Lade Inhalt...

Gesellschaft und Seele. Beiträge zur Sozialpsychologie und zur psychoanalytischen Praxis

Beyond Freud: From Individual to Social Psychoanalysis

©2015 109 Seiten

Zusammenfassung

Erich Fromms wissenschaftlicher Beitrag besteht vor allem darin, dass er eine Methode und Theorie entwickelt hat, mit der sich erklären und untersuchen lässt, wie sich Erfordernisse des Wirtschaftens und des sozialen Zusammenlebens in den psychischen Strebungen der betreffenden Menschen widerspiegeln. Hierzu schrieb Fromm 1937 einen erhellenden Aufsatz. Er erklärt, ohne auf die Freudsche Triebtheorie zurückzugreifen, wie es zur Ausbildung eines „sozial typischen Charakters“ in vielen Menschen kommt. Der Aufsatz galt als verschollen und wurde 1992 erstmals veröffentlicht. Für jeden, der Fromms sozial-psychoanalytischen Ansatz kennen lernen will, ist dieser frühe Aufsatz von Fromm ein „Muss“.

Welche Konsequenzen sich aus diesem Ansatz für die therapeutische Praxis ergeben, verdeutlichen die anderen drei, ebenfalls erst posthum veröffentlichten Beiträge dieses Bandes. Vor allem die Vorlesungen von 1959 mit dem Titel ‚Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis‘ sind hier zu nennen. Sie sind das Beste, was Fromm je über die therapeutische Beziehung und den Umgang mit Patientinnen und Patienten mitgeteilt hat.

Aus dem Inhalt
• Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft
• Der gesellschaftlich erzeugte Charakter
• Die gesellschaftliche Funktion des sozial typischen Charakters
• Psychische Bedürfnisse und Gesellschaft
• Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis
• Voraussetzungen für das Verstehen eines Patienten
• Das Bezogensein aus der Mitte
• Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Zukunft

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort von Rainer Funk

Sigmund Freud hat als erster Wissenschaftler zu Beginn dieses Jahrhunderts den Versuch gemacht, wissenschaftliche Zugänge zur Realität des Unbewussten beim einzelnen Menschen zu erschließen und Wege des Umgangs mit den unbewussten Kräften zu finden. Ausgehend von diesen noch heute gültigen Erkenntnissen begann Erich Fromm bereits Anfang der Dreißiger Jahre, Zugänge zum Unbewussten der Gesellschaft zu suchen. Dies gelang ihm dadurch, dass er im Einzelnen jene psychischen Strukturen und Kräfte zur Entdeckung brachte, die sich aus der gesellschaftlichen Situiertheit des Einzelnen ergeben, den Einzelnen entsprechend seiner gesellschaftlichen Zugehörigkeit ähnlich denken, fühlen und handeln lassen und so sozialpsychologische Aussagen über die psychische Struktur und das Unbewusste der Gesellschaft erlauben. Die wichtigsten theoretischen Beiträge zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie schrieb Fromm zwischen 1929 und 1934.[1]

Fromm verfolgte in seinem gesamten wissenschaftlichen Werk das Ziel, die psychische Dynamik der Vielen und das Unbewusste gesellschaftlicher Größen aufzudecken und das Individuum als ein primär soziales Wesen zu verstehen. Dieser Versuch zeigte ihm aber bald die Grenzen einer mechanistisch verstandenen Triebtheorie, mit deren Hilfe Freud seine Entdeckungen in einen systematischen Erklärungszusammenhang gebracht hatte. Fromm erkannte, dass es wichtige Antriebskräfte im Menschen gibt, für die die von der Libidotheorie bestimmte Triebtheorie Freuds gerade keine plausible Erklärung bot.

War Fromms Blick seit seinem Soziologiestudium und seiner 1922 eingereichten Dissertation (Das Jüdische Gesetz, 1989b) bereits für die gesellschaftlichen Determinanten sozialpsychologischer Zusammenhänge geschärft und hatten ihm die Diskussionen am Institut für Sozialforschung in Frankfurt über eine Synthese von Marxismus und Psychoanalyse ein wichtiges Begriffsinstrumentarium zur Ausformulierung seiner sozialpsychologischen Theorie in die Hand gegeben, so waren es neben seinen Erfahrungen mit Patienten Mitte der Dreißiger Jahre vor allem die kulturanthropologischen Einsichten und die Forschungen zum Matriarchat, die ihn in die Offensive gegen die von Freud formulierte Triebtheorie gehen ließen.

Im Jahr 1935 erschien der provozierende und Freud kritisierende Beitrag Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie in der Zeitschrift für Sozialforschung (1935a, GA I, S. 115-138). Der Aufsatz rief ein geteiltes Echo hervor. Der orthodoxen Psychoanalyse gerade deutscher Provenienz, die sich inzwischen unter die Fittiche des Nationalsozialismus begeben hatte, lieferte Fromm mit diesem Beitrag ein weiteres Argument, sich von dem Juden und Marxisten Fromm zu distanzieren. Aber auch am Institut für Sozialforschung, das seit 1934 durch Fromms Mithilfe an der Columbia University in New York untergekommen war, stieß sein Neuansatz auf wenig Gegenliebe und leitete die Entfremdung zwischen Horkheimer und Fromm ein, die schließlich 1939 zum Ausscheiden Fromms aus dem Institut für Sozialforschung führte. Lebhaftes Interesse weckte Fromm hingegen vor allem bei einem Kreis von Psychoanalytikern, die mit Harry Stack Sullivan in Verbindung standen, sowie bei kulturanthropologisch ausgerichteten Psychologen und Soziologen.

Fromm übte in dem Artikel zur gesellschaftlichen Determiniertheit der Freudschen Therapie vor allem an der klinischen Anwendung der Psychoanalyse Kritik. Hier positionierte er sich eher an einem Therapieverständnis, das Sándor Ferenczi repräsentierte. Sein Unbehagen machte sich aber zunehmend daran fest, wie Freud mit seiner Libidotheorie die Triebhaftigkeit des Menschen erklärte. Das mechanistische Denken Freuds war für Fromm zunehmend ungeeignet, den Menschen als ein Beziehungswesen zu begreifen. Dies aber legte sich nicht nur von den psychiatrischen Erkenntnissen Sullivans nahe, sondern auch von den kulturanthropologischen und soziologischen Forschungen und Erkenntnissen einer Ruth Benedikt oder Margaret Mead, mit denen Fromm in wissenschaftlichem Kontakt stand.

Bereits im Sommer 1936 machte sich Fromm während eines Aufenthaltes in Mexiko an die Ausformulierung seiner eigenen triebtheoretischen Anschauungen. Dann arbeitete er monatelang im Herbst und Winter 1936/1937 an einem „grundsätzlichen Aufsatz“, mit der er das libidotheoretische Paradigma zur Erklärung der psychischen Antriebskräfte durch ein bezogenheitstheoretisches ersetzte. Die meisten psychischen Erscheinungen (Gefühle, Strebungen, Fantasien, Leidenschaften usw.) des Menschen seien aus seiner sozialen Bezogenheit zu erklären, und nicht aus einer sexuellen Triebnatur, die einer mechanischen Logik von Spannung und Entspannung, Lust und Unlust folgt. Auch sei der Mensch als ein primär soziales Wesen zu begreifen, und nicht als ein selbstgenügsames.[2]

So kommt Fromm zu der Erkenntnis, dass die meisten psychischen Antriebskräfte nicht im Sexualtrieb gründen und keine Abkömmlinge der von Freud beschriebenen Libidoentwicklung sind, sondern ihre Entstehung als psychische Antriebskräfte den Erfordernissen des gesellschaftlichen Zusammenlebens verdanken. Davon handelt der erste Beitrag dieses Bandes mit nachgelassenen Schriften; er trägt den Titel Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft. Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie (1992e).

Der Beitrag sollte in der Zeitschrift für Sozialforschung, dem Publikationsorgan des Instituts für Sozialforschung, veröffentlicht werden. Doch anders, als dies Fromm erwartete, fiel sein sozial-psychoanalytischer Ansatz bei einer Besprechung am 7. September 1937 bei Horkheimer und anderen Institutsmitgliedern in Ungnade. Er wurde nie veröffentlicht und galt als verschollen.

Es gelang mir, den als verschollen geglaubten Aufsatz im Frühjahr 1991 unter jenem Teil des Nachlasses, den Fromm in den fünfziger Jahren der New York Public Library zur Aufbewahrung gegeben hatte, zu finden. Die Archivare der New Yorker Bibliothek hatten das deutsch verfaßte Manuskript einem unbekannten Autor zugeordnet, doch ist Fromm ganz zweifelsfrei der Verfasser und ist der Beitrag identisch mit dem 1937 erstellten „grundsätzlichen Aufsatz“.

Dem Beitrag Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft (1992e) kommt aus verschiedenen Gründen eine ganz besondere Bedeutung zu: Zum einen ist dieser Aufsatz ein Herzstück der sozialpsychologischen und psychoanalytischen Theorieentwicklung bei Fromm, das meines Erachtens das Verständnis des Frommschen Ansatzes wesentlich erleichtert und für die Fromm-Forschung von epochaler Bedeutung ist. [3] Schließlich macht der Beitrag auch plausibel, warum Fromm einen eigenen Weg in der Psychoanalyse ging, ja gehen musste, und zeigt, dass dieser Weg noch heute Aktualität besitzt. Zum anderen macht er sehr viel besser verständlich, warum die Mitglieder des Instituts, die als Nicht-Psychoanalytiker ein vorrangiges Interesse an der ideologiekritischen Funktion der orthodoxen psychoanalytischen Triebtheorie hatten, nicht bereit waren, die Neuformulierung der psychoanalytischen Theorie durch Fromm mitzuvollziehen, und sich mehr und mehr von Fromm distanzierten.

Gleichsam als Ergänzung zum Aufsatz von 1937 folgt im zweiten Beitrag dieses Bandes unter der Überschrift Psychische Bedürfnisse und Gesellschaft (1992f) die Teilwiedergabe eines Vortrags zu Fromms Bedürfnislehre, wie er sie in seinem Buch Wege aus einer kranken Gesellschaft (1955a, GA IV, S. 20-50) ausgeführt hat.

Fromms Neuformulierung der psychoanalytischen Theorie hat weitreichende Konsequenzen. Im Aufsatz von 1937 formuliert Fromm: „Die Gesellschaft ist nichts als die lebendigen, konkreten Individuen, und das Individuum kann nur als vergesellschaftetes Individuum leben.“ Fromm selbst hat die Auswirkungen seines sozial-psychoanalytischen Ansatzes auf die therapeutische Praxis nur in Ansätzen in Veröffentlichungen verdeutlicht. Er war zwar über Jahrzehnte Lehr- und Kontrollanalytiker und bildete mehrere Generationen von Analytikerinnen und Analytikern in New York und Mexiko aus, doch spiegelte sich diese Tätigkeit nicht in seinen Publikationen. Von den klinisch relevanten Vorträgen, die sich (meist in Nachschriften) erhalten haben, gibt es drei Vorlesungstranskripte aus einer Serie von vier Vorträgen, die Fromm 1959 am William Alanson White Institute in New York hielt. Sie werden in diesem Band erstmals unter dem Titel Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis (1992g) veröffentlicht. Die drei Vorlesungen vermitteln einen sehr guten Einblick in Fromms besonderen Umgang mit den Patienten und sein in vielen Hinsichten völlig anderes Verständnis von psychoanalytischer Praxis. Anders als in dem ebenfalls posthum veröffentlichten Transkript eines Seminars zur therapeutischen Praxis, das Fromm 1974 in Locarno für amerikanische Studierende gegeben hat und unter dem Titel Von der Kunst des Zuhörens (1991a) veröffentlicht wurde, geben diese Vorlesungen von 1959 erstmals systematisch Fromms Positionen in diesem zentralen Anwendungsbereich der Psychoanalyse wieder und werden für viele psychoanalytisch Versierte und therapeutisch Interessierte eine echte Entdeckung sein.

