Zusammenfassung
In diesem Wissen um eine humanistische Alternative fühlt sich Fromm mit Meister Eckhart und Karl Marx verbunden, die beide von „Haben oder Sein“ sprachen. Im letzten großen Beitrag dieses Bandes mit nachgelassenen Schriften wird ein Kapitel über Meister Eckhart und Karl Marx veröffentlicht, das Fromm im Zusammenhang mit seinem Buch ‚Haben oder Sein‘ verfasst hat, ohne es darin zu veröffentlichen.
Aus dem Inhalt
• Der moderne Mensch und seine Zukunft
• Die psychischen Folgen des Industrialismus
• Meine Kritik an der Industriegesellschaft
• Die Überlebenschancen der westlichen Gesellschaft
• Auf der Suche nach der humanistischen Alternative
• Ein neuer Humanismus als Voraussetzung für die eine Welt
• Die Idee einer Weltkonferenz
• Wahlkampfrede für Eugene McCarthy beim „Versöhnungsbund“
• Aufruf zum gemeinsamen Kampf gegen den Götzendienst
• Credo eines Humanisten
• Bemerkungen zu den Beziehungen zwischen Juden und Deutschen
• Meister Eckhart und Karl Marx: Die reale Utopie der Orientierung am Sein
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen
- Inhalt
- Vorwort von Rainer Funk
- Der moderne Mensch und seine Zukunft
- 1. Etappen der Entwicklung des westlichen Menschen
- 2. Die Entfremdung als Krankheit des modernen Menschen
- 3. Die Gleichgültigkeit als neue Erscheinungsweise des Bösen
- 4. Die Alternative: Renaissance des Humanismus
- Die psychischen Folgen des Industrialismus
- Meine Kritik an der Industriegesellschaft
- Die Überlebenschancen der westlichen Gesellschaft
- 1. Die Eigenart von Systemen
- 2. Vom Zerfall gesellschaftlicher Systeme
- 3. Die Zukunft der gegenwärtigen technologischen Gesellschaft – Zerfall oder Reintegration?
- Auf der Suche nach der humanistischen Alternative
- 1. Die Menschheit am Scheideweg
- 2. Die Bedingungen für eine humanistische Alternative
- 3. Die Notwendigkeit einer alternativen „Bewegung“
- Ein neuer Humanismus als Voraussetzung für die eine Welt
- 1. Zur Geschichte der Idee des Humanismus
- 2. Die Bedeutung des Humanismus für die Gegenwart
- Die Idee einer Weltkonferenz
- Wahlkampfrede für Eugene McCarthy beim „Versöhnungsbund“
- Aufruf zum gemeinsamen Kampf gegen den Götzendienst
- Credo eines Humanisten
- Bemerkungen zu den Beziehungen zwischen Juden und Deutschen
- Meister Eckhart und Karl Marx: Die reale Utopie der Orientierung am Sein
- 1. Meister Eckhart
- a) Zum Verständnis seines Werks
- b) Haben oder Sein nach Eckhart
- c) Haben oder Sein in der „Armutspredigt“
- 2. Karl Marx
- a) Das „religiöse“ Anliegen von Marx
- b) Exkurs: Religion und Gottesvorstellung
- c) Humanismus als säkularer Messianismus
- d) Haben oder Sein nach Marx
- 3. Das gemeinsame „religiöse“ Anliegen
- a) Die Tradition der Mystik
- b) Die atheistische Religiosität
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
Ich glaube, dass niemand seinen Nächsten dadurch „retten“ kann
dass er für ihn eine Entscheidung trifft.
Die einzige Hilfe besteht darin,
dass er ihn in aller Aufrichtigkeit und Liebe
sowie ohne Sentimentalität und Illusionen
auf mögliche Alternativen hinweisen kann.
Die wichtigste aller falschen Alternativen
ist wohl die zwischen dem sogenanntem „Realismus“,
worunter man einen Automatismus versteht,
der keine Urteile auf Grund menschlicher Werte mehr kennt,
und einem Utopismus,
bei dem es keine realen und glaubwürdigen Ziele mehr gibt,
nur weil diese noch nicht realisiert sind.
Die echte Alternative zu Realismus und Utopismus
erwächst aus dem Syndrom von Denken,
Erkenntnis, Vorstellungsvermögen und Hoffnung.
Dieses befähigt den Menschen,
die realen Möglichkeiten zu sehen,
deren Keime bereits vorhanden sind.
Voraussetzungen für seelische Gesundheit
und das Überleben der Zivilisation
sind eine Wiederbelebung des Geistes der Aufklärung,
eines rücksichtslos kritischen und wirklichkeitsnahen,
jedoch von seinen überschwänglich optimistischen
und rationalistischen Vorurteilen befreiten Geistes,
und zugleich die Wiederbelebung humanistischer Werte,
die nicht gepredigt, sondern im persönlichen
und gesellschaftlichen Leben realisiert werden.
Ich glaube, dass der Einzelne so lange nicht
mit seiner Menschheit in sich in engen Kontakt kommen kann,
solange er sich nicht anschickt,
seine Gesellschaft zu transzendieren und zu erkennen,
in welcher Weise diese die Entwicklung
seiner menschlichen Potenziale fördert oder hemmt.
Kommen ihm die Tabus, Restriktionen, entstellten Werte
ganz „natürlich“ vor, dann ist dies ein deutlicher Hinweis darauf,
dass er keine wirkliche Kenntnis der menschlichen Natur hat.
Ich glaube, dass die Verwirklichung einer Welt möglich ist,
in der der Mensch viel „sein“ kann,
selbst wenn er wenig „hat“.
Vorwort von Rainer Funk
Wer versucht, den „roten Faden“ im Frommschen Werk zu benennen, der sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen zieht, wird zuerst auf seinen sozialpsychologischen Denkansatz stoßen, mit dem er die gesellschaftlich geprägten leidenschaftlichen Strebungen des Menschen aufspürte. Doch spätestens Ende der Dreißiger Jahre wird im Zusammenhang mit seinem Ausscheiden aus dem Institut für Sozialforschung und den Auseinandersetzungen mit Horkheimer, Marcuse und Adorno noch etwas anderes, unverkennbar Frommsches sichtbar, das sich wie ein roter Faden durch sein Leben und Werk zieht: sein humanistisches Menschen- und Weltbild. Wann immer Fromm sein eigenes Denken kennzeichnen will, gebraucht er das Attribut „humanistisch“. Er spricht von einer humanistischen Wissenschaft vom Menschen, vom humanistischen Sozialismus, von der humanistischen Industriegesellschaft, vom humanistischen Gewissen, von der humanistischen Religion, vom humanistischen Management, von der humanistischen Weltanschauung, von der humanistischen Psychoanalyse, vom humanistischen Charakter, von der humanistischen Ethik und von der humanistischen Utopie.
Genau dieser humanistische Glaube an den Menschen führt bei der Beurteilung des Frommschen Denkens oft zur „Scheidung der Geister“: Wie kann Fromm, der ein Großteil seiner Verwandten in den Vernichtungslagern der Nazis verlor und die unheilvollen Auswirkungen der Selbstentfremdung des am Markt orientierten Menschen mit solcher Klarheit erkannt hat – und der gleichzeitig jede Erlösung von außerhalb nur als Ausdruck der Selbstentfremdung demaskiert –, wie kann Fromm da noch an den Menschen glauben?
Die Beiträge dieses letzten Bandes der Schriften aus dem Nachlass geben Antwort auf diese Frage, indem sie beides tun: Sie zeigen das ganze Ausmaß der destruktiven und heillosen Selbstentfremdung des Menschen von heute; gleichzeitig sprechen sie aber auch von den realen Möglichkeiten, die zum Glücken des Menschen führen können. Es gibt so lange eine „reale“ Utopie, solange der Mensch wenigstens noch ansatzweise einen Zugang zu seinen wachstumsfördernden Eigenkräften hat.
Ausgangspunkt des Frommschen Humanismus ist der durch die Einsichten der Psychoanalyse ermöglichte Glaube, dass das Unbewusste den ganzen Menschen und die ganze Menschheit repräsentiert. Das Unbewusste enthält das ganze Spektrum möglicher Antworten, und es kommt sehr darauf an, welche Möglichkeiten gefördert und welche gehemmt und verdrängt werden. Grundsätzlich aber hat
der Mensch in einer jeden Kultur alle Möglichkeiten: Er ist der archaische Mensch, das Raubtier, der Kannibale, der Götzendiener, und er ist zugleich das Wesen mit der Fähigkeit zu Vernunft, Liebe und Gerechtigkeit. (Humanismus und Psychoanalyse, 1963f, GA IX, S. 10.)
Da es den Menschen nicht anders denn als gesellschaftliches Wesen gibt, entscheidet die besondere Art von Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, welche Möglichkeiten bevorzugt werden. Jede Gesellschaft formt die Energien der Menschen derart, dass sie das tun wollen, was sie zum Gelingen der Gesellschaft tun müssen. „So werden die Bedürfnisse der Gesellschaft in persönliche Bedürfnisse verwandelt, sie werden zum ‘Gesellschafts-Charakter’.“ (Humanismus und Psychoanalyse, 1963f, GA IX, S. 9.)
Jede Gesellschaft fördert aber nicht nur bestimmte Möglichkeiten, die im Unbewussten des Menschen zur Verfügung stehen, indem sie diese bewusst macht und sich der Einzelne mit ihnen identifiziert, es werden auch Möglichkeiten und Neigungen unterdrückt und verdrängt, die den gesellschaftlichen Verhaltensmustern – dem Gesellschafts-Charakter – widersprechen. So kommt es, dass
unser Bewusstsein hauptsächlich unsere eigene Gesellschaft und Kultur (widerspiegelt), während unser Unbewusstes den universalen Menschen in einem jeden von uns repräsentiert. (Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 223).
In seinem Unbewussten erlebt der Mensch die ganze Menschheit und sich
als Sünder und Heiligen, als Kind und als Erwachsenen, als geistig Gesunden und als Geistesgestörten, als Mensch der Vergangenheit und als Mensch der Zukunft (Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 223).
Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass der Humanismus seine Letztbegründung in der humanistischen Erfahrung, das heißt in der humanisierenden und produktiven Wirkung des Bewusstmachens des Unbewussten hat.
Diese humanistische Erfahrung besteht in dem Gefühl, dass mir nichts Menschliches fremd ist, dass „ich du bin“, dass ich ein anderes Wesen deshalb verstehen kann, weil beide die gleichen Elemente menschlicher Existenz gemeinsam haben. (...) Die Erweiterung der Selbst-Wahrnehmung, die Transzendierung des Bewusstseins und die Durchleuchtung der Sphäre des gesellschaftlichen Unbewussten wird dem Menschen die Möglichkeit geben, in sich die ganze Menschheit zu erleben. (Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 223.)
Mit der Erkenntnis, dass das Unbewusste unabhängig vom gesellschaftlich Bewussten und Verdrängten den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeiten repräsentiert, begründet Fromm also nicht nur theoretisch den humanistischen Glauben an die Einheit der Menschen; sobald ein Mensch sich auf sein Unbewusstes einlässt, sich seines Unbewussten bewusst wird und also seine anderen Möglichkeiten in Erfahrung bringt, entfaltet er sich, wächst er und macht er die paradoxe und produktive – oder wie Fromm gerne auch sagt: die humanistische – Erfahrung, dass er vernünftig und liebend zur Welt und zum Menschen bezogen sein kann, weil ihm nichts Fremdes mehr wirklich fremd ist. Nur im Sich-Einlassen auf das Unbewusste, auf den ganzen Menschen in mir, in der Verwirklichung meiner Individualität, komme ich zum Erleben des universalen Menschen, denn „nur das ganz entwickelte individuelle Selbst kann das Ego aufgeben“ (Jenseits der Illusionen, 1962a, GA IX, S. 154).
