- Ist der Mensch von Natur aus faul?
- 1. Das Axiom von der angeborenen Faulheit des Menschen
- a) Sozio-ökonomische Aspekte des Axioms
- b) Wissenschaftsimmanente Aspekte des Axioms
- c) Das heutige Selbstverständnis von Arbeit und das Axiom
- 2. Argumente gegen das Axiom
- a) Neurologische Erkenntnisse
- b) Erkenntnisse auf Grund von Tierversuchen
- c) Ergebnisse sozialpsychologischer Versuche
- d) Die kreative Kraft des Träumens
- e) Ergebnisse der Beobachtung von Säuglingen und Kleinkindern
- f) Psychologische Einsichten
- Literaturverzeichnis
- Impressum
- Der Herausgeber
- Der Autor
Die Pathologie der Normalität des heutigen Menschen
(Modern Man’s Pathology of Normalcy)
(1991e [1953])[1]
1. Seelische Gesundheit in der modernen Welt
a) Was ist seelische Gesundheit?
Es gibt zwei mögliche Zugänge zur Frage, was seelische Gesundheit in der gegenwärtigen Gesellschaft ist, einen statistischen und einen analytischen, qualitativen.
Der statistische Zugang zur Frage ist einfach, so dass ich ihn kurz abhandeln kann: Er befragt die Statistik nach den Aufwendungen für die seelische Gesundheit in der modernen Gesellschaft. Diese Zahlen sind in keiner Weise ermutigend. Etwa eine Milliarde Dollar werden [Anfang der fünfziger Jahre] jährlich in den Vereinigten Staaten für seelische Erkrankungen aufgewendet. Die Hälfte der Krankenhausbetten ist mit Menschen belegt, die seelisch erkrankt sind. Diese Zahlen sind noch weniger ermutigend, wenn wir den Blick auf die bestürzenden und vielsagenden Daten aus Europa richten. Gerade jene europäischen Länder, die wie die Schweiz, Schweden, Dänemark und Finnland als besonders ausgewogene, sichere Länder des Bürgertums gelten, gehören zu den Ländern, die im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern eine sehr viel höhere Rate an Schizophrenie, Selbstmorden, Alkoholismus und Totschlagdelikten haben.
Die statistischen Daten stimmen nachdenklich. Was hat es zu bedeuten, dass gerade diese europäischen Länder gesellschaftlich und kulturell das erreicht haben, was wir als erstrebenswertes Ideal ansehen, aber noch nicht erreicht haben, zu jener ziemlich wohlhabenden bürgerlichen Existenz zu gelangen, die sich zum großen Teil auf wirtschaftliche Sicherheit gründet? Was bedeutet es, dass der seelische Zustand in diesen Ländern nicht dafür spricht, dass deren Art zu leben seelischer Gesundheit förderlich ist? Entgegen unserer allgemeinen Annahme führt sie nicht zu mehr Glück.
Auch wenn es in den Vereinigten Staaten und in Europa sehr viele seelische Erkrankungen gibt, kann man auf der anderen Seite auch von guten Entwicklungen berichten. Die Versorgung der seelisch Kranken wird immer besser. Neue Methoden wurden entwickelt. In den Vereinigten Staaten und in Europa gibt es eine Bewegung für seelische Gesundheit. Tatsächlich wissen wir nicht, ob unsere Daten wirklich eine größere Rate an seelischen Erkrankungen widerspiegeln oder nur eine größere [XI-214] Aufmerksamkeit für seelische Gesundheit ausdrücken. Durch verbesserte Methoden, genauere Beobachtung, den Ausbau der Einrichtungen erkennen wir weit besser, wer seelisch krank ist, so dass unsere Statistiken besorgniserregender ausfallen, als wenn wir die Frage nach seelischer Gesundheit und Krankheit nicht so aufmerksam und interessiert verfolgen würden. Wählen wir nur einen statistischen Zugang und schauen wir nur auf die positiven und negativen Daten, macht uns die Kenntnis der Daten nicht klüger. Meistens sagt uns der Blick auf die Statistik noch nicht, was die Zahlen bedeuten. Deshalb möchte ich mich in diesen vier Vorlesungen auch nicht mit der statistischen, sondern mit der qualitativen Seite der Frage nach der seelischen Gesundheit beschäftigen.
Was bedeuten seelische Gesundheit und seelische Krankheit? Was verstehen wir darunter? In welcher Beziehung stehen seelische Gesundheit und Krankheit, wie ich sie verstehe, zur besonderen Struktur unserer Gesellschaft im Jahre 1953? Geht es um die seelische Gesundheit in der gegenwärtigen Gesellschaft, dann genügt es nicht, hier die seelische Gesundheit und dort unsere Gesellschaft als feste Größen zu vergleichen. Vielmehr müssen wir die Verflechtungen verstehen und herausfinden, welche Faktoren des Gesellschaftsprozesses und der Gesellschaftsstruktur der Gesundheit förderlich sind und welche Strukturmerkmale zu seelischer Erkrankung führen.
Bei der Frage, was seelische Gesundheit heißt, gilt es zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen zu unterscheiden. Beide werden heute vertreten, jedoch nicht deutlich genug auseinandergehalten, obwohl der Unterschied ganz offensichtlich ist. Die eine ist eine relativistische, gesellschaftliche Auffassung, die dem Geisteszustand der gesellschaftlichen Mehrheit entspricht. Ähnlich wie bei der Definition von Intelligenz, die mit einem Intelligenztest gemessen wird, wird die Auffassung vertreten, dass sich seelische Gesundheit von der Anpassung an die Lebensweise einer gegebenen Gesellschaft her bestimmen lasse, und zwar völlig unabhängig davon, ob diese Gesellschaft als solche gesund oder verrückt ist. Das einzige Kriterium ist, dass ein Mensch an sie angepasst ist.
Vielen wird die Kurzgeschichte von H. G. Wells (1925) The Country of the Blind bekannt sein, in der ein junger Mann sich in Malaya verirrt und auf einen Stamm stößt, in dem alle Menschen seit Generationen an angeborener Blindheit leiden, während er sehend ist. Das ist sein Pech, denn sie sind ihm gegenüber alle argwöhnisch. Unter ihnen gibt es gelehrte Ärzte, die seine Krankheit als eine seltsame und bisher unbekannte Störung in seinem Gesicht diagnostizieren, die alle möglichen sonderbaren und pathologischen Phänomene hervorbringt. [„Die komischen Dinger, die man Augen nennt und die dazu da sind, im Gesicht eine hübsche leichte Vertiefung zu erzeugen, sind in seinem Fall erkrankt, und zwar so, dass sein Gehirn davon mitbetroffen ist. Sie sind stark aufgequollen, er hat Wimpern, seine Lider bewegen sich, wodurch sich sein Gehirn in einem Zustand ständiger Erregung und Ablenkung befindet.“] Er verliebt sich in ein Mädchen und will es heiraten. Dessen Vater widersetzt sich der Heirat, willigt dann aber unter der Bedingung ein, dass der junge Mann einer Operation zustimmt, mit der er blind gemacht wird. Noch bevor er die Blendung erlaubt, rennt er davon.
Die Kurzgeschichte von Wells zeigt ganz einfach, was wir alle mehr oder weniger [XI-215] fühlen, wenn es um normal und nicht normal, gesund und krank vom Standpunkt der Anpassung aus geht. Der Anpassungstheorie liegen folgende Annahmen zugrunde: 1. Jede Gesellschaft als solche ist normal; 2. seelisch krank ist, wer von dem von der Gesellschaft favorisierten Persönlichkeitstyp abweicht; 3. das Gesundheitswesen im Bereich von Psychiatrie und Psychotherapie verfolgt das Ziel, den Einzelnen auf das Niveau des Durchschnittsmenschen zu bringen, unabhängig davon, ob dieser blind ist oder nicht blind. Es zählt nur, dass der Einzelne angepasst ist und das gesellschaftliche Gefüge nicht stört.
Für die Anpassungstheorie sind einige Elemente typisch, so zum Beispiel der Glaube, dass unsere Familie, unsere Nation, unsere Rasse als normal erlebt wird, während die Lebensweise der anderen als nicht normal empfunden wird. Eine scherzhafte Episode mag diesen Punkt besonders verdeutlichen. Ein Mann kommt zum Doktor und möchte ihm von seinen Symptomen erzählen. Er beginnt so: „Also, Herr Doktor, jeden Morgen, nachdem ich geduscht und mich erbrochen habe (...)“, da unterbricht ihn der Arzt: „Heißt das, dass Sie sich jeden Morgen erbrechen?“, worauf der Patient sagt: „Aber Herr Doktor, tun dies nicht alle?“ – Die Geschichte ist wohl gerade deshalb spaßig, weil sie eine Einstellung trifft, die wir alle mehr oder weniger teilen. Wir wissen vielleicht, dass auch ausgefallene Eigentümlichkeiten von uns bei anderen zu finden sind. Was wir allerdings nicht wissen: Es gibt viele Eigentümlichkeiten, die es nur in unseren Familien, in den Vereinigten Staaten oder in der westlichen Welt gibt, von denen wir aber annehmen, sie kämen bei allen Menschen vor; in Wirklichkeit sind sie aber gerade keine allgemein menschlichen Züge.
Für den anpassungstheoretischen Standpunkt ist aber nicht nur dieses provinzielle Gefühl typisch, dass die Art, wie wir sind und aufwachsen, normal ist. Dahinter steht eine – man könnte sagen – relativistische Philosophie, die vor allem behauptet, man könne keine objektiv gültigen Werturteile fällen. Gut und böse seien sozusagen Glaubensangelegenheiten. Sie seien ihrem Wesen nach nichts anderes als der Ausdruck dessen, was in einer Kultur faktisch getan und gegenüber anderen Kulturen bevorzugt werde. Was die Menschen einer bestimmten Kultur gerne tun, nennen sie „gut“, was sie nicht mögen, nennen sie „böse“. Es gebe aber nichts, woran sich dies objektiv messen lassen könnte; vielmehr sei es eine reine Ansichtssache.
Im Gegensatz zum anpassungstheoretischen Standpunkt gibt es einen anderen, den ich bereits in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 14-18) ausgeführt habe. Er geht von der Annahme aus, dass es in Wirklichkeit doch Werturteile gibt, die objektiv gültig sind, und dass solche Werturteile keine Frage des Geschmacks oder des Glaubens sind. So kann der Arzt oder der Physiologe unter der axiomatischen Annahme, dass zu leben besser ist als zu sterben bzw. dass das Leben besser ist als der Tod, zu dem objektiv gültigen Werturteil kommen, dass dieses Nahrungsmittel besser ist als jenes oder dass diese Art von Luft oder diese Art auszuruhen oder diese Anzahl von Stunden Schlafs besser ist als eine jeweils andere. Die eine ist der Gesundheit zuträglich, die andere nicht. Es ist meine Überzeugung, dass dies nicht nur auf unseren Körper zutrifft, sondern auch auf unsere Seele.
