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Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung

The Art of Being

©2015 89 Seiten

Zusammenfassung

Viele Leser des Buches "Haben oder Sein" haben sich gefragt, was jeder Einzelne selbst tun kann, um von einer Orientierung am Haben zu einer am Sein zu kommen. Tatsächlich hatte Fromm zu dieser Frage ein Manuskript von über 120 Seiten geschrieben. Es trug die Überschrift „Schritte zum Sein“ (Steps to Being) und sollte in "Haben oder Sein" veröffentlicht werden. Kurz vor der Drucklegung entschied Fromm, dieses Kapitel zugunsten von Vorschlägen zu wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen wieder herauszunehmen.

Schließlich wurde es 1989 als erste nachgelassene Schrift veröffentlicht, mit dem Titel Vom "Haben zum Sein" neu aufgelegt und in mehr als 20 Sprachen übersetzt. So sehr die Orientierung am Haben in den strukturellen Gegebenheiten der heutigen Industriekultur wurzelt, so sehr geht es bei ihrer Überwindung doch darum, die psychischen, geistigen und körperlichen Eigenkräfte und Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Menschen wieder zur Entdeckung zu bringen. Und genau davon handelt dieses Buch.

Aus dem Inhalt
• Der Irrtum eines Lebens ohne Anstrengung und Leiden
• Wach sein
• Gewahrwerden
• Sich konzentrieren
• Meditieren
• Die Selbst-Analyse als Weg der Selbsterfahrung
• Einübung in die Selbstanalyse
• Praktische Hinweise zur Selbstanalyse
• Seinsorientiertes und besitzorientiertes Haben
• Erfahrungen auf dem Weg vom Haben zum Sein

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


4. Die Selbst-Analyse als Weg der Selbsterfahrung

a) Psychoanalyse und Selbsterfahrung
1. Die Bedeutung der Psychoanalyse als Weg der Selbsterfahrung

Ich möchte in diesem Kapitel an die vorangegangenen Ausführungen zum Gewahrwerden seiner selbst anknüpfen. Ich setze bei meinen Überlegungen voraus, dass die Psychoanalyse eine sehr geeignete Methode ist, um das Gewahrwerden seiner selbst und dadurch die innere Befreiung zu fördern. Dies heißt auch, dass Psychoanalyse eine Bedeutung bekommen kann, die über die therapeutische Funktion hinausgeht, weshalb ich von transtherapeutischer Psychoanalyse spreche. Diese Annahme wird nicht von jedermann geteilt.

Psychoanalytische Laien wie Psychoanalytiker selbst bestimmen das Wesen der Psychoanalyse meist als Heilbehandlung für Neurosen. Die Heilung erfolgt durch das Gewahrwerden verdrängter sexueller Erinnerungen und Affekte, die mit diesen verbunden sind. Auch hier geht es um Gewahrwerden, jedoch in einem viel eingeschränkteren Sinne als dem oben genannten. Das Gewahrwerden bezieht sich hier im wesentlichen auf die verdrängten libidinösen Kräfte. Das Ziel der Analyse ist ein rein therapeutisches im konventionellen Sinne, das heißt, dem Patienten soll so geholfen werden, dass sein besonderes Leiden wieder auf das allgemeine und gesellschaftlich akzeptierte Maß reduziert wird.

Ich bin der Meinung, dass dieses eingeschränkte Verständnis von Psychoanalyse der wirklichen Tiefe sowie der Bedeutung der Entdeckungen Freuds nicht gerecht wird. Man kann Freud selbst zur Rechtfertigung dieser Aussage zitieren. Als er in den Zwanziger Jahren seine Theorie weiterentwickelte und nicht mehr dem Konflikt zwischen Libido und Ich, sondern dem zwischen zwei biologisch verwurzelten Trieben – dem Lebenstrieb und dem Todestrieb – die entscheidende Bedeutung zusprach, hatte er die Libido-Theorie faktisch aufgegeben, obschon er bestrebt war, die alte mit der neuen Theorie zu versöhnen. (Vgl. hierzu Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen, 1979a, GA VIII, S. 337-358.) Als Freud definierte, was er als Kern der psychoanalytischen Theorie betrachtete, nannte [XII-434] er die Verdrängung, den Widerstand, die Übertragung, nicht aber die Libido-Theorie und noch nicht einmal den „Ödipus-Komplex“.

Was der Kernbegriff der Psychoanalyse zu sein scheint, nämlich die Libido-Theorie, ist in Wirklichkeit gar nicht Freuds wichtigste Entdeckung – abgesehen davon, dass sie auch nicht richtig ist. Um dies zu verstehen, müssen wir ein allgemeineres Phänomen in Betracht ziehen. Jeder kreative Denker vermag nur in den Denkmustern und in den Kategorien seiner Kultur zu denken. Oftmals ist sein ursprünglicher Gedanke „undenkbar“, so dass er ihn entstellen muss, um seine Entdeckungen überhaupt „denkbar“ zu machen. Die ursprüngliche Idee muss zunächst in entstellter Form ausgedrückt werden, bis die Entwicklung des Denkens, die auf der Entwicklung der Gesellschaft basiert, es zulässt, dass die älteren Formulierungen sich von den zeitgebundenen Irrtümern befreien und damit eine Bedeutung annehmen können, die sogar größer ist, als der Autor selbst zu glauben vermochte.

Freud, selbst sehr in der Philosophie des bürgerlichen Materialismus verhaftet, fand die Annahme „undenkbar“, dass eine psychische Kraft den Menschen motivieren könnte, ohne gleichzeitig als physiologische Kraft nachweisbar zu sein. In der sexuellen Energie sah er die einzige Kraft, die beide Qualitäten verband.