Das, was Fromm am meisten am Humanismus interessiert, was ihn dazu veranlasst, so häufig das Attribut „humanistisch“ zu gebrauchen und warum er eine Renaissance des Humanismus fordert, hat mit dieser humanistischen Erfahrung zu tun. Ihm geht es um das Humanistische im Sinne der Entfaltung der liebenden und vernünftigen Eigenkräfte des Menschen, um eine humanistische Orientierung und Haltung, wie er sie innerhalb seiner Charakterologie mit dem Begriff der Produktivität und der produktiven Orientierung, der Biophilie und Orientierung am Sein verdeutlicht hat. Je mehr der Mensch sich selbst als Autor, Akteur, Subjekt seines Lebens erfährt und also er selbst es ist mit seinen eigenen Kräften, der denkt, fühlt und handelt, entwickelt er auch seine Kräfte der Vernunft und der Liebe, mit denen er ganz bei der Welt und beim anderen Menschen sein kann, ohne sich selbst zu verlieren.
Die einzelnen Beiträge dieses Bandes entstanden in den letzten zwanzig Lebensjahren Erich Fromms. In ihnen erkannte Fromm das ganze Ausmaß der Selbstentfremdung des Menschen, ohne dadurch in seinem Glauben an den Menschen erschüttert zu werden.[1] Den Beiträgen liegen Vorträge (vor allem im 1. Kapitel) und Manuskripte zugrunde, die Fromm zu speziellen Anlässen formuliert hat (vor allem im 2. Kapitel, das humanistische Initiativen und Bekenntnisse enthält) oder als Buchmanuskripte verfasst hat (wie im abschließenden 3. Kapitel zur realen Utopie der Orientierung am Sein nach Meister Eckhart und Karl Marx). – Die Zusammenstellung der Beiträge, ihre Zuordnung und Gliederung sowie die meisten Überschriften stammen von mir als Herausgeber. Anmerkungen des Herausgebers zur Entstehung der jeweiligen Manuskripte finden sich jeweils bei den einzelnen Beiträgen. Auslassungen und Hinzufügungen sind in allen Nachlassschriften durch eckige Klammern kenntlich gemacht.
Der moderne Mensch und seine Zukunft
(Modern Man and the Future)
(1992d [1961])[2]
Heute [im Jahr 1961] über das Thema „Der moderne Mensch und seine Zukunft“ zu sprechen[3], heißt nicht nur, danach zu fragen, was die Zukunft des Menschen sein wird, sondern auch, ob der Mensch überhaupt eine Zukunft haben wird. Zugleich bezieht sich diese Zukunftsfrage nicht nur auf den modernen Menschen und seine Zivilisation; angesichts der wachsenden Zerstörungskraft der Atomwaffen geht es um das Leben des Menschen auf dieser Erde überhaupt. Dass man eine solche Frage stellen muss, geschieht in der Geschichte des Menschen sicher zum ersten Mal. Die Atombombe ist das schwerste Krankheitssymptom der modernen Gesellschaft.
Was meine ich mit dem „modernen“ Menschen? Damit kann entweder der Mensch von heute – also alle Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts – gemeint sein, oder der Mensch in den westlichen Industrieländern im Unterschied zu den Menschen in Asien, Afrika und in den nicht-industrialisierten Teilen der Welt. Bei der Nachfrage, was ich unter dem „modernen“ Menschen verstehe, wird deutlich, dass sich auch hier zum ersten Mal etwas in der historischen Situation geändert hat: Die Menschen der nicht-industrialisierten Länder gleichen sich mit zunehmender Schnelligkeit dem Menschen des Westens an. Der westliche Mensch hat seine Technik und bestimmte Ideen in die noch nicht industrialisierten Länder exportiert. Weil aber der Westen seine Macht über die Welt, die er für Jahrhunderte innehatte, zu verlieren scheint oder schon verloren hat, ist er dabei, die ganze Welt im Sinne seiner eigenen westlichen Entwicklung zu verwandeln.
Wenn ich von der eigenen westlichen Entwicklung spreche, dann meine ich damit in erster Linie die westliche Technik und Industrie sowie den westlichen Gedanken des historischen Fortschritts und eines historischen Ziels. Diese haben sich im Osten oft in Form eines pervertierten Marxismus und Sozialismus eingebürgert. Zur Entwicklung des Westens gehört auch der Nationalismus, der ein relativ junges westliches Produkt ist.
Vielleicht geschieht heute etwas Ähnliches wie damals, als das Christentum von Rom aus auf ein heidnisches Europa aufgepfropft wurde. Zwar verlor Rom seine politische Macht, doch es lagerte seine Kultur, seine Ideen, seine Organisationsformen in einen fremden Boden ein. Dieser Boden war damals vergleichsweise noch viel primitiver, als es heute die vorindustrialisierten Völker im Vergleich zum Westen sind.
1. Etappen der Entwicklung des westlichen Menschen
Im Rahmen einer Vorlesung einen Gesamtüberblick über die wichtigsten Etappen der westlichen Entwicklung zu geben, kann hier nur andeutungsweise und schematisch geschehen, doch ist er zum Verständnis des Nachfolgenden eine unerlässliche Voraussetzung.
(1) Die erste Etappe der Entwicklung des westlichen Menschen umfasst den Zeitraum von etwa 1500 vor Christus bis zur christlichen Zeitrechnung. Sie ist durch die große Wendung des Menschen vom Götzendienst zur humanistischen Religion gekennzeichnet. Ich werde noch im Einzelnen darauf zurückkommen, was ich unter „Götzendienst“ verstehe; hier möchte ich nur sagen, dass ich unter Götzendienst jene Form der Einheitssuche des Menschen mit der Welt verstehe, bei der der Mensch zur Natur, zu seiner eigenen „Tierheit“, dadurch zurückkehrt, dass er sich unterwirft. Er unterwirft sich der Natur, dem Werk seiner Hände (in Form von Götzen aus Gold und Silber oder Holz) oder er unterwirft sich anderen Menschen.
Die Wende vom Götzendienst zur humanistischen Religion beginnt vermutlich mit der religiösen Revolution von Echnaton und setzt sich dann fort in der mosaischen Religion, im Taoismus, im Buddhismus und in der klassischen Epoche der griechischen Philosophie. Alle diese Entwicklungen zielen auf eine Erlösung des Menschen, bei der der Mensch eine neue Einheit sucht, nicht mehr regressiv, wie in den primitiven Religionen des Totemismus oder des Animismus über Naturgötter und von seiner Hand gemachte Götzen, sondern indem er vorwärtsschreitet und eine neue Einheit mit der Welt in der vollen Entfaltung des Menschen findet. Mit der Wende zur humanistischen Religion während dieser fünfzehnhundert Jahre, die, historisch gesehen, nicht mehr sind als – um mit dem Psalmisten zu reden – eine Wache in der Nacht, ist die erste Etappe in der Entwicklung zum westlichen Menschen genommen.
(2) Die zweite Etappe spiegelt sich in der Vorstellung einer historischen Erlösung wider, wie man sie im prophetischen Messianismus findet. Der prophetische Messianismus entwickelte – sehr einfach dargestellt – folgende Idee: Im Paradies war der Mensch noch eins mit der Natur, aber er war – wie das Tier – ohne Bewusstsein seiner selbst. Im Akt des Ungehorsams gegen den Befehl Gottes oder – sagen wir – in der Fähigkeit, Nein zu sagen, wird der Mensch sich seiner selbst gewahr und macht den [XI-274] ersten Schritt in die Freiheit. Mit ihm wird zum ersten Mal menschliche Geschichte gesetzt. Die ursprüngliche Harmonie des Menschen mit der Natur ist zerbrochen. Der Mensch ist aus dem Paradies vertrieben und wird von zwei Engeln mit feurigen Schwertern daran gehindert, wieder zurückzukehren.
Nach prophetisch-messianischer Auffassung ist die Geschichte in einem umfassenden Sinne Heilsgeschichte: Sie ist die Geschichte der Entfaltung des Menschen zu seiner Menschlichkeit, der Entfaltung seiner spezifisch menschlichen Eigenschaften der Vernunft und der Liebe. Wenn der Mensch sich ganz und voll entfaltet hat, dann findet er eine neue Harmonie, die Harmonie des entfalteten, vernünftigen, sich seiner selbst bewussten, liebenden Individuums, das wieder eins mit der Welt wird und doch es selbst ist. Die neue Harmonie ist die alte Harmonie, aber auf einer neuen Stufe. Sie ist eine Harmonie, aber doch eine ganz andere als die, bevor der Mensch sich von der Welt getrennt hat.
(3) Im Christentum wird, historisch gesehen, diese neue prophetisch-messianische Vorstellung der Heilsgeschichte vom Boden Palästinas aus auf Europa übertragen. Dabei wird seine Form – die Form der prophetisch-messianischen Vorstellung – in mancher Weise geändert. Die wichtigste Änderung besteht darin, dass die Erlösung des Menschen, die Veränderung der Menschheit, nicht innerhalb der Geschichte stattfindet, sondern die Geschichte transzendiert. Das Reich Gottes wird nicht wie bei den meisten Propheten im messianischen Sinne – nämlich als Veränderung dieser Welt – verstanden, sondern als die Errichtung einer neuen spirituellen Welt, die diese Welt transzendiert. Trotz dieser Änderung ist die christliche Heilslehre eine Fortsetzung des Gedankens des prophetischen Messianismus und unterscheidet sich in diesem Sinne von anderen Heilslehren, etwa des Buddhismus, weil für sie das Heil immer ein kollektives Heil, eine Erlösung der Menschheit ist, und nicht nur eine Erlösung des Einzelnen. Auch wenn die christliche Heilslehre die messianische Idee der Erlösung in einem entscheidenden Punkt verändert, weil aus der historischen eine transhistorische Erlösung wird, so muss doch betont werden, dass die Geschichte des Christentums auch immer wieder der historischen Befreiung des Menschen Auftrieb gegeben hat – speziell in den vorreformatorischen und den nachreformatorischen christlichen Sekten.
(4) Die Botschaft des Evangeliums, die „Frohe Botschaft“, wird historisch in den Strom der katholischen Kirche geleitet. Hier, in der katholischen Kirche, vollzieht sich eine Verbindung, die von großer historischer Bedeutung war: Der jüdische Heilsgedanke des prophetischen Messianismus verbindet sich mit dem griechischen Gedanken der Wissenschaft, der Theorie. Diese Verbindung des prophetisch-messianischen Heilsgedankens mit dem griechischen Denken – philosophisch von Aristoteles und Platon repräsentiert – bildet etwas Neues, das in Europa über tausend Jahre lang heranreift. Dieses Heranreifen dauert vom Ende des heidnischen Roms [im Vierten Jahrhundert] bis zum Ende des europäischen Mittelalters. Für ungefähr tausend Jahre ist Europa schwanger mit griechisch-römischem und jüdisch-christlichem Erbgut. Nach tausend Jahren wird aus dem Schoße Europas etwas Neues geboren: die moderne Gesellschaft.