Auch bezüglich der Seele können wir zu objektiv gültigen Aussagen darüber kommen, was für sie gut und was schlecht ist, und zwar auf der Basis unserer Kenntnis der [XI-216] Natur und der Eigengesetzlichkeit des Seelischen. In Wirklichkeit wissen wir über die Seele noch sehr wenig. Vermutlich wissen wir mehr über Vitamine und Kalorien als darüber, was unsere Psyche braucht, um normal zu leben. Wir alle haben erlebt, wie das Wissen über Vitamine und Kalorien unsere Lebensgewohnheiten verändert hat. Warum sollten wir hinsichtlich unserer Seele, vorausgesetzt, wir kümmern uns ernsthaft darum, nicht auch entdecken, dass wir über sie eine Menge wissen, wenn wir ihr nur Aufmerksamkeit schenken?
Der soziologische Relativismus, für den das gut ist, was für den Bestand und das Überleben einer gegebenen Gesellschaft notwendig ist, ist gar nicht so willkürlich, wie es den Anschein hat. Vom Standpunkt einer gegebenen Gesellschaft aus kann man sich tatsächlich kaum vorstellen, dass es nicht zu dieser Ansicht kommt. Denn eine Gesellschaft mit einer bestimmten Struktur besteht nur, solange sich ihre Mitglieder mit einer Einstellung identifizieren, die ein mehr oder weniger glattes Funktionieren dieser Gesellschaft garantiert. Jede Gesellschaft setzt alles daran, mit Hilfe ihrer kulturellen Einrichtungen, ihres Erziehungssystems, ihrer religiösen Ideen usw. einen Persönlichkeitstyp zu schaffen, der das zu tun wünscht, was er tun muss, und der nicht nur das Erforderliche tun will, sondern mit Eifer die Rolle auszufüllen sucht, die die Gesellschaft von ihm verlangt, damit sie reibungslos funktioniert.
In einer kriegerischen und räuberischen Gesellschaft bedeutet das Funktionieren ihrer Mitglieder, dass sie kriegerisch sind, erobern wollen, aggressiv sind, rauben und töten. Eine Figur wie „Ferdinand der Stier“ [Ferdinand, eine Kinderbuchfigur, liebt die Blume auf der Weide und taugt nicht für den Stierkampf in der Arena] würde diese Menschen erheblich daran hindern wollen, Krieg zu führen und ihre Persönlichkeitsstruktur zu bestätigen. Diese ist dennoch nicht das Ergebnis irgendeiner willkürlichen Entscheidung, sondern wurzelt in einer ganzen Reihe von objektiven historischen Bedingungen, innerhalb derer diese Gesellschaft funktioniert. Die Persönlichkeitsstruktur lässt sich nicht so ohne weiteres ändern. Oder nehmen wir umgekehrt als Beispiel eine kooperative, Ackerbau treibende Gesellschaft, in die sich ein Mitglied einer kriegerischen Gesellschaft verirrt. Dieses würde ganz verunsichert sein und von den anderen als krank betrachtet werden. Würden sich mehrere Mitglieder dieser Gesellschaft nach seiner Art entwickeln, stellten diese eine ernste Gefährdung für das Funktionieren der Gesellschaft dar.
Man kann sagen, dass jede Gesellschaft ein ausdrückliches und begründetes Interesse an einem bestimmten Maß von Konformität hat. Dieses Interesse folgt aus dem Überlebenswillen dieser Gesellschaft, die ihre eigene Struktur und ihre Einmaligkeit sichern will. Nun wird diese Erwartung, sich konform zu verhalten, im Alltagsleben sehr betont. Gewiss habe ich es heute, im Jahre 1953, nicht nötig, den Konformismus eigens zu betonen; eher wäre es notwendig zu unterstreichen, dass heute das Überleben der Gesellschaft davon abhängt, dass es noch Nonkonformisten gibt. Hätte es unter den Höhlenbewohnern nur Konformisten gegeben, dann würden wir ganz sicher noch heute in Höhlen leben und noch immer Kannibalen sein.
Die Entwicklung der Menschheit hängt zum einen von einer bestimmten Bereitschaft zum Konformismus ab, ebenso aber auch von einer bestimmten Bereitwilligkeit und Entschiedenheit, sich nicht anzupassen. Nicht nur für eine fortschrittliche Entwicklung, [XI-217] sondern in Wirklichkeit für das Überleben jeder Gesellschaft der menschlichen Rasse ist die Bereitschaft, sich nicht anzupassen, ebenso wesentlich wie die Bereitwilligkeit, sich jenen Regeln gegenüber konform zu verhalten, die für diese Gesellschaft das Spiel des Lebens darstellen.
Unter den verschiedenen Betrachtungsweisen, die das Normale oder das Gesunde mit dem Angepassten identifizieren, gibt es schließlich noch eine weitere Version, die ich weitgehend für eine Rationalisierung halte. Hier wird argumentiert:
Nein, ich vertrete keinen Relativismus und ich behaupte auch nicht, dass jede Gesellschaft gemäß dem lebt, was normal, gut und gesund ist. Doch zufällig ist unsere Gesellschaft und die amerikanische Art zu leben im Jahre 1953 die Erfüllung und das Ziel allen menschlichen Strebens. Dies ist die Art, wie normale Menschen leben, während die bisherigen Gesellschaften oder die Gesellschaften bis vor 150 Jahren rückständig, vielleicht abnormal waren und Dinge taten, die nicht richtig waren. Wir sind heute endlich an dem Punkt, wo die Grundlage unseres Lebens und unserer Gesellschaft mit dem zusammenfällt, was von einem objektiven, und nicht von einem relativistischen Standpunkt aus normal und gesund genannt werden muss.
Ein solcher Standpunkt ist nun wirklich sehr gefährlich, klingt er doch so objektiv. Aber er klingt nur so objektiv, in Wirklichkeit ist er nur eine andere Spielart des relativistischen soziologischen Standpunkts, ohne sich zu ihm zu bekennen. Ich werde ausführlich zu zeigen versuchen, dass es zwar viel Gutes in unserer Gesellschaft gibt, auf das wir von mir aus auch stolz sein können, dass es aber dennoch äußerst fragwürdig ist, ob die Art, wie wir Amerikaner heute leben, mehr der seelischen Gesundheit oder mehr der seelischen Erkrankung förderlich ist.
Ich möchte in diesen Vorlesungen analysieren, wie sich unsere Art zu leben im einzelnen auf den Menschen auswirkt: Welche Wirkungen haben unsere Art zu leben und die Weise, wie wir gesellschaftlich und politisch organisiert sind, auf den Menschen? Wie wirken sich diese Faktoren auf unsere seelische Gesundheit aus? In welchem Ausmaß tragen sie zu seelischen Erkrankungen bei? Welche Konsequenzen und Möglichkeiten ergeben sich aus der Analyse, um das, was gut ist, zu verbessern, und das, was schlecht ist, zum Verschwinden zu bringen?
Die Vereinigten Staaten werden heute, im Jahr 1953, mit einigen Emotionen beurteilt. Auf der einen Seite finden wir eine Kritik, die heute eigentlich nur von den Stalinisten vorgetragen wird. Sie behaupten nicht nur, die Menschen im ganzen Land müssten hungern; für sie gibt es überhaupt nichts Gutes, alles ist schlecht. Diese Art zu kritisieren kann man nicht ganz ernst nehmen, denn von einer objektiven Warte aus ist die Behauptung schlichtweg eine Lüge. Im Gegensatz zu einer solchen Kritik finde ich die Welt, in der wir hier leben, immer noch eine der besten, die die Menschheit hervorgebracht hat. Dies besagt nicht viel, denn bisher hat die menschliche Rasse kaum eine gute Welt hervorgebracht, und ich habe an der jetzigen eine Menge zu kritisieren, wenn ich sehe, wie die Dinge derzeit laufen. Dennoch beurteile ich die Lage spontan besser, wenn ich höre, dass diese Welt so furchtbar schlecht sein soll. Wer ein wenig damit vertraut ist, was in den letzten fünf- bis sechstausend Jahren vor sich ging, der muss sagen, dass die Welt der Vereinigten Staaten von heute trotz allem eine der besten Versuche darstellt, die bisher unternommen wurden. Bei allem, was in ihr in beängstigender [XI-218] Weise zu kurz kommt, gibt sie doch Hoffnung auf eine durchaus konstruktive Entwicklung, vorausgesetzt, wir haben das Gespür dafür, das zu erkennen, was notwendig ist, und das zu vermeiden, was vermieden werden kann.
Auf der anderen Seite gibt es bei der Einschätzung der amerikanischen Art zu leben die Patrioten, für die der American way of life der einzig wünschenswerte ist. Sie halten ihn fraglos für den besten aller Zeiten. Eine solche Einschätzung ist ziemlich primitiv; sie zeigt wenig Verstand, und ich fürchte, auch kein wirkliches Interesse. Meines Erachtens gibt es keinen Grund, es als Tugend anzusehen, wenn jemand sein Land für wunderbar hält, solange wir davon überzeugt sind, dass es auch nicht tugendhaft ist, wenn jemand sich selbst für wunderbar hält. Wenn ich mich brüste: „Bin ich nicht wunderbar?“, werden die anderen mich für ziemlich seltsam halten und mir kaum Achtung entgegenbringen. Behaupte ich aber: „Mein Land ist wunderbar“, dann wird dies als sehr klug und tugendhaft angesehen. In Wirklichkeit ist es nur ein Ausdruck von Egozentrismus und von Mangel an echtem Interesse, wenn jemand sich mit derartigen Behauptungen zufriedengibt, ohne danach zu fragen, was falsch läuft, und sich damit zu befassen. [...]
b) Merkmale der modernen Gesellschaft
Bevor ich auf das Problem der seelischen Gesundheit in der gegenwärtigen Gesellschaft im einzelnen zu sprechen komme, möchte ich kurz die wichtigsten Charakteristika und Einstellungen zur Sprache bringen, die unserer modernen Gesellschaft zugrunde liegen.