Freuds Theorie, dass der Konflikt zwischen Libido und Ich der entscheidende Konflikt im Menschen ist, war eine notwendige Annahme, weil sie es ihm ermöglichte, seine fundamentale Entdeckung „denkbarer“ zu machen. Wenn wir die Psychoanalyse von den Fesseln der Libido-Theorie befreien, können wir das Wesen der Psychoanalyse folgendermaßen definieren: Sie hat die Bedeutung der miteinander in Konflikt befindlichen Strebungen entdeckt, sie sah die Macht des „Widerstands“ gegen das Bewusstwerden dieser Konflikte, sie entdeckte die Rationalisierungen, die glauben machen, dass es keine Konflikte gibt, und die befreiende Wirkung des Bewusstwerdens des Konflikts, und sie erkannte die pathogene Rolle von ungelösten Konflikten.

Freud hat nicht nur diese allgemeinen Prinzipien entdeckt, sondern er war der erste, der konkrete Methoden zur Erforschung des Verdrängten in Träumen, Symptomen und im alltäglichen Verhalten entwickelt hat. Die Konflikte zwischen sexuellen Impulsen, dem Ich und dem Über-Ich sind nur ein kleiner Teil der Konflikte, die eine zentrale Rolle im Dasein des Menschen spielen, mögen sie nun tragischerweise ungelöst bleiben oder auf produktive Weise gelöst werden.

Freuds historische Bedeutung liegt nicht in der Entdeckung der Wirkungen verdrängter sexueller Strebungen. Diese Entdeckung war zur damaligen Zeit eine kühne Behauptung. Wäre sie aber Freuds größter Beitrag gewesen, hätte er nie die aufrüttelnde Wirkung gehabt, die er hatte. Freud brach mit der konventionellen Ansicht, dass Denken und Sein des Menschen identisch sind, und er deckte die Heucheleien auf. Seine Theorie war kritisch, das heißt, er hinterfragte die bewussten Gedanken, Absichten und Tugenden und zeigte auf, wie oft sie nichts anderes als Formen des Widerstandes sind, die die innere Realität verbergen.

Interpretiert man Freuds Theorien in diesem Sinne, dann ist es nicht schwierig, einen Schritt weiter zu gehen. Wir kommen zu der Erkenntnis, dass die Psychoanalyse mehr ist als eine rein therapeutische Methode. Sie kann ein Weg zu innerer Befreiung sein, indem der Mensch sich seiner verdrängten Konflikte gewahr wird. [XII-435]

Bevor ich auf die transtherapeutische Bedeutung der Psychoanalyse zu sprechen komme, möchte ich einige Warnungen aussprechen und auf einige Gefahren der Psychoanalyse hinweisen.

2. Die Begrenztheit der Psychoanalyse als Weg der Selbsterfahrung

Obwohl es modern geworden ist, zum Psychoanalytiker zu gehen, sobald man im Leben Schwierigkeiten hat, sprechen auch einige Gründe dagegen, dies zu tun. Oft ist der Gang zum Psychoanalytiker ein leichter Ausweg, um seine Probleme nicht selbst angehen zu müssen. Mit dem Ideal eines Lebens ohne Reibung, Leiden und Anstrengung, über das wir oben gesprochen haben, geht der Glaube einher, dass das Leben keine Konflikte oder schmerzvollen Entscheidungen mit sich bringen sollte. Solche Situationen werden mehr oder weniger als abnorm oder pathologisch und nicht als notwendiger Bestandteil des gewöhnlichen Lebens betrachtet. Es stimmt, Maschinen haben keine Konflikte; warum sollten lebende Automaten Konflikte haben, es sei denn auf Grund eines Konstruktions- oder Funktionsfehlers?

Ich halte diese Annahme für naiv. Nur in einem ganz oberflächlichen und entfremdeten Leben können wir bewusste Entscheidungen vermeiden. Dafür kommt es dann zu einer Fülle neurotischer und psychosomatischer Symptome, zum Beispiel zu Magengeschwüren oder Bluthochdruck, die Ausdruck unbewusster Konflikte sind. Wenn ein Mensch die Fähigkeit zu fühlen noch nicht vollständig verloren hat, wenn er nicht zum Roboter geworden ist, dann kann er es nicht vermeiden, schmerzvolle Entscheidungen treffen zu müssen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Sohn sich von seinen Eltern löst. Die Ablösung kann für ihn sehr schmerzvoll sein, wenn er das Leid spürt, das er den Eltern durch die Trennung zufügt. Es wäre aber naiv zu glauben, dass das Schmerzvolle und Schwierige einer solchen Entscheidung bereits etwas Neurotisches ist und analysiert werden muss.

Ähnliches gilt für die Probleme im Zusammenhang mit einer Scheidung. Die Entscheidung, sich von seiner Frau – oder von seinem Mann – zu trennen, ist eine der schmerzvollsten. Dennoch kann sie notwendig sein, um endlose Konflikte und ernsthafte Behinderungen in der eigenen Entwicklung zu beenden. In einer solchen Situation denken Tausende, sie müssten analysiert werden, weil sie einen „Komplex“ hätten, der ihnen die Entscheidung so schwer mache. Dieses denken sie zumindest bewusst. In Wirklichkeit haben sie oft andere Motive. Sehr häufig wollen sie ganz einfach die Entscheidung hinausschieben mit der Rationalisierung, dass sie erst durch eine Analyse herausfinden müssten, was ihre unbewussten Motive sind.