Der Band wird mit dem Beitrag Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Zukunft (1992h) abgeschlossen. Dieser gibt einen Vortrag wieder, den Erich Fromm am 24. Mai 1975 zur Eröffnung eines Symposiums anlässlich seines 75. Geburtstags in Locarno-Muralto gehalten hat. Nur mit Hilfe von ein paar Stichpunkten hatte Fromm fast zwei Stunden lang frei gesprochen und dabei eine Summe seines eigenen Beitrags zur Psychoanalyse mitgeteilt. Eindrucksvoll brachte er zum Ausdruck, wie sehr er die bleibenden Erkenntnisse Freuds rezipiert hat und zugleich das Zeitbedingte in Freuds Theoriebildungen und in der therapeutischen Anwendung durch eigene Theorien und Anwendungen weiterentwickelt hat. Der Beitrag macht bei aller Kritik an Freud deutlich, wie sehr Fromm in der Tradition der Freudschen Psychoanalyse steht und das Grundanliegen der Psychoanalyse – die meist unbewussten irrationalen Antriebskräfte des Menschen zu erkennen und bewusst zu machen – für die Zukunft zu bewahren sucht. Gerade in seiner Direktheit, Kritik und persönlichen Einfärbung bringt dieser Vortrag von 1975 Fromms Wertschätzung der Psychoanalyse zum Ausdruck.

Wie bei der Bearbeitung aller Transkripte von Vorträgen und Vorlesungen habe ich auch bei diesem Vortrag Gliederungen und Zwischenüberschriften eingebracht. Auslassungen oder Hinzufügungen sind durch eckige Klammern [...] gekennzeichnet.

Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft.
Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie

(1992e [1937])[4]

1. Der Irrweg der orthodoxen Psychoanalyse bei der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene
a) Die zwei Erklärungsprinzipien bei Freud

Die Sozialpsychologie[5] ist nach zwei Seiten hin ausgerichtet. Auf der einen Seite behandelt sie das Problem, inwiefern die psychische Struktur des Menschen durch gesellschaftliche Faktoren bestimmt ist, auf der anderen Seite, inwiefern die psychische Struktur selbst als beeinflussender und verändernder Faktor im gesellschaftlichen Prozess wirksam wird. Beide Seiten des Problems sind unlösbar miteinander verknüpft. Die psychische Struktur, die wir als wirksam im gesellschaftlichen Prozess erkennen können, ist selbst schon das Produkt dieses Prozesses, und ob wir die eine oder die andere Seite betrachten, die Frage ist nur, welcher Aspekt des Gesamtproblems jeweils im Mittelpunkt unseres Interesses steht.

Mit Hinblick auf das Problem der Bedingtheit der seelischen Struktur durch die Gesellschaft besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen Sozial- und Individual-Psychologie. Ob ein Einzelner oder eine mehr oder weniger große Gruppe Gegenstand der psychologischen Untersuchung ist, macht grundsätzlich keinen Unterschied. Der Einzelne ist in seiner Lebensweise durch die Gesellschaft bestimmt, die Gesellschaft andererseits ist nichts jenseits der Individuen. Freud hat bei aller Zentrierung seines Interesses um das Individuum klar erkannt, dass der Unterschied zwischen Sozialpsychologie und Individualpsychologie nur ein scheinbarer ist. „Die Individualpsychologie“, sagt Freud (1921c, GW 13, S. 73),

ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses Einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne.

Dieser Auffassung entspricht auch Freuds grundlegende Methode der Erklärung der psychischen Struktur des Individuums. Bei aller grundsätzlichen Berücksichtigung des Einflusses konstitutioneller Faktoren ist das für Freud leitende Prinzip bei der [XI-132] Analyse des Individuums die Entwicklung der Trieb- und Charakterstruktur aus den Schicksalen – speziell den frühkindlichen – zu erklären, die das Individuum im Zusammenstoß mit der Umwelt erleidet. Auf eine kurze Formel gebracht, ist das Prinzip der analytischen Methode: Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal, das heißt aus den äußeren, auf den Menschen einwirkenden Faktoren.

Bei näherem Zusehen erweist sich aber, dass diese Formel zu allgemein ist und tatsächlich zwei verschiedene Erklärungsprinzipien einschließt, die in der psychoanalytischen Deutung nebeneinander und durcheinander angewandt werden. Das eine hier gemeinte Prinzip besagt folgendes: Der Mensch muss sich, vom Drang nach der Befriedigung seiner Bedürfnisse und speziell seiner sexuellen Bedürfnisse getrieben, mit der Umwelt auseinandersetzen, die ihm teils als Mittel der Befriedigung, teils als die Befriedigung verhindernd, entgegentritt. In diesem Prozess der Auseinandersetzung[6] mit der Außenwelt kommt es zu bestimmten Impulsen und Ängsten, bestimmten freundlichen und feindseligen Einstellungen gegenüber der Außenwelt oder – um es noch anders auszudrücken – zu einer bestimmten Art von Objektbeziehung. Ein Beispiel für dieses Erklärungsprinzip stellt der Ödipuskomplex dar.

Freud geht davon aus, dass das Kind (aus Gründen der Einfachheit spricht er hier nur vom kleinen Jungen) seine sexuellen Wünsche auf seine Mutter richtet. Bei dem Versuch, den seinen Wünschen entsprechenden Impulsen Raum zu geben, gerät er mit seinem Vater in Konflikt, der ihm die Befriedigung seiner Wünsche verbietet und ihm Strafe androht. Diese Erfahrung mit dem verbietenden Vater erzeugt eine bestimmte psychische Reaktion im Kind, eine bestimmte Beziehung zum Vater, nämlich eine des Hasses und der Feindseligkeit. Die gegen den Vater gerichteten feindseligen Impulse stoßen auf dessen Überlegenheit, erzeugen im Jungen Angst und zwingen ihn, diese Impulse zu verdrängen; er unterwirft sich stattdessen dem Vater oder identifiziert sich mit ihm. Feindseligkeit, Unterwerfung, Identifikation sind die Ergebnisse des Zusammenstoßes des von seinen sexuellen Wünschen getriebenen Jungen mit einer bestimmten Außenweltkonstellation. Ganz unabhängig von der Frage, inwieweit die allgemeine Gültigkeit der Annahme eines Ödipuskomplexes gerechtfertigt ist und ob Freuds Annahme stimmt, dass der Ödipuskomplex bereits grundsätzlich eine ererbte Aneignung ist, bleibt es doch eine Tatsache, dass Freud die Intensität und besonderen Qualitäten der Erfahrung des Ödipuskomplexes im Einzelnen den Besonderheiten seiner Lebenserfahrungen zuordnet.

Ganz anders lautet das Erklärungsprinzip, das Freud bei der Erklärung des Zusammenhangs von Triebstruktur und Lebenserfahrungen anwendet. Bei diesem zweiten Prinzip nimmt er an, dass die Außenwelt auf die Sexualität einwirkt und sie in einer ganz bestimmten Weise verändert und dass bestimmte psychische Impulse die unmittelbaren Ergebnisse besonderer Formen der Sexualität sind. Dieses Erklärungsprinzip setzt die Freudsche Libidotheorie voraus. Bei dieser Theorie wird davon ausgegangen, dass die Sexualität verschiedene Entwicklungsphasen durchläuft. Die orale, anale, die phallische und die genitale Entwicklungsphase sind jeweils an erogenen Zonen orientiert; außerdem zeigen sich – mehr oder weniger an diese erogenen Zonen geknüpft – bestimmte sexuelle Partialtriebe wie Sadismus, Masochismus, Voyeurismus und Exhibitionismus. Völlig unabhängig von den Bedingungen, die eine Außenwelt [XI-133] stellt, durchläuft der Einzelne auf Grund gegebener biologischer Tatsachen alle diese Phasen, bis schließlich die reife genitale Sexualität zum vorherrschenden Trieb wird. Insofern allerdings die Außenwelt teils durch Versagen, teils durch Verwöhnen die verschiedenen Phasen der Sexualität beeinflusst, kommt es in der einen oder anderen Form zu Fixierungen an diese Phasen (obwohl solche Fixierungen nach Freud ausdrücklich auch durch konstitutionelle Stärke oder Schwäche bestimmter erogener Zonen bestimmt sein können). Im Unterschied zur normalen Entwicklung behalten diese Phasen eine ungewöhnliche Stärke und werden zur Quelle für die Entwicklung wichtiger psychischer Impulse – sei es auf dem Wege der Sublimierung, sei es durch Reaktionsbildung. Auf diese Weise erklärt Freud die Existenz so wichtiger Triebe oder Charakterzüge wie Gier, Sparsamkeit, Ehrgeiz, Ordentlichkeit usw.

Mit dem gleichen analytischen Erklärungsprinzip werden auch bestimmte Haltungen und[7] bestimmte Beziehungen zu anderen Menschen erklärt. So werden Sparsamkeit und Geiz als die Sublimierung des Triebes, den Kot zurückzuhalten, verstanden. Eine verächtliche Einstellung zu Menschen wird dadurch erklärt, dass diese Menschen für den Betreffenden unbewusst Kot bedeuten, und die Abscheu, die diesem galt, auf die Menschen übertragen wird. Eine Haltung, die dadurch charakterisiert ist, dass ein Mensch die Einstellung hat, er brauche zur Erreichung seiner Ziele sich nicht anzustrengen, denn das von ihm Gewünschte werde sich ganz plötzlich irgendwann einmal zutragen, wird als Sublimierung der Lust an einer plötzlichen Stuhlentleerung nach einer langen Stuhlzurückhaltung gedeutet.

Der Unterschied zwischen beiden Erklärungsprinzipien liegt auf der Hand. Im einen Fall wird eine psychische Erscheinung als Reaktion des Menschen auf die Umwelt verstanden, die sich der Durchsetzung seiner Bedürfnisse[8] in der einen oder anderen Weise gegenüber verhält. Im anderen Fall wird die psychische Erscheinung [XI-134] unmittelbar aus der Sexualität erklärt; sie ist nicht eine Reaktion auf die Umwelt, sondern ein Ausdruck der durch die Umwelt modifizierten Sexualität.

img1

Eine schematische Skizze[9] soll das Gesagte noch verdeutlichen. Die unter I fallenden Reaktionen werden von Freud als die direkten Abkömmlinge der Sexualität verstanden, die ihrerseits durch Umwelteinflüsse modifiziert wird. Die unter II fallenden Reaktionen sind Objektbeziehungen, die nicht direkte Produkte der Sexualität sind, sondern Reaktionen auf die Umwelt, die im Prozess der Durchsetzung der Triebe entstehen.

Die hier auseinandergehaltenen beiden Erklärungsprinzipien gehen in der psychoanalytischen Literatur durcheinander, ohne dass ihre Verschiedenheit bemerkt wurde. (Auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Objektbeziehungen und Sublimierungen und Reaktionsbildungen der genitalen Sexualität habe ich bereits in meinem Beitrag Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie (1932b, GA I, S. 59-77) hingewiesen.) Dies führte zu vielen Unklarheiten, die oft das Verständnis der analytischen Theorie erschwerten. Ein gutes Beispiel für das Durcheinandergehen beider Erklärungsprinzipien liefert der von Freud konzipierte und von anderen, speziell von Abraham und Jones, weitergeführte Begriff des analen Charakters. Freud fand ein häufig wiederkehrendes Syndrom von drei Charakterzügen, nämlich Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn, verknüpft mit bestimmten Erlebnissen in den Vorgängen der Stuhlentleerung und der Reinlichkeitsgewöhnung. Der Eigensinn wird verstanden als eine Reaktion auf die Umwelt, die sich den physiologischen Bedürfnissen des Kindes in einer feindlichen und überstrengen Weise entgegenstellt. Das Erklärungsprinzip hier ist dasselbe, wie wir es oben beim Ödipuskomplex dargestellt haben. Die anale Funktion spielt nur die Rolle, dass an ihr als einem wichtigen Bedürfnis sich die Auseinandersetzung mit der Umwelt in einer bestimmten Weise vollzieht. Die Sparsamkeit hingegen wird als direktes Produkt der Analerotik, genauer gesagt, der Lust am Zurückhalten des Stuhls, angesehen, und nur die Tatsache, dass gerade diese Lust so stark ist, durch Einflüsse der Umwelt erklärt.