(5) Die moderne Gesellschaft beginnt mit der Renaissance. Die Renaissance ist nach [XI-275] der berühmten Charakterisierung, die Carl Jacob Burckhardt gegeben hat, durch die Entdeckung des Individuums und der Natur gekennzeichnet. Vielleicht müsste man statt „Entdeckung“ genauer „Neuentdeckung“ sagen, denn sie ist die Wiedergeburt von vielem, was die griechische und römische Antike über den Menschen und über die Natur gefühlt hat. Auch war die Renaissance die Geburt einer neuen Wissenschaft. Weiterhin nahm die Renaissance die messianisch-prophetische Vision in einer neuen Form – in der Form der Utopie – auf. Hat der prophetische Messianismus die vollendete Gesellschaft, die gute, menschliche Gesellschaft, am Ende der Tage gesehen, sieht die Renaissance-Utopie die gute Gesellschaft am Ende des Raums, irgendwo in einem noch nicht entdeckten Raumteil der Erde. Hier sind die Utopien von Thomas Morus, der das Wort „Utopie“ für diese Art der Vision geschaffen hat, von Tommaso Campanella, von dem deutschen Johann Valentin Andreä zu nennen. Von der Renaissance bis zum Ende des Neunzehnten Jahrhunderts kann das westliche Denken neben vielem anderen [dadurch] charakterisiert werden, dass in ihm die Utopie als spezielle Version der messianischen Vision einen zentralen Platz innehat. Das gilt in Wirklichkeit auch für Karl Marx, nur dass sich Marx immer gegen die Utopie gewehrt hat und ihr nie den positiven Ausdruck gegeben hat, den die großen Utopienschreiber ihr gegeben haben. [...]
Der Mensch der Renaissance wird sich seiner Kraft bewusst und beginnt, sich von den Fesseln der Natur zu lösen und sie zu beherrschen. Die neue Wissenschaft und das neue Lebensgefühl führen im Laufe der folgenden Jahrhunderte zur Weltentdeckung, zu einer neuen Technik und Industrie und zur Weltbeherrschung. Im Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhundert kommt der neue Humanismus zu seinem Höhepunkt. Das westliche Denken ist auf den Menschen, auf die Menschheit und auf die Menschlichkeit zentriert. Im religiösen Fühlen treten die theistischen Konzepte zurück, obwohl das religiöse Erlebnis als Realität ebenso stark ist, wie es nur im Dreizehnten Jahrhundert gewesen war. Der amerikanische Historiker Carl L. Becker hat mit Recht betont, das Achtzehnte Jahrhundert sei nicht weniger religiös gewesen als das Dreizehnte Jahrhundert, auch wenn das Achtzehnte Jahrhundert das gleiche religiöse Erleben in einer anderen Sprache und in anderen Begriffen ausgedrückt hat.
Das Neunzehnte Jahrhundert schien das Zeitalter der Erfüllung nahezubringen: den neuen Menschen, der vom Ende des Mittelalters bis zum Neunzehnten Jahrhundert herangereift war. Das Zeitalter der Erfüllung sollte den Menschen bringen, der die Natur beherrscht, den Krieg abschaffen wird, der einen materiellen Wohlstand – als Mittel zur menschlichen Entfaltung – schafft. Die Erfüllung der messianischen Vision der guten Gesellschaft, der menschlichen Gesellschaft, schien im Neunzehnten Jahrhundert heranzureifen. Bis zum Ersten Weltkrieg war die europäische Menschheit von dem Glauben an die Erfüllung dieser Hoffnungen und Vorstellungen beherrscht. Diese hatten von der Zeit der Propheten bis zum Neunzehnten Jahrhundert niemals ihre Kraft und ihren Einfluss verloren.
Was ist inzwischen geschehen? Was ging mit dem westlichen Menschen in den letzten 60 Jahren vor? Es gab zwei Weltkriege, es gab die Unmenschlichkeit des Hitlersystems und des Stalinismus und es gibt die unmittelbare Gefahr der totalen Ausrottung des Menschen. Hatte der Mensch jahrhundertelang auf die Zukunft gehofft, so hat er seit 1914 die Hoffnung fast aufgegeben. [XI-276]
Ich habe vom Geborenwerden neuer Gesellschaften gesprochen. Fast möchte ich sagen, der Mensch des Zwanzigsten Jahrhunderts scheint eine Fehlgeburt zu sein. Was ist geschehen, dass in dem Augenblick, in dem der Mensch am Krönungspunkt seiner historischen Anstrengungen zu stehen schien, alles zu versagen scheint?
Wir wissen einiges über die Entwicklung, die dazu geführt hat. Was im Neunzehnten Jahrhundert begann, setzte sich im Zwanzigsten Jahrhundert mit immer größerer Intensität und Schnelligkeit fort: Das Wachstum des modernen industriellen Systems führte zu immer mehr Produktion und gesteigertem Konsumverhalten. Der Mensch wurde zum Ansammler und Verbraucher. Das zentrale Erlebnis in seinem Leben wurde mehr und mehr: Ich habe und ich benutze, und immer weniger: Ich bin. Dabei wurden die Mittel, nämlich der materielle Wohlstand, die Produktion, die Schaffung von Gütern zu Zwecken, obwohl sie einst nichts anderes als Mittel für ein besseres und menschenwürdigeres Leben waren.
Die natürlichen Bande der Solidarität und Gemeinschaft lösten sich auf, ohne dass neue gefunden wurden. Der moderne Mensch ist alleine und ängstlich. Er ist frei, aber er fürchtet sich vor dieser Freiheit. Er lebt – wie der große französische Soziologe Émile Durkheim formulierte – in der Anomie. Er ist durch Zerspaltenheit oder Verworfenheit gekennzeichnet, die aus ihm eben kein Individuum, sondern ein Atom macht und ihn nicht mehr individualisiert, sondern atomisiert. „Atom“ und „Individuum“ bedeuten ja das gleiche; das erste Wort kommt aus dem Griechischen, das zweite aus dem Lateinischen. Die Bedeutung, die die Worte in unserer Sprache bekommen haben, ist jedoch gegensätzlich. Der moderne Mensch hoffte, ein Individuum zu werden, in Wirklichkeit wurde er zu einem hin und her geworfenen ängstlichen Atom.
Die Kategorien des industriellen Systems sind Bilanz, Quantifizierung und Buchführung. Die Frage lautet immer: Was lohnt sich? Was bringt Profit? So zu fragen, ist im Bereich der industriellen Produktion notwendig. Doch das Prinzip der Buchführung, der Bilanz und des Profits wurde zugleich auf den Menschen übertragen und hat sich von der Wirtschaft auf das menschliche Leben überhaupt ausgedehnt. Der Mensch wird zu einem Unternehmen; sein Kapital ist sein Leben, und seine Aufgabe scheint zu sein, dieses Kapital möglichst gut zu investieren. Ist es gut investiert, dann hat er Erfolg. Investiert er sein Leben schlecht, dann ist er erfolglos. Auf diese Weise wird er selbst zu einem Ding, zu einer Sache. Wir können uns aber an der Erkenntnis nicht vorbeimogeln: Wenn der Mensch zur Sache wird, ist er tot, auch wenn er – physiologisch gesehen – noch lebt. Ist der Mensch aber seelisch tot, obwohl er physiologisch noch lebt, dann ist er dem Verfall anheimgegeben und wird gefährlich – gefährlich für sich und gefährlich für andere.
Gewiss unterscheiden sich die Menschen des Neunzehnten Jahrhunderts erheblich von denen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Der Mensch des Neunzehnten Jahrhunderts war ein Individualist; er war gewöhnt, Autorität zu akzeptieren oder aber gegen die Autorität zu rebellieren. Samuel Butlers Roman Weg des Fleisches [1929] ist eine schöne Illustration für die Rebellion des gegen die Autorität in Familie und Staat kämpfenden Menschen des Neunzehnten Jahrhunderts. Der Mensch des Neunzehnten Jahrhunderts spürte die moralische Pflicht zu sparen und anzusammeln. Wie so oft hatte auch diese moralische Idee ihre Grundlage in der [XI-277] Produktionsmethode der Gesellschaft des Neunzehnten Jahrhunderts. Es war wichtig, Kapital zu akkumulieren.
Gegen gewisse Eigenschaften, die im Neunzehnten Jahrhundert noch eine große Rolle spielten, kam im Zwanzigsten Jahrhundert immer mehr Kritik auf. Jetzt geht es nicht mehr primär um das Konkurrieren der Menschen untereinander und um jenen Antagonismus, der aus dem Konkurrenzgeist kommt. Ganz im Gegenteil, die Menschen werden zu einem Team, zu einer gut geölten Gruppe, die reibungslos zusammenarbeitet, weil nur so die großen Unternehmen funktionieren. Die moderne Industrie und die Wirtschaft haben sich faktisch so entwickelt, dass sie als Erfordernis zu ihrem Funktionieren den Menschen brauchen, der zum Verbraucher wird, der möglichst wenig Individualität besitzt und der bereit ist, einer anonymen Autorität zu gehorchen, wobei er der Illusion erliegt, frei zu sein und keiner Autorität zu unterliegen.
Der moderne Mensch sucht sozusagen bei der Großen Mutter des Betriebs oder des Staats Zuflucht und wird zum ewigen Säugling, der doch nie zufrieden sein kann, weil er seine Möglichkeiten als Mensch nicht entwickelt. Dass er nicht glücklich ist, sah man besonders in Frankreich bereits im Achtzehnten Jahrhundert. Die Worte zur Beschreibung dieses Zustandes sind denn auch charakteristischerweise französisch: Man spricht von la maladie du siècle und von la malaise, um das Unwohlsein in einer Welt, die immer atomisierter und immer sinnloser wird, zu kennzeichnen. Charakteristisch ist auch, wie Émile Durkheim gezeigt hat, dass der Beginn des Selbstmords als eines Massenphänomens mit dieser Atomisierung des Menschen und mit dem Sinnloswerden seiner Existenz zu tun hat.
2. Die Entfremdung als Krankheit des modernen Menschen
Ich möchte nun etwas ausführlicher darauf eingehen, was meiner Meinung nach der entscheidende Punkt bei dieser malaise, bei dieser maladie du siècle ist. Der zentrale Punkt bei der Krankheit, an der der moderne Mensch leidet, ist die Entfremdung. Nachdem der Begriff der Entfremdung für Jahrzehnte in Vergessenheit geraten war, ist er in letzter Zeit wieder populär geworden. Hegel und Marx gebrauchten ihn, und man wird mit Recht sagen können, dass die Philosophie des Existenzialismus im Grunde eine Rebellion gegen die wachsende Entfremdung des Menschen in der modernen Gesellschaft ist.
Was ist eigentlich Entfremdung? Innerhalb unserer westlichen Tradition spielte das, was Entfremdung meint, bereits eine große Rolle, allerdings nicht unter dem Begriff „Entfremdung“, sondern unter dem des „Götzendienstes“, wie ihn die Propheten gebrauchten. Viele Menschen nehmen naiverweise an, der Unterschied zwischen dem sogenannten Götzendienst und dem monotheistischen Glauben an den einen, wahren Gott sei nur ein zahlenmäßiger: die Heiden hätten viele Götter, während die Monotheisten nur an einen Gott glaubten. Doch dies ist nicht der wesentliche Unterschied. Nach den Propheten des Alten Testaments ist der wesentliche Punkt, dass der Götzendiener ein Mensch ist, der das Werk seiner eigenen Hände anbetet. Er nimmt sich ein Stück Holz; mit einem Teil macht er sich ein Feuer, um zum Beispiel einen Kuchen zu backen, aus dem anderen Teil des Holzes schnitzt er eine Figur, um diese Figur anzubeten. Doch das, was er anbetet, sind Dinge; diese Dinge haben Nasen und riechen nicht, sie haben Ohren und hören nicht und sie haben einen Mund und sprechen nicht.