Viele Paare beschließen, dass beide vor einer solchen Entscheidung eine Psychoanalyse machen sollen. Der Umstand, dass eine Analyse zwei, drei oder gar vier Jahre dauern mag, stört sie dabei nicht besonders. Im Gegenteil, je länger sie dauert, desto länger können sie die Entscheidung hinausschieben. Aber mit dem Hinausschieben der Entscheidung während der Analyse verbinden viele – bewusst oder unbewusst – andere Hoffnungen. Einige hoffen, der Analytiker selbst fälle irgendwann einmal die Entscheidung für sie oder gebe ihnen direkt oder über eine „Deutung“ einen Rat. [XII-436] Auch wenn dies nicht zutrifft, haben sie noch eine weitere Erwartung: Sie glauben, dass die Psychoanalyse zu einer solchen inneren Klarheit verhilft, dass sie sich ohne Schwierigkeiten und ohne Schmerz entscheiden können. Wenn beide Erwartungen sich nicht verwirklichen, so kann die Analyse dennoch eine zweifelhafte Wirkung haben: Sie haben vom Reden über die Scheidung endlich genug und entschließen sich entweder zur Trennung oder zum Zusammenbleiben. Im letzteren Fall haben wenigstens beide ein Thema zum Reden, das sie beide interessiert, nämlich ihre eigenen Gefühle, Ängste, Träume usw. Mit anderen Worten, die Analyse hat ihren Gesprächen zwar einen Inhalt gegeben, jedoch bleibt es beim Reden über Gefühle, anstatt dass sie zu neuen Gefühlen füreinander kommen.

Den bisher gegebenen Beispielen könnten viele andere hinzugefügt werden: Jemand entscheidet sich, eine gut bezahlte gegen eine weniger gut bezahlte, dafür aber interessantere Arbeit einzutauschen; ein Regierungsbeamter entscheidet sich, zurückzutreten, statt gegen sein Gewissen zu handeln; jemand nimmt an einer politischen Protest-Bewegung teil und riskiert damit, seine Stellung zu verlieren oder auf eine schwarze Liste zu kommen; oder ein Priester entscheidet sich, auf sein Gewissen zu hören, und geht somit das Risiko ein, von seinem Orden entlassen zu werden und alle materielle und psychische Sicherheit zu verlieren, die ihm der Orden bisher gegeben hat.

Es scheint, dass Menschen weniger oft um Hilfe beim Psychoanalytiker nachsuchen, wenn es um einen Konflikt zwischen ihren Gewissensforderungen und ihren Eigeninteressen geht, als wenn es um familiäre und persönliche Konflikte geht. Man könnte vermuten, dass derartige persönliche Konflikte so sehr in den Vordergrund geschoben werden, damit die eigentlichen, schwerwiegenden und schmerzvollen Konflikte, bei denen es um den Konflikt zwischen ihrem Gewissen, ihrer Integrität, ihrer Authentizität und ihrem Selbstinteresse geht, verborgen bleiben. Gewöhnlich werden diese eigentlichen Konflikte nicht einmal als solche erkannt, sondern schnell beiseitegeschoben als irrationale, romantische, „infantile“ Impulse, die man nicht weiter verfolgen muss – oder soll. Aber diese Konflikte sind in Wirklichkeit die ausschlaggebenden im Leben eines Menschen. Sie sind zumeist viel bedeutender als die Frage, ob Scheidung oder nicht Scheidung, wo es ja doch meistens nur darum geht, eine ältere „Ausgabe“ durch eine neuere zu ersetzen.

Ein anderer Grund, der gegen eine Psychoanalyse spricht, ist die Gefahr, dass man im Psychoanalytiker nur eine neue Vaterfigur sucht und auch findet, von der man abhängig wird und durch die man die eigene Weiterentwicklung blockiert.

Der klassische Psychoanalytiker wird sagen, das Gegenteil sei wahr, der Patient entdecke die unbewusste Abhängigkeit vom Vater in der Übertragung auf den Analytiker, und durch das Analysieren der Übertragung löse er die Übertragung – wie auch seine ursprüngliche Bindung an den Vater – auf. Theoretisch ist dies richtig, und praktisch geschieht es manchmal auch so. Aber häufig geschieht etwas ganz anderes. Der Analysand mag tatsächlich seine Bindung zum Vater abgeschnitten haben, aber mit dem Deckmantel seiner Unabhängigkeit baut er sich eine neue Bindung auf – die zum Analytiker. Dieser wird zur Autorität, zum Berater, zum weisen Lehrer, zum guten [XII-437] Freund, zur zentralen Figur im eigenen Leben. Dass dies so häufig geschieht, liegt unter anderem auch in einer Unzulänglichkeit der klassischen Freudschen Theorie begründet.

Freud ging von der grundlegenden Annahme aus, dass alle „irrationalen“ Phänomene, wie das Bedürfnis nach einer starken Autorität, übermäßiger Ehrgeiz, Sadismus und Masochismus, in den Bedingungen der frühen Kindheit verwurzelt sind und dass diese Bedingungen der Schlüssel zum Verständnis der späteren Entwicklung sind (theoretisch gab er auch den konstitutionellen Faktoren einen gewissen Einfluss). So wurde das Bedürfnis nach einer starken Autorität mit der tatsächlichen Hilflosigkeit des Kindes erklärt. Wenn nun die gleiche Bindung in der Beziehung zum Analytiker entstand, wurde sie als „Übertragung“ von einem Objekt, nämlich dem Vater, auf ein anderes, den Analytiker, erklärt. Derartige Übertragungen gibt es, und sie sind ein wichtiges psychisches Phänomen. Aber diese Erklärung reicht nicht aus.[14]

Nicht nur das Kind ist machtlos, auch der Erwachsene ist machtlos. Diese Ohnmacht wurzelt in den Bedingungen der menschlichen Existenz selbst, in der „menschlichen Situation“. Angesichts der vielen Gefahren, die den Menschen bedrohen, angesichts des Todes, der Ungewissheit der Zukunft, der Begrenztheit seines Wissens, kann der Mensch nicht anders, als sich ohnmächtig zu fühlen. Diese existenzielle Ohnmacht des Einzelnen wird durch die historische Machtlosigkeit des Menschen verstärkt, die es in allen Gesellschaften gibt, in denen eine Elite ihre Ausbeutung der Mehrheit aufrechterhalten will. Die Menschen werden durch die Elite viel hilfloser gemacht, als sie es in den natürlichen Demokratien waren, die es in den meisten primitiven Gesellschaften gab und die wir für eine zukünftige Gesellschaftsform erhoffen, die sich auf Solidarität statt auf Antagonismus gründet.