Charakteristisch für die moderne westliche Welt ist an erster Stelle das Auftauchen des Individuums aus der Gruppe, zu der es in einer festgeschriebenen Weise gehörte und in die es sich einfügen musste. Der Mensch taucht als Individuum auf und ist kein Mitglied einer statischen Gesellschaft, wie sie die feudale Gesellschaft des Mittelalters für viele Jahrhunderte war. Wir sprechen deshalb vom Individualismus oder von der Freiheit des modernen Menschen in Abgrenzung von der festgeschriebenen und statischen Position des mittelalterlichen Menschen, der an erster Stelle ein Mitglied einer Gruppe war und auf Grund eben dieser Struktur auch nie aufhörte, ein Mitglied dieser Gruppe zu sein. Der moderne Mensch ist aus diesen primären Bindungen und ursprünglichen Strukturen aufgetaucht, aber – und ich werde bei all diesen Punkten immer ein Aber hinzufügen – der Mensch hat vor der erreichten Freiheit Angst. Er ist zwar nicht mehr ein Glied einer organischen Gruppe, doch er wurde zu einem Automaten, der sich einen Ersatz für das Verlorene darin sucht, dass er sich an die Gesellschaft, an die Konvention, an die öffentliche Meinung und alle möglichen Gruppierungen klammert, weil er nicht weiß, was er mit seiner Freiheit anfangen soll. Er hält es nicht aus, alleine zu sein und frei von diesen früheren Bindungen, in denen er von der Gesellschaft seinen Platz zugewiesen bekommen hatte.
Ein anderes Merkmal der modernen westlichen Gesellschaft hängt mit dem Auftauchen des Individuums aus dieser kollektiven Organisation der Gesellschaft eng zusammen. Wir nennen es gewöhnlich die individuelle Initiative. Im mittelalterlichen [XI-219] Zunftwesen war das einzelne Zunftmitglied in seinen ökonomischen Aktivitäten von der Zunft abhängig. In der modernen kapitalistischen Gesellschaft sind die Menschen frei. Der Kapitalist ist frei. Der Arbeiter ist frei. Sie gehen ihre eigenen Wege und entwickeln das, was man persönliche oder individuelle Initiative nennt. Bei aller persönlichen Initiative, die vor allem im Neunzehnten Jahrhundert in den Vordergrund gestellt wurde, leben wir dennoch heute in einer Kultur, in der die Menschen immer weniger Eigeninitiative ergreifen. Am ehesten wird sie vielleicht noch im wirtschaftlichen Bereich ergriffen, doch auch da kommt sie im Vergleich zum Neunzehnten Jahrhundert immer weniger vor. Dies hängt mit bestimmten Änderungen in der Struktur des modernen Kapitalismus zusammen, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde. Fragt man einmal, worin – abgesehen vom Investieren des Geldes – noch individuelle Initiative besteht, dann gibt es sie bei näherem Hinsehen kaum noch. Versteht man unter Eigeninitiative etwas, was mit der Überraschung des Lebendigen zu tun hat, mit dem Begreifen des Lebens als eines Abenteuers, mit dem, dass man aus seinem Leben etwas macht und dass man von seinem Nachbarn ein wenig verschieden ist, dann gab es bei den Menschen des Mittelalters ebenso viel, wenn nicht noch mehr Eigeninitiative. Ich möchte behaupten, dass vermutlich die Menschen der meisten Kulturen mehr individuelle Initiative zeigen als wir. Begreift man die Eigeninitiative im menschlichen Sinne und anders als in einem rein wirtschaftlichen Verständnis, dann ist sie beim modernen Menschen auf einem Tiefstand angelangt.
Das dritte, für die moderne Gesellschaft charakteristische Merkmal sehe ich darin, dass wir zwar eine Wissenschaft und eine Praxis geschaffen haben, die es uns erlaubt haben, in einem ungeahnten Ausmaß gegen die Natur vorzugehen und sie zu besiegen; gleichzeitig sind wir, die stolzen Menschen, die auszogen, die Natur zu beherrschen, zu Sklaven eben jener wirtschaftlichen Maschinerie geworden, die wir in diesem Naturbeherrschungsprozess geschaffen haben. Wir beherrschen die Natur, aber unsere Maschinen beherrschen uns. Wir werden wohl mehr von den Artefakten, die wir mit unseren Maschinen geschaffen haben, beherrscht, als die Menschen in vielen Kulturen von der Natur beherrscht werden, die diese noch nicht zu meistern gelernt haben. Vergleicht man zum Beispiel die Gefahr, die von Erdbeben oder einer Überschwemmung, also von der Natur, ausgeht, mit den Gefahren, die vom Risiko eines atomaren Krieges ausgehen, dann zeigt dies, wie sehr wir von unseren eigenen Schöpfungen weitaus stärker bedroht sind als die Kulturen, die von der Natur beherrscht werden.
Das vierte Charakteristikum der modernen Kultur ist ihr wissenschaftlicher Ansatz, wobei ich mit wissenschaftlichem Ansatz etwas meine, was weit über den rein technischen Sinn eines solchen Ansatzes hinausgeht. Menschlich gesehen ist der wissenschaftliche Ansatz die Fähigkeit, objektiv zu sein, das heißt die Demut zu haben, die Welt, die anderen Menschen, die Dinge und uns selbst so zu sehen, wie sie sind, und die Wirklichkeit nicht durch unsere Wunschvorstellungen und unsere Gefühle zu entstellen. Wissenschaftlicher Ansatz bedeutet, Glauben an die Macht unseres Denkens zu haben, um die Wahrheit, die Wirklichkeit zu erkennen und jederzeit bereit zu sein, die Ergebnisse unseres Denkens durch neugefundene Daten zu verändern. Und ein solcher Ansatz bedeutet, ehrlich und objektiv zu sein und keine neugefundenen [XI-220] Daten zu unterschlagen, nur weil wir vermeiden wollen, unsere eigene Vorstellung ändern zu müssen. Der moderne wissenschaftliche Ansatz ist, menschlich gesehen, meines Erachtens einer der größten Schritte in der Entwicklung des Menschen, weil er ein Zeichen des Ausdrucks eines Geistes von Demut, Objektivität und Wirklichkeitssinn ist, den es in jenen Kulturen, die einen solchen wissenschaftlichen Ansatz nicht entwickelt haben, nicht in gleichem Maße und in gleicher Weise gibt.
Doch was haben wir mit diesem Ansatz gemacht? Wir sind zu Anbetern der Wissenschaft geworden und haben die wissenschaftliche Feststellung zum Ersatz für die alten religiösen Dogmen gemacht. Der wissenschaftliche Ansatz ist bei uns ganz und gar kein Ausdruck von Demut und Objektivität, sondern nur die andere Formulierung eines Dogmas. Der Durchschnittsmensch sieht im Wissenschaftler den Priester, der auf alles eine Antwort weiß und der mit allem in Berührung ist, was er zu wissen begehrt. Er gleicht damit jenen Menschen, die ihre Befriedigung darin finden, dass sie über den Priester, der in Kontakt mit Gott steht, an dieser Kommunikation mit Gott Anteil haben. Wer deshalb heute wissenschaftliche Journale liest, sich über die letzten Entdeckungen informiert und davon überzeugt ist, dass es Wissenschaftler gibt, die auf alles eine Antwort wissen, der hat Teil an diesem neuen Dogma, an der Religion der Wissenschaft, ohne dass er jemals noch selbst etwas denken muss.
Ein fünftes Merkmal der Zivilisation seit den letzten 150 bis 200 Jahren ist unsere politische Demokratie. Auch sie stellt einen ungeheuren Schritt nach vorne dar, denn die Menschen können nicht nur entscheiden, was mit ihren Steuern getan wird. Auch bei allen wichtigen gesellschaftlichen Anliegen können sie für sich selbst entscheiden. Ursprünglich waren diese Ideen und dieses Prinzip der Demokratie eine Reaktion auf den absoluten bzw. feudalen Staat, in dem den Menschen keinerlei Mitbestimmungsrecht bei Entscheidungen, die ihr Leben betrafen, eingeräumt wurde. Doch auch diese Errungenschaft verkam in vielfältiger Weise. Um für ihre Entartung einen besonders eindrucksvollen Vergleich zu gebrauchen: Demokratie ist heute wie eine Wette auf der Pferderennbahn mit all der Aufregung, allen Risiken und all den irrationalen Elementen, dass es vielleicht richtig ist, auf Pferd Nummer drei zu setzen, weil man in der letzten Nacht von ihm geträumt hat. Ich leugne nicht, dass unserem Wahlsystem insgesamt ein gewisses Maß an Vernünftigkeit innewohnt; und doch kann man nicht sagen, es berücksichtige die Interessen der Einzelnen bei Angelegenheiten, die die Gesellschaft betreffen. Es ist zwar besser als das, was wir sonst haben, aber zweifellos ist es noch meilenweit von seiner ursprünglichen Idee entfernt.
Alle genannten Merkmale der modernen Gesellschaft sind in erster Linie als Negationen der vormodernen Strukturen zu verstehen. Persönliche Freiheit, individuelles Unternehmertum, der wissenschaftliche Ansatz, die politische Demokratie, die Beherrschung der Natur – alles findet seinen Ausdruck primär in Begriffen der Negation von etwas anderem. Das Neue ist entgegengesetzt, verschieden; es negiert die entsprechenden Züge in der feudalen Gesellschaftsstruktur. Meine Befürchtung aber ist, dass wir in der Negation steckenbleiben und diese Ideen nur formulieren und fruchtbar werden lassen in Begriffen der Negation, die vor 200 oder 300 Jahren einmal neu waren, statt auf eine neue Ebene des Diskurses zu kommen, sozusagen zur Negation der Negation, also zu einer kritischen Beurteilung dessen, was diese Negation bedeutet. [XI-221] Wir müssen die Ebene der Negation überschreiten und zu neuen, positiveren Formulierungen dessen kommen, was wir wollen; denn schließlich ist der absolute Staat oder gar der Feudalismus nicht mehr unser Problem. Mag sein, dass der Leitartikel der New York Times vor 100 Jahren noch ein aufdeckendes, ermutigendes oder suggestives Dokument war. Auf mich haben die Leitartikel im Jahre 1953 nicht mehr diese Wirkung, und ich denke, dass es den meisten anderen auch so geht. Vielmehr bestätigen die Leitartikel nur, was der Einzelne denkt, und dies ist für manche allemal eine schöne und erfreuliche Erfahrung.
Betrachten wir die positiven Charakteristika unserer Kultur und Gesellschaft, dann sollten wir erkennen, dass wir auf der Ebene der Negationen steckengeblieben sind, und dass es bereits ein wenig zu spät ist. Es ist schon lange her, dass die Negation wirklich fruchtbar und konstruktiv war. Wir sollten von der Negation auf eine neue Ebene kommen, die die Negation der Negation oder – wie man auch sagen kann – eine neue Position ist.
c) Bedingungen des Menschseins und psychische Bedürfnisse
Um meinen Ansatz plausibel zu machen, muss ich noch einige andere allgemeine Feststellungen treffen, bevor ich dann die Auswirkungen unserer gesellschaftlichen und kulturellen Struktur auf den Menschen erörtere. Die erste Feststellung lautet: Jeder Mensch muss eine Antwort auf seine Existenzfrage geben. Gehe ich, anders gesagt, von der grundsätzlichen Annahme aus, dass der Mensch genug zu essen und zu trinken hat, ausreichend schläft und sich sicher fühlt und – Freud würde ergänzen – seine normale sexuelle Befriedigung hat, und er keinerlei Beeinträchtigung erfährt, so dass das Leben kein besonderes Problem aufwirft, dann beginnt meiner Meinung nach erst das eigentliche Problem des Menschen.