Was geschieht beim Götzendienst? Versteht man ihn so, wie das prophetische Denken ihn verstanden hat, dann geschieht genau das, was nach Freud bei der „Übertragung“ vor sich geht. Meines Erachtens ist die Übertragung, wie wir sie aus der Psychoanalyse kennen, eine Erscheinungsweise des Götzendienstes: Der Mensch überträgt das Erlebnis seiner eigenen Tätigkeiten oder seiner eigenen Erfahrungen – seiner Liebeskraft, seiner Denkkraft – auf ein Objekt jenseits seiner selbst. Das Objekt kann ein Mensch sein oder auch ein Ding aus Holz oder Stein. Sobald der Mensch diese Übertragungsbeziehung hergestellt hat, tritt er mit sich selbst nur noch durch die Unterwerfung unter das Objekt, auf das er seine eigenen menschlichen Funktionen [XI-279] übertragen hat, in Beziehung. In [entfremdeter, götzendienerischer] Weise zu lieben, heißt dann: Ich liebe nur, wenn ich mich dem Götzen, auf den ich alle meine Liebesfähigkeit übertragen habe, unterwerfe. Oder: Ich bin nur gut, wenn ich mich dem Götzen unterwerfe, auf den ich mein Gutsein übertragen habe. So ist es mit der Weisheit, der Kraft, ja mit allen menschlichen Eigenschaften.
Je mächtiger der Götze wird, das heißt, je mehr ich auf ihn übertrage, was ich bin, desto ärmer werde ich und desto mehr bin ich auf ihn angewiesen, weil ich verloren bin, wenn ich ihn, auf den ich alles übertragen habe, verliere. Die Übertragung in der Psychoanalyse ist davon nicht grundsätzlich verschieden. Natürlich geht es hier zumeist um Vater- und Mutterübertragungen, weil das Kind in Vater und Mutter die sieht, auf die es seine eigenen Erfahrungen überträgt. Das Wesentliche ist aber nicht die Tatsache, dass das Kind auf Vater und Mutter überträgt, sondern das Erlebnis der Übertragung selbst, mit dem sich der unreife Mensch einen Götzen sucht. Hat er einen Götzen gefunden, den er sein Leben lang anbeten kann, dann braucht er nicht zu verzweifeln. Das ist einer der Gründe, warum meines Erachtens viele Menschen so gerne zum Analytiker gehen und ihn nie mehr verlassen wollen, oder auch, warum ganze Gesellschaften sich sogenannte Führer wählen, die ebenso hohl und stumm wie die Götzen der Antike sind, aber eben auch zur Übertragung ermuntern, um die Menschen an sich zu binden.
In der modernen Gesellschaft gibt es natürlich keinen Baal und keine Astarte. Weil wir gewöhnlich die Namen mit den Dingen verwechseln, sind wir nur zu gerne davon überzeugt, dass es auch die Dinge nicht gibt, wenn die Namen nicht mehr auftauchen. In Wirklichkeit leben wir heute wieder in einer Gesellschaft, die im Vergleich zu früheren Jahrhunderten viel heidnischer und götzendienerischer ist.
Auch bei Hegel und bei Marx meint „Entfremdung“, dass der Mensch sich verliert und aufhört, sich als Zentrum seiner Tätigkeit zu erleben. Der Mensch hat viel und benutzt viel, doch er ist wenig. [„Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, umso mehr hast du, umso größer ist dein entäußertes Leben, umso mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen.“ (Marx, K.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEGA I, 3, S. 130 = MEW Erg. I, S. 549°f.)] Der Mensch ist nicht nur wenig, er ist nichts, weil er beherrscht wird von den Dingen und Umständen, die er selbst geschaffen hat. Er ist der Zauberlehrling, der Golem. Das Werk seiner Hände beherrscht den modernen Menschen. Er selbst wird zum Ding. Er ist nichts, doch fühlt er sich groß, wenn er sich mit dem Staat, der Produktion, der Firma eins fühlt. Er ist nichts, doch er glaubt, alles zu sein.
Der moderne Mensch wird durch die Dinge, die er schafft, konstituiert. Um dies mit einer alltäglichen Beobachtung zu illustrieren: Wenn man jemanden, den man vom Fernsehen her kennt, einmal in Wirklichkeit sieht, dann sagt man: „Der sieht ja genau so aus wie im Fernsehen!“ Die Realität ist nämlich das Fernsehbild; und an dieser Realität wird gemessen, ob die Wahrnehmung des Menschen, wie er in Wirklichkeit ist, stimmt. Sieht er so aus, wie man ihn vom Fernsehen her kennt, dann stimmt die Wirklichkeitswahrnehmung. Die Realität liegt in dem Ding draußen, und der wirkliche Mensch ist nur ein Schatten dieser Wirklichkeit.
Die Wirklichkeitswahrnehmung des modernen Menschen unterscheidet sich [XI-280] grundlegend von der der Menschen in [Hans Christian Andersens] Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Der Kaiser ist in Wirklichkeit nackt, aber jeder, mit Ausnahme des kleinen Jungen, glaubt, die wunderbaren Gewänder zu sehen. Alle sind von vornherein davon überzeugt, der Kaiser muss wunderbare Gewänder haben [so dass die eigene Wahrnehmung, den Kaiser nackt zu sehen, verleugnet wird und jeder dem Bild folgt, das er vom Kaiser hat]. Dieses Phänomen, die Gewänder des Kaisers zu sehen, obwohl er nackt ist, gibt es schon seit vielen, vielen Jahrtausenden. Auf diese Weise konnten auch die dümmsten Menschen zu Regenten werden. Sie riefen den Glauben hervor, weise zu sein – und wenn sie ihre Weisheit zu beweisen hatten, war es gewöhnlich bereits zu spät. Im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern ist es immer noch so, dass es den Kaiser gibt. Die Frage ist nur, dass er in Wirklichkeit nackt ist, man aber glaubt, er habe Kleider an. Heute hingegen ist der Kaiser gar nicht mehr da! Heute ist der Mensch nur wirklich, insofern er irgendwo draußen steht. Er wird erst durch die Dinge, durch das Eigentum, durch seine soziale Rolle, durch seine „Persona“ konstituiert; als lebendiger Mensch aber ist er nicht wirklich.
Ein äußerst dramatisches und grauenhaftes Symbol dessen, was Entfremdung ist, sind die Atomwaffen. Sie sind das Werk des Menschen. Sie sind tatsächlich ein Ausdruck seiner größten intellektuellen Leistungen, und doch beherrschen uns die atomaren Waffen. Es ist inzwischen sehr fraglich geworden, ob wir sie noch beherrschen. Wir, die lebendigen Menschen, die leben wollen, werden zu ohnmächtigen, aber scheinbar omnipotenten Menschen. Wir glauben zu herrschen und werden doch beherrscht – nicht von einem Tyrannen, sondern von den Dingen, von den Umständen. Wir sind willenlose und ziellose Menschen geworden. Wir reden von Fortschritt und Zukunft, obwohl in Wirklichkeit keiner weiß, wohin er geht, und niemand sagt, wohin es geht, und keiner ein Ziel hat.
Im Neunzehnten Jahrhundert konnte man sagen: Gott ist tot. Im Zwanzigsten Jahrhundert muss man sagen, der Mensch ist tot. Heute gilt die Wendung: „Der Mensch ist tot, es lebe die Sache!“ „Der Mensch ist tot, es lebe sein Produkt!“ Vielleicht gibt es kein schauerlicheres Beispiel für diese neue Unmenschlichkeit als die jetzt projektierte Idee der Neutronenbombe. Was wird die Neutronenwaffe tun? Sie wird alles Lebendige zerstören und alles Unlebendige – die Dinge, die Häuser, die Straßen – intakt lassen. [...]
3. Die Gleichgültigkeit als neue Erscheinungsweise des Bösen
Zieht man alles in Betracht: die Entfremdung, die Verdinglichung des Menschen, den Verlust der Kontrolle über sich und das Kontrolliertwerden des Menschen von den Dingen und Umständen, die er schafft – dann kann man sagen, dass sich der Begriff des Bösen grundlegend gewandelt hat. Bisher galt: Das Böse ist menschlich. Alle von uns sind Verbrecher, wie alle von uns Heilige sind. Jeder von uns ist gut und jeder von uns ist böse. Und gerade weil das Böse auch menschlich ist, können wir das Böse verstehen, sofern wir nur das Böse auch in uns selbst sehen. Dies ist auch – oder sollte sein – eine der wichtigsten Fähigkeiten des Psychoanalytikers: dass ihm nicht schaudert vor dem Bösen im anderen, weil er das Böse in sich als etwas Menschliches erlebt.
Was heute vor sich geht, ist etwas grundlegend anderes. Es gibt nicht mehr das Böse im Gegensatz zum Guten; vielmehr gibt es eine neue Unmenschlichkeit: die Gleichgültigkeit – die völlige Entfremdung, die völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben. Diese neue Unmenschlichkeit möchte ich an zwei Phänomenen illustrieren: am Phänomen Eichmann und am Phänomen der atomaren Strategie.
Adolf Eichmann macht nicht den Eindruck, als ob er besonders böse sei; er ist vielmehr völlig entfremdet. Er ist ein Bürokrat, für den es keinen besonderen Unterschied macht, ob er tötet oder ob er für kleine Kinder sorgt. Für ihn hat das Leben vollkommen aufgehört, etwas Lebendiges zu sein. Er organisiert. Das Organisieren wird zum Selbstzweck, ob es dabei um Goldzähne oder Haare von ermordeten Menschen geht oder ob er Eisenbahnzüge oder Tonnen von Kohle organisiert. Alles das ist für ihn völlig gleichgültig. Wenn Eichmann sich verteidigt und darauf hinweist, dass er ja nur ein Bürokrat sei und in Wirklichkeit nur Züge reguliert hat und Fahrpläne ausarbeitete, dann hat er gar nicht so unrecht damit. Ich glaube, in uns allen steckt heute ein Stück Eichmann.
Die Argumentationen Eichmanns sind gar nicht so verschieden von den Überlegungen, die die Atomstrategen heute anstellen. Ich zitiere als Beispiel einen der wichtigsten amerikanischen Atomstrategen, Herman Kahn. Kahn sagt, wenn in den ersten drei Tagen eines Atomkrieges 60 Millionen Amerikaner umkommen, dann ist das erträglich; wenn es 90 Millionen sind, dann ist es zu viel. Hier geht es um dasselbe [XI-282] Kalkulieren, dieselbe Bilanz von Leben und Tod, wie sie auf seine Weise Eichmann erlebt hat, wenn er die Menschen zum Hinschlachten geführt hat.
Eben dieser Herr Kahn hat etwas sehr Schauerliches gesagt, das für das, worüber ich hier spreche, besonders aufschlussreich ist. Er hat nämlich [vor dem Unterausschuss des „Joint Committee on Atomic Energy“ am 26. Juni 1959] gesagt und in seinem Buch [On Thermonuclear War, 1960, S. 47] geschrieben:
Es ist zwar richtig, dass der Krieg etwas Schreckliches ist. Aber der Friede ist auch schrecklich. Und es bleibt eine Frage der Kalkulation, wie viel schrecklicher der Atomkrieg als der Friede ist.
Als ihn dann ein paar Journalisten fragten, wie er das eigentlich verstehe, sagte er, wozu die meisten Menschen nicht den Mut hätten: „Was wollen Sie denn? Im Grunde ist ja doch keiner glücklich. Was ist denn schon der ganze Unterschied?“ [H. Kahn in der Ausgabe des San Francisco Chronicle vom 27. März 1961.]
Unter klinischen Gesichtspunkten würde man einen Menschen, der sagen kann, man müsse erst ausrechnen, wie viel schrecklicher der Krieg im Vergleich zum Frieden sei, als schwer depressiv kennzeichnen. Man würde annehmen, dass er sich vielleicht nur durch derartige Aktivitäten vor dem Selbstmord schütze. Eigentlich müsste man sagen, dass er verrückt ist, und kann man mit ihm Mitleid haben. Das Schreckliche freilich ist, dass dieser Mann keine Ausnahme ist, dass Millionen so denken wie er. Diese Haltung des verunmenschlichten Menschen – des Menschen, der sich nicht kümmert, des Menschen, der nicht nur nicht seines Bruders Hüter ist, sondern der nicht einmal sein eigener Hüter ist – diese Haltung charakterisiert den modernen Menschen!