Wir begnügen uns an dieser Stelle mit einer Beschreibung dieser zwei Erklärungsprinzipien und wollen zunächst, bevor wir zu einer kritischen Diskussion dieser zwei Prinzipien[10] kommen, eine weitere Abweichung von der Freudschen Theorie darstellen, die für das Problem einer Sozialpsychologie wichtig ist.

b) Das bürgerliche Menschenbild Freuds
und Freuds Desinteresse am Charakter der Gesellschaft

Wir sagten bereits, dass Freud die Triebstruktur vom Lebensschicksal her erklärt, dass heißt von den äußeren Einflüssen, die auf den Einzelnen bei der Arbeit einwirken. Diese Aussage muss jedoch entscheidend eingeschränkt werden. In Wirklichkeit trifft sie nur insofern zu, als sie zur Erklärung individueller Unterschiede in der Triebstruktur jener Menschen dient, die Freud in seiner Praxis oder andernorts beobachtete. Fand Freud zum Beispiel einen Patienten, der eine ungewöhnlich starke Angst [XI-135] vor der väterlichen Autorität zeigte, sodann einen anderen, der mit jedem, mit dem er in Kontakt trat, in völlig überzogener Weise zu rivalisieren anfing, dann erklärte Freud diese Unterschiede in der Triebstruktur (zusammen mit einem Verweis auf die Möglichkeit einer konstitutionellen Stärke) mit den individuellen Besonderheiten im Lebensschicksal des Patienten. Im ersten Fall fand er – schematisch gesprochen –, dass der Patient einen sehr strengen Vater gehabt habe, vor dem er sich sehr fürchtete. In einem anderen Fall war ein Geschwister geboren, das bevorzugt wurde und gegen das der Patient eine heftige Rivalität entwickelte. War Freud hingegen nicht an den individuellen Unterschieden seiner Patienten interessiert, sondern hatte er die psychischen Züge im Auge, die – unabhängig von diesen Unterschieden – allen Patienten gemeinsam waren, gab er eigentlich das historische, das heißt das gesellschaftliche Erklärungsprinzip auf und sah in diesen gemeinsamen Zügen die „Natur des Menschen“, wie sie physiologisch und anatomisch konstituiert ist. Mit anderen Worten war also für Freud die Charakterstruktur, wie sie im Allgemeinen für eine Gesellschaft normaler Menschen typisch ist und wie er sie beobachtete, als solche nicht wert, analysiert zu werden; vielmehr war für ihn der bürgerliche Charakter im wesentlichen mit der menschlichen Natur identisch.

Wir möchten uns hier nur mit einigen wichtigen Beispielen für diese These begnügen. Freud betrachtet den Ödipuskomplex als einen grundlegenden Mechanismus für das gesamte innere Leben. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass besondere Modifikationen des Ödipuskomplexes zurückverfolgt werden können auf Besonderheiten im Lebensschicksal; doch hat der moderne Mensch den Ödipuskomplex vererbt bekommen, zumindest nimmt dies Freud hypothetisch an.

Ein anderes Beispiel für den gleichen Erklärungsgrundsatz sind Freuds Ansichten zur Psychologie der Frau. Er nimmt an, dass die Frau auf Grund von anatomischen Unterschieden notwendigerweise Gefühle der Minderwertigkeit, des Hasses und des Neides gegenüber dem Mann – das heißt gegenüber seinen Genitalien – entwickeln muss und dass die weiblichen Minderwertigkeitsgefühle wegen der fehlenden männlichen Sexualorgane notwendige Phänomene sind. „Die Anatomie ist das Schicksal“, sagt Freud (1924d, S. 400), ein Wort Napoleons variierend.

Auch Freuds Verabsolutierung des bürgerlichen Charakters ist ein Beispiel für das gleiche Erklärungsprinzip: Er sieht beim Menschen in erster Linie seinen Narzissmus, das heißt [den Menschen] als grundsätzlich von seinem Mitmenschen und von denen, die ihm fremd sind, isoliert. Nicht einmal hier fragt er nach dem gesellschaftlichen Anteil dieses Phänomens, sondern akzeptiert diesen entfremdeten Menschen, wie er ihn in unserer Gesellschaft vorfindet, als ein notwendiges Ergebnis der menschlichen Natur.

In dieser Hinsicht geht Freud bei seiner Todestriebtheorie sogar noch einen Schritt weiter. Während er – wie er selbst bekennt – zu seiner eigenen Überraschung die Rolle der nicht-sexuellen Aggression im menschlichen Innenleben mehr oder weniger übersah, sieht er sie jetzt in ihrer ganzen Reichweite. Er spürt jedoch nicht ihre gesellschaftlichen Bedingungen auf, sondern nimmt an, dass sie hinsichtlich ihrer Quantität biologisch herzuleiten ist, nämlich aus dem Todestrieb, und dass ein Mensch – schematisch gesprochen – nur die Alternative hat, diese Tendenzen auf den Tod hin [XI-136] mit erotischen Trieben zu vermischen und destruktiv nach außen zu wenden oder masochistisch gegen sich selbst.

Unsere Aussage, Freud identifiziere den bürgerlichen Charakter mit der Natur des Menschen, bedarf einer gewissen Einschränkung. Man müsste genauer sagen, Freud identifiziert die Grundzüge des bürgerlichen Charakters mit der Natur des Menschen, während er bestimmte modifizierende Einflüsse auf die biologisch gegebene Triebstruktur der Kultur zuschreibt. Dies führt uns dazu, wenigstens kurz auf die Vorstellungen Freuds über die Beziehung der Kultur zur Triebstruktur einzugehen. Diese lässt sich schematisch etwa so fassen: Kulturentwicklung bedeutet wachsende Verdrängung der Triebe. Kulturelle Errungenschaften sind Sublimierungen von Trieben, die nur auf Grund von Verdrängung der Triebregungen möglich sind. Die Fähigkeit zu sublimieren ist freilich eine Begabung, die bei den Menschen nur selten vorkommt. Das Scheitern der Sublimierung führt aber zur Neurose. Freud geht sogar so weit und erwähnt die Möglichkeit, dass weitere Kulturentwicklung zu einer derart umfassenden Triebverdrängung führen könnte, dass sich die Menschen nicht mehr fortpflanzten. Es ist ohne weiteres zu erkennen, dass Freud hier Rousseaus Bild vom „Naturmenschen“ vor Augen hatte, bei dem es überhaupt keine Verdrängung gab, und dass seine Vorstellung von der Wirkung der Kultur auf die Triebe völlig mechanistisch war. Er macht keinen Versuch, qualitativ zu verbinden, was das Besondere in der Triebstruktur und was das Besondere in der gesellschaftlichen Organisation ist; vielmehr sieht er alles nur quantitativ unter dem Gesichtspunkt des Ausmaßes der Verdrängung. Mit dieser Theorie drückt Freud nicht nur eine pessimistische Einstellung bezüglich einer glücklicheren Zukunft der Menschheit aus, sondern wird geradezu zum Apologeten der bürgerlichen Moral. Mit der Alternative „entweder sexuelle Verdrängung oder keine Kultur“ gibt er eine psychologische Rationalisierung für die Notwendigkeit bürgerlicher Moral oder doch wenigstens für deren Wertschätzung.

Freud sieht die bürgerlichen Menschen einem bestimmten äußeren Druck ausgesetzt, der zur Verdrängung führt und der sie von „natürlichen“ Menschen unterscheidet. Gleichzeitig aber betrachtet er bestimmte Züge – zum Beispiel das Ausmaß der Destruktivität, das nach außen oder nach innen gewendet wird, oder Aspekte der Psychologie der Frau – als unmittelbaren Ausdruck der Natur des Menschen. Zusammen mit anderen Zügen konstruiert er aus dem bürgerlichen Menschen das Bild einer Natur des Menschen, wobei diese nur in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmte Modifikationen erfährt. Freud hat ein statisches und geschlossenes Bild vom Menschen, so dass er auf Grund der Festgefügtheit dieses Bildes auch alle Möglichkeiten der inneren Entwicklung des Menschen für die Zukunft voraussagen kann.

c) Kritik der Freudschen Rückführung psychischer Strebungen des Einzelnen und der Gesellschaft auf die Sexualität

Dass Freud die Grundzüge der psychischen Struktur des bürgerlichen Menschen als schon immer für die Natur des Menschen kennzeichnend ansah, ist ein Vorurteil, das er mit vielen bürgerlichen Psychologen (und hier vor allem mit jenen, die an der [XI-137] Instinkttheorie festhalten) sowie mit Anthropologen und Philosophen seiner Zeit gemeinsam hat. Mit der Annahme, eine große Zahl der wichtigsten Triebe und Charakterzüge habe direkt mit der Sexualität und ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu tun, wird die Vorstellung der Existenz einer „Natur des Menschen“ selbst – insofern es um diesen Aspekt der Freudschen Interpretation geht – zu einer Voraussetzung für diesen Teil der Libidotheorie. Zugleich formt eine andere Vorstellung, die für das philosophische Denken und jene gesellschaftlichen und intellektuellen Hintergründe, die Freud bestimmten, kennzeichnend sind, die Basis für seine Libidotheorie, nämlich jene des bürgerlichen Materialismus, der geistige und psychische Phänomene als direkte Produkte physischer Phänomene erklärt. Selbst wenn – wie wir zu zeigen versuchten – die unmittelbare Zurückführung des Psychischen auf das Sexuelle bei Freuds Interpretationsmethode nur einen Aspekt repräsentiert, so stellt sie doch einen derart wichtigen Aspekt dar, dass wir mit Recht behaupten können, der bürgerliche Materialismus bilde eine entscheidende und wichtige Begründung für das gesamte Freudsche Denken. In seiner Todestriebtheorie führt er Aggressivität und Phänomene wie Sadismus und Masochismus auf gegebene biologische Tatsachen zurück, so dass diese Art zu denken noch mehr in den Vordergrund tritt.

Zu welchen Ergebnissen führte die Annahme einer derartigen, grundsätzlich immer gültigen Natur des Menschen in Verbindung mit der Rückführung wichtiger psychischer Strebungen direkt auf sexuelle Quellen? Im Hinblick auf die Psychologie des Einzelnen war das Ergebnis, dass Freud die Neigung hatte, eine große Anzahl psychischer Phänomene zu übersehen, bei denen die Rückführung auf erogene Zonen oder Partialtriebe nicht einmal spekulativ möglich war. Diesbezüglich ist die Aggressivität das eindrücklichste Beispiel. Bei der Erörterung seiner Todestriebtheorie merkt Freud selbst an, wie eigenartig es sei, dass ihm die Bedeutung der Aggressivität für das menschliche Innenleben so viele Jahre hatte entgehen können. Mit der Todestriebtheorie gelang es ihm, die Aggressivität direkt wieder auf eine organische Quelle – den biologisch verankerten Todestrieb – zurückzuführen. Damit verfolgt er das gleiche Erklärungsprinzip, mit dem er Züge wie Ehrgeiz, Gier, Sparsamkeit usw. erklärt hatte. Während Freud hier eine Korrektur einbrachte, wenn auch eine in der falschen Richtung, tat er es bei einer großen Zahl anderer psychischer Phänomene nicht. Das Ergebnis war, wie wir später zeigen werden, dass er eine Reihe von Phänomenen nicht zufriedenstellend und ausreichend verstand und andere, die zum Bild der psychischen Struktur gehörten, völlig unter den Tisch fallen ließ.