Auf Grund der existenziellen wie auch auf Grund seiner historischen Situation versucht der Mensch sich an „magische Helfer“ zu binden: an Schamanen, Priester, Könige, politische Führer, Väter, Lehrer – und an Psychoanalytiker sowie an Institutionen wie Kirche und Staat. Häufig bieten sich jene, die den Menschen ausbeuten, als solche „Vaterfiguren“ an und werden auch als solche gerne angenommen. Man zieht es vor, Menschen zu gehorchen, die es angeblich gut meinen, als sich selbst einzugestehen, dass man aus Angst und Ohnmacht gehorcht.

Freuds Entdeckung der Übertragung ist viel weitreichender, als er selbst – an das Denken seiner Zeit gebunden – sehen konnte. Mit der Entdeckung der Übertragung entdeckte er zugleich eine besonders starke Strebung im Menschen: die Neigung zum Götzendienst (Entfremdung). Diese Strebung wurzelt in der Zwiespältigkeit der menschlichen Existenz und sucht eine Antwort auf die Unsicherheit des Lebens. Der Mensch versucht eine Person, eine Institution, eine Idee in etwas Absolutes zu verwandeln, das heißt in einen Götzen, dem er sich unterwirft und der ihm die Illusion von Sicherheit verschafft. Man kann die psychologische und gesellschaftliche Bedeutung des Götzendienstes im Laufe der Geschichte kaum überschätzen. Götzendienst ist die Illusion, die eigenes Tätigsein und Unabhängigkeit behindert.

Menschen, die eine Psychoanalyse machen, kommen meist aus der Mittel- und oberen Mittelschicht. Für sie spielt die Religion keine bedeutsame Rolle mehr. Sie haben keine leidenschaftlich verfochtenen politischen Überzeugungen, keinen Gott, Kaiser, [XII-438] Papst, Rabbiner oder charismatischen politischen Führer, der die Leere füllt. Der Psychoanalytiker wird zu einer Mischung von Guru, Wissenschaftler, Vater, Priester oder Rabbiner. Er verlangt keine schwierigen Aufgaben, er ist freundlich, er löst alle wirklichen Lebensprobleme – soziale, ökonomische, politische, religiöse, moralische und philosophische – in psychologische auf und reduziert sie damit zu Rationalisierungen inzestuöser Wünsche, zu Impulsen, den Vater zu töten, oder zu analen Fixierungen. Ist die Welt einmal auf diesen bürgerlichen Mini-Kosmos reduziert, so wird sie einfach, zuverlässig, handhabbar und bequem.

Eine weitere Gefahr bei konventionellen Psychoanalysen liegt darin, dass der Patient oft nur vorgibt, sich ändern zu wollen. Leidet er an lästigen Symptomen, an Schlafstörungen, Impotenz, Angst vor Autoritäten, an unglücklichen Beziehungen zum anderen Geschlecht, an einem allgemeinen Gefühl des Unbehagens, so ist es nur verständlich, dass er seine Symptome loswerden möchte. Wer wollte dies nicht? Aber er ist nicht willens, den Schmerz und die Qualen zu ertragen, welche untrennbar mit dem Prozess des inneren Wachstums und des Unabhängig-Werdens verbunden sind. Wie löst er dieses Dilemma? Indem er der „Grundregel“ folgt und alles, was ihm in den Sinn kommt, ohne Zensur sagt, erwartet er, ohne Schmerz oder sogar ohne Anstrengung geheilt zu werden; er glaubt also an eine „Heilung durch Reden“. Aber so etwas gibt es nicht. Ohne Anstrengung und ohne Bereitschaft Schmerz und Angst zu durchleben, kann niemand wachsen.

Mit einer weiteren Gefahr der herkömmlichen Analyse rechnet man kaum: mit der „Verkopfung“ des Gefühlslebens. Freuds Absicht war eindeutig das Gegenteil: Er wollte die konventionellen bewussten Gedankenvorgänge durchbrechen, um zum Erleben zu gelangen, zu den ursprünglichen, nicht rationalisierten, unlogischen Gefühlen und Phantasien hinter der glatten Oberfläche des alltäglichen Denkens. Er fand diese im hypnotischen Zustand, in den Träumen, in der Sprache der Symptome wie auch in vielen, gewöhnlich unbemerkten kleinen Details des Verhaltens. Aber in der Praxis der Psychoanalyse verschwand das ursprüngliche Ziel immer mehr und wurde zu einer Ideologie.

Mehr und mehr wurde die Psychoanalyse zu einer historischen Erforschung der Entwicklung des Individuums und mit theoretischen Erklärungen und Konstruktionen überfrachtet. Der Analytiker hatte eine Anzahl von theoretischen Annahmen, und er gebrauchte die Assoziationen des Patienten als Beweismaterial für die Richtigkeit seiner Theorie. Er handelte in gutem Glauben, weil er von der Wahrheit des Dogmas überzeugt war und weil er glaubte, dass das Material, welches der Analysand lieferte, gerade deshalb tief und echt sein musste, weil es genau in seine Theorie passte. Die Methode diente zunehmend nur der Erklärung, wie das folgende Beispiel zeigt:

Eine Patientin leidet wegen zwanghafter Eßgewohnheiten an Fettsucht. Der Analytiker deutet ihren Zwang und die daraus entstehende Fettleibigkeit als ihren unbewussten Wunsch, den Samen ihres Vaters zu schlucken und durch ihn schwanger zu werden. Der Umstand, dass sie über keine direkten Erinnerungen verfügt, je einen solchen Wunsch oder solche Phantasien gehabt zu haben, wird durch die Verdrängung dieses schmerzhaften infantilen Materials erklärt. Dieser Ursprung des Wunsches wird auf [XII-439] Grund der Theorie „rekonstruiert“. Das weitere Vorgehen in der Analyse besteht hauptsächlich im Versuch des Analytikers, die weiteren Assoziationen und Träume der Patientin als Beweis für die Richtigkeit der Rekonstruktion anzusehen. Es wird angenommen, dass die Patientin – sobald sie die Bedeutung der Symptome richtig „verstanden“ hat – geheilt sein wird. Im Grunde geht es hier um eine Methode, die durch Erklären heilen will. Die entscheidende Frage ist dabei, warum das neurotische Symptom entstanden ist. Wird der Patient zu weiteren Assoziationen aufgefordert, sucht er in Wirklichkeit intellektuell nach dem Ursprung seiner Symptome. Was als Erfahrungsmethode gedacht war, wurde – zwar nicht von der Theorie her, jedoch faktisch – zu einer intellektuellen Suche. Selbst wenn die theoretischen Voraussetzungen stimmten, könnte eine derartige Methode höchstens so viel erreichen, wie man mit anderen Suggestionsmethoden auch erreichen kann. Wenn jemand eine beträchtliche Zeit analysiert worden ist und ihm gesagt wird, dass dieser oder jener Umstand die Ursache für seine Neurose ist, so wird er leicht bereit sein, dies auch zu glauben, und wird sein Symptom aufgeben im Vertrauen, dass die Entdeckung der Wurzeln seine Heilung herbeigeführt hat. Kein Wissenschaftler würde davon ausgehen, dass die Heilung eines Symptoms von einem bestimmten Medikament verursacht worden ist, solange die Wirksamkeit des Medikaments nicht durch einen Placebo-Test überprüft wurde, in den auch der behandelnde Arzt selbst einbezogen wurde („Doppel-Blind-Versuch“).

Die Gefahr der Intellektualisierung ist heute noch größer geworden, denn die vorherrschende Entfremdung des Menschen von seinen affektiven Erfahrungen führt dazu, dass er sich und die übrige Welt fast nur noch rein intellektuell begreift. Dieser Mechanismus ist sehr weit verbreitet. Die Menschen neigen dazu, über ihre Gefühle nachzudenken, anstatt zu fühlen.

3. Die transtherapeutische Psychoanalyse als Weg der Selbsterfahrung

Trotz der Gefahren, die eine herkömmliche Psychoanalyse in sich birgt, muss ich gestehen, dass ich heute, nach über vierzigjähriger psychoanalytischer Praxis, mehr denn je davon überzeugt bin, dass die richtig verstandene und durchgeführte Psychoanalyse eine ausgezeichnete Möglichkeit ist, dem Menschen zu helfen. Dies gilt insbesondere für den traditionellen Anwendungsbereich der Psychoanalyse, die Behandlung der Neurose.

An dieser Stelle gilt unser Hauptinteresse jedoch nicht so sehr der Psychoanalyse als Neurosentherapie, sondern vielmehr einer neuen Aufgabe der Analyse, die ich transtherapeutische Psychoanalyse nenne. Diese kann als therapeutische Analyse beginnen, hört aber mit der Befreiung von den Symptomen nicht auf, sondern setzt sich neue Ziele, die eine Therapie überschreiten. Müssen keine schwierigen psychopathologischen Probleme gelöst werden, kann die Psychoanalyse aber auch gleich mit Blick auf die transtherapeutischen Ziele beginnen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass bei der transtherapeutischen Psychoanalyse die Ziele weiter gesteckt sind. Sie will mehr, als den Patienten wieder an die Normalität anzupassen. Als Therapeut [XII-440] verfolgte Freud dieses weitergehende Ziel nicht. Dennoch lag es ihm nicht so fern, wie man annehmen könnte. Sein therapeutisches Ziel war zwar die Wiederanpassung an ein „normales“ Funktionieren („Arbeits- und Genussfähigkeit“), sein eigentlicher Ehrgeiz lag jedoch nicht im therapeutischen Bereich, sondern in der Gründung einer Aufklärungsbewegung, die die höchste Stufe von Aufklärung anstrebte: das Gewahrwerden und die Kontrolle irrationaler Leidenschaften (vgl. hierzu Sigmund Freud. Seine Persönlichkeit und seine Wirkung, 1959a, GA VIII, S. 155-159).

Die Ziele einer transtherapeutischen Psychoanalyse lauten: Befreiung des Menschen zu sich selbst durch ein größtmögliches Gewahrwerden seiner selbst; Erreichen von Wohl-Sein (well-being), Unabhängigkeit und Liebesfähigkeit; Stärkung seines kritischen, des-illusionierenden Denkens und seines „Seins“.

Die transtherapeutische „humanistische“ Psychoanalyse revidiert einige Theorien von Freud, besonders die Libido-Theorie, die für ein umfassendes Verständnis des Menschen zu eng gefasst ist. Im Mittelpunkt ihres Interesses stehen nicht Sexualität und Familie, sondern die besonderen Bedingungen der menschlichen Existenz und die Struktur der Gesellschaft. Die den Menschen motivierenden Leidenschaften sind im Grunde nicht instinktiv-triebhaft, sondern eine „zweite Natur“ des Menschen, die durch die Interaktion existenzieller und gesellschaftlicher Bedingungen gebildet wird.