4. Die Alternative: Renaissance des Humanismus
Gibt es angesichts der Krankheit des modernen Menschen überhaupt noch eine Zukunft? Ich glaube, eine Antwort gibt es nur im Sinne einer Alternative. Hierzu muss ich eine Bemerkung vorausschicken. Spricht man von den Gesetzlichkeiten im individuellen und im gesellschaftlichen Leben, dann gibt es gewöhnlich keine einlinigen Kausalreihen nach dem Muster: A verursacht B. Diese Art von Determinismus ist gewöhnlich falsch. Meist kann man aber sagen: A kann zu ein, zwei, drei oder vier Alternativen führen, nur zu diesen, und nicht zu anderen. Wir können feststellen und festlegen, dass unter den gegebenen Bedingungen nur bestimmte, wenige Alternativen möglich sind. Manchmal sind es nur zwei, manchmal sind es mehr. Ohne etwas prophezeien zu wollen, glaube ich, dass es heute für den modernen Menschen und für den Menschen auf dieser Erde überhaupt im Wesentlichen nur die Alternative gibt zwischen der Barbarei und einer neuen Renaissance des Humanismus.
Vielleicht stimmt, wovon manche Wissenschaftler überzeugt sind, dass es auf Grund der gegenwärtigen Zerstörungskraft der Atomwaffen nicht einmal mehr zur Barbarei kommen wird, sondern einfach zur Auslöschung der menschlichen Rasse und alles Lebendigen. Kommt es dazu nicht, dann ist die eine Möglichkeit, dass es zu einer Barbarei kommen wird, zur Diktatur der Überlebenden nach einem atomaren Krieg. Die Überlebenden werden eine Weltdiktatur errichten, in der alle Werte der westlichen Tradition verloren sein werden und die eine Diktatur von Robotern über Roboter sein wird.
Die andere Möglichkeit sehe ich darin, dass jene Menschheit, die am Ende des Neunzehnten Jahrhunderts dabei war, geboren zu werden, wirklich geboren wird. Dies setzt voraus, dass die Menschen die Unmenschlichkeit ihrer gegenwärtigen Situation und nicht nur die physische, sondern vor allem die seelische Gefahr, in die sie die vollendete Entfremdung bringt, einsehen. Diese Einsicht ist der in einer Einzeltherapie vergleichbar: Man muss sich erst bewusst werden, wer wir sind, was uns treibt und wohin wir gehen. Nur wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir einen Entschluss fassen, wohin wir gehen wollen. Ich glaube, eine humanistische Renaissance ist möglich, denn es sind alle Voraussetzungen dafür gegeben. Die materiellen Voraussetzungen sind gegeben, dass der Tisch für alle gedeckt sein kann und kein Teil der menschlichen Rasse [XI-284] mehr von ihm ausgeschlossen sein muss. Zum ersten Mal ist die Idee einer einheitlichen Menschheit zu einer Realität geworden. Es ist eine Tatsache, dass der Mensch in historisch sehr kurzer Zeit den größten Teil seiner Kräfte gar nicht mehr darauf verwenden muss, sich als Tier zu ernähren, sondern die Entfaltung seiner Kräfte als Selbstzweck ansehen und verwirklichen kann. Die Voraussetzungen sind gegeben, dass das Ziel wieder die Entwicklung des reifen, schöpferischen, liebenden und vernünftigen Menschen wird und dass diesem Ziel alles andere als Mittel untergeordnet wird.
Da ich auch heute noch ein Sozialist bin, wie ich es immer war, glaube ich, dass die neue Form der Gesellschaft eine Form des humanistischen Sozialismus sein wird, die sich sowohl vom existierenden Kapitalismus wie von der Verfälschung des Sozialismus, die sich Sowjetkommunismus nennt, unterscheidet. Die Frage ist allerdings, wie lange wir noch Zeit haben, um zur Einsicht zu kommen und unsere Richtung zu verändern. [...]
Ralph Waldo Emerson sagte vor hundert Jahren: „Die Dinge sind im Sattel und reiten uns.“ Ich möchte auf die Veränderung aufmerksam machen, die Emerson ausspricht. Für Luther war die Frage noch, ob der Teufel im Sattel sitzt und den Menschen reitet. Der Teufel war das Böse, und – wie ich vorher verdeutlichte – das Böse war noch menschlich. Für uns heute geht es nicht mehr darum, dass der Teufel uns reitet. Unser Problem ist, dass die Dinge uns reiten – die Dinge und Umstände, die wir selbst geschaffen haben. Im Anschluss an Emersons Formulierung könnte man sagen: Eine Zukunft gibt es für den modernen Menschen nur, wenn der Mensch sich wieder in den Sattel setzt.
Die psychischen Folgen des Industrialismus
(The Psychological Problem of Man in Modern Society)
(1992i [1964])[4]
[XI-285]Es gibt einen weitverbreiteten Glauben auf dieser Erde, dass alle wichtigen menschlichen Bedürfnisse befriedigt würden, wenn sich die industrielle Produktionsweise noch verbessern ließe – zuerst in den Vereinigten Staaten und in Europa, dann schließlich auch in Lateinamerika, Asien und in Afrika.[5] Man nimmt an, wenn der Mensch nur ausreichend zu essen und genügend Freizeit hat und seine Möglichkeiten zu konsumieren sich steigern, dass er dann glücklich und psychisch gesund wäre.
Gegen einen solchen naiven Optimismus erheben sich heute immer mehr Stimmen. Warum, so fragen einige Beobachter, haben dann gerade die am meisten entwickelten und wohlhabendsten Länder wie Schweden und die Schweiz eine der höchsten Suizidraten und so viele Alkoholiker? Warum belegt gerade das reichste Land der Welt, die Vereinigten Staaten, am eindrücklichsten die Tatsache, dass wir in einem „Zeitalter der Angst“ leben? Warum bedrohen sich gerade die wirtschaftlich fortschrittlichsten Staaten der Welt gegenseitig mit völliger Auslöschung und sich selbst mit Selbstmord? Liegt der Grund nur darin, dass der Industrialismus eben noch nicht alle seine Zielsetzungen realisiert hat? Das Beispiel Schweden scheint einer solchen Annahme zu widersprechen. Oder muss man nicht annehmen, dass mit dem Industrialismus, wie er sich sowohl in den Vereinigten Staaten wie in der Sowjetunion entwickelt hat, etwas grundsätzlich falsch läuft?
Wo stehen wir heute? Die Gefahr eines Krieges, der alles vernichtet, bedroht die Menschheit. Diese Gefahr lässt sich keineswegs durch die zögerlichen Versuche der Regierungen, einen solchen Krieg zu vermeiden, als überwunden betrachten. Und selbst wenn bei den Politikern noch so viel geistige Gesundheit da ist, dass sich ein Krieg vermeiden lässt, so ist die Lage des Menschen heute weit davon entfernt, dass die Hoffnungen des Sechzehnten, Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhunderts erfüllt würden.
Der Charakter des Menschen wurde von den Erfordernissen eben jener Welt geprägt, die er mit seinen eigenen Händen erschaffen hat. Der Gesellschafts-Charakter des Bürgertums des Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhunderts zeigte ausgeprägte ausbeuterische und hortende Züge. Der Wunsch, andere auszubeuten und den Verdienst anzusparen, um mit ihm noch mehr Profit machen zu können, bestimmte den bürgerlichen Charakter. Im Zwanzigsten Jahrhundert zeigt die Charakterorientierung ein beträchtliches Maß an Passivität [XI-286] und eine Identifikation mit den Werten des Marktes. Ohne Zweifel ist der gegenwärtige Mensch während seiner Freizeit meistens passiv. Er ist ein ewiger Konsument: Er „nimmt zu sich“: Drinks, Essen, Zigaretten, Lektüre, Besichtigungen, Bücher, Filme. Alles wird konsumiert, verschlungen. Die Welt ist ein großes Feld für seinen Appetit: eine Riesenflasche, ein Riesenapfel, eine Riesenbrust. Der Mensch ist zum Säugling geworden, zu dem, der ewig nur erwartet – und immer nur enttäuscht wird.
Wenn der moderne Mensch nicht mit Konsumieren beschäftigt ist, betreibt er Handel. In unserem wirtschaftlichen System dreht sich alles um die Funktion des Marktes. Dieser bestimmt den Wert aller Waren und reguliert den Anteil, den jeder am Bruttosozialprodukt hat. Die wirtschaftlichen Unternehmungen des Menschen von heute werden nicht mehr wie in früheren Epochen von Gewalt oder Tradition und auch nicht von Betrügereien oder Tricks gesteuert. Jeder ist frei zu produzieren und zu verkaufen. Der Markttag ist der Gerichtstag, an dem über den Erfolg der eigenen Bemühungen gerichtet wird. Auf dem Markt werden nicht nur Waren angeboten und verkauft. Die Arbeit selbst wurde zu einer Ware; sie wird unter den gleichen Bedingungen des fairen Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt verkauft. Die Marktwirtschaft reicht inzwischen jedoch weit über den wirtschaftlichen Bereich von Waren und Arbeit hinaus. Der Mensch selbst hat sich in eine Ware verwandelt; er erlebt sein Leben als Kapital, das es profitabel zu investieren gilt. Gelingt ihm dies, dann ist er erfolgreich und sein Leben ist sinnvoll. Gelingt ihm dies nicht, dann ist er ein Versager. Sein Wert liegt in seiner Verkäuflichkeit begründet, und nicht in seinen menschlichen Fähigkeiten zu Vernunft und Liebe, und auch nicht in seinen künstlerischen Qualitäten. Sein Selbstwerterleben hängt deshalb von äußeren Faktoren ab: von seinem Erfolg, vom Urteil der anderen. Darum ist er von diesen anderen abhängig und kann er sich nur sicher fühlen, wenn er mit den anderen konform geht und sich nie weiter als einen halben Meter von der Herde entfernt.
Es ist aber nicht nur der Markt, der den Charakter des gegenwärtigen Menschen bestimmt. Eng mit der Marktfunktion verknüpft, ist die Art der industriellen Produktion ein weiterer Faktor. Die Unternehmen werden immer größer; die Zahl der Angestellten und Arbeiter eines Betriebes wächst unablässig. Die Besitzer der Unternehmen und die Manager der Unternehmensleitung sind verschiedene Personen. Die riesigen Industrieunternehmen werden von leitenden Angestellten gesteuert, die hauptsächlich daran interessiert sind, dass das Unternehmen reibungslos läuft und expandiert, und die sich nicht in erster Linie persönlich bereichern wollen.
Welche Art von Mensch benötigt unsere Gesellschaft, um reibungslos zu funktionieren? Sie braucht Menschen, die zur Kooperation in großen Gruppen fähig sind, die immer mehr konsumieren wollen und deren Geschmack standardisiert ist und leicht vorausberechnet und beeinflusst werden kann. Sie braucht Menschen, die sich frei und unabhängig fühlen, keiner Autorität, keinen Prinzipien und keinem Gewissen unterworfen, und die dennoch bereit sind, geführt zu werden, das zu tun, was von ihnen erwartet wird, und die reibungslos in die soziale Maschinerie hineinpassen. Sie braucht Menschen, die sich ohne Gewalt führen lassen, sich ohne Führer lenken lassen, die sich bewegen lassen, ohne ein Ziel vor Augen zu haben außer dem, in Bewegung zu sein, zu funktionieren und vorwärtszukommen. [XI-287]
Dem modernen Industrialismus ist es gelungen, einen solchen Menschen hervorzubringen: den automatenhaften, entfremdeten Menschen. Er ist in dem Sinne entfremdet, dass ihm seine Handlungen und seine Eigenkräfte selbst fremd geworden sind. Sie stehen ihm gegenüber und sind gegen ihn gerichtet; sie beherrschen, statt dass er sie beherrscht. Seine Lebenskräfte haben sich in Dinge und Institutionen verwandelt, die ihrerseits zu Idolen geworden sind. Sie werden nicht als das Ergebnis der eigenen Bemühungen des Menschen erlebt, sondern als etwas von ihm Getrenntes, das er anbetet und dem er sich unterwirft. Der entfremdete Mensch kniet sich vor die Werke seiner eigenen Hände nieder. Seine Götzen sind der entfremdete Ausdruck seiner eigenen Lebenskräfte. Der Mensch erlebt sich selbst nicht als den tätigen Urheber seiner Eigenkräfte und Reichtümer, sondern als ein verarmtes „Ding“, das von anderen Dingen außerhalb seiner selbst abhängig ist, weil er seine lebendige Substanz auf diese projiziert hat.
Die sozialen Gefühle werden auf den Staat projiziert. Als Staatsbürger ist er sogar bereit, sein Leben für den Nächsten einzusetzen, während er als Privatperson nur egoistisch auf sich selbst bedacht ist. Weil er den Staat zur Verkörperung seiner eigenen sozialen Gefühle gemacht hat, verehrt er ihn und seine Symbole. Sein eigenes Spüren von Macht, Weisheit und Mut projiziert er auf seine politischen Führer und verehrt sie dann als seine Idole.
Ob Arbeiter, Angestellter oder Manager: der heutige Mensch ist von seiner Arbeit entfremdet. Der Arbeiter ist zu einem atomaren Teilchen der Ökonomie geworden, das nach der Pfeife eines automatisierten Managements tanzt. Er hat keinen Einfluss auf den Produktionsprozess und auf das, was dabei herauskommt; nur selten hat er einen Bezug zum fertigen Produkt. Der leitende Angestellte auf der anderen Seite hat zwar einen Bezug zum fertigen Produkt, doch ist er diesem als einem konkreten und nützlichen Gegenstand entfremdet. Er verfolgt nur das Ziel, das von anderen investierte Kapital nutzbringend arbeiten zu lassen. Die Ware ist bloß die Verkörperung des Kapitals und nichts, was ihn als konkreten Gegenstand berührt. Der Manager ist zu einem Funktionär geworden, für den Gegenstände, Figuren und menschliche Wesen nur noch Objekte seiner Aktivität sind. Sein Umgang mit ihnen wird zwar Beschäftigung mit „menschlichen Beziehungen“ genannt, doch der Manager hat es mit höchst unmenschlichen Beziehungen zu tun, weil es um Beziehungen von Automaten geht, die zu Abstraktionen geworden sind.
Unser Konsumverhalten ist ebenfalls entfremdet. Es wird von Werbesprüchen bestimmt statt von unseren wirklichen Bedürfnissen und von dem, was wir schmecken, sehen oder hören wollen.
Die Bedeutungslosigkeit und Entfremdung unserer Arbeit führt zu dem Verlangen, ganz und gar faul zu sein. Der Mensch hasst sein Arbeitsleben, denn es bringt ihn dazu, sich als Gefangener und Schwindler zu fühlen. Sein höchstes Ideal ist eine absolute Faulheit, bei der er keine Bewegung mehr auszuführen hat und alles nach dem Werbespruch von Kodak läuft: „Sie drücken den Knopf, den Rest erledigen wir!“ Diese Tendenz wird noch durch jene Art von Konsumieren verstärkt, die zur Ausdehnung des Binnenmarktes vonnöten ist und die zu einem Grundsatz führt, den Aldous Huxley in Schöne neue Welt (1946) treffend zum Ausdruck gebracht hat: „Schiebe nie [XI-288] das Vergnügen, das Du heute haben kannst, auf morgen auf.“ Dies ist einer jener Sprüche, mit dem jeder von uns von Kindheit an vertraut gemacht wird. Wenn ich die Befriedigung meines Verlangens nicht verschiebe (und ich bin schon so konditioniert, dass ich nur noch danach Verlangen habe, was ich auch bekommen kann), dann gibt es keinen Konflikt, keine Zweifel; es müssen auch keine Entscheidungen getroffen werden. Und ich bin auch nie mir selbst überlassen, denn ich bin immer beschäftigt – entweder ich arbeite oder ich habe meinen Spass. Es gibt gar keine Notwendigkeit, mir meiner selbst bewusst zu sein, weil ich ständig mit Konsumieren beschäftigt bin. Ich bin ein System von Wünschen und deren Befriedigungen. Ich muss arbeiten, um meine Wünsche zu befriedigen; diese Wünsche aber werden durch die Wirtschaft ständig neu hervorgerufen und gelenkt.
Dieser entfremdete, isolierte Mensch hat Angst, und zwar nicht nur, weil Isolation und Entfremdung als solche angst machen, sondern noch aus einem speziellen Grund. Das bürokratische industrielle System, insbesondere wie es sich in den Großunternehmen herausentwickelt hat, macht in erster Linie angst wegen der Diskrepanz zwischen der Größe der Einrichtung (des Unternehmens, des Verwaltungsapparats, der Militärmaschinerie) und der Kleinheit des Einzelnen. Darüber hinaus macht die allgemeine Unsicherheit angst, die dieses System in fast jedem Menschen hervorruft. Die meisten Menschen sind angestellt und also abhängig von ihren Vorgesetzten der Bürokratie. Sie haben nicht nur ihre Arbeitskraft verkauft, sondern auch im Ausverkauf ihre Persönlichkeit (ihr Lächeln, ihren eigenen Geschmack, ja sogar ihre Freundschaften). Sie haben ihre Integrität verraten, und doch können sie nie sicher sein, ob sie steigen oder fallen, ob sie auf der sozialen Leiter aufsteigen oder, wenn nicht Armut, so doch Scham und Verlegenheit ausgeliefert sind. Trotz allen Wohlstands: die industrielle bürokratische Gesellschaft ist eine Gesellschaft von ängstlichen und sich fürchtenden Menschen. Die Angst um Erfolg oder Misserfolg ist in Wirklichkeit heute bei den Menschen so übermächtig, dass die Angst im Bereich ihres persönlichen Lebens die Angst vor der Möglichkeit einer totalen Zerstörung auf Grund eines Atomkriegs überdeckt.
Schließlich zeigt sich der Mensch in den hochindustrialisierten Gesellschaften mehr und mehr von technischen Apparaten fasziniert, als dass er von lebendigen Wesen und Lebensprozessen angezogen wird. Für viele Menschen ist ein neuer Sportwagen attraktiver als eine Frau. Das Interesse am Leben und am Organischen wird durch das Interesse am Technischen und Anorganischen ersetzt. Dies führt dazu, dass der Mensch dem Leben gegenüber gleichgültig wird. Er spürt sogar mehr den Stolz, Raketen und Atomwaffen erfunden zu haben, als dass ihn die Tatsache, die Zerstörung allen Lebens in Betracht ziehen zu müssen, erschrecken und traurig machen würde.
Für den Psychotherapeuten stechen bestimmte Folgen dieser Situation ins Auge: Der zum Ding verwandelte Mensch ist ängstlich, hat keinen Glauben und keine Überzeugung mehr und vermag kaum noch zu lieben. Er flieht statt dessen in ein leeres Geschäftig-Sein, in Alkoholismus, starke sexuelle Promiskuität und in alle möglichen Arten psychosomatischer Symptome, die sich bestens mit der Stresstheorie erklären lassen. Wir kommen zu dem paradoxen Ergebnis, dass die reichsten Gesellschaften dabei sind, die kränksten zu werden und dass der Fortschritt der Medizin durch ein [XI-289] starkes Anwachsen von allen möglichen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen zunichtegemacht wird.
Diese Überlegungen bedeuten nicht, dass die Industrialisierung als solche nicht wünschenswert sei. Ohne sie könnte sich der Mensch im Gegenteil nicht einmal die materielle Basis für ein menschenwürdiges und sinnvolles Leben schaffen. Die Frage ist allerdings, welche Form das industrielle System hat: Geht es um einen bürokratischen Industrialismus, in dem der Einzelne zu einem kleinen, bedeutungslosen Zahnrädchen in einer sozialen Maschinerie wird, oder geht es um einen humanistischen Industrialismus, in dem die Entfremdung und das Ohnmachtsgefühl dadurch überwunden werden, dass der Einzelne aktiv und verantwortlich an den ökonomischen und sozialen Prozessen teilhat? Freilich hat ein solcher humanistischer Industrialismus eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, die hier nicht erörtert werden können. Eines muss jedoch festgehalten werden: Eine humanistische Industriegesellschaft zielt nie auf einen maximalen Profit für wenige und noch weniger auf den maximalen Konsum für viele. In ihr darf die wirtschaftliche Produktion nie zum Selbstzweck werden, sondern muss immer ein Mittel für ein menschlich reicheres Leben bleiben. In der humanistischen Industriegesellschaft ist der Mensch, statt dass er viel hat oder viel gebraucht. Sie muss die Bedingungen für den produktiven Menschen schaffen, und nicht jene für den homo consumens oder den homo technicus, den Apparate-Fan.
Aus alldem ergibt sich eine Lektion für jene Länder, die im Übergang von der feudalen zur industriellen Gesellschaft stehen. Natürlich müssen sie Industriegesellschaften werden und die materiellen Bedürfnisse von all ihren Einwohnern befriedigen. Sie sollten aber den in den entwickelteren Industriegesellschaften vorherrschenden Werten sehr skeptisch gegenüber sein und nicht versuchen, diese zu imitieren. Sie sollten sich vielmehr das Ziel einer neuen Gesellschaftsform setzen, die weder feudalistisch noch industriell-bürokratisch ist. In einem humanistischen Industrialismus sollten bestimmte menschliche Werte aus der Vergangenheit tatsächlich verwirklicht werden, statt dass sie Leerformeln sind oder vom Konsumrausch weggefegt werden. Die Voraussetzungen für seelische Gesundheit und das Überleben der Zivilisation sind eine Wiederbelebung des Geistes der Aufklärung, eines rücksichtslos kritischen und wirklichkeitsnahen, jedoch von seinen überschwänglich optimistischen und rationalistischen Vorurteilen befreiten Geistes, und zugleich die Wiederbelebung humanistischer Werte, die nicht gepredigt, sondern im persönlichen und gesellschaftlichen Leben realisiert werden.
Meine Kritik an der Industriegesellschaft
(What I Do not Like in Contemporary Society)
(1992j [1972])[6]
Es gibt viele Dinge, die mir an der gegenwärtigen Gesellschaft missfallen, so dass die Entscheidung, womit ich beginnen soll, nicht einfach ist.[7] In Wirklichkeit freilich spielt dies keine Rolle, denn es ist offensichtlich so, dass alles, was mir missfällt, nur verschiedene Facetten der Struktur der heutigen Industriegesellschaft sind. Diese bilden ein Syndrom und gehen alle auf die gleiche Wurzel zurück: auf die Struktur der Industriegesellschaft in ihrer kapitalistischen wie in ihrer sowjetischen Ausprägung.
Ein erster Punkt, der erwähnt werden soll, ist die Tatsache, dass alles und beinahe auch jeder Mensch sich zum Kauf anbietet. Nicht nur Waren und Dienstleistungen werden verkauft; auch Ideen, Kunst, Bücher, Persönlichkeiten, Überzeugungen, ein Gefühl, ein Lächeln – alles ist inzwischen zur Ware geworden. Dies trifft auch für den ganzen Menschen mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu.
Eine Folge davon ist die Tatsache, dass man immer weniger Menschen trauen kann. Damit meine ich nicht unbedingt eine direkte Unehrlichkeit im Geschäftsbereich oder eine Hinterhältigkeit im Umgang mit anderen Menschen, sondern etwas, das viel tiefer geht. Wie kann man jemandem, der sich zum Kauf anbietet, trauen, dass er morgen noch derselbe ist wie heute? Wie kann ich wissen, wer er wirklich ist? Auf wen soll ich denn vertrauen? Ich kann höchstens sicher sein, dass er kein Mörder ist oder mich ausraubt, aber damit wird noch kein Vertrauen geschaffen.
Dass es immer weniger Menschen mit Überzeugungen gibt, ist nur ein weiterer Aspekt des gleichen Problems. Mit Überzeugung meine ich etwas, das im Charakter eines Menschen, in seiner gesamten Persönlichkeit wurzelt und deshalb sein Handeln motiviert. Es geht also nicht nur um eine Idee, die sich, so zentral sie auch sein mag, auch leicht ändern lässt.
Der folgende Punkt hat eine enge Beziehung zum vorgenannten: Die ältere Generation hat noch einen Charakter, der sehr stark von überbrachten Verhaltensmustern und von der Notwendigkeit, sich erfolgreich anzupassen, geprägt ist. Viele Menschen der jüngeren Generation neigen dazu, überhaupt keinen Charakter mehr zu haben. Damit meine ich nicht, dass sie unehrlich sind; im Gegenteil, eine der wenigen erfreulichen Dinge in der heutigen Welt ist die Ehrlichkeit eines großen Teils der jüngeren Generation. Wenn ich sage, dass sie keinen Charakter mehr haben, dann meine ich, [XI-302] dass sie emotional und intellektuell gesehen von der Hand in den Mund leben. Sie befriedigen jedes Bedürfnis sofort, haben beim Lernen wenig Geduld, tun sich schwer, Frustrationen auszuhalten und haben kein Zentrum in sich selbst und kein Identitätserleben. Sie leiden am fehlenden Selbsterleben, stellen sich selbst, ihre Identität, den Sinn ihres Lebens in Frage. Manche Psychologen haben aus der Not dieses Identitätsmangels eine Tugend gemacht und sprechen davon, dass diese jungen Menschen einen „proteischen“, amöbenartigen Charakter hätten, wenn sie nach jedem und allem verlangten und an nichts gebunden seien. Damit wird freilich nur in einer etwas poetischeren Sprache vom Mangel am Selbst gesprochen, so wie es Skinner tut, wenn dieser von der „menschlichen Technik“ spricht, derzufolge der Mensch das ist, wozu er konditioniert wurde.
Mir missfallen an dieser Gesellschaft die verbreitete Langeweile und die Freudlosigkeit. Die meisten Menschen langweilen sich, weil sie für das, was sie tun, kein wirkliches Interesse haben und weil unser industrielles System auch kein Interesse daran hat, sie für ihre Arbeit zu interessieren. Das Hoffen auf mehr Unterhaltung wird als der einzige Anreiz angesehen, den es braucht, um die langweilige Arbeit zu kompensieren. Die Freizeit ist allerdings genauso langweilig, denn sie wird von der Unterhaltungsindustrie in gleicher Weise verwaltet wie die Arbeitszeit vom Industriebetrieb. Die Menschen sehnen sich nach Vergnügungen und Anregungen statt nach Freude; sie streben nach Macht und Besitz statt nach Wachstum; sie möchten viel haben und viel gebrauchen, statt viel zu sein.
Die Menschen werden heute mehr vom Toten und vom Mechanischen angezogen als vom Leben und von lebendigen Prozessen. Ich habe dieses Angezogenwerden vom Leblosen – ein Wort Unamunos gebrauchend – „Nekrophilie“ genannt, und das Angezogensein von allem Lebendigen „Biophilie“. Trotz der Tatsache, dass heute alle Betonung auf dem Vergnügen liegt, bringt unsere Gesellschaft immer mehr Nekrophilie hervor und immer weniger Liebe zum Leben. All dies führt zu einer tödlichen Langeweile, die nur oberflächlich durch ständig wechselnde Reize kompensiert wird. Je weniger diese Stimuli ein wahrhaft lebendiges und aktives Interesse erlauben, desto häufiger müssen sie geändert werden, weil es eine biologisch gegebene Tatsache ist, dass wiederholte „flaue“ Stimuli bald monoton werden.
Was mir am meisten missfällt, ist in der griechischen Mythologie in der Beschreibung des Eisernen Zeitalters, wie es Hesiod (in den Erga, Zeile 132-142) heraufkommen sah, zusammengefasst. In ihm werden die Menschen die Macht anbeten, sich nicht mehr über Untaten aufregen und keine Scham mehr haben:
War es [das Eiserne Zeitalter] dann aber gereift und zur Jugendfülle gekommen,
Währte nur kurz noch die Zeit ihres Lebens, eigene Torheit
Brachte das Weh; denn sie hatten nicht Kraft, maßlose Gewalttat
Untereinander zu bannen, und ewige Götter verehren
Mochten sie nicht und am hehren Altar den Seligen opfern,
Wie sich’s für Menschen geziemt, je nach Wohnstatt. Diese hat schließlich
Zeus der Kronide verborgen im Grimm, weil gebührende Ehre
Nie sie gegeben den Göttern, den Seligen oben im Himmel.
Aber nachdem nun auch dieses Geschlecht die Erde umfangen,
Nennt man diese mit Namen die sterblichen Seligen drunten,
Minderen Rangs, aber dennoch erweist man Ehre auch ihnen.
Ich kann nicht schließen, ohne zu betonen, dass ich trotz allem, was mir an dieser Gesellschaft missfällt, nicht ohne Hoffnung bin. Wir sind mitten in einem Prozess, bei dem viele Menschen damit anfangen, ihre Illusionen aufzugeben. „Die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben“, ist nach Karl Marx aber „die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf.“ [K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA I, 1, 1, S. 607°f.]
Die Überlebenschancen der westlichen Gesellschaft
(The Desintegration of Societies)
(1992k [1969])[8]
Vom „Zerfall einer Gesellschaft“[9] zu sprechen bedeutet nicht, dass die Gesellschaft ein Organismus ist wie eine Zelle oder das gesamte Körpersystem. Tatsächlich wurden Gesellschaften in Analogie zu lebenden Organismen beschrieben, so etwa von Oswald Spengler in seinem Buch Untergang des Abendlandes (1918-1922). Für Spengler durchlaufen auch Gesellschaften die gleichen Folgen von Geburt, Jugend, Reife und Alter wie der Organismus. Nun sind Analogien zwar anregend, doch sie beweisen nichts. Auch ohne derartige Analogien zu benützen, können wir vom Zerfall der Gesellschaften sprechen, insofern wir eine Gesellschaft als ein System (oder eine Struktur) begreifen. Organismen wie Gesellschaften ist gemeinsam, dass sie beide Systeme sind. Sie sind Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die jedem System zu eigen sind, selbst wenn die Systeme substantiell sich sehr voneinander unterscheiden. Solche Systeme sind zum Beispiel der menschliche Organismus, das Sonnensystem, Sprachsysteme, Wirtschaftssysteme, politische Systeme, institutionelle Systeme usw.
1. Die Eigenart von Systemen
Es ist die Eigenart jedes Systems, dass alle seine Teile so integriert sind, dass das richtige Funktionieren jedes Teiles die notwendige Voraussetzung für das richtige Funktionieren jedes anderen Teiles ist. Das System stellt also eine Größe dar, die sich von der bloßen Summe aller seiner Bestandteile unterscheidet. Aus dieser Tatsache ergeben sich die folgenden Merkmale:
- Jedes System – ob es sich um einen Organismus handelt oder um ein nicht-organisches System – hat ein Eigenleben und funktioniert nur, solange alle seine Teile in der besonderen Form, die das System erfordert, integriert bleiben. Das System als ein Ganzes beherrscht die Teile. Die Teile sind gezwungen, innerhalb des gegebenen Systems zu funktionieren – oder sie funktionieren überhaupt nicht. Das System hat einen inneren Zusammenhalt, der seine Veränderung äußerst schwer macht.
- Versucht man, nur einen isolierten Teil des Systems zu verändern, wird dies nicht zu einer Veränderung des Systems selbst führen. Das System wird im Gegenteil weiterhin auf seine ihm eigene Art und Weise funktionieren und versuchen, eine Veränderung an einem Teil so zu absorbieren, dass sehr bald die Wirkungen der Veränderung ungeschehen gemacht sind. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Um die Slums in Großstädten aufzulösen, wird als wirksamster Weg oft vorgeschlagen, neue Billighäuser zu bauen. Man beobachtete, dass die neuen Häuser nach einiger Zeit wieder zu Slums geworden waren und das Slumsystem wie eh und je funktionierte. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass man nur neue Häuser baute, ohne das ganze System grundlegend zu verändern – pädagogisch, wirtschaftlich, psychologisch usw. Die zugrunde liegende Struktur bleibt die gleiche, so dass sich das Slumsystem durchsetzt, indem es schließlich die neu erbauten Häuser zu neuen Slums macht. Ein System kann nur verändert werden, wenn nicht nur ein einziger Faktor geändert wird; erst wenn echte Änderungen innerhalb des gesamten Systems vorgenommen werden, kann eine neue Integration aller seiner Teile stattfinden.
- Um zu verstehen, welche Veränderungen innerhalb des ganzen Systems notwendig und möglich sind, muss man zuerst eine genaue Analyse über das Funktionieren des Systems machen, die Gründe für fehlerhaftes Funktionieren erforschen, um dann [XI-294] die Möglichkeiten richtig einzuschätzen, mit denen es zu einer das gesamte System betreffenden Veränderung kommen kann.
- Generell lässt sich das optimale Funktionieren eines Systems bzw. sein Zerfall folgendermaßen fassen: Ein System kann als wirkungsvoll arbeitend angesehen werden, wenn alle seine Teile zweckmäßig integriert sind und optimal arbeiten und es zu einem Minimum an Energie verbrauchender Reibung untereinander und im Kontakt mit benachbarten Systemen kommt. Eine wichtige Voraussetzung für das richtige Funktionieren ist darin zu sehen, dass jene Teile des Systems, die noch nicht an neue Bedingungen außerhalb des Systems richtig angepasst sind, die Fähigkeit haben, auf diese neuen Bedingungen regenerativ zu reagieren und sich diesen von alleine anzupassen.
Umgekehrt kommt es zum Zerfall eines Systems, wenn bestimmte Teile die Fähigkeit zu einer solchen Anpassung verloren haben und „verknöchern“. Dann werden die Reibung innerhalb des Systems und die Widersprüche zwischen dem System und den benachbarten Systemen so groß werden, dass das System schließlich zerbricht und zerfällt. Zwischen diesen beiden Extremen, dem optimalen Funktionieren des Systems und seinem Zerfall, gibt es viele Schattierungen partieller Dysfunktion. Ob ein System in diesem Fall sein Gleichgewicht wiedererlangen kann oder zerfällt, hängt von der Fähigkeit ab, geeignete Veränderungen einzuführen, das heißt solche, die auf einer Analyse des Systems beruhen. Es muss erwähnt werden, dass es Systeme wie etwa das Sonnensystem gibt, die ganz auf der Grundlage von physikalischen Gesetzen funktionieren, welche außerhalb der menschlichen Kontrolle liegen. Auf der anderen Seite gibt es Systeme wie das des menschlichen Organismus oder einer Gesellschaft, die durch einen menschlichen Eingriff verändert werden können. Dies setzt aber voraus, dass dieser Eingriff auf dem richtigen Wissen um das Funktionieren des Systems basiert, und dass man über die Maßnahmen verfügt, die solche Veränderungen des Systems erlauben, und man auch bereit ist, dementsprechend zu handeln. - Damit wird nicht behauptet, dass die richtige Kenntnis immer den Zerfall eines Systems verhindern könnte. Es ist offensichtlich, dass der menschliche Organismus, zumindest bis jetzt, durch den Alterungsprozess in seiner Fähigkeit zur Veränderung des Systems begrenzt ist. Genauso kann eine Gesellschaft unfähig sein, notwendige Anpassungsleistungen zu erbringen, weil ihr – etwa auf Grund der Erosion des Bodens oder wegen Naturkatastrophen – die materielle Grundlage für solche Veränderungen fehlt.
- Sehr oft jedoch finden Veränderungen des Systems nicht deshalb nicht statt, weil sie objektiv unmöglich wären, sondern auf Grund einer Reihe subjektiver Gründe. An erster Stelle fehlt es am Verständnis für das Funktionieren des Systems und der Gründe für seine Dysfunktion. Ein zweiter Grund lässt sich in gesellschaftlichen Systemen beobachten, wo Gruppeninteressen innerhalb einer Gesellschaft gegen Veränderungen gerichtet sind, weil diese für sie im Moment nachteilig wären. Objektiv gesehen führt die Weigerung, gewisse Privilegien aufzugeben, aber schließlich nicht nur zur Vernichtung dieser Gruppe, sondern mit ihr zum Zerfall der Gesellschaft.
Ein weiterer subjektiver Grund ist darin auszumachen, dass die meisten Menschen, einschließlich vieler Wissenschaftler, noch immer in einem überholten linearen [XI-295] Denkschema von Ursache und Wirkung denken. Sie greifen sich die offensichtlichsten Missstände eines Systems heraus und versuchen dann den einen Grund für diese Missstände zu finden. Es fällt ihnen schwer, in Form von Prozessen innerhalb eines Systems zu denken, bei dem das Verständnis des einen Teils das Verstehen jedes anderen Teils voraussetzt; tatsächlich erfordert das Verstehen des Systems eine viel größere Flexibilität des Denkens. Die Gesellschaft als ein System zu verstehen, fällt deshalb so schwer, weil das Denken und Fühlen des Beobachters selbst Teil des Systems ist. Folglich betrachtet er das System nicht so, wie es wirklich funktioniert, sondern vom Standpunkt seiner eigenen Wünsche und von der Rolle aus, die er in dem System spielt.
2. Vom Zerfall gesellschaftlicher Systeme
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über die Eigenart von Systemen geht es nun um das spezielle Problem des Zerfalls von Gesellschaften. Zuerst gilt es, in Erinnerung zu rufen, was bereits über den Zerfall von Systemen gesagt wurde: Systeme zerfallen, wenn ihre inneren Widersprüche überhandnehmen und wenn einzelne Teile und das gesamte System die Fähigkeit zu einer regenerativen Anpassung an veränderte Umstände verloren haben. Eine weitere Aussage kann noch hinzugefügt werden: Gewöhnlich erzeugt der Vorgang des Zerfallens einer Gesellschaft ein hohes Maß an Gewalt und Destruktivität innerhalb der zerfallenden Gesellschaft, wie der Zerfall des Römischen Reiches und der mittelalterlichen Gesellschaft belegen. Die zunehmende Gewalt heutzutage kann als ein Hinweis auf die Zerfallstendenzen der technologischen Gesellschaft angesehen werden.
In der Geschichte gibt es eine ganze Reihe von Gesellschaften, die auf eine Weise zerfielen, dass man annehmen könnte, sie seien gestorben, um durch völlig neue gesellschaftliche Systeme wieder ersetzt zu werden. Auf der anderen Seite finden wir gesellschaftliche Systeme, in denen solch ein Zusammenbruch vermieden wurde, weil grundlegende Veränderungen des Systems zu seiner Fortdauer führten. Eines der am häufigsten zitierten Beispiele für den Zerfall eines gesellschaftlichen Systems ist das Römische Reich. Obwohl das letzte Wort über die Gründe für den Untergang des Römischen Reiches noch nicht gesprochen wurde, nimmt man doch im allgemeinen an, dass der Grund für seinen Zerfall in seiner Unfähigkeit zu suchen ist, sich an verändernde Umstände anzupassen. Insbesondere verfügte es nicht über die technologische Basis, die wirtschaftlichen Widersprüche zu lösen, die sich innerhalb des Systems entwickelt hatten. Somit wurde das bewegliche und kosmopolitische System des Römischen Reiches durch das Feudalsystem ersetzt, das Europa für ungefähr tausend Jahre beherrschte.
Wenn wir vom Zerfall eines Systems sprechen, bedeutet das nicht, dass alle seine Teile einfach zerstört würden. Die Menschen in dem System oder ihre Nachfahren überlebten zusammen mit einem Gutteil ihres Wissens und ihrer Kultur. Als Europa vom Mittelalter zur Renaissance und zur modernen Epoche überging, wurden in Wirklichkeit viele der Bausteine, die von den griechischen und römischen Gesellschaften [XI-297] geschaffen worden waren, bei der Errichtung eines völlig anderen Systems wiederverwendet.
Es gibt viele andere Beispiele für den vollständigen Zerfall von gesellschaftlichen Systemen. Andererseits gibt es viele Gesellschaften, in denen ein Wandel des Systems stattfand, der die grundlegende Reintegration des alten Systems erlaubte. Ein augenfälliges Beispiel für eine solche Reintegration sind die Änderungen des kapitalistischen Systems zwischen dem Beginn des Neunzehnten Jahrhunderts und der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Veränderungen hatten mit einer Reihe von Faktoren zu tun, vor allem mit dem gewaltigen Anwachsen der Produktivität mit Hilfe von immer effizienteren Maschinen und in letzter Zeit mit Hilfe der Kybernetik und Automation; andere Faktoren sind der Zwang zu zentralisierten Großunternehmen, der wiederum zum größten Teil durch die neuen technologischen Möglichkeiten bewirkt wurde, weiterhin das Bedürfnis, den Arbeiter in einen Verbraucher zu verwandeln, der gesellschaftliche und politische Druck der Gewerkschaften, das Bedürfnis nach mehr Bildung breiter Schichten, die immer komplizierteren Maschinen handhaben zu können.
Gewalttätige Revolutionen sind nicht unbedingt der Beweis für den Zerfall eines Systems. Alle Voraussetzungen für die bürgerliche Gesellschaft des Neunzehnten Jahrhunderts waren schon vor der Französischen Revolution gegeben; die Französische Revolution befreite die Gesellschaft nur noch von jenen Ketten, die weitergehende Veränderungen des Systems unmöglich gemacht hätten. Gegenwärtig liefert die Geschichte einige gute Beispiele dafür, wie gesellschaftliche Systeme zerfallen bzw. wie es zu Veränderungen bestimmter gesellschaftlicher und politischer Systeme kommt. Das System des Britischen Weltreiches zeigte bereits seit dem Ende des Neunzehnten Jahrhunderts Anzeichen seines langsamen Zerfalls, obwohl Großbritannien in zwei großen Kriegen in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts siegreich war. Auf der anderen Seite erlebte das System des deutschen Imperialismus zwar bestimmte Veränderungen, doch es entwickelte sich weiterhin im Sinne seiner grundlegenden Struktur, und zwar trotz der Tatsache, dass Deutschland militärisch und politisch in den gleichen zwei großen Kriegen gänzlich geschlagen worden war. Wieder bietet uns die Erforschung der Dysfunktion des britischen Systems im Unterschied zum guten Funktionieren des deutschen Systems (und wir müssen hinzufügen: des japanischen Systems) ein hervorragendes Anschauungsmaterial, um die Gründe für den Zerfall bzw. für die Reintegration durch Anpassung der wirtschaftlichen und politischen Systeme zu verstehen. Bis jetzt gibt es zwar erst wenige Studien dieser Art, doch werden sie zweifellos durchgeführt werden und sehr zu unserem Verständnis der Gründe für den Zerfall gesellschaftlicher Systeme beitragen. Eine Tatsache ist jedoch bereits klar: Die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind viel relevanter als die rein militärischen; darum wird die wirtschaftliche Eroberung und Besetzung die älteren Formen der militärischen Eroberung ersetzen.
3. Die Zukunft der gegenwärtigen technologischen Gesellschaft –
Zerfall oder Reintegration?
Bisher ging es nur theoretisch um die Frage Reintegration oder Zerfall gesellschaftlicher Systeme. Viele von uns sind sich bewusst, dass dieses Problem heute, im Jahr 1969, nicht mehr nur ein theoretisches Problem ist. Es gibt die ernstzunehmende Frage, ob sich das westliche Gesellschaftssystem im Prozess der Desintegration befindet und zerfällt oder ob eine Reintegration unseres Systems möglich ist. Zweifellos ist das westliche Gesellschaftssystem auf dem Höhepunkt seiner Macht: Die Entwicklung des theoretischen Denkens hat zu technischen Anwendungen geführt, die die Träume vergangener Generationen zu erfüllen scheinen. Seine Fähigkeit zu materieller Produktion auf der Grundlage der neuen Technologie wächst immer noch schneller. Die jüngste Reise um den Mond wurde von der großen Mehrheit der westlichen Bevölkerung deshalb so begeistert begrüßt, weil sie ein Beweis der Stärke und Leistungsfähigkeit unseres Systems zu sein scheint. Dennoch können all diese großen Erfolge des westlichen Systems nicht die Tatsache aus der Welt schaffen, dass wir schwerwiegenden Dysfunktionen des Systems und der Gefahr des Zerfalls gegenüberstehen. Einige der Widersprüche, die vielleicht zum Zerfall unseres technologischen Systems führen, sollen kurz erwähnt werden.
Der wichtigste Widerspruch ist wohl die Tatsache, dass die reichen Staaten reicher werden und die armen Staaten im Vergleich ärmer und dass keine ernsthaften Anstrengungen unternommen werden, diesen Trend zu ändern. Nichts zeigt diese Gefahr drastischer als die allgemein akzeptierte Voraussage der Experten, dass wir noch für die 80er Jahre in der unterentwickelten Welt mit Hungersnöten von großem Ausmaß rechnen müssen.
Ein anderer Widerspruch liegt in der drastischen Kluft zwischen den traditionellen religiösen und humanistischen Werten, die in der westlichen Welt immer als gültig akzeptiert wurden, und den neuen technologischen Werten und Normen, die deren genaues Gegenteil sind. Die traditionellen Werte sagen, man solle etwas tun, weil es gut, wahr oder schön ist, oder – um es anders auszudrücken – weil es der Entfaltung und dem Wachstum des Menschen dient. Der neue technologische Wert sagt, man solle etwas tun, weil es technisch möglich ist: Ist es technisch möglich, zum Mond zu fliegen, dann soll man es auch tun trotz der Tatsache, dass weitaus dringendere Aufgaben auf [XI-299] der Erde unerledigt bleiben. Ist es technisch möglich, die verheerendsten Waffen zu produzieren, dann soll man dies auch tun, ungeachtet der Tatsache, dass diese Waffen die ganze Menschheit auszulöschen drohen. Die Kluft zwischen den bewussten Wertsetzungen, die den Kindern gelehrt werden und an die die Erwachsenen noch immer glauben, und den ihnen widersprechenden Wertsetzungen, die das faktische Handeln der Erwachsenen bestimmen, führt zu einem Vergeuden menschlicher Energie, schafft ein schuldbewusstes Gewissen und ein Gefühl der Zwecklosigkeit.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (ePUB)
- 9783959121149
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (November)
- Schlagworte
- Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Humanismus Meister Eckhart Karl Marx Haben oder Sein Zukunft Industrialismus Industriegesellschaft Weltkonferenz Eugene McCarthy