Die Auswirkungen waren hinsichtlich des psychologischen Verstehens gesellschaftlicher Phänomene noch verhängnisvoller. Von seinem Ausgangspunkt, dass die Natur des Menschen auf Grund gegebener biologischer Bedingungen grundsätzlich gleichbleibend ist, konnte Freud kaum zu einer psychologischen Interpretation gesellschaftlicher und historischer Phänomene kommen. Seine Art, die Natur des Menschen zu sehen, wurde zum Modell, mit dem er gesellschaftliche Phänomene erklärte. Charakteristische Beispiele dieser psychologischen Interpretationsmethode sind etwa die folgenden: Der Krieg ist als das „Ergebnis“ der menschlichen Aggressionstriebe zu „erklären“; eine Revolution ist das Ergebnis eines Hasses gegen den Vater; der Kapitalismus ist das Ergebnis einer außerordentlich starken analen Libido bei den [XI-138] Menschen dieser Epoche. Wann immer fremde, das heißt von der bürgerlichen Kultur abweichende Gesellschaftsformen untersucht wurden, hielt man es nicht für notwendig, sie zu analysieren, das heißt zu fragen, wie eine bestimmte Gesellschaftsstruktur eine bestimmte Charakterstruktur hervorbringt. Stattdessen begnügte man sich mit Analogien und bemühte sich zu zeigen, dass es zwischen dem Verhalten von Menschen in einer Gesellschaft und Symptomen neurotischer einzelner Menschen Ähnlichkeiten gibt. Auf Grund von Analogieschlussbildungen nahm man an, dass sogar die Gründe für das Verhalten der Menschen anderer Kulturen die gleichen sind wie für das neurotische Verhalten von Patienten. (Vgl. meine Polemik in Die Entwicklung des Christusdogmas (1930a, GA VI, S. 62-66) gegen die Analogiedeutungen, die Theodor Reik bei seiner Erklärung des Christusdogmas macht.) Diese Art Psychologismus bei der Deutung gesellschaftlicher Phänomene führt notwendigerweise zu einer völligen Verleugnung der determinierenden gesellschaftlichen Ursprünge der zu untersuchenden Phänomene oder doch zumindest zu einer falschen Einschätzung ihrer Wichtigkeit.

Dieser Irrweg, auf dem sich die orthodoxe analytische Interpretation gesellschaftlicher Phänomene selbst vorfand, ist umso bemerkenswerter, als einer der Aspekte Freudscher Deutungsmethoden, nämlich jener, bei dem psychische Phänomene als Ergebnis eines Zusammenstoßes eines nach Befriedigung seiner Bedürfnisse suchenden Menschen mit der bestehenden Außenweltkonstellation verstanden werden, zu einer angemessenen sozialpsychologischen Methode hätte führen können. Werden die psychischen Impulse und die gesamte Charakterstruktur eines Menschen von der besonderen Form des individuellen Schicksals bestimmt, dann werden jene, einer Gesellschaft oder Klasse gemeinsamen Züge, das heißt die für diese Menschen typische Charakterstruktur, vom gemeinsamen Lebensschicksal dieser Gruppe bestimmt, also von ihrer Art zu leben; diese ist ihnen letztlich von der entscheidenden Grundlage vorgeschrieben: von der Produktionsweise mit ihren jeweiligen Produktivkräften und von der sich daraus ergebenden Gesellschaftsstruktur.

2. Die Relevanz der analytischen Sozialpsychologie für die Neuformulierung einzelner Aspekte der psychoanalytischen Theorie

Freud entwickelte für die Analyse der Triebstruktur eine bis dahin unbekannte Methode, bei der detailliert das individuelle Lebensschicksal aus der individuellen Lebenspraxis untersucht wurde. Die Anwendung desselben Prinzips für die Analyse der für eine gesellschaftliche Gruppe typischen Charakterstruktur erfordert eine ebenso erschöpfende Kenntnis der gesamten Lebenspraxis dieser Gruppe; diese aber setzt ihrerseits[11] die Analyse der fundamentalen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen dieser Lebenspraxis voraus. Die gleiche methodische Rolle, die bei der Analyse des Individuums die individuelle Lebensgeschichte spielt, spielt bei der Analyse der für eine Gruppe typischen Charakterstruktur die ökonomische und gesellschaftliche Struktur dieser Gruppe.

Das Verständnis der Lebenspraxis einer Gruppe ist allerdings ein außerordentlich viel komplexeres und schwierigeres Unterfangen als das der Lebensgeschichte eines Individuums. Es setzt die Analyse der ökonomischen und gesellschaftlichen Struktur dieser Gruppe voraus. Eine Kenntnis des „Milieus“, das heißt gewisser manifester gesellschaftlicher und kultureller Erscheinungen, ohne dass diese auf ihre dynamisch entscheidenden Bedingungen hin analysiert werden, und ebenso auch die Kenntnis einzelner isolierter ökonomischer Faktoren wie Fülle oder Spärlichkeit der Lebensmittel, Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit des Bodens, technischer Entwicklung usw., sind völlig unzureichend. Verständnis der Lebenspraxis in dem hier gemeinten Sinne heißt Analyse der Dynamik der gesellschaftlichen Struktur.

Die konsequente Anwendung dieser Methode führt aber zu gewissen Abweichungen von der Freudschen Theorie und zwar in den Punkten, die verantwortlich dafür sind, dass Freud und eine Reihe anderer Analytiker beim Versuch der psychologischen Analyse gesellschaftlicher Erscheinungen gescheitert sind. Die wichtigsten Probleme, in denen eine solche Abweichung von der Freudschen Theorie erfolgen muss, sind (a) die Freudsche Annahme, dass der bürgerliche Charakter im wesentlichen die Grundzüge der menschlichen Natur darstellt, (b) die Freudsche Einschätzung der Rolle der Familie und (c) die Freudsche Libidotheorie.

a) Die Neuformulierung des Ödipuskomplexes, des primären Narzissmus und der Psychologie der Frau

Die These, dass der bürgerliche Mensch mit den für ihn charakteristischen fundamentalen Mechanismen, die Freud als für den Menschen charakteristisch ansieht, ein historischer und nicht ein natürlicher Mensch ist, bedarf an dieser Stelle keines Beweises. Es mag aber für das Verständnis des Freudschen Bildes vom Menschen nützlich sein zu zeigen, dass und wie diejenigen Züge und Komplexe, die er als Erbgut des Menschen überhaupt ansieht, aus der spezifischen Daseinsform der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen sind. Wir müssen uns allerdings auch hierbei mit wenigen andeutenden Bemerkungen begnügen, die das Prinzipielle des Gedankenganges deutlich werden lassen sollen.

(1) Der Mechanismus, dem Freud die größte Bedeutung zugemessen hat, ist der Ödipuskomplex. Er enthält, wenn wir ihn in seiner ursprünglichen Form nehmen und uns der Einfachheit halber am Beispiel des Knaben orientieren, eine doppelte These: einmal die, dass der kleine Knabe von der Mutter sexuell angezogen werde und sie zum wichtigsten Objekt seiner sexuellen Wünsche nehme, und zweitens, dass er dabei auf den Vater als Rivalen stößt, diesen aus Gründen der sexuellen Eifersucht hasst, aber gleichzeitig aus Angst vor ihm und speziell den von ihm ausgehenden Kastrationsdrohungen seine sexuellen Wünsche, wie auch die Feindseligkeit gegen den Vater unterdrückt, sich dem Vater unterwirft beziehungsweise sich mit ihm durch Bildung des Über-Ichs identifiziert. Während Freud annimmt, dass die sexuelle Bindung des Knaben an die Mutter ein allgemein menschliches Phänomen sei, glaubt er, dass die Unterdrückung und feindseligen Wünsche gegen den Vater und die daraus resultierende Über-Ich-Bildung einmal in der Urgeschichte der Menschheit erfolgt sei, aber von da an zum erblich fixierten Bestand der menschlichen Natur gehört.

Wir wollen hier nicht näher auf die Tatsache eingehen, dass die anthropologische Forschung zeigt, dass der Ödipuskomplex im Freudschen Sinne kein universeller, bei allen Völkern zu findender Komplex ist. Wir wollen auch nicht die Frage erörtern, ob er gewichtsmäßig in der bürgerlichen Gesellschaft die große und allgemeine Rolle spielt, die Freud ihm zuschreibt. Wir wollen davon ausgehen, dass der Ödipuskomplex auf jeden Fall in einer sehr großen Zahl von Fällen zu beobachten ist und uns fragen, wie er sich aus den für die bürgerliche Gesellschaft spezifischen Verhältnissen erklärt.

Was zunächst die Bezogenheit der sexuellen Wünsche des Kindes auf den gegengeschlechtlichen Elternteil anlangt, so gibt es eine Reihe von gesellschaftlich bedingten Tatsachen, die die Stärke dieser Wünsche erklären. Die erste dieser Tatsachen ist das Tabu, das auf der sexuellen Betätigung des Kindes und besonders auf sexuellen Spielen mit anderen Kindern beruht. Wir wissen von einer großen Reihe von Völkern, bei denen die Kinder einen im Rahmen ihrer physiologischen Entwicklung liegenden spielerischen sexuellen Kontakt mit anderen Kindern haben, der frei und ohne praktische oder moralische Einmischung seitens der Umwelt vor sich geht. In der bürgerlichen Familie ist diese natürlich gegebene Richtung der kindlichen Sexualbetätigung praktisch zum Teil und moralisch völlig blockiert. Können andere Kinder nicht zu [XI-141] Objekten der sexuellen Strebungen werden, so werden die sexuellen Wünsche und Phantasien leichter in die Richtung auf die Eltern gedrängt.

Gewiss würde der eben erwähnte Umstand noch nicht befriedigend erklären, warum das Tabu gegenüber sexuellen Wünschen mit Bezug auf die Eltern nicht auch diese Wünsche in gleicher Weise schwächt wie die mit Bezug auf Gleichaltrige, wenn nicht noch andere wichtige Umstände hinzukämen. Der eine ist die Tatsache, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die Familie der einzige Kreis ist, in dem überhaupt enge und nahe Gefühlsbeziehungen bestehen. Jeder, der nicht zum Familienkreis gehört, der „Fremde“, steht außerhalb der gefühlsmäßigen Reichweite des Individuums und auch des Kindes. Nur wer zum eigenen Clan gehört, wird geliebt, und nur von ihm kann Liebe erwartet werden. Diese Einengung menschlicher Nähe, Solidarität und Liebe auf den Familienkreis und die mit ihm einhergehende Beziehungslosigkeit zum Fremden trägt dazu bei, dass die Familienmitglieder auch zu den wichtigsten Objekten der sexuellen Wünsche werden können. In vielen Fällen jedoch hält Freud die Intensität der seelischen Beziehungen innerhalb der Familie auf Grund seiner theoretischen Voraussetzungen für sexuell bedingt, wo dies gar nicht der Fall ist.

Freud hat in der Tat mit seiner Theorie von der Allgemeinheit und Stärke der inzestuösen Wünsche einen der entscheidenden psychischen Züge der bürgerlichen Gesellschaft gesehen: die Tatsache der relativen Beschränktheit der gefühlsmäßigen Expansion auf die Familie, welche nur die andere Seite der Tatsache der Gestörtheit der positiven Gefühlsbeziehung zum „Fremden“ ist. Er hat aber diese Tatsachen durch das mangelnde Verständnis ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit wie durch die Erklärung aller positiven Objektbeziehung aus sexuellen Wünschen nur in theoretisch verzerrter und dadurch unbefriedigender Form theoretisch ausdrücken können.