In der Vergangenheit habe ich für meine Revision der Psychoanalyse manchmal den Ausdruck „humanistische“ Psychoanalyse gebraucht. Ich habe diese Bezeichnung wieder fallengelassen, zum einen, weil sie von einer Gruppe von Psychologen übernommen wurde, deren Ansichten ich nicht teile, zum anderen, weil ich den Eindruck vermeiden wollte, dass ich eine neue „Schule“ der Psychoanalyse gründen wollte. Was die psychoanalytischen Schulen anbelangt, so hat die Erfahrung gezeigt, dass sie für die theoretische Entwicklung der Psychoanalyse hinderlich sind und auch für die Fähigkeiten derer, die sie ausüben. Dies ist im Falle der Freudschen Schule ganz offensichtlich. Freud glaubte, seine Anhänger durch eine gemeinsame Ideologie zusammenhalten zu müssen. Ich glaube, dass ihn dies daran hinderte, seine Theorien weiterzuentwickeln. Hätte er nämlich seine grundlegenden theoretischen Standpunkte geändert, so wären seine Anhänger der einenden Dogmen beraubt worden. Außerdem hatten die „Schule“ und die Anerkennung ihrer Mitglieder durch die Schule vernichtende Auswirkungen auf deren Mitglieder. Dadurch, dass sie richtig „geweiht“ wurden, bekamen viele die notwendige moralische Unterstützung und fühlten sich für ihre Aufgabe kompetent, ohne dass sie genötigt waren, noch dazuzulernen. Was für die orthodoxe Schule zutrifft, stimmt meiner Beobachtung nach auch für die anderen. Diese Beobachtungen haben mich zur Überzeugung gebracht, dass die Gründung psychoanalytischer Schulen nicht wünschenswert ist und nur zu Dogmatismus und Inkompetenz führt.

Auch das technische Vorgehen ist bei der transtherapeutischen Analyse anders: es ist aktiver, direkter und fordernder. Die zugrunde liegenden Ziele sind jedoch die der klassischen Psychoanalyse: das Aufdecken unbewusster Strebungen, das Erkennen des Widerstands, der Übertragung und der Rationalisierung sowie das Verständnis des Unbewussten mit Hilfe der Traumdeutung als via regia.

Ich möchte dieser Beschreibung noch etwas hinzufügen. Jemand, der nach einem [XII-441] Optimum an Wachstum strebt, mag auch neurotische Symptome zeigen und somit die Psychoanalyse auch als Therapie brauchen. Ein Mensch jedoch, der nicht völlig entfremdet ist, der noch immer empfindsam geblieben ist und noch fühlen kann, der noch nicht den Sinn für Würde verloren hat, der noch nicht „käuflich“ ist, der am Leiden anderer selbst noch zu leiden vermag, der noch nicht vollständig in der Existenzweise des Habens lebt, kurzum jemand, der noch Person geblieben und nicht zum Ding geworden ist, ein solcher Mensch kann nicht anders, als sich in der heutigen Gesellschaft einsam, ohnmächtig und isoliert zu erleben. Er kommt nicht umhin, sich selbst und seine Überzeugungen – ja sogar seine geistige Gesundheit – in Frage zu stellen. Er kann gar nicht anders als leiden, obwohl er sich auch freuen kann und klar zu sehen vermag. (Und beides sind Fähigkeiten, die seinen „normalen“ Zeitgenossen abhandengekommen sind.) Es geschieht nicht selten, dass ein solcher Mensch auch an einer Neurose leidet. Diese entsteht dadurch, dass er als gesunder (sane) Mensch in einer kranken (insane) Gesellschaft lebt. Bei der Neurose im herkömmlichen Sinne versucht dagegen ein kranker (sick) Mensch sich an eine kranke (sick) Gesellschaft anzupassen. Im Verlauf seiner Analyse erlangt er große Unabhängigkeit und Produktivität, und seine neurotischen Symptome lösen sich von selbst auf. Letztlich weisen alle Formen von Neurosen darauf hin, dass das Problem zu leben nicht richtig gelöst wurde.

b) Die transtherapeutische Psychoanalyse als Einübung in die Selbstanalyse

Wenn die Erforschung des eigenen Unbewussten ein Teil der Meditation sein soll, dann stellt sich die Frage, ob jemand im Rahmen seiner Meditationsübung zur Selbstanalyse fähig ist. Dies ist zweifellos sehr schwierig, und ich halte es für besser, wenn er durch analytische Arbeit mit einem kompetenten Psychoanalytiker in die Praxis der Selbstanalyse eingeführt werden kann.

Zuerst stellt sich die Frage, welcher Analytiker für diese Art von transtherapeutischer Analyse kompetent ist. Wenn er selbst nicht dieses Ziel verfolgt, dürfte er kaum verstehen, was der Patient möchte und braucht. Es geht nicht darum, dass der Analytiker dieses Ziel schon erreicht haben muss, aber er sollte auf dem Weg sein. Da die Zahl der Analytiker, die dieses Ziel verfolgen, relativ klein ist, ist es nicht leicht, einen solchen Analytiker zu finden. Ich empfehle hierbei, wie auch bei der Wahl eines Analytikers aus rein therapeutischen Gründen, eine Regel zu beachten: Man sollte sich den Psychoanalytiker gut und sorgfältig aussuchen mit Hilfe von Menschen, die ihn gut kennen (Patienten und Kollegen von ihm), und als Empfehlung nicht an große Namen oder beeindruckende Praxisräumlichkeiten glauben; ferner sollte man skeptisch sein gegenüber enthusiastischen Berichten von Patienten, welche „ihren“ Analytiker vergöttern. Man sollte versuchen, sich in ein oder zwei – oder sogar in den ersten zehn – Gesprächen einen Eindruck vom Analytiker zu bilden, und ihn genauso sorgfältig beobachten, wie er es umgekehrt vermutlich auch tut. Über viele Jahre mit dem „falschen“ Analytiker zu arbeiten, kann genauso schädlich sein, wie über viele Jahre mit der falschen Person verheiratet zu sein. [XII-442]

Die „Schule“, aus der ein Analytiker kommt, besagt an sich wenig. Die existenzphilosophisch orientierten Psychoanalytiker befassen sich angeblich mehr mit Problemen der menschlichen Ziele, und manche tun dies auch. Andere verstehen davon wenig und bedienen sich nur vordergründig des philosophischen Jargons von Husserl, Heidegger oder Sartre, ohne wirklich in die Tiefe der Persönlichkeit des Patienten vorzudringen. Die Jungianer haben den Ruf, dass sie sich am meisten mit den spirituellen und religiösen Bedürfnissen des Patienten befassen. Einige von ihnen tun dies, aber viele verfehlen in ihrer Begeisterung für Mythen und Analogien, in die Tiefe des Lebens des einzelnen Patienten und seines persönlichen Unbewussten vorzudringen.