So sehr es stimmt, dass derjenige tatsächlich Probleme hat, der nicht genug zu essen hat, sich unsicher fühlt und Schwierigkeiten mit der Grundversorgung des Lebens hat, so sehr trifft es zu, dass damit noch gar nicht die wahren Probleme der menschlichen Existenz berührt sind. Ich möchte noch einmal auf einige Fakten in den stabilen kleinen protestantischen Ländern Europas kommen. In ihnen gibt es kaum Probleme mit den Bedürfnissen des Lebens: Die Menschen dieser Länder haben genug zu essen, sie kooperieren, der Wettbewerb ist nicht zu heftig, sie haben nicht einmal an einem Krieg teilgenommen. Und doch steht es außer Zweifel, dass das Leben in diesen Ländern durch eine heimliche Langeweile gekennzeichnet ist, die sich explosionsartig in Zahlen über seelische Erkrankungen zeigt.
Wir sprechen oft von den Übeln des Lebens, von Krankheit, seelischen Leiden, Alkoholismus usw. Wir sind uns kaum in ausreichendem Maße bewusst, dass eines der schlimmsten Leiden im Leben aber Langeweile ist und dass die meisten Menschen alle Möglichkeiten nutzen und Anstrengungen unternehmen, nicht um die Langeweile zu überwinden – dies ist nämlich gar nicht so einfach –, sondern vor ihr zu fliehen und sie zuzudecken. Viele sind dankbar dafür, dass sie sich acht Stunden am Tag nicht langweilen, weil sie hart arbeiten müssen, und sie danken Gott, dass er ihnen das [XI-222] Bedürfnis zu schlafen gegeben hat, womit weitere acht Stunden ausgefüllt sind. Das größte Problem aber ist, wie man die restlichen acht Stunden füllen und mit der Langeweile fertig werden soll, die durch unsere Art zu leben ständig neu erzeugt wird.
Kennzeichnend für die Situation des Menschen sind tief reichende Widersprüche. Der wohl am tiefsten reichende ist der der Begrenztheit unserer Existenz, der letztlich seinen Ausdruck in der Unausweichlichkeit des Todes findet. Die Widersprüche haben ihren Grund in der Tatsache, dass wir bezüglich unserer gesamten physiologischen Organisation zwar Teil der tierischen Welt sind, doch gleichzeitig unabhängig von ihr. Wir gehören zu ihr, sind in ihr, und doch gehören wir nicht zu ihr. Uns sind Vernunft und Vorstellungsvermögen zu eigen, die es uns erlauben, ja die uns beinahe zwingen, uns unserer selbst gewahr zu werden als unterschiedene, eigene Wesen, und uns unseres eigenen unausweichlichen Endes, das das genaue Gegenteil des Lebens ist, bewusst zu sein.
Wir müssen uns mit den Widersprüchen in unserer Existenz auseinandersetzen und unserem Leben selbst einen Sinn geben. Es ist uns unmöglich, nur zu leben, zu essen und zu trinken, ohne dem Leben einen Sinn zu geben. Wir müssen immer eine Antwort auf das Problem des Lebens geben, und zwar sowohl theoretisch wie auch praktisch. Damit meine ich, dass wir einen Bezugsrahmen benötigen, an dem wir uns in unserem Leben orientieren können, so dass der Prozess des Lebens und unsere Position in ihm irgendwie wahrnehmbar und bedeutsam wird. Wenn wir nicht verrückt sind und wenn wir nicht das Wissen um die Probleme unserer Existenz verdrängen, indem wir zwanghaft einem Fluchtweg folgen – was manchen Menschen gelingt, und zwar zum Teil sehr umfassend –, dann müssen wir uns mit der Frage der Bedeutung unseres Lebens befassen; dazu benötigen wir einen Bezugs- und Orientierungsrahmen, der uns Sinn gibt. Es geht dabei nicht nur um einen intellektuellen Rahmen; vielmehr benötigen wir auch als Ordnungsprinzip ein Objekt der Hingabe, für das wir unsere Energien hingeben können über das hinaus, was wir für Produktion und Reproduktion brauchen.
Man mag einwenden, dass ein solches Bedürfnis etwas Selbstverständliches sei. Wie soll man es beweisen können? Ich weiß auch nicht, ob ich es für jeden zufriedenstellend beweisen kann. Ausgangspunkt für meine Behauptung ist meine Selbstbeobachtung – und von der sollte man immer ausgehen – und die Beobachtung von Menschen, die psychiatrische Hilfe suchen, sowie die Beobachtung dessen, was in der Welt vor sich geht. Auf Grund dieser Beobachtungen habe ich den Eindruck, dass das Bedürfnis nach einem Sinn gebenden Bezugsrahmen und das Bedürfnis nach einem Objekt der Hingabe, die uns befähigen, unsere Kräfte auf Dinge zu lenken, die den Prozess der Produktion von Gegenständen zum Erhalt unseres Lebens übersteigen, dass diese zwei Bedürfnisse imperativischer Natur sind und nicht unbefriedigt bleiben können. In diesem Sinne brauchen wir alle Religion, vorausgesetzt wir verstehen Religion in einem sehr allgemeinen Sinne, nämlich unabhängig von ihren besonderen Inhalten, als System der Orientierung und als Objekt der Hingabe.
Wird Religion in diesem ganz allgemeinen Sinne als System der Orientierung und als Objekt der Hingabe verstanden, dann fallen unter diesen Begriff nicht nur – wie wir dies in der westlichen Welt gewöhnt sind – die theistische Religion, sondern auch der [XI-223] Buddhismus, der Konfuzianismus, der Taoismus, ebenso aber auch der Stalinismus oder der Faschismus, eben weil sie jene Bedürfnisse im Menschen ansprechen, die in unserer Kultur die Religion befriedigt.
d) Psychische Gesundheit und das Bedürfnis nach Religion
Auf das Problem der menschlichen Existenz gibt es vielfältige Antwortmöglichkeiten. Ein Blick in eine Sammlung von Texten zur Religionsgeschichte kann unter Umständen bereits mit allen im Verlauf der bisherigen Geschichte gegebenen Antworten auf die Frage der menschlichen Existenz bekannt machen. Die verschiedenen Religionen sind nämlich nur verschiedene Antworten auf das gleiche Problem.
Die Lektüre eines Lehrbuchs der psychischen Erkrankungen und das Studium von Neurosen und Psychosen zeigen, dass diese Erkrankungen als individuelle Antworten auf das Problem der menschlichen Existenz angesehen werden können. Es lässt sich auch zeigen, dass eben jene Menschen an Neurosen und Psychosen erkranken, die für die Frage nach dem Sinn des Lebens sensibler sind als die Mehrheit der Menschen. Die Mehrheit hat gewöhnlich eine dickere Haut und antwortet auf die religiöse Frage, also auf die Frage nach einem bestimmten Rahmen der Orientierung und nach einem bestimmten Objekt der Hingabe, so, wie ihre Kultur es ihr vorschreibt. Diejenigen aber, die sensibler sind und das Verlangen des Bedürfnisses weniger leicht vernachlässigen können, entwickeln ihre eigene prophetische Religion, die der Psychiater eine Neurose oder eine Psychose nennt.
Ich frage mich manchmal, ob ein Mensch heute verrückt werden muss, wenn er bestimmte Dinge fühlen will. Nietzsche sagte einmal: „Wer nicht angesichts bestimmter Dinge verrückt wird, der hat keine Gesundheit zu verlieren“ und spricht damit den gleichen Punkt an. Ich fürchte, wir alle oder zumindest die Psychiater sind allzu schnell dabei, von „neurotisch“ oder „verrückt“ zu sprechen, wenn unsere Art zu fühlen, unsere Erfahrungen oder Antworten auf die Probleme der menschlichen Existenz nicht ziemlich genau dem entsprechen, womit ein Mensch zufrieden sein sollte. Ist er es aber nicht und entwickelt er ein tiefer gehendes oder anderes System der Orientierung und Hingabe, dann wird er einfach als verrückt oder neurotisch angesehen. Damit will ich nicht behaupten, dass alle verrückten Menschen in Wirklichkeit Heilige und von Gott inspirierte Menschen seien, wie dies in machen primitiven Kulturen geglaubt wird.
Sicherlich hat die moderne Unterscheidung zwischen psychisch gesund und psychisch krank ihre Berechtigung, doch beeindruckt mich die Sicherheit gar nicht, mit der diese Unterscheidung getroffen wird. Bekannt ist das Scherzwort, dass sich in einer psychiatrischen Klinik die Ärzte von den Patienten nur dadurch unterscheiden, dass Erstere einen Schlüssel haben. Das Scherzwort bringt meine Zweifel an all den Festschreibungen, was psychisch gesund, was krank, was neurotisch, was normal ist, gut zum Ausdruck. Alle diese Definitionen gründen sich auf die Annahme, dass der normale Bevölkerungsteil eine gänzlich zufriedenstellende Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz gefunden habe und dass jene, die nicht in der Lage sind, diese [XI-224] Antwort geziemend und wohlwollend zu akzeptieren und stattdessen nach irgendwelchen besonderen Lösungen suchen, nichts anderes als eben krank sind.
Ich fasse Religion ganz weit als Bedürfnis nach einem System der Orientierung, das in der einen oder anderen Form für alle Menschen typisch ist. Wird Religion derart weit gefasst, dann geht es nicht mehr um die Frage der Berechtigung oder Nichtberechtigung von Religion, sondern nur noch um die Frage nach einer guten oder schlechten Religion bzw. nach einer besseren oder schlechteren Religion. In gewissem Sinne sind wir alle „Idealisten“: Wir werden von Motiven angetrieben, die jenseits unseres Selbstinteresses liegen. Dieser „Idealismus“ ist der größte Segen, aber auch der größte Fluch des Menschen. Es gibt so gut wie nichts, was die Menschen der Welt an Schaden zugefügt haben, das nicht aus purem Idealismus heraus getan worden wäre. Ich gebrauche hier das Wort „Idealismus“ nicht in einer bestimmten Bedeutung, sondern beziehe es auf jene Strebungen, die die Alltagsroutinen zur Fortsetzung unseres Lebens und zur Sicherung des biologischen Überlebens übersteigen und einen Rahmen der Bezogenheit und ein Objekt der Hingabe erzeugen.