Ein anderer Umstand, der für die Entstehung beziehungsweise Verstärkung inzestuöser Wünsche bei Kindern von großer Bedeutung ist und der merkwürdigerweise von Freud kaum betont wurde, ist in dem Verhalten der Eltern zu suchen. Während die Fälle, in denen Eltern bewusst und manifest sich sexuell ihren Kindern nähern und sie in der einen oder anderen Form verführen, relativ selten sind, allerdings bei weitem nicht so selten, wie das gewöhnlich geglaubt wird, findet man in einer sehr großen Zahl von Fällen, dass der Vater beziehungsweise die Mutter sexuelle Impulse dem Kind gegenüber haben, die im wesentlichen unbewusst sind. Die mangelnde Bewusstseinsqualität ändert aber nichts daran, dass die Impulse bestehen und dass sie ihrerseits eine bestimmte verführende und stimulierende Wirkung auf das Kind haben. Eine sehr minutiöse Beobachtung des Verhaltens von Eltern zeigt, auf wie vielen Wegen die subtile Verführung beziehungsweise sexuelle Stimulierung der Kinder durch die Eltern erfolgt und dass ein großer Teil von dem, was wir an inzestuösen Wünschen bei Kindern finden, schon die Reaktion auf diese Stimulierung ist.

Die Tatsache, dass sich in Eltern sexuelle Wünsche mit Bezug auf die Kinder entwickeln, ist aber selbst wiederum in der gesellschaftlichen Situation begründet, nämlich in der für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen relativen sexuellen Unbefriedigtheit der meisten Menschen. Indem von der frühen Kindheit an die Sexualität mit dem Stigma des Schlechten und Verbotenen belegt wird, indem die Wahl des Ehepartners zum großen Teil ganz unabhängig von der gegenseitigen sexuellen Attraktion [XI-142] erfolgt, indem sexuelle Befriedigung außerhalb der Ehe faktisch blockiert oder mit dem Stigma des Verbotenen versehen ist, indem die gesamte Lebenspraxis des bürgerlichen Menschen die Fähigkeit zum Genuss und Glück des Sexuellen wie jedes anderen aufs Äußerste reduziert, entsteht eine Situation, in der für eine außerordentlich große Anzahl von Menschen die Ehe eine nur sehr beschränkte Befriedigung ihrer Sexualität erlaubt. Diese unbefriedigte Sexualität ist eine der Bedingungen dafür, dass die Kinder zum Objekt, wenn auch meistens unbewusster, sexueller Empfindungen werden.

Wenn sexuelle Wünsche der Kinder mit Bezug auf die Eltern so zu einem erheblichen Teil ihre Erklärung in der spezifischen Struktur der bürgerlichen Familie finden, so ist auch die andere Seite des Ödipuskomplexes, die feindselig rivalisierende Einstellung gegen den anderen Elternteil, in der gleichen Struktur begründet. Gewiss bedingen die sexuellen Wünsche, soweit sie vorhanden sind, ein gewisses Maß an rivalisierender Feindseligkeit mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, also etwa Eifersucht des Knaben gegen den Vater. Aber man übersieht ganz außerordentlich wichtige Faktoren, wenn man das Maß an Feindseligkeit und Rivalität, das man tatsächlich im Verhältnis von Knaben gegen ihren Vater findet, in erster Linie als Produkt der sexuellen Eifersucht versteht.

Ein wesentlich bedeutenderer Faktor für die Erzeugung dieser Feindseligkeit liegt in der Struktur der bürgerlichen Familie begründet. Die Situation des Kindes ist die der Unterworfenheit unter die Gewalt der Eltern und speziell unter die väterliche Gewalt. Hatte der römische Familienvater noch Gewalt über Leben und Tod des Sohnes, so ist in der bürgerlichen Familie diese Gewalt ihrem praktischen Umfang nach gewiss eingeschränkt. Die Grundstruktur des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn ist aber die gleiche. Abgesehen von dem Anspruch auf die Erhaltung des Lebens hat das Kind keine Forderungen an die Eltern, die von der Gesellschaft garantiert sind. Auch der fürsorglichsten und freundlichsten Haltung der Eltern einem Kind gegenüber haftet in der bürgerlichen Familie immer noch die Qualität der Gnade an. Die Gesellschaft gibt dem Kind keinen Anspruch auf eine solche Haltung, sie stellt ein Geschenk dar und kein unabdingbares Recht. In der großen Mehrzahl der Fälle ist die Haltung der Eltern tatsächlich gar nicht die unbedingten Wohlwollens und tiefer Freundlichkeit. Das Kind ist ein Objekt ihrer Herrschaft, für die große Majorität der Menschen sogar das einzige. Die Eltern erwarten von ihm Befriedigungen, seien es grob ökonomische, seien es emotionell psychische. Der Eigenwille und die Selbständigkeit des Kindes werden in mehr oder weniger grober Weise von den ersten Lebensjahren an gebrochen, seine Freiheit und Individualität unterdrückt.

Dieses in der Struktur der bürgerlichen Familie verankerte Verhältnis von Eltern und Kindern wird noch durch eine Reihe von Umständen, die in der gesellschaftlichen Gesamtstruktur begründet liegen, verstärkt. Die Hilflosigkeit und Ohnmacht des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft, die Tatsache, dass er das Objekt von persönlichen und unpersönlichen Mächten ist, die sein Leben bestimmen und auf die er keinen Einfluss hat, erzeugt eine seelische Struktur, in der neben der masochistischen Tendenz, sich anderen zu unterwerfen, die sadistische, Schwache und Hilflose zum willenlosen Objekt der eigenen Herrschaft zu machen, eine entscheidende Rolle [XI-143] spielt. Das Kind ist das wichtigste Objekt der sadistischen Tendenzen in diesem Sinne.

Eng damit verknüpft ist das außerordentliche Maß an Feindseligkeit, das in einer auf den Kampf einer gegen alle aufgebauten Gesellschaft im Einzelnen erzeugt wird. Diese Feindseligkeit kommt notwendigerweise auch in der Haltung der Eltern dem Kind gegenüber zum Ausdruck. Ob diese Feindseligkeit sich in brutalen Szenen oder in subtiler Weise äußert, ob sie häufig manifest in Erscheinung tritt oder nur als Drohung lauert, die das Kind zur Unterwerfung zwingt, ist von sekundärer Bedeutung. Hierzu kommt noch ein weiteres. Eine auf dem Prinzip der individuellen Konkurrenz aufgebaute Gesellschaft erzeugt eine Haltung ständiger Rivalität mit anderen, die schon recht früh dem Kind eingepflanzt wird. Auf der Basis dieser Haltung entsteht ein ständiges feindseliges Sichmessen und Rivalisieren mit jedem, der die Rolle des Rivalen spielen kann, seien es Geschwister, sei es der Vater.

Die hier andeutungsweise vorgebrachten Gesichtspunkte sollten zu zeigen versuchen, dass ein von Freud als so zentral angesehenes Phänomen wie der Ödipuskomplex, das er im wesentlichen in der menschlichen Natur begründet sieht, seine entscheidenden Grundlagen in der spezifischen Struktur der bürgerlichen Familie und der bürgerlichen Gesellschaft hat. Für andere Züge, die Freud der menschlichen Natur zurechnet, ist dieser Zusammenhang noch offensichtlicher. Das außerordentliche Maß an Feindseligkeit, das Freud auf das Vorhandensein eines biologisch bedingten Todestriebes zurückführt, wird durch die Lebenspraxis der bürgerlichen Gesellschaft ständig und mit Notwendigkeit erzeugt. Die Annahme, dass sie eine natürliche sei, liegt in der gleichen Verewigung des bürgerlichen Charakters begründet, wie die ältere bürgerliche Theorie, dass das Prinzip homo homini lupus [„der Mensch ist des Menschen Wolf“ – Thomas Hobbes] das Grundprinzip allen gesellschaftlichen Zusammenlebens sei.

(2) Das Bild Freuds vom Menschen enthält neben dem eben erwähnten Zug der primären Feindseligkeit und Destruktivität auch den, der Mensch sei primär narzisstisch. Freud geht davon aus, dass der Mensch ursprünglich nur sich liebe und auf sich bedacht sei, und dass alle Beziehungen zu Objekten, speziell das Gefühl der Liebe und der Solidarität mit anderen Menschen, eine sekundär auf dieser Basis aufgebaute Haltung sei, die leicht wieder verschwindet und der fundamentalen narzisstischen Haltung Platz macht. Wir können hier nicht näher darauf eingehen, dass Freud in seinem Begriff des Narzissmus zwei Dinge miteinander vermischt: die Liebe zur eigenen Person und den Mangel an Beziehungsfähigkeit zum Mitmenschen, ja, dass er faktisch jede Beziehungslosigkeit als narzisstisches Phänomen ansieht. Er nimmt an, dass ein Wechselverhältnis besteht derart, dass, je mehr Liebe für andere da ist, desto weniger für die eigene Person und vice versa. Was wir tatsächlich finden ist dagegen, dass die Liebesfähigkeit zu anderen und zu sich eine gemeinsame Quelle hat und parallel geht und dass da, wo diese Fähigkeit gestört ist, weder anderen gegenüber noch gegenüber der eigenen Person eine echte Freundlichkeit besteht. Trotzdem hat aber Freud mit seiner Konzeption des Narzissmus einen der tiefsten und wesentlichsten Züge des bürgerlichen Menschen getroffen, seine Isoliertheit, Abgeschlossenheit, seinen monadenhaften Charakter. [XI-144]

Der bürgerliche Mensch stellt ein in sich geschlossenes, in sich und um sich kreisendes System dar, in dem der Mitmensch wie alle Dinge entfremdet und nur Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen ist. Die bürgerliche Gesellschaft hat zum ersten Mal in der Geschichte einen Menschen entwickelt, der die primitiven Bluts- und Gemeinschaftsbande gesprengt hat und sich als Individualität etabliert hat. Sie hat aber diesen individuellen Menschen gleichzeitig zu einem von anderen separierten, zum Mitmenschen in einem fundamentalen Gegensatz stehenden Wesen gemacht. Wir können hier nicht darauf eingehen zu zeigen, inwiefern dieser isolierte, beziehungslose Mensch das Produkt der Lebenspraxis, der bürgerlichen Produktionsweise und der sich darauf aufbauenden gesellschaftlichen Struktur ist. In diesem Zusammenhang kommt es uns nur darauf an zu zeigen, dass der fundamentale narzisstische Charakter des Menschen, wie ihn Freud als natürliche Eigenschaft des Menschen sieht, in Wirklichkeit eine historisch bedingte Eigenschaft des bürgerlichen Menschen darstellt.

(3) Als ein letztes Beispiel für unseren Gedankengang wollen wir die Freudsche Theorie von der Psychologie der Frau erwähnen. Hier liegen die Verhältnisse vielleicht noch klarer und einfacher als in den bisher erwähnten Beispielen. Dass die Frau sich minderwertig fühlt und häufig lieber ein Mann sein möchte, ist das selbstverständliche und notwendige Resultat ihrer gesellschaftlichen Position. Sie ist faktisch vom Mann abhängig, hat erst in den letzten Jahrzehnten angefangen, sich die ökonomische und politische Selbständigkeit zu erringen; sie ist jahrhundertelang daran gehindert worden, ihre menschlichen Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln und darauf beschränkt worden, ihre Aktivität im engsten Kreis der Familie zu entfalten und als einzige Äußerung ihrer Menschlichkeit sich in der Ebene der Gefühle zu entwickeln; sie sollte ganz auf Liebe eingestellt sein und in der Generation Freuds war ihr nicht einmal die sexuelle Genussfähigkeit zugebilligt. Sie ist von der Gesellschaft zu einem Menschen zweiten Ranges degradiert worden, und daran änderte auch nichts jene Ideologie der romantischen Reaktionäre, die die Frau als ein höheres Wesen, als die eigentliche Trägerin der Liebe usw. hinstellt. Freud hat mit seiner Annahme, dass die Frau aus anatomischen Gründen dem Mann unterlegen und deshalb auf ihn eifersüchtig sei, in Wirklichkeit nur den zahllosen Rationalisierungen der gesellschaftlichen Stellung der Frau eine neue hinzugefügt.

b) Die Neuformulierung der Rolle der Familie

Wenn die für den Menschen einer bestimmten Gesellschaft oder Klasse typische Charakterstruktur als Ausdruck der aktiven und passiven Anpassung an die gesamte Lebenspraxis dieser Gruppe verstanden wird, so erhebt sich die Frage, wie sich die Einschätzung der besonderen Bedeutung der Erlebnisse der frühen Kindheit mit dieser Auffassung verträgt und inwiefern die Freudsche Konzeption von der Funktion der Familie einer Modifizierung bedarf. Freud hatte gezeigt, und dies ist eine seiner fruchtbarsten und bedeutendsten Entdeckungen, dass die Erlebnisse des Kindes in den allerersten Lebensjahren von ausschlaggebender Bedeutung für die Formung [XI-145] seiner gesamten Trieb- und Charakterstruktur sind. Alle analytischen Erfahrungen zeigen, dass dies richtig ist, auch wenn man von der Freudschen Auffassung insofern abweicht, als man den Erlebnissen eines Kindes nach dem fünften oder sechsten Lebensjahr eine größere Rolle für die Weiterentwicklung der Charakterstruktur zuspricht, als er es tut, und die weitere Entwicklung nicht mechanistisch, als reine Wiederholung der in der früheren Kindheit geschaffenen Reaktionsweisen ansieht.

Da sich das Leben des Kindes – und des europäischen in noch höherem Maße als des amerikanischen – bis etwa zum sechsten Lebensjahr im Kreise der Familie abspielt, mussten die speziellen Konstellationen in der Familie als die Ursache für die Besonderheit der Charakterentwicklung erscheinen. Soweit es sich um die individuellen Unterschiede zwischen einzelnen Persönlichkeiten handelt, ist dies auch richtig, und in gewissen Unterschieden in der Familienkonstellation sind in diesem Sinne die „Ursachen“ für die Unterschiede in der Charakterstruktur zu finden. Wie steht es aber mit der Gesamtheit der Charakterstruktur, wie sie für eine Gesellschaft oder Klasse typisch ist? Das Kind kommt ja mit dem gesellschaftlichen Leben als solchem kaum in Berührung. Die Kategorien, die zu den wichtigsten im gesellschaftlichen Leben gehören, wie Gelderwerb, Wunsch nach Profit, wirtschaftliche Konkurrenz, die Möglichkeit, alle Wünsche durch Geld zu befriedigen, spielen im Leben des Kindes so gut wie gar keine Rolle.

Es ergibt sich also anscheinend der Widerspruch zwischen der These, dass die allerersten Lebensjahre für die Charakterentwicklung des Kindes entscheidend sind, und dass das, was die Charakterentwicklung des Menschen bestimmt, die gesellschaftliche Lebenspraxis ist, und der Tatsache, dass das Kind mit der gesellschaftlichen Lebenspraxis so gut wie nicht in Berührung kommt. Die Lösung dieses Widerspruchs liegt in der Rolle der Familie. Die Familie selbst ist ein Produkt der gesamten gesellschaftlichen Struktur, und sie vermittelt dem Kind die wichtigsten Züge der gesellschaftlichen Lebenspraxis.

Dies gilt zunächst für die groben Züge der Struktur der Familie und die Rolle des Kindes in ihr. Die patriarchalische Familie mit einer mehr oder weniger starken Herrschergewalt der Eltern über das Kind ist das Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation. Die Rolle der väterlichen Autorität in der Familie, der Grad, in dem das Kind von dieser Autorität abhängig ist und sich ihr unterwerfen muss, die Mittel, die zur Erreichung dieser Unterwerfung verwandt werden, mögen zwar bis zu einem gewissen Grade von individuellen Eigenarten der Eltern abhängen, im wesentlichen aber hängen sie von dem gesamten Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnis innerhalb der betreffenden Gesellschaft beziehungsweise Klasse ab.

Eine Gesellschaft, die auf der Herrschaft einer Klasse über die andere aufgebaut ist, weist auch eine Familienstruktur auf, in der die gleichen Herrschaftsverhältnisse sich im Verhältnis von Eltern zu Kindern reproduzieren. Das heißt nicht nur, dass die Ursache für die spezielle Struktur der Familie in der gesellschaftlichen Struktur zu suchen ist, sondern auch, dass das Kind in der Familie an diejenigen Verhältnisse „gewöhnt“ wird, die es im späteren Leben in der gesellschaftlichen Praxis finden wird. Die Gewöhnung ist allerdings keine im oberflächlichen Sinne von habits, sondern eine der Formung seiner Triebstruktur in dem Sinne, dass es seine spätere gesellschaftliche [XI-146] Funktion möglichst reibungslos und – vom Standpunkt der betreffenden Gesellschaft aus gesehen – möglichst gut erfüllen kann. Wenn es also auch richtig ist zu sagen, dass die psychische Struktur des Erwachsenen durch seine Vergangenheit, seine Kindheitserlebnisse determiniert wird, so ist es ebenso richtig, den Sachverhalt umgekehrt zu formulieren: Die Vergangenheit wird durch die Zukunft bestimmt, nämlich durch die zukünftige Rolle des Individuums, wie sie durch seine Position innerhalb der Gesellschaft bedingt ist.

Die Erfahrungen des Kindes in der Familie sind aber nicht nur mit Bezug auf die fundamentale Struktur der Familie und die Art der Abhängigkeit des Kindes von den Eltern durch die gesellschaftliche Situation bestimmt, sondern darüber hinaus mit Hinblick auf die gesamte Atmosphäre, die das Kind in der Familie antrifft. Der Charakter der Eltern ist – wiederum in großen Zügen und nicht mit Bezug auf die individuellen Differenzen – von der Gesellschaft und spezifischer von der Klasse geprägt, der sie angehören. Sie sind nicht anders als Eltern, als sie sonst im Leben sind. Das Kind trifft auf die Charakterzüge der Eltern als auf die ersten und wichtigsten Äußerungsformen des Menschen, und es reagiert auf sie so, dass in ihm die entsprechenden Charakterzüge produziert werden. Es macht keinen Unterschied, ob der Vater „als Vorgesetzter“ Untergebenen gegenübersteht, oder „als Vater“ das Kind zum willenlosen Werkzeug macht und auf bedingungsloser Unterwerfung besteht. Wenn im ersten Fall Rationalisierungen sehr dünn sind oder ganz fehlen, wenn im zweiten Fall der Vater davon überzeugt ist, dass alles, was er tut, zum Besten des Kindes geschehe: das, was das Kind erlebt, hängt nicht von den Rationalisierungen, sondern vom Verhalten des Vaters ab. Das kleine Kind hat für Rationalisierungen ja überhaupt noch wenig Empfänglichkeit, in den allerersten Lebensjahren würde es noch nicht einmal ihren sprachlichen Ausdruck verstehen. Eine herrische Geste, ein sadistisches Funkeln der Augen und ein drohender Ton der Stimme sind aber auch schon für das kleine Kind voll verständlich, ja gewöhnlich besser als für den Erwachsenen, der sich daran gewöhnt hat, nur das ernst zu nehmen, was in Worten ausgedrückt wird.

Wir können hier nicht im einzelnen aufzeigen, wie alle wesentlichen Züge, die für den Menschen einer Gesellschaft oder einer Klasse charakteristisch sind, im Verhalten der Eltern zum Kind zum Ausdruck kommen. Es kam uns nur darauf an, das Prinzipielle zu zeigen, nämlich, dass das, was das Kind in der Familie erlebt, der Reflex der gesellschaftlichen Lebenspraxis ist, und dass die Familie nicht die „Ursache“ der Charakterbildung, sondern den Mechanismus der Transmission der gesellschaftlich gegebenen Züge auf das Individuum darstellt. Noch anders ausgedrückt, die Familie ist die psychologische Agentur der Gesellschaft. Das Studium der Familienstruktur ist unerlässlich für das Verständnis der für eine Gesellschaft typischen Persönlichkeitsstruktur, denn nur die Kenntnis der Einzelheiten des Familienlebens und der Erziehungsweise gibt eine Einsicht darüber, wie sich die gesellschaftlichen Erfordernisse, soweit sie die Persönlichkeit betreffen, ins Individuell-Psychische umsetzen. Es ist jedoch verfehlt, in der Analyse einer Gesellschaft bei der Darstellung ihres Erziehungsprozesses als letztem Datum stehen zu bleiben. Der Erziehungsprozess selbst muss wieder auf seine gesellschaftlichen Bedingungen hin analysiert werden.

Von Anthropologen hat insbesondere Margaret Mead in ihren verschiedenen [XI-147] Arbeiten (Coming of Age in Samoa, 1928, Growing up in New Guinea, 1930, und Sex and Temperament, 1935) auf die Bedeutung der Kindheit für die Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur hingewiesen. Dies stellt zweifellos einen wichtigen Fortschritt dar. Unser kritischer Einwand wäre allerdings auch hier, dass die Art des Erziehungsprozesses nicht als letztes Erklärungsprinzip aufgefasst werden kann.

c) Die Neuformulierung der Triebtheorie auf Grund eines anderen Menschenbildes

Wichtiger und grundsätzlicher als die bisher diskutierten beiden Abweichungen von der Freudschen Theorie ist diejenige, die sich auf die Libidotheorie bezieht. Sie betrifft einen Teil der Theorie, der von vielen Analytikern wie Nicht-Analytikern als so fundamental angesehen wird, dass die im Folgenden vorgetragenen Ansichten als nicht mehr „psychoanalytisch“ angesehen werden mögen. Wir glauben das nicht, sondern ganz im Gegenteil, dass sie die konsequente Fortsetzung der Freudschen Methode sind, die sich mit Notwendigkeit ergibt, wenn man von seinen philosophischen Voraussetzungen, nämlich dem physiologistischen Materialismus, absieht und gleichzeitig die Lebenspraxis der Menschen über den engen Rahmen ihrer individuellen Verschiedenheiten hinaus, wie sie sich aus der Familiensituation ergeben, in ihrer entscheidenden Rolle sieht.

Wir haben am Anfang darzustellen versucht, dass Freud zwei Interpretationsmethoden miteinander und durcheinander verwendet. Die eine ist die, psychische Impulse, Ängste, Haltungen und daraus resultierende Charakterzüge als Reaktion des Individuums auf eine bestimmte Umweltkonstellation zu verstehen, auf die es im Prozess der Durchsetzung seiner Bedürfnisse trifft. Die andere Interpretationsmethode war, wichtige psychische Impulse und Charakterzüge so zu verstehen, dass sie nur ein anderer Aggregatzustand der sexuellen Bedürfnisse selbst sind, die in gewisser Weise durch Außenwelteinflüsse modifiziert werden, in ihren Grundzügen aber physiologisch gegeben sind. Wir glauben, dass die erste Methode Freuds konsequent fortgesetzt und zum generellen Erklärungsprinzip aller psychischen Impulse und Haltungen gemacht werden muss, mit Ausnahme der Impulse natürlich, die wie Sexualität, Hunger, Durst usw. keiner psychologischen Deutung, sondern einer physiologischen Erklärung bedürfen. Die Annahme aber, dass Impulse wie Sparsamkeit, Ehrgeiz, Ordentlichkeit usw. als direkter Ausfluss sexueller Strebungen – genauer gesagt: der prägenitalen Libido – verstanden werden können, erscheint uns unhaltbar.