Die „Neo-Freudianer“ sind nicht notwendigerweise besser geeignet als andere. Es genügt nicht, kein Freudianer zu sein! Einige verstehen die Psychoanalyse ähnlich, wie ich sie hier umrissen habe; viele andere haben einen eher oberflächlichen Zugang, dem es an Tiefe und kritischem Denken mangelt. Die orthodoxen Freudianer gehören vielleicht zur Schule, die von dem, was ich vorschlage, am weitesten entfernt ist, und zwar deshalb, weil ihnen die Libido-Theorie und die einseitige Betonung der Kindheitserfahrungen im Wege stehen. Aber trotz ihrer Doktrin gibt es wahrscheinlich manche, deren persönliche Qualitäten und Philosophie sie zu hilfreichen Führern für das volle Bewusstwerden der inneren Realität werden lassen. Kurzum, ich bin der Meinung, dass die Kompetenz eines Analytikers weniger eine Sache der Schule ist, der er angehört, als eine Frage seiner Persönlichkeit, seines Charakters, seiner Fähigkeit zu kritischem Denken und seiner persönlichen Philosophie.

Eng verbunden mit der Person des Analytikers ist seine Methode. Ich glaube nicht, dass eine Psychoanalyse, die auf eine Selbstanalyse zielt, sehr lange dauern muss. Im allgemeinen dürften zwei Wochenstunden über einen Zeitraum von sechs Monaten ausreichen. Dazu ist ein spezielles Vorgehen erforderlich: Der Analytiker darf nicht passiv bleiben. Wenn er dem Patienten fünf bis zehn Stunden lang zugehört hat, sollte er sich von dessen unbewussten Strukturen und vom Ausmaß des Widerstands ein Bild machen können. Dann sollte er den Patienten mit seinen Erkenntnissen konfrontieren, die Reaktionen und besonders seinen Widerstand gegen diese Erkenntnisse analysieren. Ferner sollte er von Anfang an die Träume des Patienten analysieren und sie als Leitlinien für seine Diagnose verwenden. Seine Deutung der Träume (wie auch des anderen Materials) sollte er dem Patienten mitteilen.

Gegen Ende dieses Zeitabschnitts sollte der Patient mit seinem Unbewussten genügend bekanntgeworden sein und auch seinen Widerstand auf ein Maß reduziert haben, das es ihm erlaubt, die Analyse selbst weiterzuführen und mit einer täglichen Selbstanalyse bis zum Ende des Lebens zu beginnen. Ich sage dies bewusst so, weil es für die Selbsterkenntnis keine Grenze gibt. Aus meiner eigenen Erfahrung mit der Selbstanalyse, die ich in den letzten 40 Jahren täglich praktiziert habe, kann ich sagen, dass es bis jetzt nie vorkam, dass ich nicht etwas Neues entdeckt oder Bekanntes nicht hätte vertiefen können. Besonders zu Beginn der Selbstanalyse mag es allerdings von Nutzen sein, die gemeinsame Arbeit mit dem Analytiker wieder aufzunehmen, wenn man den Eindruck hat, lahmgelegt zu sein. Da die Versuchung zu groß ist, die Bindung an ihn zu erneuern, sollte dies allerdings nur im Notfall getan werden.

Zur Vorbereitung einer Selbstanalyse ist eine einführende Analyse wünschenswert. [XII-443] Aber dieses Vorgehen ist nicht nur deshalb sehr schwierig, weil es nicht viele Psychoanalytiker gibt, deren eigene Persönlichkeit sie zu dieser Arbeit befähigt, sondern auch deshalb, weil ihre Praxisroutine nicht darauf ausgerichtet ist, Patienten während eines Zeitraumes von sechs Monaten zu sehen und dann – wenn überhaupt – nur noch gelegentlich. Diese Art von Arbeit verlangt nicht nur ein besonderes Interesse, sondern auch einen flexibleren Stundenplan. Fände die transtherapeutische Selbstanalyse eine weitere Verbreitung, so glaube ich, dass sich eine Anzahl von Psychoanalytikern auf diese Art von Arbeit spezialisieren würde oder ihr zumindest die Hälfte ihrer Arbeitszeit widmen würde.

Was ist aber, wenn man keinen geeigneten Analytiker findet, aus Gründen der Entfernung keinen aufsuchen kann, oder wenn man sich dies finanziell nicht leisten kann? Ist in einem solchen Fall eine Selbstanalyse möglich?

Die Antwort auf diese Frage hängt von verschiedenen Faktoren ab. In erster Linie hängt sie von der Intensität des Wunsches ab, das Ziel der Befreiung zu erreichen. Aber dieser Wunsch als solcher würde nicht aufkommen, gäbe es nicht eine Tendenz des Menschen, Wohl-Sein zu erreichen, das heißt Bedingungen zu schaffen, welche das Wachstum und die Entfaltung des Einzelnen und der menschlichen Spezies fördern. Es ist bekannt, dass es eine solche, die Gesundheit erhaltende Tendenz in körperlicher Hinsicht gibt. Die Medizin kann nur die Hindernisse wegräumen, die dieser Tendenz zuwiderlaufen bzw. diese Tendenz unterstützen. In der Tat heilen sich die meisten Krankheiten ohne besondere Maßnahmen. Dass das Gleiche auch für das seelisch-geistige Wohl-Sein gilt, wird jetzt langsam wieder erkannt, nachdem es in einer Zeit, die weniger auf das technisch Machbare setzte, bereits wohlbekannt war.