Es ist töricht, wenn jemand zu seiner Entschuldigung vorbringt, dass er eben ein „Idealist“ sei. Wir alle sind „Idealisten“. Die einzig entscheidende Frage lautet, welche Ideale wir verfolgen. Werden wir von dem Wunsch angetrieben, das Leben zu zerstören, zu beherrschen, zu kontrollieren und zu knebeln, dann geschieht dies – bei meinem Verständnis von „Idealismus“ – psychologisch aus genauso viel „Idealismus“, als wenn jemand von dem Wunsch zu lieben und zu kooperieren angetrieben wird. Die entscheidende Frage lautet: Sind wir der Welt gefährlich oder förderlich? Diese Frage lässt sich nur sinnvoll erörtern im Zusammenhang und unter der Zielsetzung einer bestimmten Religion oder eines Ideals, die wir vertreten, nicht aber von der Behauptung her, dass manche Menschen idealistisch seien und manche nicht.
Es lässt sich beobachten, dass selbst die übelsten Ideale der Welt auch heute noch von Menschen vertreten werden. Solche Menschen hinterlassen unter anderem gerade auf Grund der Tatsache, dass sie Idealisten sind, einen großen Eindruck und geben deshalb ihren teuflischsten Taten auf diese Weise eine Würde. Eigenartigerweise sind wir noch immer davon überzeugt, dass die Tatsache, Ideale zu haben, etwas Gutes sei, statt zu sehen, dass dies eine Gegebenheit ist. Wir können gar nicht anders, als unseren Idealen zu folgen, weil sie uns dazu treiben. Es kann deshalb nur darum gehen, die Bewunderung für den „Idealismus“, die Religion usw. zu überwinden und die einzig relevante Frage zu stellen: Welche Zielsetzungen verfolgt jemand? Welche Ideale hat er oder sie? Welche Wirkungen haben sie und in welchem Bezugsrahmen stehen sie?
Die Rede von guter und schlechter Religion, von guten und schlechten Idealen führt uns zurück zu der eingangs aufgeworfenen Frage, ob man zu irgendwelchen objektiv gültigen Werturteilen kommen kann. Auf die Gefahr hin, als völlig unwissenschaftlich oder dogmatisch verschrien zu werden, möchte ich ganz einfach äußern, was ich als objektive und gültige Zielsetzungen für psychische Gesundheit ansehe. Dabei ist das, was ich sage, nichts Neues, sondern seit alters her bekannt. Natürlich könnte ich dieses Altbekannte in eine phantasievolle wissenschaftliche Sprache bringen, doch ich ziehe es vor, die alten Worte zu gebrauchen, vor deren Bedeutung wir alle – oder doch zumindest die Wissenschaftler unter uns – heute zurückschrecken. [XI-225]
Der Natur des Menschen und seiner existenziellen Situation entspricht das Ziel des Lebens: fähig zu sein zu lieben, fähig zu sein, seine eigene Vernunft zu gebrauchen, und fähig zu sein, jene Objektivität und Bescheidenheit zu haben, mit der der Mensch die Wirklichkeit außerhalb von sich und in sich selbst in einer nicht-entfremdeten Weise erlebt. In dieser Art von Bezogenheit zur Welt finden wir die größte Energiequelle, abgesehen von jener auf Grund von chemischen Prozessen im Körper erzeugten Energie. Nichts fördert das Kreative mehr als die Liebe, vorausgesetzt, sie ist echt. Es gibt kein besseres Fundament für jede Art von Sicherheitserleben und für ein „Ich“-Gefühl, das ohne Krücken für das Identitätserleben auskommen will, als mit der Wirklichkeit in Berührung zu sein; diese Art von Bezogenheit ermöglicht es uns, Fiktionen aufzulösen und zu jener Bescheidenheit und Objektivität fähig zu sein, die uns die Wirklichkeit so sehen lässt, wie sie ist, so dass wir nicht mehr über Dinge reden, die uns von der Wirklichkeit trennen.
Obwohl sich nicht schlüssig beweisen lässt, dass dies die Ziele sind, zu denen sich alle Religionen bekennen, so sind es doch die Ziele der meisten großen Religionen. Dies bedeutet freilich nicht, dass sie metaphysisch sind und dem Glauben entstammen, auch wenn diese Ziele von beinahe allen großen Religionen in den letzten fünftausend Jahren als metaphysische proklamiert wurden. Die moderne Anthropologie, Psychopathologie und Psychologie können zeigen, dass man auf Grund der Erforschung der Natur des Menschen und der Probleme seiner Existenz mit ebenso großer empirischer Evidenz, wie wir sie für die Nützlichkeit der Vitamine erbringen, zu diesen Zielsetzungen kommt, mit denen die beste und einzig zufriedenstellende Lösung des komplexen Problems des Lebens und menschlicher Existenz erreicht werden kann.
2. Aspekte der Sinnfrage in der gegenwärtigen Kultur
a) Der Mangel an Religiosität
Ich habe in der ersten Vorlesung vom Bedürfnis nach einem Bezugsrahmen und nach einem Objekt der Hingabe gesprochen als einem allgemeinen und grundlegenden menschlichen Bedürfnis, das in unserer Kultur im allgemeinen mit dem befriedigt wird, was wir gewöhnlich „Religion“ nennen.
Was lässt sich bezüglich dieses Bezugsrahmens und der Hingabe in unserer gegenwärtigen Kultur erkennen (wobei ich mit gegenwärtiger Kultur die moderne Entwicklung seit Ende des Mittelalters meine)? Das Ende der religiösen Kultur des Mittelalters führte in der modernen Gesellschaft zu dem, was man ein religiöses Vakuum nennen könnte. Die feudale Ordnung der Religion wurde durch nichts ersetzt, so dass wir bezüglich des religiösen Bezugsrahmens und eines Objekts der Hingabe Zeugen eines zunehmenden Vakuums werden.
Das Bild, das unsere amerikanische oder die ihr entsprechende europäische Kultur heute zeigt, ist in vielfältiger Weise dem der nordamerikanischen oder mexikanischen Indianer ähnlich, bei denen man nur eine dünne aufgesetzte Schicht von christlicher Religion feststellen kann. Im Unterschied zu den Indianern, bei denen unter der dünnen Deckschicht ihre alte heidnische Tradition spürbar ist, scheint unter der dünnen Schicht der amerikanischen Kultur nahezu nichts zu sein. Unter ihr gibt es keine alte, starke und potenziell religiöse Tradition. [...]
Wegen des Vakuums haben sich neue Religionen entwickelt, die an die Stelle der alten Religionen getreten sind: die neuen Religionen des Faschismus und des Stalinismus. Beide sind Religionen in dem von mir definierten Verständnis von Religion, nämlich als eines Bezugsrahmens und Objekts der Hingabe. Wird in Betracht gezogen, dass es nicht um die Frage geht, ob es eine Religion gibt oder nicht, sondern nur darum, ob Religion gut oder schlecht ist, dann bedeutet es noch keine wertmäßige Qualifizierung, wenn Faschismus und Stalinismus Religionen genannt werden. Vielmehr wird mit dieser Kennzeichnung nur gesagt, dass sie jeweils ein System darstellen, das einen Bezugsrahmen und ein Objekt der Hingabe bereitstellt, für das die Menschen nicht nur bereit sind zu sterben, was schlimm genug ist, sondern – vielleicht noch schlimmer – [XI-227] auch ihre Vernunft aufzugeben. Stalinismus und Faschismus konnten aufkommen und so ungeheuer mächtig werden und Anklang finden, weil das religiöse Vakuum im Zwanzigsten Jahrhundert immer größer geworden ist. Im Neunzehnten Jahrhundert war dieses Vakuum noch nicht so groß, weil zumindest die moralische Tradition der Religion noch ein mächtigerer Faktor im Leben der Menschen war als heutzutage.
In den Vereinigten Staaten von heute gibt es eigenartige Phänomene, die in begrenztem Umfang als Ersatz für die Religion dienen. Beispielhaft möchte ich die Bewegung [der Scientology-Church] nennen, die von dem Buch Dianetics von L. Ron Hubbard (1950) ausging.[2] Der Autor dieses ganz und gar verrückten Buches erfährt auf einmal alle Aufmerksamkeit und wird nicht nur von dummen Leuten, sondern selbst von höchst intelligenten Intellektuellen bewundert. Es ist ein unglaubliches Phänomen, aber anscheinend reicht das Bedürfnis, nach etwas zu streben, an das man glauben kann, aus – selbst wenn oder gerade weil es etwas völlig Absurdes ist, den gesunden Menschenverstand transzendiert und eine irrationale Hoffnung begründet –, um in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken und das Interesse von Tausenden und Abertausenden von Menschen zu wecken. – Es gibt noch viele andere kleine Bewegungen heute in den Vereinigten Staaten, die die gleiche Funktion haben. In einem bestimmten Sinne lässt sich hierzu auch die Modeerscheinung Psychoanalyse zählen, die zwar sicherlich nicht so irrational wie die Dianetik ist, aber doch einige Merkmale und Kennzeichen der Suche nach einer neuen Religion, an die man einfach glauben kann, aufweist. Mit seinem Dogmatismus hat Freud einem solchen Gebrauch der Psychoanalyse Vorschub geleistet.
Meiner Meinung nach hat unser religiöses Vakuum viel damit zu tun, dass es in unserer modernen Kultur kein dramatisches Element und keine Rituale mehr gibt. Das Leben bewegt sich im allgemeinen zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite ist die Routine, auf der anderen das Dramatische, die verstärkte dramatische Erfahrung, die die Routine durchbricht. Sicher spielt die Routine eine große Rolle und muss dies auch tun, weil sie uns die Garantie dafür bietet, dass wir essen, trinken und arbeiten. Wäre unser Leben nicht zu einem Gutteil Routine, würde alles aus den Fugen geraten. Wir würden uns vielleicht wie im Himmel fühlen, so intensiv würden wir die Gefühle unseres Innenlebens spüren, doch würde auch alles in Stücke gehen und es gäbe keine organisierte Gesellschaft mehr. Es gibt also gute Gründe für die Notwendigkeit der Routine und dafür, dass wir uns mit dem Eintönigen im Leben beschäftigen, mit dem, was nun wirklich nicht wichtig ist, und doch vom Standpunkt des Überlebens des Einzelnen und der Gruppe sehr wichtig ist.
Die Routine birgt allerdings eine große Gefahr für den Menschen in sich. Die Notwendigkeit der Routine gründet in dem einen Aspekt von uns, dem animalischen, essen und trinken zu müssen. Eben diese Routine hat die Tendenz, auch für unsere spirituelle Seite vorherrschend zu werden, sie zu lähmen und schließlich zu töten. Diese spirituelle Seite aber ist das allerwichtigste in unserem Leben; bei ihr geht es um die Seele, um die Erfahrung von Liebe, von Denken, von Schönheit. Im Leben jedes einzelnen Menschen wie in jeder Kultur gibt es sozusagen einen Kampf und Konflikt zwischen jenem Teil des Lebens und jenem Teil einer Kultur, der Routine ist, und jenem Teil, der die tiefen menschlichen Erfahrungen berührt. [XI-228]
Die meisten Kulturen tun etwas für das Letztere. Sie tun es höchst wirksam in der Form des Dramatischen. Ich spreche hier vom Dramatischen, weil ich mich auf das griechische Drama beziehe. Das griechische Drama war etwas ganz anderes als das Drama heute, für das man sich eine Karte besorgt, das man genießt, für gut befindet und mit dem man zufrieden ist, wenn in der New York Times geschrieben stand, dass es gut ist. Das griechische Drama war ein religiöses Ritual, in dem die grundlegenden Erfahrungen eines jeden Menschen in dramatischer Form dargestellt werden und bei dem diese dramatische Form die Kraft hat, die Routine zu durchbrechen. Wer an diesem Drama teilnahm, war weder ein Konsument noch war er Zuschauer. Vielmehr nahm er an einem Ritual teil, das in ihm das anrührte, was das Wichtigste im Leben ist, so dass das Drama, wie die Griechen sagen, eine kathartische Wirkung zeigt. Es befreit etwas; es rührt etwas an. Wer an einer dramatischen Aufführung teilnahm, kam wieder mit dem Tiefsten im Menschen und in der Menschheit in Berührung und wurde je neu fähig, durch jene Schicht, die die Routine darstellt, hindurchzustoßen.
Das Gleiche gibt es zum Beispiel in der katholischen Religion. Auch deren Ritual ist dramatisch. Ich meine nun nicht die besonderen Inhalte, sondern die formalen Elemente im Leben und in der Gesellschaft. Wer am Ritual teilnimmt, kommt auch mit einigen grundlegenden Aspekten seiner selbst in Berührung. Wegen der Schönheit, wegen der dramatischen Formulierung der Auferstehung, der Geburt, des Todes, von Gott oder der Jungfrau Maria, oder wegen der Schönheit der Gewänder oder der Kirchen, war der Teilnehmer fähig, etwas ganz Tiefes zu erleben – etwas, das wie beim griechischen Drama die Schicht der Routine und inneren Trägheit zu durchbrechen vermochte.
Folgendes Beispiel erlebte ich vor kurzem: Der Stierkampf, wie er in den Spanisch sprechenden Ländern in Mittelamerika durchgeführt wird, ist kein sportliches Ereignis, genauso wenig wie das griechische Drama mit unseren modernen Dramen und Schauspielen vergleichbar ist. Der Stierkampf ist ein Ritual mit einem besonderen Inhalt. Er symbolisiert den Kampf zwischen dem tierischen Wesen und dem Geist, der Intelligenz und der Anmut. Diese beiden Prinzipien liegen im Kampf miteinander, symbolisiert im Stier und im Stierkämpfer. Gewöhnlich endet der Kampf mit der Niederlage und dem Tod des Stieres, so dass man bei diesem Ritual Zeuge der äußerst lebendigen Erfahrung des Todes einer puren Sache und des Sieges des Menschen wird. Der Stierkampf ist ein Ritual, das uns ganz nahe an sehr tief reichende Erfahrungen bringen kann – zu nahe für die meisten amerikanischen Zuschauer. Gewöhnlich fühlen sie, dass der Stierkampf grausam sei. Ich glaube nicht, dass dies der wahre Grund ist. Sie sind vielmehr nicht daran gewöhnt, an die Tatsachen des Lebens und des Todes so nahe herangebracht zu werden, weil diese für sie gewöhnlich verschleiert und verdeckt sind.
Wo gibt es in unserer Kultur einen Ort für das Erleben des Dramatischen und des Rituals? Wo ist unsere Kultur um diese Erfahrung besorgt, für die fast alle großen Kulturen Sorge tragen? Das in unserer Kultur gepflegte Ritual ist einzig das des Wettkampfs zwischen zwei Männern oder zwischen zwei Gruppen von Männern. Diese rituelle Bedeutung haben das Baseballspiel, der Fußball und die Präsidentschaftswahlen. Der Wettkampf zwischen zwei Männern trifft durchaus einige Grundfragen des [XI-229] Lebens, doch kann seine rituelle Bedeutung in Wirklichkeit kaum mit der Tiefe des Problems verglichen werden, das im Stierkampf ausgedrückt wird. Dass zwei Männer miteinander kämpfen und einer dabei gewinnt, ist eigentlich eines der einfachen und primitiven Probleme unseres Lebens. Natürlich zeigt es eine Situation an, die eine gewisse Bedeutung hat; aber verglichen mit den großen Problemen der menschlichen Existenz und verglichen mit dem Leben, wie es in den Ritualen aller großen Kulturen seinen Ausdruck findet, ist der Wettkampf zwischen den Männern ein ganz und gar nebensächliches Problem. Und doch ist dieses Ritual das einzige, das wir haben.
Offensichtlich gibt es ein Bedürfnis nach mehr Dramatik und Ritual. Dies lässt sich am Beispiel der Nazis und der Stalinisten zeigen, die neue Rituale einführten. Zweifellos beruhte der Erfolg dieser Systeme zum Teil auch auf der Tatsache, dass sie den menschlichen Sinn für das Dramatische befriedigen konnten. Wie aber lässt sich bei uns, in unserer Kultur, dieser Sinn befriedigen?
Kommt es zu einem Autounfall, kann man beobachten, dass zwanzig, dreißig Leute darum herumstehen und zuschauen. Warum tun sie das? Eigentlich ist es sinnlos. Und doch gibt es meiner Meinung nach eine Menge „Sinn“, denn es ist fast die einzige Möglichkeit, mit dem Tod, also mit etwas Dramatischem, in Berührung zu kommen. Auch wenn es die niedrigste Form des Dramatischen darstellt, die es gibt, so ist es dennoch wenigstens da. Ich erinnere mich eines Falles, wo eine Frau in ihrem Haus ermordet wurde. Eine oder zwei Wochen später fuhren Hunderte von Menschen mit ihrem Auto zu diesem Haus in der Vorstadt, um es anzuschauen. Dieses Besichtigen des Hauses ist ebenso wenig sinnvoll wie das Zuschauen bei einem Autounfall. Sie wollen nicht helfen, sie sind auch nicht einfach dumm. Es gibt allerdings etwas, mit dem sie dennoch – wenn auch in einer ganz oberflächlichen Weise – in Berührung kommen. Dieses Etwas kommt im Dramatischen und im Ritual einer höher entwickelten Kultur so zum Ausdruck, dass es eine kathartische Wirkung hat.
Sicherlich hat das Zuschauen bei einer Feuersbrunst, einem Autounfall oder einem Mord keinen kathartischen Effekt, doch ist der Impuls zuzuschauen noch immer sehr stark, weil er in einer Kultur, die fast ausschließlich nur noch die Routine pflegt, so ziemlich das letzte Überbleibsel des Wunsches ist, mit irgendetwas Dramatischem in Berührung zu kommen. Ich habe sogar den Verdacht, dass die Kriminalromane, die auch ich gerne lese, etwas von dem sind, das uns mit ein bisschen mehr Dramatik in Kontakt bringen kann. In ihnen werden wenigstens ein paar Menschen umgebracht, so dass sich eine gewisse Dramatik einstellt: Wird der Sünder gefunden werden oder nicht? Wird die Gerechtigkeit siegen oder nicht? Der Kriminalroman bietet in einer geistreichen und meiner Meinung nach auch unterhaltsamen Form ansatzweise etwas von einem metaphysischen Problem.[3]
Wir sehnen uns danach, mit der Realität des Lebens in Kontakt zu kommen, weil unsere Realität aus Kunstprodukten besteht. Wir leben in einer Welt der Konventionen und Autos, doch wir hungern danach, mit etwas von dem in Berührung zu kommen, um das die Religionen oder deren Äquivalente in den meisten Kulturen besorgt waren. Davon aber gibt es in unserer Kultur kaum etwas, das der Erwähnung wert wäre.
Ich möchte nun mit der Erörterung einiger wichtiger Begriffe, die der Klärung bedürfen, fortfahren, um dann über den seelischen Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft [XI-230] zu sprechen. Danach werde ich dann innerhalb der dritten Vorlesung auf einige meiner Meinung nach zentrale Fragen zur psychischen Gesundheit in unserer Kultur zu sprechen kommen.
b) Vom Sinn der Arbeit
Ich möchte zunächst kurz den Begriff der Arbeit und bestimmter wichtiger Entwicklungen seines Verständnisses skizzieren. Die Arbeit wird oft als der große Befreier des Menschen angesehen. Der Mensch habe seine wirkliche menschliche Geschichte erst zu dem Zeitpunkt begonnen, als er zu arbeiten anfing, denn erst zu diesem Zeitpunkt sei der Mensch aus der ursprünglichen Einheit mit der Natur aufgetaucht. Indem sich der Mensch auf Distanz zur Natur begab und die Natur zu verändern begann, änderte er auch sich selbst. Statt ein Teil der Natur zu sein, wurde er mehr und mehr zum Schöpfer. Der Mensch entwickelte Fähigkeiten zu Vernunft und Kunst. Er begann, seine Kräfte in Bezug auf die Natur zum Ausdruck zu bringen und entwickelte sich bei diesem Prozess zu einem Individuum.
Zweifellos gründet die menschliche Entwicklung auf Arbeit, und diese wird weitgehend von der Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen begleitet. So verstanden, kann man von der Arbeit als dem Befreier des Menschen und als dem wichtigsten Faktor bei der Entwicklung des Menschen sprechen. Ich möchte hinzufügen, dass die Art, wie der Mensch arbeitet, einer der wichtigsten Faktoren bei der Entwicklung seiner gesamten Persönlichkeit darstellt. Die Arbeit als befreiende, emanzipatorische, die Entwicklung fördernde Kraft hatte wohl nicht nur im Mittelalter eine besondere Bedeutung. Es gibt noch andere Perioden der Menschheitsgeschichte, in denen sie diese Rolle spielte.
Der Handwerker des Mittelalters entwickelte sich zu einem produktiven, ursprünglichen Individuum. Er freute sich an seiner Arbeit und tat Dinge, die schön sind. Bis zum heutigen Tag fällt es uns schwer, das zu wiederholen, was im Mittelalter oder in vielen anderen Kulturen, selbst in solchen, die wir „primitiv“ nennen, möglich war. Mit dem Beginn der modernen Periode kam es vor allem in den protestantischen, nördlichen Ländern zu einer sehr fragwürdigen Entwicklung. Der Spaß an der Arbeit wurde zur Pflicht. Die Arbeit wurde etwas Abstraktes, eine Pflicht, ein Mittel zum Zweck. Im calvinistischen und protestantischen Denken war die Arbeit ursprünglich ein Mittel zur Erlösung, also ein religiöser Akt. Doch damit wurde sie zu einer abstrakten Größe. Mit der Zeit kam es nicht mehr darauf an, an der Herstellung eines schönen Stuhles, von Schmuck oder anderem Spaß zu haben; vielmehr war seine Herstellung ein Zeichen dafür, dass man unter den Auserwählten war, wenn man erfolgreich war und also in Gottes Gnade stand. Auf diese Weise wandelte sich die Arbeit von Erfüllung und Lusterleben zur Arbeit als Zwang, als Pflicht, als etwas, das wie jede Zwangshandlung in sich schmerzvoll ist und dennoch die wichtige Aufgabe übernimmt, die Menschen psychisch im Gleichgewicht zu halten. Es gibt nämlich für diese Menschen nichts mehr außer dieser Art Arbeit, worin sie sich wirklich geborgen fühlen.
Die Beschreibung dieser Funktion von Arbeit trifft eigentlich nur auf den Mittelstand [XI-231] zu, auf den Unternehmer, der ein Transportmittel oder eine Fabrik hatte. Auf den Arbeiter besonders des Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhunderts, der seine Arbeitskraft zu verkaufen hatte und der ohne die Möglichkeit zur Eigeninitiative auch keine sinnvolle Arbeit tun konnte, trifft die Beschreibung nicht zu. Weder der Arbeiter, der im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert 14 oder 16 Stunden am Tag arbeiten musste, noch das Kind, das zehn Stunden am Tag in der Fabrik arbeitete, fühlten sich aus einem inneren Zwang angetrieben zu arbeiten. Sie konnten keinen moralischen Gewinn aus ihrer Arbeit ziehen, der, wenn sie wie verrückt arbeiteten, ihrem Herrn und Gott diente. Sie hatten vielmehr reine Zwangsarbeit zu tun. Nichts anderes als die Notwendigkeit, den Hungertod zu vermeiden, zwang sie dazu.
Mit dem Beginn des modernen Zeitalters gibt es also zwei Arten und Wirklichkeiten von Arbeit: einerseits das Arbeiten aus einem inneren Zwang heraus, das im protestantisch-calvinistischen Bezugsrahmen eine bestimmte religiöse Bedeutung hatte, und andererseits die Zwangsarbeit. Diese wurde im Laufe des Neunzehnten Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen eher noch größer als geringer.
Im Zwanzigsten Jahrhundert kam es zu einer neuen Entwicklung, da die Arbeit einen Großteil ihres protestantisch-calvinistischen Pflichtcharakters verlor, den sie im Neunzehnten Jahrhundert noch besaß. Wir arbeiten heute nicht mehr so zwanghaft, wie dies noch unsere Großeltern taten. Uns treibt etwas anderes an: Wir arbeiten in einem ganz speziellen Sinne, nämlich für das Wachstum des Idols Maschine. Wir verehren eine Maschine, die arbeitet. Wir sind heute von etwas fasziniert, das nichts mehr mit dem mittelalterlichen Verständnis von Arbeit zu tun hat noch mit dem protestantischen Arbeitsverständnis, ja nicht einmal mit dem im Neunzehnten Jahrhundert so wichtigen Begriff des Profits. Heute fasziniert uns das Wachstum einer produktiven Maschine. Die Produktion als solche ist eine unserer Größenphantasien, der wir all unsere Ehrerbietung erbringen. Sie wurde zu einem Lebensziel. Wir möchten Gegenstände wachsen sehen, allerdings keine organischen Gegenstände, keine Blumen, sondern größere und mächtigere Maschinen. Wir möchten erleben, wie noch mehr Güter produziert werden, noch schnellere Autos usw.
Dies ist die eine Linie der Entwicklung des Verständnisses von Arbeit: Arbeit als sinnvolle Erfüllung menschlicher Zwecke, Arbeit als zwanghafte Pflichterfüllung, Arbeit zu Profiterzielung und Arbeit – so könnte man sagen – als ein gottesdienstlicher Akt am Altar der Maschine, wobei die Maschine ihren Wert und ihre Bedeutung aus sich selbst heraus hat.
Wie sah die Entwicklungslinie im Hinblick auf den Arbeiter aus? Zu Beginn des Neunzehnten Jahrhunderts war die Arbeit für den Arbeiter Sklaverei. Arbeit war Zwangsarbeit. Seither kam es zu einer enormen Entwicklung, bei der sich die Situation der Arbeiterklasse fundamental veränderte. Heute arbeiten wir nur noch acht Stunden oder noch weniger am Tag. Die Arbeit hat ihre Rolle als Zwangsarbeit und als etwas, das großes Elend hervorbringt, völlig verloren. Eines allerdings hat sich nicht geändert: Die Arbeit macht dem Arbeiter noch immer keinen Spaß und dient ihm nicht zur Sinnfindung, obwohl es in neuerer Zeit viele Projekte und Untersuchungen gab, um herauszufinden, ob die industrielle Arbeit nicht doch etwas sinnvoller gestaltet werden könne. Ich komme darauf später noch einmal zurück. [XI-232]
Die soziale Struktur eines Landes wie der Vereinigten Staaten hat sich im Vergleich zur Situation vor 100 Jahren völlig geändert. Die Zahl der Angestellten und aller, die überhaupt arbeiten und Löhne und Gehälter bekommen, ist mächtig gewachsen. Trotzdem gibt es ein sehr seltsames Phänomen, das auf Arbeiter und Nicht-Arbeiter in gleicher Weise zutrifft: Eines der größten Verlangen des Menschen von heute zeigt sich in der Vision völliger Faulheit. Wir schwärmen von dem Ideal, eines Tages überhaupt nicht mehr arbeiten zu müssen. Wie es die Werbung für die Lebensversicherung zeigt: Da ist ein geheimnisvolles Paar für 200 Dollar im Monat unterwegs und alles, was es fühlt, ist, dass es nicht mehr arbeiten muss. Die attraktivste Vorstellung im Leben ist die Vision, eines Tages nichts mehr zu tun zu haben. Deshalb fragen die Fünfundzwanzigjährigen, bevor sie eine Arbeit in einem großen Unternehmen aufnehmen, was der Betrieb an Altersversorgung zu bieten habe. Dies ist sehr typisch für unsere Zeit.
Gerade die kleinen Dinge sind wichtig und vielsagend. Während des [Zweiten Welt-] Kriegs gab es eine Reihe von Anzeigen für einen Kühlschrank, bei dem man einen Knopf drücken konnte, so dass sich das Innere drehte und man sich die enorme Mühe ersparen konnte, weit hineinreichen zu müssen, um an etwas heranzukommen. Ich bin sicher, dass Hunderttausende von Menschen sich nach dem Glück sehnten und diesen wunderbaren Kühlschrank gerne gekauft hätten, nur um sich diese Arbeit zu ersparen.
Ein anderes Beispiel sind die Autos mit automatischem Getriebe, bei denen man nicht einmal mehr schalten muss. Sicher ist dies sehr praktisch und soll – was ich nicht beurteilen kann – unter Sicherheitsaspekten vorteilhaft sein. Meiner Meinung nach geht es aber überhaupt nicht um die Frage der Sicherheit. Anklang findet in Wirklichkeit die Vision von Machthaben, ohne sich anstrengen zu müssen. Es geht um die Macht auf Grund eines Knopfdrucks, bei der man ohne Aufwand etwas bewirken kann. Diese Möglichkeit erklärt meines Erachtens auch weitgehend die Haltung gegenüber dem Fernsehen. Ich habe nichts gegen das Fernsehen, doch möchte ich auf die psychologischen Gründe hinweisen, warum Menschen vom Fernsehen so angezogen werden und mit strahlenden Augen vor dieser wunderbaren Maschine sitzen: Sie drücken auf einen Knopf und die ganze Welt erscheint vor ihnen, während sie im Sessel sitzen. Der Präsident tritt auf, die Ereignisse in der Welt werden gezeigt. Gelingt es, eine Feuersbrunst oder eine Tragödie irgendwo zu erhaschen, dann erscheint auch diese. Der Fernsehzuschauer muss nur dasitzen und den Knopf drücken. – Sieht man sich die Werbung für alle möglichen Produkte an, dann stößt man unweigerlich auf den Reiz völliger Faulheit, bei der man keinerlei Aufwand treiben muss und doch große Macht hat.
Bei einem Bekannten von mir habe ich kürzlich beobachtet, wie dieser seinen dreijährigen Sohn den Anlasserknopf des Autos drücken ließ. Ich war derart erschrocken, dass ich nichts sagte, stellte mir aber vor, was dieses Tun für einen dreijährigen Jungen bedeutet. Obwohl er überhaupt nichts vom Auto versteht und kaum fähig ist, einen zehn oder zwanzig Pfund schweren Holzwagen zu bewegen, macht er hier bereits die Erfahrung, dass er mit einem winzigen Energieaufwand eine 120 PS starke Maschine in Gang setzen kann. Dieses Beispiel trifft genau die Art und Weise, wie wir heute [XI-233] denken und fühlen. So paradox es klingt, ich glaube, dass unsere Fähigkeit, eine Bombe herzustellen, die das gesamte Universum zerstören könnte und die von einem Menschen in der Luft mit Hilfe eines Knopfdrucks gezündet wird, in einem bestimmten Sinn ein Teil der gesamten Phantasie ist, dass selbst die destruktivste Kraft zum Einsatz kommen kann, indem man seinen Finger einen Zentimeter weit bewegt.
c) Produzieren und Konsumieren
Eine Form unserer gegenwärtigen Religion ist die Verehrung des Götzen Produktion, die Verehrung der Produktion als eines Selbstzwecks. Vor 100 Jahren noch war das Problem, dass wir nicht für den Gebrauch produzierten, sondern um Gewinn zu machen, so dass das Profitmotiv das entscheidende war. Heute produzieren wir nicht mehr in erster Linie um des Profites willen; wir produzieren (und zerstören) alles, wir produzieren um der Produktion willen, weil die Produktion als solche zu einem Gott geworden ist. Der Mensch von heute ist vom Akt der Produktion selbst ähnlich fasziniert, wie es der Mensch in den religiösen Kulturen von den religiösen Symbolen war.
Wir leben in dieser Kultur und sehen doch nicht, dass dies eine religiöse Haltung ist. Wir finden [die Faszination des Produzierens] ganz natürlich, weil sie nicht in eine religiöse Begrifflichkeit gefasst ist. Von Religion sprechen wir ja nur, wenn es um das Christentum oder Judentum, um das Kreuz oder die religiösen Rituale geht. Dass das Produzieren um der Produktion willen eine Religion darstellt, ist uns deshalb nicht bewusst, weshalb wir es auch nicht Religion nennen. Und doch sind wir dermaßen fasziniert davon, dieser Produktionsmaschinerie zu dienen. Für den modernen Menschen ist das Produzieren ein Teil seines Bezugsrahmens für sein Leben und ein Teil des religiösen Objekts der Hingabe, für das er lebt: dass die Dinge größer und besser werden und dass es immer noch mehr davon gibt.
Der Produktion als Selbstzweck entspricht das Problem des Konsumierens. Es hat den Anschein, wir konsumierten, weil es uns Spaß macht. Wir essen etwas, weil es gut schmeckt; wir kaufen uns ein Haus, weil es uns gefällt und wir darin zu leben wünschen. Es gibt einen ganz realistischen Aspekt des Konsumierens, bei dem es um unsere Bedürfnisse und Freuden geht. Und doch glaube ich, dass sowohl das Produzieren als auch das Konsumieren zum Selbstzweck geworden sind. Wir sind von der Möglichkeit ganz angetan, Dinge kaufen zu können, ohne dass wir uns viele Gedanken darüber machen, wie nützlich sie sind. Das Konsumieren als Selbstzweck ist einer der psychologischen Faktoren, auf die unsere Wirtschaft sich gründet. Er wird durch Werbepsychologen gefördert und stimuliert, die damit ihr Geschäft machen, dass sie dieses Wissen auf die praktischen Fragen anwenden, wie sie ihr Produkt dem Konsumenten verkaufen können.
Ich glaube, dass die Menschen von heute bei allem, was sie kaufen, nur wenig Lust empfinden. Es kommt nur darauf an, dass man etwas Neues so schnell wie möglich bekommen kann. Der gegenwärtige Mensch stellt sich das Himmlische einer modernen Stadt nicht mehr so vor, wie sich die Mohammedaner oder andere den Himmel vorstellten. Heute ist der Himmel mit Geräten und Apparaten bestückt und man hat das [XI-234] nötige Geld, um die Kühlschränke, Fernseher und neuesten Geräte auf dem Markt zu kaufen. Der Kaufkraft sind keine Grenzen mehr gesetzt, und jedes Jahr gibt es ein neues Modell. Vermutlich kann man im Himmel sogar jeden Tag ein neues Modell kaufen, denn eine solche Vorstellung ist himmlisch. Der Denkfortschritt bei dieser Phantasie von paradiesischen Zuständen besteht darin, dass die Geräteherstellung noch schneller vor sich geht, um das zu haben, was es im realen Leben nie ganz geben wird. Man kann in der Tat alles kaufen. Es ist nicht mehr so, dass einem etwas jeden Tag vor der Nase baumelt, das man erst im nächsten Jahr oder in zwei Jahren wird kaufen können; es ist vielmehr bereits da.
Ich mache keine Scherze, sondern glaube, dass es wirklich so ist, nur dass wir dieses Konsumieren nicht in Begriffen unserer religiösen Vorstellung vom Paradies erleben, weil wir dieses Erleben für die ausdrücklicheren Formen der Religion reserviert haben. Diese Kaufbereitschaft, diese religiöse Erwartung, dass es endlos viele Dinge gibt, die wir bekommen können, sowie die beinahe orgiastische Lust daran, den Reichtum von neuen Dingen, die man kaufen kann, ins Auge zu fassen, zeigt sich nicht nur gegenüber neuen Modellen, sondern auch in unserer Einstellung gegenüber anderen Dingen. Wir sind zu Konsumenten von allem geworden. Wir konsumieren Wissenschaft, Kunst, Vorträge, Liebe. Die Haltung hierbei ist immer die gleiche: Ich zahle und ich bekomme etwas dafür, ja ich habe einen Anspruch darauf, es zu bekommen, und zwar ohne besondere Anstrengung, denn es ist immer das gleiche Problem des Tausches von Dingen, die ich kaufe, und Dingen, die ich bekomme. Die gleiche Konsumentenhaltung findet man in gewissem Sinne bei vielen ähnlichen Phänomenen: Wenn Menschen Kunst, Wissenschaft, Liebe erfahren, dann erleben sie das so, wie wenn sie das neueste Modell kaufen. Dies ist auch die Art und Weise, wie man heiratet. Auch das Heiraten hat viel mit dem neuesten Modell zu tun, das unserer Meinung nach am erfolgreichsten ist. Es ist das, welches zu bekommen sehr reizvoll zu sein scheint und den eigenen Wert beweist.
An die Stelle der traditionellen Vorstellung von Arbeit als Lusterleben bzw. Arbeit als Pflicht traten zwei Merkmale der gegenwärtigen Religion: die Anbetung der Produktion und die Anbetung des Konsums. Beide haben keinerlei Bezug zu einer Realität, die im Blick auf die menschliche Existenz sinnvoll ist.
Ich stelle mir vor, wir hätten morgen solche Verhältnisse, dass die Menschen täglich nur noch vier Stunden arbeiteten und zwei- oder dreimal soviel Geld bekämen. Norman Thomas oder die Vertreter des New Deal [Wirtschafts- und Sozialpolitik von Präsident F. D. Roosevelt] und vermutlich auch viele Mitglieder der Republikanischen Partei würden es als ein äußerst erstrebenswertes Ziel beschreiben. Es würde tatsächlich den kühnsten Träumen der Sozialisten vor 50 Jahren entsprechen. Es geht noch weit darüber hinaus und ist noch radikaler als das, was Karl Marx als das unmittelbare Ziel des Sozialismus oder der Revolution beschrieb. Ich stelle mir also vor, dass so etwas möglich wäre. Was würde geschehen? Es wäre die Katastrophe schlechthin! Es gäbe viele Nervenzusammenbrüche und Psychosen, weil die Menschen absolut nicht wüssten, was sie mit ihrem Leben und ihrer Zeit anfangen sollten. Sie würden wie verrückt Dinge kaufen. Sie würden jedes halbe Jahr einen neuen Wagen kaufen. Und selbst dann noch würden sie eine abgrundtiefe Enttäuschung darüber spüren, dass [XI-235] dieser Himmel auf Erden, das Erlangen von allem Ersehnten doch keinerlei Sinn gibt, dass es sinnlos ist.
Was das Ganze am Laufen hält, ist die Tatsache, dass man niemals diesen Himmel erreicht. Er bleibt immer in weiter Ferne. Man kann sich damit trösten, dass es eines Tages einmal eine Lösung und Erlösung wirklich geben wird. Da aber angesichts der Einkommensstatistik die Mehrheit diesen Tag kaum erleben wird, bleibt einem immerhin diese Hoffnung. Diese wird man auch nie ganz aufgeben, denkt man doch ständig, dass es noch nicht genug sei, und hätte man mehr, dann wäre man glücklich. Gäbe es tatsächlich solche Verhältnisse, dass die Menschen nur noch zwei, drei oder vier Stunden am Tag arbeiten müssten bei einem Vielfachen ihres jetzigen Lohns oder Einkommens, dann wäre dies in Wirklichkeit eine echte Katastrophe.
Über Jahrtausende haben Schriftsteller, Utopisten, in bewegenden Worten das schönste Ziel des Lebens als ein Leben beschrieben, bei dem man nur wenig Zeit damit verbringt, um für das, was man zum Leben braucht, aufzukommen, und in dem es alle Gebrauchsgegenstände gibt und kein Mangel herrscht. Stellen wir uns ganz realistisch vor, was es bedeuten würde, wenn ein solches Leben heute erreicht werden könnte! Man würde alle Anstrengungen machen, um es zu vermeiden, denn es würde unweigerlich zu einem psychischen Desaster führen. Wir sind in keiner Weise darauf vorbereitet, aus unserem Leben und mit unserer Zeit etwas Sinnvolles zu tun. Vielmehr sind unser Leben und unsere Zeit zu Teilaspekten dieser Religion des Produzierens und Konsumierens geworden, in der die Produktion und der Konsum keinen Bezug mehr zu unseren wirklichen und konkreten menschlichen Bedürfnissen haben.
d) Glück und Sicherheit
Ich komme nun auf einige andere Begriffe, deren wir uns bedienen und die einer Klärung bedürfen. Der Begriff des Glücks, der eine lange Tradition hat, spielt bei uns noch immer eine große Rolle. Wir greifen auf ihn zurück und sagen, es sei das Ziel unseres Lebens, glücklich zu sein. In den protestantischen Ländern vor zwei- bis dreihundert Jahren war Glück kein Ziel; vielmehr war das Ziel, Gott zu gefallen und unserem Gewissen gemäß zu leben. Heute sagen wir, wir möchten glücklich sein. Was meinen wir damit? Die ehrliche Antwort der meisten, sofern sie nicht zu sehr intellektualisieren, wird sein, Spaß haben zu wollen. Was darunter zu verstehen ist, muss nicht weiter erklärt werden; es hat in jedem Fall reichlich wenig mit dem zu tun, was in anderen Kulturen als Glück beschrieben wurde. Die Menschen unserer Kultur machen nicht einmal den Versuch, ein solches Glück sich vorzustellen. Geht es beim Glück um einen Zustand des Geistes? Oder bedeutet Glück, dass man in einigen ganz seltenen Augenblicken seines Lebens glücklich ist, wie wenn Glück die seltene Frucht eines Baumes wäre, der nur ausnahmsweise blüht, den es aber doch gibt, damit er diese Frucht innerhalb eines langen Zeitraums einmal hervorbringt?
Ich möchte das, was Glück ist, vom Psychologischen her erhellen. Viele Menschen versuchen Glück als das Gegenteil von Trauer und Leiden zu definieren. Trauer und Leiden stehen auf der einen Seite, das Glück ihnen gegenüber. Bei einer solchen [XI-236] Betrachtungsweise wird Glück als etwas vorgestellt und begriffen, bei dem Schmerzen, Aufregung und Traurigkeit ausgeschlossen sind. An dieser Vorstellung von Glück ist etwas grundsätzlich falsch. Wer keine Trauer spürt, ist nicht lebendig, und wer nicht lebendig ist, kann auch nicht glücklich sein. Trauer und Schmerz gehören als wesentliche Teilaspekte ebenso zum Lebendigsein wie Glück, so dass Glück ganz gewiss nicht das Gegenteil von Trauer ist. Die Trauer ist vielmehr ihrerseits – klinisch gesprochen – das genaue Gegenteil von Depression. Depression ist nicht gleich Trauer. Jemand, der wirklich depressiv ist, würde Gott dafür danken, wenn er fähig wäre, traurig zu sein. Depression ist die Unfähigkeit zu fühlen. Depression ist das Empfinden, tot zu sein, während der Körper am Leben ist. Sie ist überhaupt nicht das gleiche wie Schmerz und Trauer, ja sie hat nicht einmal einen Bezug zu ihnen. Der depressive Mensch ist ebenso unfähig, sich zu freuen, wie er unfähig ist, traurig zu sein. Die Depression ist ein Mangel an jeder Art Gefühl, ein Empfinden von Totsein, das für den, der depressiv ist, ganz und gar unerträglich ist. Gerade die Tatsache, nichts fühlen zu können, macht die Depression so unerträglich.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (ePUB)
- 9783959121217
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Dezember)
- Schlagworte
- Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Pathologie der Normalität seelische Gesundheit