Der wichtigste Grund, der uns zu dieser Annahme führt, sind die Erfahrungen der Analyse einer großen Reihe von Individuen. Die theoretischen Voraussetzungen, unter denen die Erfahrungen zunächst gesammelt wurden, waren die der Freudschen Libidotheorie. Aber trotz der sehr intensiven Bemühungen, zu einem Verständnis des Charakters als Sublimierung oder Reaktionsbildung prägenitaler Sexualität zu kommen, erschienen die Bemühungen mehr und mehr aussichtslos. Gewiss konnte man in manchen Fällen sehen, dass bei Menschen, die in irrationaler Weise sparsam, ehrgeizig oder ordentlich waren, alle Defäkationsvorgänge eine über das durchschnittliche Maß hinausgehende Bedeutung hatten. Versuchte man aber, ihre Sparsamkeit [XI-148] dadurch zu „deuten“, dass man sie als eine Sublimierung der Lust der Kotzurückhaltung auffasste, so ergab sich gewöhnlich nicht nur keine Veränderung im Verhalten, sondern auch keine große Vertiefung des Verständnisses für das Phänomen. Selbst wenn man auch noch annehmen oder erraten konnte, dass die Lust an der Kotzurückhaltung sich auf Grund bestimmter Einflüsse der Außenwelt früh entwickelt hatte, so war doch die Basis für die Erklärung eines die ganze Persönlichkeit so beherrschenden Zuges wie der Sparsamkeit äußerst schmal; fernerhin war diese Erklärung außerstande, den Zug in seinem Zusammenhang mit der gesamten Persönlichkeitsstruktur und als Ausdruck von dieser zu verstehen. In sehr vielen anderen Fällen ergab sich ein Zusammenhang aber überhaupt nicht. Man fand zwar eine starke triebhafte Sparsamkeit, aber die frühkindlichen Erlebnisse mit Bezug auf die Stuhlentleerung waren völlig durchschnittliche. In anderen Fällen wiederum konnte man zwar sehen, dass tatsächlich eine gewisse Lust an der Stuhlzurückhaltung vorgelegen haben mag, aber wenn man das Quantum dieser Lust mit dem in anderen Fällen, wo sich keinerlei Geiz entwickelt hatte, verglich, erschien die quantitative Verschiedenheit in keiner Weise derjenigen der angenommenen charakterlichen Endresultate der frühkindlichen Erlebnisse zu entsprechen. Die gleiche Erfahrung galt nicht nur für Eigenschaften des analen Charakters, sondern noch stärker für Eigenschaften wie etwa den Ehrgeiz, dessen ursächlicher Zusammenhang mit der Urethralerotik fast nie mehr als eine vage Spekulation erschien. Wir werden später darauf zurückkommen, inwiefern der manchmal aufzufindende Zusammenhang zwischen dem besonderen Interesse an den Defäkationsvorgängen und Charaktereigenschaften wie dem Geiz seine Erklärung findet, ohne dass man die Analerotik für die Quelle oder Ursache des Geizes ansieht.

Die Frage, welche Rolle der therapeutische Erfolg der Analyse als Beweis für die Richtigkeit der Theorie spielt, ist sehr kompliziert. Auf der einen Seite ist kein Zweifel, dass ein therapeutischer Erfolg an sich nichts für die Richtigkeit der Theorie beweist. Die Erfahrungen, die alle Arten offener oder verschleierter Suggestionstherapie lehren, zeigen, dass es beinahe keine Methode gibt, mit der man nicht therapeutische Erfolge erzielen kann. Wenn mit einer Deutung, die theoretisch unrichtig ist, ein therapeutischer Erfolg erzielt wird, so spielt sie dieselbe Rolle wie irgendeine andere Methode der Suggestion: „Man sagt dem Patienten, dies und dies ist die Ursache für Ihr Symptom“, und nachdem wir es gefunden haben, muss das Symptom verschwinden. Dies kann als Suggestion genau die gleiche Wirkung haben, wie wenn man ihm sagt: „Die Ursache Ihres Symptoms liegt in einem bösen Geist, den wir austreiben müssen.“ Andererseits aber darf die Einsicht, dass therapeutischer Erfolg an sich nichts über die Richtigkeit der Theorie aussagt, nicht dazu führen, die Beziehung zwischen Theorie und therapeutischer Wirksamkeit zu durchschneiden und nicht danach zu fragen, ob eine Interpretation hilft oder nicht. In welchem Sinn man den therapeutischen Erfolg als Kriterium für die theoretische Richtigkeit der Deutung ansehen kann, ist ein äußerst kompliziertes Problem, dessen Diskussion über den Rahmen dieser Ausführungen hinausgehen würde. Eines lässt sich immerhin sagen: Der therapeutische Erfolg ist keineswegs ein Beweis für die Richtigkeit der Theorie, das Ausbleiben der therapeutischen Wirkung aber muss zumindest den Analytiker bei jeder [XI-149] einzelnen Deutung über ihre theoretische Richtigkeit stutzig werden lassen und zur Nachprüfung seiner Theorie führen.

Neben den analytisch-klinischen Erfahrungen waren es soziologische und sozialpsychologische Erwägungen, die zur Aufgabe des hier in Frage stehenden Teils der Freudschen Libidotheorie führten. So finden sich zum Beispiel Charaktereigenschaften, die Freud als „anale“ bezeichnet, in ausgeprägtem und im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft verstärktem Maße beim europäischen Kleinbürger. Entsprechend der Freudschen Theorie müsste man annehmen, dass die Gemeinsamkeit der analen Charakterstruktur des europäischen Kleinbürgers darauf beruht, dass er entweder eine konstitutionell bedingte besondere Erregbarkeit der Analzone aufweist, oder dass allen Kleinbürgern gewisse Erlebnisse bei der Reinlichkeitserziehung gemeinsam sind, die für die Lust an der Kotzurückhaltung beziehungsweise für die Fixierung auf der analen Stufe verantwortlich sind.

Gewiss würde auch nach Freud die Unterdrückung der genitalen Sexualität, wie sie tatsächlich im Kleinbürgertum in stärkerem Maße als in anderen gesellschaftlichen Klassen erfolgt, eine wesentliche Bedingung für die Regression zur analen Stufe sein. Aber selbst diesen Faktor miteinbezogen bleibt die Erklärungsbasis sehr schmal, besonders wenn man bedenkt, dass einerseits der Geiz nur ein Moment in einer Charakterstruktur ist, die als ganze schon nur in sehr gezwungener Weise als „anal“ erklärt werden kann, und dass andererseits die gesamte Lebenspraxis dieser Klasse eine viel befriedigendere Erklärung dieser Struktur erlaubt.

Noch deutlicher wird das Missverhältnis zwischen der angenommenen Ursache und der charakterologischen Wirkung bei einem Charakterzug wie dem Ehrgeiz, der einer der gesellschaftlich relevantesten Züge des bürgerlichen Menschen ist. Kann man bei der Frage der Analerotik immerhin noch an die Möglichkeit denken, dass gewisse Gemeinsamkeiten in der Reinlichkeitserziehung zusammen mit der Sexualunterdrückung zu gewissen charakterologischen Resultaten führen, so ist die Annahme, dass irgendetwas in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft für die Besonderheit der Urethralerotik maßgebend sein soll und dass die Intensität des Ehrgeizes, die für den bürgerlichen Menschen so charakteristisch ist, ihre Wurzeln in den Besonderheiten der Urethralerotik haben soll, eine groteske Spekulation.

Zu diesen aus empirischen Erwägungen stammenden Einwendungen gesellen sich rein theoretische. Sie betreffen die prinzipiellen Voraussetzungen der Freudschen Libidotheorie. Freud ist, soweit es seine Theorie von den psychischen Impulsen als direkten Abkömmlingen der prägenitalen Sexualität anlangt, ein Instinkttheoretiker, und die theoretischen Erwägungen und Ziele der Instinkttheoretiker haben ihn zu jenem Teil seiner theoretischen Konstruktionen geführt, in denen er Psychisches als direktes Produkt eines Instinktes auffasst. Gewiss stellt seine Libidotheorie trotz ihrer scheinbaren Primitivität einen ungeheuren Fortschritt über die Instinkttheorien hinaus dar. Während diese im wesentlichen das „Verhalten“ hypostasieren und hinter jedem wichtigen Verhalten einen angeborenen Instinkt annehmen, sah Freud die Strukturiertheit des seelischen Apparates, entdeckte, dass die treibenden Kräfte unbewusste sind und erkannte die Mechanismen, in denen die unbewussten Kräfte sich im Bewusstsein beziehungsweise im Verhalten durchsetzen. [XI-150]

In der großen Literatur, die speziell seit 1919 als Reaktion auf die Instinkttheorien entstand, ist diese so gründlich kritisiert worden, dass wir uns an dieser Stelle damit begnügen können, auf diese Literatur hinzuweisen. (Als wichtigste anti-instinktivistischen Äußerungen seien genannt: K. Knight Dunlap, 1929; Z. Y. Kuo, 1921 und 1922, das äußerst gründliche und instruktive Buch Instincts des Soziologen L. L. Bernard, 1924, und J. Dewey’s Human Nature and Conduct, 1922, welches eine vermittelnde Haltung einnimmt. Einen kurzen und ausgezeichneten Überblick über die Instinkttheorien gibt G. Murphy, 1932.)

Wir wollen hier nur auf einen Punkt eingehen, der dort nicht betont ist. Die Instinkttheorien tendieren dahin, die Psychologie des Menschen auf die Tierpsychologie zu begründen und zu übersehen, dass, so, wie der Mensch eine zweite Natur in seinen Werkzeugen geschaffen hat, auch in psychologischer Hinsicht in ihm eine zweite Natur entstanden ist, eben die psychischen Impulse und Haltungen, die spezifisch für den Menschen sind, und die nicht entweder selbst angeborene und körperlich begründete Instinkte oder deren direkte Abkömmlinge sind. Die Instinkttheorien waren von Wilhelm Thierry Preyer an im Anschluss an die darwinistische Theorie entstanden. Sie zeigen auf psychologischem Gebiet im Gegensatz zu den religiösen und idealistischen Annahmen, dass der Mensch wie das Tier von angeborenen und in seiner körperlichen Organisation begründeten Impulsen bestimmt wird. Diese Anwendung des evolutionistischen Prinzips auf die Psychologie bedeutete gewiss einen ungeheuren Fortschritt. Indem man aber die Gemeinsamkeit des Menschen mit dem Tier in psychologischer Hinsicht betonte, übersah man die entscheidenden Differenzen zwischen Mensch und Tier und die Tatsache, dass der Mensch Qualitäten entwickelt hatte, die wir im Tierreich nicht finden. Dies ist kein Einwand gegen die evolutionistische Feststellung, dass sich der Mensch aus dem Tier entwickelt hat, sondern [richtet sich] nur gegen eine mechanistische Theorie der Evolution, die übersieht, dass die Quantität der Veränderung in neue Qualitäten, die für den Menschen spezifisch sind, umschlägt.

In gesellschaftlicher und ökonomischer Hinsicht drückt sich der qualitative Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Existenz vor allem in der Tatsache aus, dass der Mensch produziert und das Tier nicht. Unter Produzieren verstehen wir die aktive Veränderung der natürlichen Umwelt, soweit sie über das reine Sammeln und die Schaffung von Neuem durch bloße Kombination vorhandener Elemente hinausgeht. Das Symbol des Produzierens in diesem Sinne sind Feuer und Werkzeuge. Wenn man zwischen der tierischen und menschlichen Existenz irgendwo den Punkt anzeigen will, wo die Quantität in Qualität umschlägt, so wäre er an die Stelle zu setzen, wo der Mensch zum ersten Mal ein Feuer herstellt und sich – wenn auch noch so primitiver – Werkzeuge bedient.[12]

Derselbe Sachverhalt lässt sich auch noch von einer anderen Seite her ausdrücken. Die Anpassung des Tieres an seine Umwelt ist im wesentlichen eine rein passive, die des Menschen eine passive und gleichzeitig aktive. Darwin hat gezeigt, dass die Entwicklung der physiologischen und anatomischen Struktur von Tieren und Menschen im Sinne eines Anpassungsprozesses an die Umweltbedingungen zu verstehen ist. Beim Tier bleibt es bei dieser passiven Anpassung bestehen, und sein Verhältnis zur [XI-151] Umwelt ist ein im Prinzip statisches. Beim Menschen hat nach dem Aufhören seiner Entwicklung in anatomischer und physiologischer Hinsicht ein aktiver Anpassungsprozess stattgefunden. Er verändert aktiv seine Umweltbedingungen und wird in diesem Prozess selbst verändert, aber nun nicht mehr in anatomischer und physiologischer Hinsicht, sondern in erster Linie in seelischer. Sein Verhältnis zur Natur ist in ständiger Wandlung begriffen. Der gleiche Tatbestand, noch von einer anderen Seite ausgedrückt, heißt, der Mensch hat eine Geschichte, das Tier ist geschichtslos. (Vgl. zum Unterschied zwischen tierischer und menschlicher Entwicklung auch C. J. Warden, 1936.)

Was ist die psychologische Seite dieses Sachverhalts? Das Verhältnis des Tieres zur Umwelt, die Art seiner Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Bewältigung ist im wesentlichen hereditär festgelegt. Trotz der Tatsache gewisser Modifikationsmöglichkeiten in der Art der Auseinandersetzung mit der Umwelt, die wir auch beim Tier finden, und die umso mehr wachsen, je weiter wir in der Tierreihe emporsteigen, bleibt es doch im wesentlichen richtig zu sagen, dass die ererbten Reflexe und Instinkte die Beziehung des Tieres zur Umwelt regeln und dass die Art dieser Beziehung und Auseinandersetzung mit der Umwelt eine relativ unveränderliche und fixierte für jede Tiergattung ist.

Beim Menschen ist die Auseinandersetzung mit der Natur im wesentlichen nicht mehr hereditär fixiert. Seine Anpassung an die Umwelt geht nicht in biologischen, sondern in historischen Zeiträumen vor sich, und in diesem Prozess der Anpassung verändert er sowohl die Umwelt als auch sich selbst. Erst die Tatsache, dass die hereditäre Fixiertheit in der Art der Auseinandersetzung mit der Umwelt beim Menschen gelockert beziehungsweise aufgehoben wurde, schuf die Möglichkeit für die Geschichte und Kultur des Menschen.

Der Mensch hat wie das Tier eine Reihe von in seiner körperlichen Organisation begründeten Trieben, als deren wichtigste und unbestrittenste wir Hunger, Durst und Sexualität erwähnen wollen. Das Ziel dieser physiologischen Triebe ist die Abfuhr von aus körperlichen und speziell innerchemischen Quellen gespeisten Spannungen. Diese physiologischen Triebe sind es letzten Endes, die den Menschen wie das Tier überhaupt dazu treiben zu „leben“, das heißt, sich mit der menschlichen und außermenschlichen Umwelt zur Befriedigung dieser Bedürfnisse auseinanderzusetzen. Das Wie dieser Auseinandersetzung ist aber beim Menschen im Gegensatz zum Tier nicht fixiert. Die einzige Bedingung, die mit Hinblick auf das Wie allen Menschen gemeinsam ist, ist die Tatsache, dass sie nur als gesellschaftliche Wesen produzieren können, das heißt, dass nicht nur die Befriedigung der Sexualität, sondern auch aller Bedürfnisse zur Lebenserhaltung erfordert, dass der Mensch in gesellschaftliche Beziehungen mit anderen Menschen eintritt.

Die Form, in welcher der Mensch seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen und sein Leben erhalten kann, ist von gewissen objektiven Bedingungen vorgeschrieben. Diese Bedingungen bestehen letzten Endes darin, was die natürliche Umwelt jeweils einer Gesellschaft an Schätzen zur Verfügung stellt, und dem Grad der Beherrschung der Natur durch den Menschen oder – anders ausgedrückt – der Entwicklung der Produktivkräfte. Von diesen hängt die Produktionsweise des Menschen ab und diese [XI-152] wiederum bestimmt seine Lebensweise. Diese ihrerseits bestimmt die psychische Struktur des Menschen, die Art seiner Beziehung zu anderen Menschen, die spezifischen Impulse und Ängste, die sich als das Resultat einer bestimmten Form, die Bedürfnisse zu befriedigen, ergeben. Während die physiologischen Bedürfnisse für alle Menschen im Prinzip die gleichen sind, und während sie unmittelbare Produkte der körperlichen Organisation des Menschen sind, entstehen die psychischen Impulse als Reaktion des Menschen auf die bestimmten Bedingungen, unter denen er die physiologischen Bedürfnisse befriedigen kann. Wir kommen so dazu, in der psychischen Struktur zwei Elemente zu unterscheiden: die natural gegebenen physiologischen Triebe und die historischen, sich im gesellschaftlichen Prozess entwickelnden psychischen Impulse. Diese bilden den Gegenstand der spezifisch menschlichen Psychologie.

Worin sich Menschen in psychologischer Hinsicht unterscheiden, ist nicht die Tatsache, dass sie Hunger, Durst und sexuelle Bedürfnisse haben, sondern die Eigenart ihrer seelischen Struktur, wie sie sich als ein historisches Produkt entwickelt. Die wichtigsten Elemente der psychischen Struktur sind die Haltung des Menschen zu anderen Menschen beziehungsweise zu sich selbst, oder, wie wir sagen möchten, das menschliche Grundverhältnis[13], und die Ängste und Impulse, die sich teils mittelbar, teils unmittelbar aus dieser Haltung ergeben. Das menschliche Grundverhältnis kann die ursprüngliche Gemeinsamkeit sein, wie wir sie bei vielen primitiven Völkern finden, und wie sie sich vor der Herausbildung des Menschen als einer von anderen Menschen verschiedenen Individualität darstellt. Es kann sein eine monadenhafte Isoliertheit und Abgeschlossenheit des einen Individuums vom anderen, wie sie für die bürgerliche Gesellschaft charakteristisch ist, und es kann sein die den Mitmenschen zugewandte aktive Verbundenheit und Solidarität auf der Basis der Herausbildung der menschlichen Individualität, das heißt also, einer Solidarität, die grundsätzlich verschieden von der vorindividuellen ersten Stufe ist. Die wichtigsten psychischen Impulse, um die es sich handelt, sind, was die Formen der Beziehungen zu Menschen anlangt, Destruktivität, Liebe und Sado-Masochismus; soweit es die Formen der Aneignung von Gütern anlangt, der Impuls passiv zu empfangen, gewaltsam wegzunehmen, zu sparen und zu produzieren. Die für eine bestimmte Charakterstruktur typischen Ängste sind bedingt vom Inhalt der in dieser psychischen Triebstruktur vorherrschenden wichtigen Bedürfnisse und dem Grad ihrer Bedrohung durch die gegebene Umweltkonstellation. Auf diese fundamentalen Haltungen, Impulse und Ängste bauen sich eine große Zahl komplexer Impulse und Haltungen auf.

3. Der Unterschied der psychoanalytischen Theorie, aufgezeigt am analen Charakter
a) Es geht um mehr als nur um sexuelle Triebe und deren Abkömmlinge

Was ist der wesentliche Unterschied der hier vorgetragenen Triebtheorie zur Freudschen? Soweit es die eine Seite der Freudschen Methode anlangt, nämlich die psychische Struktur als Reaktion auf das Verhalten der Umwelt dem Individuum gegenüber zu erklären, folgen wir im wesentlichen Freuds Methode. Wie Freud gehen wir davon aus, dass der Mensch primär von gewissen physiologisch verankerten Bedürfnissen getrieben wird, und wie er verstehen wir psychische Impulse als Reaktion auf das Verhalten der Umwelt zur Befriedigung dieser Impulse. Insofern besteht ein Unterschied, als für uns unter den Bedürfnissen, von denen der Mensch getrieben wird, die sexuellen nicht die gleiche beherrschende Rolle spielen wie bei Freud. Zu den sexuellen Bedürfnissen kommen zunächst, wie auch im Prinzip bei Freud, die Selbsterhaltungsbedürfnisse. Zu diesen gesellen sich aber im Laufe der historischen Entwicklung neue Bedürfnisse, teils psychische, im oben dargelegten Sinn historische, wie sado-masochistische Impulse, oder der Impuls zu sparen usw., deren Schicksale in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen selbst wieder neue Reaktionen hervorrufen; und endlich kommen zu den physiologisch bestimmten Bedürfnissen nach Erhaltung des Lebens gesellschaftlich bestimmte, wie die nach reicherer und differenzierterer Nahrung, Wohnung usw., und der ganze Bereich der Bedürfnisse nach neuen materiellen Gütern, wie sie durch die historische Entwicklung geschaffen werden.

Der entscheidende Unterschied zur Freudschen Libidotheorie besteht also in der Art der Erklärung jener Impulse, die Freud als direkte Abkömmlinge der Sexualität und speziell der prägenitalen Sexualität und der Partialtriebe ansieht. Wir glauben, dass auch diese, mittelbar oder unmittelbar, ihre Erklärung als Objektbeziehungen, und nicht als Ausfluss von Instinkten finden; dass es sich um Impulse handelt, die im Individuum als Reaktion auf die Umwelt und in einer Umwelt entstehen, in der es die Befriedigung seiner Bedürfnisse in einer ganz bestimmten Weise durchsetzen muss. Die psychische Struktur des Menschen, soweit sie über die gegebenen und allen Menschen gemeinsamen physiologischen Bedürfnisse hinausgeht, wird aus der Lebensweise des Menschen, aus seiner Tätigkeit beziehungsweise den spezifischen Formen seines [XI-154] Lebensprozesses verstanden, nicht als direktes Produkt der physiologischen Triebe selbst. Der Lebensprozess, in den die physiologischen Bedürfnisse als ein Moment eingehen, und nicht die Physiologie, bildet die materielle Basis, aus der die psychische Struktur des Menschen verstanden werden muss.

b) Freuds Beschreibung und Erklärung des analen Charakters

Wir wollen das eben Erörterte am Beispiel der Deutung des analen Charakters illustrieren. In einem im Jahre 1908 veröffentlichen Aufsatz über Charakter und Analerotik sagt Freud:

Unter den Personen, denen man durch psychoanalytische Bemühung Hilfe zu leisten sucht, begegnet man eigentlich recht häufig einem Typus, der durch das Zusammentreffen bestimmter Charaktereigenschaften ausgezeichnet ist, während das Verhalten einer gewissen Körperfunktion und der an ihr beteiligten Organe in der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich zieht. (S. Freud, 1908b, GW 7, S. 203.)

Die Charaktereigenschaften, deren häufiges Zusammentreffen Freud feststellte, waren Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn. Die Körperfunktion, deren Verhalten in der Kindheit seine Aufmerksamkeit auf sich zog, die Stuhlentleerung.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959121132
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie sozial-psychoanalytischer Ansatz psychoanalytische Praxis Determiniertheit Gesellschaft
Zurück

Titel: Gesellschaft und Seele. Beiträge zur Sozialpsychologie und zur psychoanalytischen Praxis