Ungünstige Faktoren für die Selbstanalyse sind ernsthafte pathologische Zustände, die schon in einer längeren „regulären“ Analyse schwierig genug zu behandeln sind. Eine besonders wichtige Frage sind auch die ganz realen Lebensumstände eines Menschen. Wenn beispielsweise jemand seinen Lebensunterhalt nicht selbst verdienen muss, weil er von geerbtem Geld oder vom Geld seiner Eltern – oder auch vom Ehepartner – lebt, so hat dieser eine schlechtere Chance als einer, der zur Arbeit gezwungen ist und es sich daher weniger gut leisten kann, sich abzusondern. Jemand, der in einer Gruppe lebt, in der jeder den gleichen Defekt hat, wird geneigt sein, die Werte seiner Gruppe als normal anzunehmen. Eine weitere schlechte Voraussetzung besteht dann, wenn jemand sich sein Leben auf eine Weise verdient, bei der seine neurotischen Qualitäten ein Vorteil sind und wo eine innere Änderung seinen Lebensunterhalt gefährden könnte. Ich denke hier beispielsweise an einen „Entertainer“, dessen Narzissmus eine notwendige Bedingung für seinen Erfolg darstellt; ein anderes Beispiel ist der Büroangestellte, der seine Stelle verlieren könnte, wenn er seine Unterwürfigkeit aufgibt. Schließlich ist die kulturelle und spirituelle Verfassung eines Menschen von großer Bedeutung. Ob es einen Kontakt mit philosophischen, religiösen oder gesellschaftskritischen Gedanken gibt oder ob einer noch nie hinter die kulturell gefärbten Ansichten seiner Umgebung oder sozialen Schicht geschaut hat, macht einen großen – ja oft entscheidenden – Unterschied. Es scheint mir, dass die Intelligenz eines Menschen als solche nicht der entscheidende Faktor ist; oft steht intellektuelle Brillanz nur im Dienste des Widerstandes. [XII-444]

c) Methoden der Selbstanalyse

Um dem Thema „Selbstanalyse“ gerecht zu werden, müsste ich eigentlich ein ganzes Buch schreiben. Ich beschränke mich hier jedoch auf einige einfache Vorschläge. Um mit der Selbstanalyse überhaupt anfangen zu können, muss man gelernt haben, still zu werden, entspannt zu sitzen und sich zu konzentrieren. Sind diese Vorbedingungen einmal erfüllt – wenigstens ansatzweise –, so kann man auf verschiedene Weisen, die sich gegenseitig nicht ausschließen, fortfahren.

(1) Man mag versuchen, sich jener Gedanken zu erinnern, die sich während des Versuchs, still zu werden, aufdrängten, sich auf sie einlassen und dann schauen, ob es eine sinnvolle Verbindung zu ihnen gibt und welcher Art diese sein könnte. Oder man kann bestimmte Symptome näher betrachten, etwa wenn man sich (trotz ausreichenden Schlafs) müde fühlt oder depressiv, oder wenn man Ärger spürt, um dann zu „ertasten“, worauf man mit diesem Gefühl wohl reagiert hat und welche unbewusste Erfahrung sich hinter dem manifesten Gefühl zu verbergen sucht. Ich sage absichtlich nicht, dass man darüber „nachdenken“ solle, denn mit theoretischen Gedanken bekommt man hier keine Antwort; bestenfalls führt dies zu theoretischen Spekulationen. Mit „Ertasten“ meine ich ein imaginatives Abtasten verschiedener möglicher Gefühle, bis man schließlich ein bestimmtes Gefühl mit Deutlichkeit als Wurzel der bewussten Wahrnehmung, etwa dass man müde ist, erkennt. Eine andere Möglichkeit zu verfahren, ist folgende: Man versucht, sich frühere Situationen derartigen Müdeseins vorzustellen, um dann zu fragen, ob man ihnen damals auf den Grund kam. Oder man stellt sich verschiedene Möglichkeiten vor, die der Müdigkeit zugrunde liegen könnten: etwa dass man eine schwierige Aufgabe aufgeschoben hat, statt sich ihr zu stellen, oder ein ambivalentes Gefühl gegenüber einer befreundeten oder geliebten Person, oder eine Kritik, die den eigenen Narzissmus so traf, dass man depressiv reagierte, oder dass in einer Begegnung die zur Schau gestellte Freundlichkeit dem anderen gegenüber nicht echt war.

Ein komplizierteres Beispiel ist das folgende: Ein Mann verliebt sich in eine junge Frau. Nach einigen Monaten fühlt er sich plötzlich müde, deprimiert, lustlos. Er ist nun versucht, alle möglichen rationalisierenden Erklärungen zu finden, wie etwa die, dass seine Arbeit nicht gut läuft (was in Wirklichkeit dieselbe Ursache haben mag wie seine Müdigkeit), oder dass er wegen der politischen Entwicklung enttäuscht und traurig ist. Vielleicht holt er sich auch eine starke Erkältung und findet so eine zufriedenstellende Antwort. Wenn er aber seinen eigenen Gefühlen gegenüber empfindsam genug ist, beobachtet er vielleicht, wie er in letzter Zeit immer mehr dazu neigt, sich an Kleinigkeiten seiner Freundin zu stoßen. Er erinnert sich vielleicht eines Traums, in dem sie ein hässliches Gesicht hatte und ihn betrog. Oder er mag bemerken, dass er vermehrt Gründe findet, einen geplanten Besuch zu verschieben, während er früher immer begierig war, sie zu treffen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959121156
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Haben oder Sein Selbsterfahrung Selbstanalyse
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Titel: Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung