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Von der Kunst des Zuhörens. Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse

The Art of Listening

©2015 125 Seiten

Zusammenfassung

Erich Fromm hat kaum etwas zur sogenannten therapeutischen „Technik“ publiziert. Umso wertvoller ist der nachgelassene Band ‚Von der Kunst des Zuhörens‘, der – aus dem Mitschnitt eines Vortrags und eines Seminars entstanden – zahlreiche Fragen der psychotherapeutischen Praxis erörtert. Die Beiträge dieses Buches geben nicht nur unmittelbar Auskunft über den praktizierenden Psychoanalytiker Fromm (wozu vor allem seine detaillierten Bemerkungen zu einem Fallbericht beitragen), sondern auch über die modernen Charakterneurosen und die speziellen Erfordernisse bei ihrer Behandlung.

Für Fromm ist die Kunst des Therapierens eine Kunst des Zuhörens und eine Frage des Bezogenseins. Eine solche therapeutische „Technik“ lässt sich nicht mit Hilfe von störungsspezifischen Behandlungsmanualen erlernen; vielmehr ist sie das Ergebnis eines sehr direkten, urteilsfreien Bezogenseins auf einen anderen Menschen und auf sich selbst. Patienten werden von Fromm nicht als ein fremdes, „gestörtes“ Gegenüber gesehen; vielmehr ist die Beziehung von einer tief reichenden Solidarität bestimmt. Dies setzt voraus, dass der Analytiker und die Analytikerin mit sich selbst umzugehen gelernt haben und noch immer – durch tägliche Selbstanalyse – zu lernen bereit sind.

Aus dem Inhalt
• Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung
• Voraussetzungen der psychoanalytischen Therapie
• Die prägende Kraft von Gesellschaft und Kultur
• Die therapeutische Beziehung im psychoanalytischen Prozess
• Die Bearbeitung des Widerstands
• Übertragung, Gegenübertragung und reale Beziehung
• Besondere Methoden bei der Therapie der modernen Charakterneurosen
• Sich selbst analysieren
• Psychoanalytische „Technik“ oder die Kunst des Zuhörens

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Von der Kunst des Zuhörens. Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse
  • Inhalt
  • Vorwort von Rainer Funk
  • Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung
  • 1. Die therapeutischen Wirkfaktoren nach Sigmund Freud und meine Kritik daran
  • 2. Benigne und maligne Neurosen. Mit einem Fallbeispiel für eine gutartige Neurose
  • 3. Konstitutionelle und andere Wirkfaktoren
  • Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse
  • 1. Zum Selbstverständnis und zum Menschenbild der Psychoanalyse
  • a) Welches Ziel hat die Psychoanalyse?
  • b) Sigmund Freuds therapeutische Zielsetzung und ihre Kritik
  • c) Das Freudsche Bild vom Kind und seine Kritik
  • d) Der Stellenwert der Kindheitserfahrungen im therapeutischen Prozess
  • e) Die Rezeption der Psychoanalyse in der therapeutischen Praxis
  • f) Der Beitrag Harry Stack Sullivans zum Menschenbild der Psychoanalyse
  • g) Die Krankheit unserer Zeit als Herausforderung für die Psychoanalyse
  • 2. Voraussetzungen der psychoanalytischen Therapie
  • a) Die Fähigkeit zu psychischem Wachstum
  • b) Die Verantwortung jedes Einzelnen für sein psychisches Wachstumspotenzial
  • c) Die Fähigkeit zur subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung
  • d) Die prägende Kraft von Gesellschaft und Kultur
  • e) Die Dynamik psychischer Entwicklung und die Freiheit des Menschen
  • 3. Die Wirkfaktoren der psychoanalytischen Therapie
  • 4. Die therapeutische Beziehung im psychoanalytischen Prozess
  • a) Das Geschehen zwischen Psychoanalytiker und Analysand
  • b) Voraussetzungen beim Psychoanalytiker
  • c) Fragen des Umgangs mit dem Analysanden
  • 5. Aufgaben und Methoden des psychoanalytischen Prozesses
  • a) Die Mobilisierung unbewusster Kräfte und das Aufzeigen von Alternativen
  • b) Sublimierung, Triebbefriedigung und Triebverzicht am Beispiel sexueller Perversionen
  • c) Die Bearbeitung des Widerstands
  • d) Übertragung, Gegenübertragung und reale Beziehung
  • e) Hinweise zur Arbeit mit Träumen
  • 6. Christiane. Bemerkungen zur therapeutischen Methode und zum Traumverstehen anhand eines Fallberichts
  • a) Die ersten drei Stunden und der erste Traum
  • b) Der zweite Therapiemonat und der zweite Traum
  • c) Der weitere Verlauf der Therapie und der dritte Traum
  • d) Der vierte Traum und generelle Überlegungen zum Verlauf der Therapie
  • 7. Besondere Methoden bei der Therapie der modernen Charakterneurosen
  • a) Das eigene Handeln ändern
  • b) Interesse an der Welt entwickeln
  • c) Kritisch denken lernen
  • d) Sich selbst erkennen und seines Unbewussten gewahr werden
  • e) Des eigenen Körpers gewahr werden
  • f) Sich konzentrieren und meditieren
  • g) Den eigenen Narzissmus entdecken
  • h) Sich selbst analysieren
  • 8. Psychoanalytische „Technik“oder die Kunst des Zuhörens
  • Literaturverzeichnis
  • Der Autor
  • Der Herausgeber
  • Impressum

Vorwort von Rainer Funk

Immer wieder hatte Erich Fromm Pläne, das, was er selbst als Psychoanalytiker therapeutisch umsetzte und in den Ausbildungsinstituten in New York und Mexiko-Stadt in klinischen Seminaren lehrte, zu Papier zu bringen. Den letzten großen Anlauf dazu nahm er 1965, als er ein mehrbändiges Werk über Humanistische Psychoanalyse in Theorie und therapeutischer Praxis zu schreiben begann. Was sich davon an Manuskripten im Nachlass fand, habe ich 1990 in dem Band Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten (1990a) veröffentlicht. Nur ab und zu kommt Fromm darin auf klinische Fragen zu sprechen. Der vorliegende Band versucht, diese Lücke in Fromms Werk mit zwei anderen Arbeiten aus dem Nachlass ein wenig zu schließen.

Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung lautete der Titel eines Vortrags, den Fromm am 25. September 1964 bei der Harry Stack Sullivan Society anlässlich der Einweihung des neuen Gebäudes des William Alanson White Institute in New York gehalten hat. Der Vortrag zeichnet sich besonders dadurch aus, dass Fromm hier zwischen einer gutartigen und einer bösartigen Neurose unterscheidet und sehr deutlich die Grenzen der psychoanalytischen Behandlung aufzeigt. Vor allem aber ist der Vortrag einer der wenigen Beiträge Fromms, in dem er ein Fallbeispiel bespricht, zwar kein Beispiel aus seiner eigenen therapeutischen Praxis. Eduardo Zajur, damals noch Ausbildungskandidat, in den 1980er Jahren dann Direktor des Mexikanischen Psychoanalytischen Instituts, hatte den Fall als Examensfall im August 1963 Fromm vorgestellt.[1]

Das, was bei psychischen Erkrankungen therapeutisch wirksam ist und zur Heilung beiträgt, ist mittlerweile – auch unter dem Kostendruck im Gesundheitswesen – eine empirisch sehr gut erforschte Frage. Umso interessanter ist, was Fromm auf Grund seiner eigenen therapeutischen Erfahrung als Wirkfaktoren ausgemacht hat. Neben konstitutionellen Wirkfaktoren (zu denen Fromm zum Beispiel die Vitalität zählt) nennt er unter anderem den Leidensdruck („ob ein Patient wirklich den Tiefpunkt seines Leidens erreicht hat“), das Vorhandensein einer Vision von dem, „was jemand mit seinem Leben will“, die Ernsthaftigkeit des Veränderungswunsches und die aktive Teilnahme des Patienten; nicht zuletzt aber ist auch die Persönlichkeit des Psychoanalytikers ein wichtiger Wirkfaktor, weshalb sich Fromm bis zu seinem Lebensende täglich Zeit für die Selbstanalyse nahm. – Hingewiesen sei an dieser Stelle noch, dass sich Fromm später nochmals mit der Frage der Wirkfaktoren der psychoanalytischen Therapie beschäftigt hat, und zwar im Hauptteil dieses Buches über Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse (1991d, GA XII, S. 293–296).

Der Mangel an eigenen Veröffentlichungen zur therapeutischen Praxis wird durch eine weitere Veröffentlichung aus dem Nachlass Fromms ein wenig kompensiert. Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse stellt den Versuch der Wiedergabe eines Seminars dar, das Fromm amerikanischen Psychologiestudenten während eines dreiwöchigen Seminars 1974 in Locarno gab. Die insgesamt 400 Seiten starke Abschrift des Mitschnitts dieses in englischer Sprache geführten Seminars wurde in den folgenden Jahren von Fromms Sekretärin, Joan Hughes, erstellt und von Fromm teilweise noch bearbeitet. Bei der Veröffentlichung des Transkripts wurde versucht, den Charakter des gesprochenen Wortes in der vorliegenden Übersetzung zu erhalten. Allerdings wurde die Reihenfolge der Texte und Themen weitgehend neu bestimmt und wurden die Gliederung und die Überschriften mit Ausnahme des allerletzten Abschnittes von mir als Herausgeber gewählt bzw. hinzugefügt. Ansonsten sind nennenswerte Hinzufügungen durch mich immer durch eckige Klammern gekennzeichnet.

Die hier veröffentlichten Teile des Transkripts des Seminars von 1974 geben nicht nur unmittelbar Auskunft über den Therapeuten Fromm (wozu vor allem seine Bemerkungen anhand eines im Seminar eingebrachten Fallberichts beitragen), sondern auch über seine Wahrnehmung der modernen Charakterneurosen und der Notwendigkeit besonderer Erfordernisse bei ihrer Therapie. Einige Abschnitte des Seminars von 1974 wurden durch Äußerungen, die Fromm 1963 in einem Interview machte, das er Richard Evans gab (Interview with Richard Evans: Dialogue with Erich Fromm, 1966f), erweitert. Der letzte Abschnitt mit dem von Fromm selbst formulierten Titel Psychoanalytische „Technik“ oder die Kunst des Zuhörens wurde von ihm noch kurz vor seinem Tod 1980 verfasst und sollte nach seiner Vorstellung die Veröffentlichung von Teilen des Seminars von 1974 einleiten.

Über das während des Seminars besprochene Fallbeispiel (Christiane) hat der Leiter des Seminars, Bernard Landis, einen eigenen Beitrag publiziert (B. Landis, 1981). Zur Sicherung der Anonymität wurden Namen, Orte und Berufe bei der Fallbesprechung für die Veröffentlichung geändert.

Die umfangreiche Textzusammenstellung Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse vermittelt keine psychoanalytische Technik. Nach Fromms Ansicht und entgegen dem Anspruch der Lehrbücher zur psychoanalytischen Technik ist die Kunst des Therapierens eine Kunst des Zuhörens und eine Frage des Bezogenseins. Deshalb geben die Texte Auskunft über Fromms Art des Umgangs mit dem seelisch leidenden Menschen unserer Zeit. Nicht wortgewaltige Theorien und Abstraktionen und auch keine differential-diagnostischen „Vergewaltigungen“ des „Patientenmaterials“ kennzeichnen seine therapeutische Beziehung; beeindruckend ist vielmehr seine Fähigkeit zu eigenständiger und unabhängiger Wahrnehmung der Grundprobleme des Menschen.

Wie ein roter Faden zieht sich Fromms humanistische Haltung durch sein Verständnis vom Patienten und der Patientin und vom Umgang mit ihnen. Sie werden nicht als Gegenüber gesehen; sie sind keine grundsätzlich verschiedenen Menschen. Zwischen Analytiker und Analysand ist eine tiefe Solidarität spürbar. Sie setzt voraus, dass der Analytiker und die Analytikerin mit sich selbst umzugehen gelernt haben und noch immer zu lernen bereit sind, statt sich hinter einer „psychoanalytischen Technik“ zu verstecken. Der Analytiker ist sich selbst sein nächster Patient, und sein Patient wird ihm zu seinem (Co-)Analytiker. Fromm sieht in der therapeutischen Beziehung zum Patienten und zur Patientin immer auch eine Möglichkeit zur Selbstanalyse sowie die Chance, sich im Umgang mit den beidseitigen Gegenübertragungswahrnehmungen vom Patienten analysieren zu lassen.

Nach dem Gesagten gibt es gute Gründe, warum Fromm kein Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie geschrieben und auch keine eigene therapeutische Schule gegründet hat. Auch sind die Ausführungen in diesem Buch nicht als Ersatz für ein Lehrbuch zur psychoanalytischen Technik anzusehen (vgl. M. Bacciagaluppi, 1989). Das Besondere seiner therapeutischen Beziehung lässt sich nämlich nicht in einer „psychoanalytischen Technik“ in den Griff bekommen. Fromm fordert den ganzen Einsatz der eigenen Persönlichkeit und eines produktiv orientierten Charakters des Psychoanalytikers und der Psychoanalytikerin. Nur zu leicht verführt eine ausgefeilte psychoanalytische „Technik“ dazu, sich mit seinem „Know how“ des Therapierens als Mensch hinter störungsspezifischen Manualen verstecken zu können.

Am deutlichsten kommt diese Frommsche Sicht der therapeutischen Beziehung und des therapeutischen Raums in drei Vorträgen zum Ausdruck, die er 1959 am William Alanson White Institute in New York gehalten hat und die ich unter dem Titel Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis (1992g, GA XII, S. 201-236) posthum veröffentlicht habe. Was zählt ist keine „Technik“, sondern ein „center-to-center“- oder „core-to-core“-Bezogensein (vgl. R. Biancoli, 2006d) und die Fähigkeit zu einer „direkten“ Begegnung (vgl. R. Funk, 2009l).

An weiteren Publikationen Fromms zu klinischen Fragen – jenseits der beiden in diesem Band veröffentlichten – sind zu nennen neben dem Buch Märchen, Mythen, Träume (1951a) eine Zusammenfassung seines Verständnisses des Träumens und der Traumdeutung in Das Wesen der Träume (1949a, GA IX, S. 161-168), die Anmerkungen zum Problem der Freien Assoziation (1955d, GA XII, S. 195-200), das Kapitel „Bewusstsein, Verdrängung und Aufhebung der Verdrängung“ in Psychoanalyse und Zen-Buddhismus (1960a, GA VI, S. 320-233, der Beitrag Der Ödipuskomplex. Bemerkungen zum „Fall des kleinen Hans“ (1966k, GA VIII, S. 143-151) sowie der Abschnitt „Zur Revision der psychoanalytischen Therapie“ in Die dialektische Revision der Psychoanalyse (1990f, GA XII, S. 64-71).[2]

Wer noch mehr darüber erfahren möchte, wie Fromm therapeutisch gearbeitet hat und welche Art von therapeutischer Beziehung er praktizierte, sollte die Veröffentlichungen seiner Schülerinnen und Schüler, die bei ihm am William Alanson White Institut in New York und am Psychoanalytischen Institut in Mexiko-Stadt die therapeutische Ausbildung machten, zu Rate ziehen. Fromm hat über 50 Jahre lang mit Patienten therapeutisch gearbeitet; über 40 Jahre lang war er Lehranalytiker, Kontrollanalytiker und Dozent. Wer ihn in diesen Funktionen kennen lernte, war von seiner Direktheit und Unerbittlichkeit als Wahrheitssucher und als gesellschaftskritischer Weggenosse, ebenso aber auch von seinem außerordentlich großen Einfühlungsvermögen und von der Nähe und Unmittelbarkeit seiner Bezogenheit auf den Anderen beeindruckt. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen ist an erster Stelle der Sammelband Erich Fromm als Therapeut. Frühere Schüler erinnern sich an seine Praxis der Psychoanalyse (R. Funk (Hg.), 2009) zu nennen. Die amerikanischen Schülerinnen und Schüler, unter ihnen Marianne Horney Eckhart, Clara Thompson, Edward S. Tauber, Bernard Landis und Ruth M. Lesser, haben ihre Beiträge vor allem in der Zeitschrift Contemporary Psychoanalysis veröffentlicht, während die Arbeiten der mexikanischen Schülerinnen und Schüler, unter ihnen Jorge Silva García, Aniceto Aramoni und Eduardo Zajur, in der Zeitschrift Revista de Psicoanálisis, Psiquiatría y Psicología 1965 bis 1975 und den nachfolgenden Publikationsorganen des von Fromm gegründeten Psychoanalytischen Instituts in Mexiko (Memoria, Anuario) erschienen sind.

Jenseits der amerikanischen und mexikanischen Schülerinnen und Schüler Fromms haben sich vor allem die beiden Italiener Marco Bacciagaluppi (vgl. z.B. M. Bacciagaluppi, 2012) und Romano Biancoli (vgl. z.B. R. Biancoli, 1987) mit Fromms Art zu therapieren beschäftigt, während es im deutschen Sprachraum bisher keine nennenswerte größere Rezeption der therapeutischen Praxis von Fromm gibt.

Fromm hat, wie es zu seiner Zeit noch üblich war, die männliche Form als beide Geschlechter betreffende Bezeichnung bevorzugt. So spricht er vom Patienten, meint aber immer die Patientin oder den Patienten. Um nicht zu sehr in die Texte Fromms einzugreifen, wurde diese Schreibweise beibehalten.

Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung

(Causes for the Patient’s Change in Analytic Treatment)

(1991c [1964])[3]

1. Die therapeutischen Wirkfaktoren nach Sigmund Freud und meine Kritik daran

Zur Frage, welche Faktoren bei der psychoanalytischen Behandlung ausschlaggebend sind, hat Freud mit seiner Schrift Die endliche und die unendliche Analyse (S. Freud, 1937c) meines Erachtens den wichtigsten Beitrag geleistet. Die Schrift ist nicht nur brillant, sondern auch äußerst couragiert geschrieben, wobei es Freud in keinem seiner Werke an Courage fehlte. Sie entstand kurz vor seinem Tode; in gewisser Weise fasst er in ihr seine eigenen Ansichten über die Wirkung der analytischen Behandlung zusammen. Ich möchte im Folgenden zunächst die wichtigsten Gedanken dieser Schrift kurz darstellen, um dann ausführlich auf sie einzugehen und weiterführende Vorschläge zu machen.

An erster Stelle fällt auf, dass Freud in dieser Schrift eine Theorie der Psychoanalyse vorstellt, die sich seit den frühesten Tagen kaum verändert hat. Die Neurose fasst er als Konflikt zwischen den Trieben und dem Ich auf: Entweder ist das Ich nicht stark genug, oder die Triebstärke ist zu groß; in jedem Fall aber wird das Ich wie ein Damm gesehen, der dem Ansturm der Triebkräfte nicht widerstehen kann, weshalb es zur Ausbildung einer Neurose kommt. Diese Vorstellung liegt in der Konsequenz und auf der Linie seiner frühen Theorie, die er, ohne Verbesserungen und Veränderungen zu machen, im Kern hier wieder aufnimmt. Aus ihr ergibt sich, dass die analytische Kur im wesentlichen in einer Stärkung des Ichs besteht. Dieses Ich war von der Kindheit her zu schwach und wird durch die analytische Kur dazu befähigt, jetzt mit den Triebkräften fertig zu werden. Die Stärkung des Ichs gegen den Ansturm der Triebkräfte ist das Wesen der analytischen Therapie.

Zweitens ist zu fragen, was nach Freud eine erfolgreiche analytische Behandlung ist. In Die endliche und die unendliche Analyse (S. Freud, 1937c, S. 63) nennt Freud als erste Bedingung, dass „der Patient nicht mehr an seinen Symptomen leidet und seine Ängste wie seine Hemmungen überwunden hat“. Es gibt aber noch eine zweite sehr wichtige Bedingung. Freud glaubt nicht, dass die Befreiung von Symptomen, also das Verschwinden der Symptome allein, bereits Heilung bedeutet. Nur wenn der Analytiker davon überzeugt ist, dass ausreichend unbewusstes Material an die Oberfläche gebracht wurde, das erklären kann, warum die Symptome sich aufgelöst haben, kann von einer Heilung gesprochen und davon ausgegangen werden, dass die früheren [XII-240] Symptome nicht mehr wiederkehren. Freud spricht im Zusammenhang mit dem analytischen Prozess von der „Bändigung der Triebe“ und davon, dass „der Trieb (...) allen Beeinflussungen durch die anderen Strebungen im Ich zugänglich ist“ (S. Freud, 1937c, S. 64 und S. 68). Zuerst also werden die Triebe zu Bewusstsein gebracht – denn wie sollten sie sich sonst bändigen lassen? –, dann wird in der analytischen Kur das Ich gestärkt und gewinnt jene Stärke, die es in der Kindheit nicht entwickeln konnte.

Des Weiteren ist nach den Faktoren zu fragen, die Freud in Die endliche und die unendliche Analyse für das Ergebnis einer Analyse – für die Heilung oder für das Scheitern der Analyse – verantwortlich macht. Er erwähnt drei Faktoren: erstens den „Einfluss von Traumen“, zweitens die „konstitutionelle Triebstärke“ und drittens die „Ichveränderung“ im Prozess der Abwehr gegen den Ansturm der Triebe (S. Freud, 1937c, S. 68). Eine ungünstige Prognose ergibt sich nach Freud, wenn eine konstitutionell gegebene Stärke der Triebe auf ein in der Abwehr geschwächtes Ich stößt. Da Freud selbst diese Konstellation in Die endliche und die unendliche Analyse nicht ganz klärt, konzentriere ich mich hier auf die beiden ersten Faktoren, auf den Einfluss der Traumen und auf die konstitutionelle Triebstärke.

Es ist hinlänglich bekannt, dass der konstitutionelle Faktor der Triebstärke für Freud hinsichtlich der Heilung einer Krankheit von entscheidender prognostischer Bedeutung war. Es ist schon sehr seltsam, dass Freud quer durch sein ganzes Werk, von den frühen Schriften bis zu seinen allerletzten, die Bedeutung der konstitutionellen Faktoren unterstrich, und dass Freudianer wie Nicht-Freudianer diesen Faktoren, die Freud so wichtig waren, höchstens Lippenbekenntnisse gezollt haben.

Für Freud war also der eine die Heilung ungünstig beeinflussende Faktor die konstitutionelle Triebstärke, und zwar selbst bei normaler Ichstärke. Aber auch der zweite die Heilung ungünstig beeinflussende Faktor, die Ich-Verschiedenheit, kann konstitutionell sein. Es gibt für Freud deshalb auf beiden Seiten einen konstitutionellen Faktor: auf der Seite der Triebe und auf der Seite des Ichs. Schließlich gibt es einen weiteren Faktor, der sich ungünstig auswirkt, nämlich jenen Teil des Widerstands, der seine Quelle im Todestrieb hat. Dieser zusätzliche Faktor taucht erst mit Freuds späterer Theoriebildung auf. Im Jahre 1937, als Die endliche und die unendliche Analyse entstand, sah Freud auch in diesem Faktor einen die analytische Kur ungünstig beeinflussenden Faktor (vgl. S. Freud, 1937c, S. 88°f.).

Welche Voraussetzung sieht Freud als günstig für die analytische Behandlung an? Eigenartigerweise nehmen die wenigsten wahr, dass Freud in der Schrift Die endliche und die unendliche Analyse die These vertritt, dass die Chancen für die Heilung umso günstiger sind, je größer das Trauma ist. Ich möchte der Frage nachgehen, warum dies so ist und wohl auch von Freud so vertreten wurde, auch wenn er nur wenig darüber schreibt. Der andere für den therapeutischen Erfolg günstige Faktor ist nach Freud die Person des Psychoanalytikers. In dieser letzten Schrift macht Freud eine sehr interessante Bemerkung zur analytischen Situation, die es wert ist, zitiert zu werden: Beim Psychoanalytiker sei zu fordern, „dass er auch eine gewisse Überlegenheit benötigt, um auf den Patienten in gewissen analytischen Situationen als Vorbild, in anderen als Lehrer zu wirken. Und endlich ist nicht zu vergessen, dass die analytische Beziehung auf Wahrheitsliebe, das heißt auf die Anerkennung der Realität gegründet [XII-241] ist und jeden Schein und Trug ausschließt“ (S. Freud, 1937c, S. 94). – Meines Erachtens macht Freud mit dieser wichtigen Feststellung sehr klar, dass der Ausschluss von Schein und Trug ein entscheidender Faktor auf Seiten des Analytikers ist, der dazu beiträgt, dass ein Patient von seinen Symptomen loskommt.

In meiner Kritik an der Freudschen Sicht möchte ich zuerst auf eine Freudsche Vorstellung zu sprechen kommen, die er nicht eigens ausdrückt, die sich aber doch – wenn ich ihn richtig verstehe – unterschwellig durch sein ganzes Werk durchzieht: seine durchgängig mechanistische Betrachtungsweise des therapeutischen Prozesses. Bekanntlich war Freud ursprünglich der Ansicht, dass das Auf- oder Entdecken des verdrängten Affektes die Wirkung habe, dass der Affekt sich sozusagen mit dem Bewusstwerden auflöse. Dieser Vorgang wurde „Abreagieren“ genannt, wobei ein ganz mechanisches Vorstellungsmodell Pate stand, etwa so, wie wenn Eiter aus einem entzündeten Pickel ausfließt, was als natürlicher und automatischer Vorgang angesehen wird.

Freud und viele andere Psychoanalytiker merkten, dass dies nicht wahr sein konnte. Dieser Vorstellung zufolge müssten jene, die ihre Irrationalität am meisten ausleben, die gesündesten Menschen sein. Doch sie sind eben nicht die gesündesten. Deshalb wurde die Theorie aufgegeben und durch eine weniger deutliche ersetzt. Gemäß dieser verschwinden die Symptome einfach, sobald ein Patient Einsicht zeigt oder – um ein anderes Wort zu benutzen – sobald er seiner unbewussten Realität gewahr wird. Der Patient muss sich dabei in Wirklichkeit nicht besonders anstrengen; er muss lediglich kommen und frei assoziieren und die damit notwendigerweise verbundenen Ängste durchstehen. Vorausgesetzt, es gelingt ihm, seine Widerstände zu überwinden und das verdrängte Material zum Vorschein kommen zu lassen, wird es ihm gut gehen. Das Ergebnis ist aber nicht eine Frage der besonderen Anstrengung und des besonderen Willens des Patienten. Diese Sicht ist zweifellos nicht mehr so mechanistisch, wie Freuds ursprüngliche Theorie des „Abreagierens“ es war. Dennoch beinhaltet sie in meinen Augen noch immer mechanistische Vorstellungen. Sie impliziert, dass der Prozess reibungslos verlaufen und es dem Patienten gut ergehen wird, wenn das Material nur aufgedeckt wird.

Nachfolgend möchte ich einige weiterführende Gedanken und einige Revisionen der Ansichten Freuds über die Wirkfaktoren beim therapeutischen Prozess mitteilen. Hinsichtlich der Frage, was eine analytische Behandlung ist, stimme ich mit der allen Psychoanalytikern gemeinsamen Überzeugung überein, dass nach Freud die Psychoanalyse als eine Methode definiert werden kann, die die unbewusste Wirklichkeit eines Menschen aufzudecken versucht und die annimmt, dass ein Mensch bei diesem Aufdeckungsprozess die Chance hat, dass es ihm bessergeht. Dieses Ziel vor Augen, reduziert sich der Streit unter den verschiedenen Schulen beträchtlich. Wer immer dieses Ziel verfolgt, weiß, wie schwierig und trügerisch es ist, die unbewusste Wirklichkeit in einem Menschen aufzuspüren, so dass man sich nicht zu sehr über die verschiedenen Wege, auf denen man dies versucht, ereifern muss. Vielmehr sucht man, welcher Weg, welche Methode, welcher Zugang für dieses Ziel, das für die Psychoanalyse kennzeichnend ist, passender ist. Andererseits behaupte ich, dass jede therapeutische [XII-242] Methode, die dieses Ziel nicht verfolgt, zwar therapeutisch sehr wertvoll sein mag, jedoch nichts mit Psychoanalyse zu tun hat. Ich würde genau an dieser Stelle eine ganz klare Trennungslinie ziehen.

Ich möchte hier nicht gegen die Vorstellung Freuds, dass mit der therapeutischen Arbeit sozusagen der Damm gegen den Ansturm der Triebkräfte verstärkt wird, argumentieren. Es spricht durchaus vieles zugunsten einer solchen Vorstellung. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf eine Abgrenzung wie der zwischen Psychose und Neurose, denn hier geht es wirklich um die Brüchigkeit des Ichs und um die eigenartige Frage, warum der eine unter der Wucht bestimmter Impulse zusammenbricht, der andere aber nicht. Ich verneine deshalb die Gültigkeit der allgemeinen Vorstellung nicht, dass die Ichstärke etwas mit dem therapeutischen Prozess zu tun hat. Trotz dieses Zugeständnisses ist für mich das Hauptproblem der Neurose und ihrer Heilung aber gerade nicht so zu begreifen, dass es auf der einen Seite irrationale Leidenschaften gibt und auf der anderen Seite ein Ich, das den Menschen dagegen schützt, krank zu werden.

Für mich gibt es eine andere Gegenüberstellung, nämlich die zweier Arten von Leidenschaften, die sich bekämpfen: Es gibt archaische, irrationale und regressive Leidenschaften, die im Kampf mit anderen Leidenschaften des Menschen liegen. Unter den archaischen Leidenschaften verstehe ich näherhin eine starke Mutterbindung, intensive Destruktivität und extremen Narzissmus.

Mit starker Bindung meine ich eine symbiotische Fixierung – oder in Freudscher Terminologie: eine prägenitale Fixierung – an die Mutter. Ich verstehe darunter jene tiefe Bindung, deren Ziel die Rückkehr in den Bauch der Mutter oder die Rückkehr ins Tote ist. Freud selbst hat in seinen späteren Schriften gesagt, er habe die Bedeutung der prägenitalen Fixierung unterschätzt, hatte er doch in seinem gesamten Werk die genitale Fixierung betont und dabei das Problem des Mädchens nicht gewürdigt. Für den Jungen konnte er plausibel machen, dass alle Probleme mit der erotisch-sexuellen Bindung an die Mutter beginnen sollten; beim Mädchen gibt dies jedoch keinen rechten Sinn. Freud erkannte schließlich eine starke prägenitale Bindung an die Mutter – also eine nicht-sexuelle Bindung im engeren Sinne des Wortes –, die es beim Jungen und Mädchen gleichermaßen gibt und der er in seinen Schriften grundsätzlich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Doch auch diese Bemerkung Freuds ist in der psychoanalytischen Literatur irgendwie verlorengegangen. So kommt es, dass die Psychoanalytiker, wenn sie von der ödipalen Phase, dem ödipalen Konflikt und allem, was damit zusammenhängt, sprechen, im allgemeinen in Begriffen der genitalen und nicht der prägenitalen Fixierung oder Bindung an die Mutter denken.

Mit Destruktivität meine ich hier nicht jene Destruktivität, die ihrem Wesen nach defensiv ist und im Dienste des Lebens steht; es geht mir auch nicht einmal um jene Destruktivität, die sekundär in der Verteidigung des Lebens steht wie etwa der Neid oder die Enttäuschung, sondern um jene Destruktivität, bei der der Wunsch zu zerstören Selbstzweck ist. Ich nenne diese Art von Destruktivität „Nekrophilie“. (Vgl. zu den hier genannten Faktoren und Quellen wirklich schwerer Pathologien die Ausführungen, die ich in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 179-185] gemacht habe.) [XII-243]

Starke Mutterbindung, nekrophile Destruktivität und extremer Narzissmus sind maligne Leidenschaften, insofern sie bei schweren psychischen Erkrankungen vorkommen und für diese ursächlich sind. Gegen diese bösartigen Leidenschaften gibt es meiner Überzeugung nach auch gegenläufige Leidenschaften im Menschen: die Leidenschaft zu lieben und das leidenschaftliche Interesse an der Welt – also alles, was man mit Eros umschreiben könnte. Zu diesen Leidenschaften gehört nicht nur das leidenschaftliche Interesse an Menschen, sondern auch das leidenschaftliche Interesse an der Natur, an der Wirklichkeit, dazu gehört die Lust am Denken, dazu gehören alle künstlerischen Interessen.

Es ist heute modern geworden, über das, was die Freudianer „Ichfunktionen“ nennen, zu sprechen. Dies kommt mir allerdings so vor, als würde man jetzt Amerika entdecken, obwohl es vor langer Zeit schon entdeckt worden ist. Denn außerhalb der Freudschen Orthodoxie zweifelte niemand im Ernst daran, dass es viele seelische Funktionen gibt, die nicht das Ergebnis von Instinkten im sexuellen Sinne sind. Die neue Betonung des Ichs, wie sie die Ich-Psychologie vertritt, geht auf Kosten der Betonung der Leidenschaften, also des wertvollsten Teils des Freudschen Denkens. Sicherlich ist der Begriff der Ichstärke in gewisser Weise sinnvoll, doch das Ich ist vor allem der Vollstrecker von Leidenschaften, und zwar sowohl von bösartigen als auch von gutartigen Leidenschaften. Worauf es beim Menschen ankommt, was sein Handeln bestimmt, was seine Persönlichkeit ausmacht, dies alles hängt davon ab, welche Leidenschaften ihn bewegen. Um ein Beispiel zu geben: Es kommt alles darauf an, ob ein Mensch von einem leidenschaftlichen Interesse an allem, was tot, zerstörerisch und leblos ist, bestimmt wird, also von dem, was ich „Nekrophilie“ nenne, oder ob er von der „Biophilie“ bewegt wird, also dem leidenschaftlichen Interesse an allem, was lebendig ist. Beide sind Leidenschaften und keine logischen Produkte; beide sind nicht im Ich, sondern Teile der gesamten Persönlichkeit. Sie sind keine Ichfunktionen, sondern vielmehr zwei Arten von Leidenschaften.

Ich schlage deshalb folgende Revision der Freudschen Theorie vor: Das Hauptproblem ist nicht im Kampf des Ichs gegen die Leidenschaften zu sehen, sondern in zwei verschiedenen Arten von Leidenschaften, die sich bekämpfen.

2. Benigne und maligne Neurosen.
Mit einem Fallbeispiel für eine gutartige Neurose

Bevor ich mich der Frage zuwende, was ich unter einer psychoanalytischen Behandlung verstehe und welche Wirkfaktoren zur Heilung führen, gilt es, sich der Frage zuzuwenden, welche Arten von Neurosen es gibt. Nun gibt es zahlreiche Klassifikationen der Neurose und viele Änderungen bei den Klassifikationen. Karl Menninger hat bekanntlich vor kurzem die Meinung vertreten, dass die meisten dieser Klassifikationen wertlos sind, ohne allerdings eine neue Klassifikation vorzuschlagen oder ein wesentliches Klassifizierungskonzept zu empfehlen. Ich möchte hiermit eine in gewisser Hinsicht sehr einfache Klassifizierung vorschlagen, indem ich zwischen einer benignen und einer malignen Neurose unterscheide.

Zu einer benignen oder leichten Neurose kommt es bei Menschen, die nicht von einer der genannten malignen Leidenschaften ergriffen sind, sondern deren Neurose Ausdruck ernster Traumata ist. Ich stimme hier ganz mit Freud überein, der einer psychoanalytischen Kur die besten Erfolgschancen bei jenen Neurosen einräumte, bei denen ein Patient an sehr schweren Traumen litt. Wenn nämlich ein Patient ein schweres Trauma überlebt, ohne psychotisch zu werden oder schwere und äußerst alarmierende Erkrankungsformen zu entwickeln, dann zeigt dies, dass er konstitutionell mit einer großen Stärke ausgestattet ist. In diesen Fällen ist das, was ich gerne den „Kern der Charakterstruktur“ nenne, nicht ernsthaft beschädigt. Diese Menschen sind nicht durch ernste regressive Kräfte, durch die schweren Formen maligner Leidenschaften gekennzeichnet, so dass hier eine Psychoanalyse die besten Chancen hat. Natürlich erfordert auch eine solche Analyse intensive Arbeit, und natürlich muss das, was der Patient verdrängt hat, geklärt und zu Bewusstsein gebracht werden: die Natur der traumatischen Faktoren sowie die Reaktionen des Patienten auf diese traumatischen Faktoren, in denen ja häufig deren wahre Eigenart verleugnet wird.

Ich möchte eine benigne Neurose mit folgendem Fallbeispiel einer 25-jährigen Patientin illustrieren: Die Frau ist unverheiratet und kommt wegen ihrer Homosexualität. Seit ihrem 18. Lebensjahr hatte sie nur homosexuelle Beziehungen zu anderen Frauen. Als sie den Psychoanalytiker aufsucht, lebt sie gerade in einer homosexuellen Beziehung zu einer Kabarett-Sängerin, besucht deren Vorstellungen jede Nacht, betrinkt sich und wird depressiv. Sie versucht, aus diesem Teufelskreis [XII-245] herauszukommen, doch sie unterwirft sich ihrer Freundin je neu, obwohl diese sie widerwärtig behandelt. Sie ängstigt sich aber so sehr, diese Freundin zu verlassen, und lässt sich von deren Drohungen so sehr einschüchtern, dass sie bei ihr bleibt.

Das Bild, das sie zeigt, ist ziemlich schlecht: ein Fall von Homosexualität, jedoch charakterisiert durch eine permanente Angst, durch eine leichte Depression, durch eine Ziellosigkeit des Lebens usw. Ihre Lebensgeschichte ist bestimmt durch ihre Mutter, die in einem Land außerhalb der Vereinigten Staaten jahrelang die Geliebte eines reichen Mannes war. Die Mutter blieb immer nur die Geliebte dieses einen Mannes. Die Patientin war das Ergebnis dieser Beziehung, die kleine Tochter. In gewisser Weise war der Mann durchaus vertrauensvoll, unterstützte auch immer Mutter und Kind, doch er trat nie als Vater vor anderen auf, so dass er für die Patientin als Vater nicht präsent war. Die Mutter allerdings war sehr intrigant und benützte das kleine Mädchen nur, um vom Vater der Patientin mehr Geld herauszuholen. Sie schickte die Patientin zum Vater, um ihn zu erpressen; sie nützte die Tochter aus, wann immer sie konnte. Die Schwester der Mutter besaß ein Bordell. Dort wurde versucht, die Patientin in die Prostitution einzuführen; sie war auch in späteren Jahren zweimal dort und trat gegen Geld nackt vor Männern auf. Vermutlich bedurfte es einer Menge Widerstandskraft in ihr, um nicht mehr zu tun. Sie war sehr in Verlegenheit, als sie von den Kindern ihres Viertels mit Namen belegt wurde, die zeigten, dass sie nicht nur ein Mädchen ohne Vater war, sondern auch die Nichte einer Bordellbesitzerin.

Die Patientin hatte sich mit 15 Jahren zu einem verängstigten, zurückgezogenen Mädchen entwickelt, das keinerlei Vertrauen ins Leben hatte. Da sandte sie der Vater in einer seiner Launen in ein College in die Vereinigten Staaten. Man kann sich kaum einen plötzlicheren Wechsel der Szenerie für das Mädchen vorstellen: Sie kam in ein ziemlich vornehmes College, stieß dort auf ein Mädchen, das sie auf eine bestimmte Art mochte und ihr herzlich zugetan war, und begann mit diesem Mädchen eine homosexuelle Beziehung. Daran ist eigentlich nichts Verwunderliches. Ich denke, es ist ganz normal, dass ein so verängstigtes Mädchen mit einer solchen Vorgeschichte eine sexuelle Beziehung mit jedem Wesen, das ihm wirklich herzlich zugetan ist, beginnt, sei dies ein Mann, eine Frau oder ein Tier. Es war das erste Mal, dass sie aus ihrer Hölle herauskam. Danach hatte sie noch andere homosexuelle Beziehungen. Sie kehrte in ihr Heimatland zurück, geriet wieder in das gleiche Elend mit der immer gleichen Ungewissheit und dem gleichen Gefühl der Beschämung. Dann traf sie auf die eingangs erwähnte Frau, die sie in einem Zustand der Hörigkeit festhielt. In dieser Situation kam sie zur Psychoanalyse.

In der etwa zwei Jahre dauernden Psychoanalyse verließ sie zuerst die homosexuelle Freundin und lebte einige Zeit alleine. Dann verabredete sie sich mit Männern, verliebte sich in einen von ihnen und heiratete ihn. In der sexuellen Beziehung zu ihm war sie nicht einmal frigide. – Offensichtlich lag bei der Patientin kein Fall von Homosexualität im echten Sinn des Wortes vor. Ich sage „offensichtlich“, denn manche mögen mir in meiner Einschätzung nicht folgen. Meiner Meinung nach aber war nicht mehr Homosexualität im Spiel, als vermutlich den meisten Menschen als Potenzial zu eigen ist.

In Wirklichkeit ging es darum, dass diese Frau geradezu eine Todesangst vor dem [XII-246] Leben hatte, was sich auch in ihren Träumen zeigte. Sie war wie ein Mädchen aus einem Konzentrationslager, dessen Erwartungen und Ängste völlig von dieser Erfahrung geprägt sind. Verglichen mit der sonst üblichen Dauer von Psychoanalysen entwickelte sich diese Patientin innerhalb einer relativ kurzen Zeit zu einer völlig normalen Frau mit normalen Reaktionen.

Mit diesem Fallbeispiel möchte ich darauf hinweisen, eine wie mächtige Rolle meiner – und, wie ich glaube, wohl auch Freuds – Meinung nach das Trauma im Unterschied zu den konstitutionellen Faktoren bei der Entstehung von Neurosen spielt. Ich bin mir darüber klar, dass, wenn Freud vom Trauma spricht, er etwas anderes meint als ich; Freud würde nach einem Trauma Ausschau halten, das im wesentlichen sexueller Natur ist; und er würde nach einem Trauma suchen, das sich in früheren Zeiten ereignet hat. Meiner Überzeugung nach ist das Trauma oft ein fortdauernder Prozess, bei dem eine Erfahrung auf die andere folgt, so dass schließlich ein ganzer Turm von aufeinander aufgeschichteten Erfahrungen entsteht und es, vergleichbar in bestimmter Hinsicht mit den Kriegsneurosen, schließlich zu einem Zerreißpunkt kommt und der Patient erkrankt.

In jedem Fall ist die Erkrankung auf Grund eines Traumas etwas, das sich in der Umwelt ereignet und eine echte Lebenserfahrung ist. Bei der beschriebenen Patientin und bei derartigen Patienten gibt es solche Traumatisierungen, doch der Kern ihrer Charakterstruktur wurde durch die Traumen nicht ernsthaft beschädigt. Auch wenn das äußere Bild eine schwere Erkrankung nahelegt, so ist es doch auf Grund des intakt gebliebenen Kerns der Charakterstruktur und der konstitutionellen Gesundheit durchaus möglich, mit Hilfe des therapeutischen Prozesses die reaktive Neurose innerhalb einer relativ kurzen Zeit zu heilen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang unterstreichen, dass bei einer benignen oder reaktiven Neurose die traumatische Erfahrung immer etwas ganz „Massives“ sein muss, das hinreichend erklärt, warum es zu einer neurotischen Erkrankung kam. Wird das Traumatische zum Beispiel im schwachen Vater und in einer starken Mutter gesehen, dann erklärt dieses Trauma nicht, warum jemand erkrankt, denn es gibt viele Menschen, die einen schwachen Vater und eine starke Mutter haben und doch nicht neurotisch erkranken. Wer also eine Neurose mit einem traumatischen Ereignis erklären möchte, der muss annehmen, dass die traumatischen Ereignisse von so außerordentlicher Natur sind, dass es undenkbar ist, dass Menschen unter den gleichen traumatischen Ereignissen psychisch gesund bleiben. Deshalb ist es in den Fällen, in denen nur ein schwacher Vater und eine starke Mutter aufzuweisen sind, näherliegend, an die Auswirkung konstitutioneller Faktoren zu denken. Diese Faktoren lassen dann einen Menschen zu einer neurotischen Entwicklung geneigt sein, in der ein schwacher Vater und eine starke Mutter nur deshalb traumatisierend werden können, weil die konstitutionellen Faktoren bereits das Neurotische in sich tragen. Unter idealen Bedingungen müsste ein solcher Mensch nicht notwendig neurotisch erkranken.

Es ist deshalb für mich nicht akzeptabel, die schwere Erkrankung eines Menschen mit Gründen plausibel machen zu wollen, die in gleicher Weise auch für viele andere Menschen gelten, ohne dass diese schwer erkranken. Genauso wenig überzeugend ist es für mich, wenn bei einer Familie mit acht Kindern, von denen eines psychisch [XII-247] erkrankt, argumentiert wird, dass die Neurose dieses einen Kindes damit zu erklären ist, dass es das erste oder das zweite oder das mittlere usw. ist und dass es eben diese Erfahrung ist, die das eine von allen anderen unterscheide. Eine solche Argumentation ist für die, die es bequem haben wollen, sehr schön, weil sie glauben, das Trauma entdeckt zu haben; für mich zeigt sich darin nur ein ganz unlogisches Denken.

Natürlich gibt es auch den Fall, dass eine traumatische Erfahrung während der Psychoanalyse nicht zum Vorschein kommt. Und wenn es einem erfahrenen Psychoanalytiker gelingt, eine echte und außerordentlich starke traumatische Erfahrung ausfindig zu machen, und er aufzeigen kann, wie dieses Trauma für die Entwicklung der Neurose entscheidend war, dann ist dies nur gut. Ich möchte hier nur betonen, dass man etwas nicht einfach zu einer traumatischen Erfahrung erklären kann, was sich in vielen anderen Fällen nicht als traumatisch herausstellt. Dies bedeutet nicht, dass es nicht eine große Zahl von wirklich traumatischen Erfahrungen gibt. Der Fallbericht sollte hierfür ein Beispiel sein.

Ich möchte an dieser Stelle noch ein anderes Beispiel erwähnen, das schwierige Fragen aufwirft. Es betrifft den modernen Organisationsmenschen und die Frage, wie krank dieser eigentlich ist, wenn er so entfremdet, narzisstisch, ohne Bezogenheit, ohne wirkliches Interesse für das Leben ist. Wie krank ist ein Mensch, der sich nur für Apparate und Maschinen interessiert und den ein Sportwagen mehr bewegt als eine Frau?

Einerseits kann man sicher einwenden, dass der moderne Mensch sehr krank ist, was sich auch an bestimmten Symptomen zeigt: Er hat Angst, ist unsicher und benötigt eine andauernde Bestätigung seines Narzissmus. Andererseits könnte man sagen, dass nicht eine ganze Gesellschaft in diesem Sinne krank sein kann, denn schließlich funktionieren die Menschen ja. Das Problem für diese Menschen besteht meiner Meinung nach darin, sich erfolgreich an die allgemeine Krankheit – an das, was man die „Pathologie der Normalität“ nennen kann – anzupassen. Das therapeutische Problem ist in diesen Fällen sehr schwierig, denn der moderne Organisationsmensch leidet ja an einem Kernkonflikt, das heißt, an einer tiefen Störung in seinem Persönlichkeitskern, also an einer extremen Form des Narzissmus und an einem Mangel an Liebe zum Leben. Wollte man ihn heilen, bedürfte es in erster Linie einer Veränderung in der gesamten Persönlichkeit; gleichzeitig hätte man fast die gesamte Gesellschaft gegen sich, denn die Gesellschaft begünstigt seine Neurose. So ergibt sich die paradoxe Situation, dass man es theoretisch mit einem kranken Menschen zu tun hat, der aber vom Standpunkt der Gesellschaft aus nicht als krank gilt. Zu bestimmen, was in diesem Fall die Psychoanalyse tun könnte, ist deshalb auch für mich ein sehr schwieriges Problem.

Bei den benignen Neurosen ist die therapeutische Aufgabe vergleichsweise einfach, denn man hat es mit einem intakten Kern der Energiestruktur, der Charakterstruktur zu tun. Man befasst sich mit traumatischen Ereignissen, die die etwas pathologische Deformation erklären. In der psychoanalytischen Atmosphäre, das heißt einerseits durch das Herausarbeiten des Unbewussten und andererseits durch die Hilfe, die die therapeutische Beziehung zum Analytiker darstellt, haben diese Menschen eine gute Chance, wieder gesund zu werden. [XII-248]

Bei den malignen Neurosen hat der Kern der Charakterstruktur Schaden genommen, so dass die Menschen entweder sehr nekrophile oder narzisstische oder muttergebundene Tendenzen zeigen, wobei in besonders schwerwiegenden Fällen gewöhnlich alle drei zugleich auftreten und die Tendenz haben, sich einander anzunähern. Die Aufgabe der psychoanalytischen Behandlung ist hier, die Energieladungen innerhalb der Kernstruktur zu verändern, das heißt, bei der Behandlung müssen der Narzissmus, die Nekrophilie und all die inzesthaften Fixierungen eine Veränderung erfahren. Auch wenn sie sich nicht völlig ändern lassen, so bringt doch schon eine geringe Energiezufuhr bei den – wie die Freudianer sagen – „Besetzungen“ dieser verschiedenen Formen eine spürbare Veränderung für diese Menschen mit sich. Wenn es einem solchen Patienten gelingt, seinen Narzissmus zu reduzieren oder seine Biophilie ein wenig mehr zu entwickeln oder zu einem echten Interesse am Leben zu kommen, dann hat dieser Mensch eine gewisse Chance zur Besserung.

Die Chancen für eine analytische Behandlung von malignen Fällen unterscheiden sich sehr von denen benigner Fälle. Dessen sollte man sich meines Erachtens immer bewusst sein. Es geht beim Unterschied zwischen den benignen und malignen Fällen nicht um den Unterschied zwischen Neurosen und Psychosen, denn viele der hier als maligne bezeichneten Charakterneurosen haben nichts Psychotisches. Mir geht es bei den malignen Neurosen um ein Phänomen, das man bei neurotischen Patienten mit Symptomen und ohne Symptome finden kann, die weder psychotisch noch psychosenah sind, ja vermutlich niemals psychotisch werden, bei denen aber die Frage der psychoanalytischen Behandlung eine gänzlich andere ist.

Ein wichtiger Unterschied in der Behandlung maligner Neurosen betrifft die Eigenart des Widerstands. Bei einer benignen Neurose resultiert der Widerstand im Großen und Ganzen aus einer Unentschlossenheit, aus einer gewissen Angst usw., so dass der Widerstand, eben weil der Kern der Persönlichkeit gesund ist, auch relativ leicht zu überwinden ist. Ganz anders verhält es sich mit dem Widerstand bei den malignen, schweren Neurosen. Hier ist der Widerstand tief verwurzelt, denn ein solcher Mensch müsste sich und vielen anderen bekennen, dass er in Wirklichkeit völlig narzisstisch ist und sich um gar niemand anderen kümmert. Er muss also gegen die Einsicht mit einem viel größeren Nachdruck kämpfen als einer, der an einer benignen Neurose leidet.

Welche therapeutischen Methoden sind bei schweren Neurosen anzuwenden? Ich teile nicht die Auffassung, dass es im Kern nur um eine Stärkung des Ichs geht. Meines Erachtens geht es bei der analytischen Behandlung im wesentlichen darum, dass der Patient den irrationalen, archaischen Teil seiner Persönlichkeit mit den eigenen gesunden, erwachsenen und normalen Teilen konfrontiert. Diese Konfrontation erzeugt einen Konflikt, der seinerseits Kräfte aktiviert, die in jedem Menschen mehr oder weniger stark vorhanden, jedoch konstitutionell gegeben sind und die nach Gesundheit und nach einem besseren Gleichgewicht zwischen dem Einzelnen und der Welt streben. Das Entscheidende der psychoanalytischen Behandlung liegt für mich in eben diesem Konflikt, der durch das Aufeinandertreffen des irrationalen und des rationalen Teils der Persönlichkeit erzeugt wird.

Diese Sicht der Dinge hat natürlich Konsequenzen bezüglich der psychoanalytischen [XII-249] Technik. Eine Konsequenz ist, dass der Patient in der Psychoanalyse sozusagen auf zwei Gleisen fahren muss: Er muss sich einerseits wie ein kleines Kind von zwei oder drei Jahren zeigen und das, was ihm unbewusst ist, selbst erleben; andererseits aber muss er gleichzeitig ein erwachsener und verantwortlicher Mensch sein, der sich mit diesem Teil von sich konfrontiert, denn nur in eben dieser Konfrontation kann er den Schock und den Konflikt fühlen sowie ein Gespür für die notwendigen Schritte erwerben, die bei der psychoanalytischen Behandlung notwendig sind.

Im Vergleich hierzu ist die Freudsche Methode ganz anders, wobei es hier zwei Extreme gibt. Bei dem einen Extrem der Freudschen Therapie wird der Patient letztlich künstlich zum Kind gemacht; diesem Zweck dient das ganze Setting mit der Couch und dem dahinter sitzenden Analytiker. Wie schon René Spitz zeigte, ist die künstliche Infantilisierung der wirkliche Zweck der analytischen Situation. Sie soll bewirken, dass mehr vom unbewussten Material hochkommen kann. Ich glaube jedoch, dass diese Methode den großen Nachteil hat, dass der Patient sich nie mit diesem archaischen und infantilen Material wirklich konfrontiert; vielmehr wird er gleichsam zu seinem Unbewussten, er wird ein Kind. Das, wozu es kommt, ist in gewisser Weise ein Traum, ein Traum im Wachzustand. Alles kommt hoch und tritt in Erscheinung, doch der Patient ist nicht da.

Es stimmt eben nicht, dass der Patient ein kleines Kind ist. Wenn wir für einen Moment einmal annehmen, dass es sich nicht um einen an einer schweren Psychose Erkrankten handelt, dann gilt, dass der Patient zugleich immer ein normales, erwachsenes Wesen ist, das mit Sinnen, Intelligenz und mit den verschiedensten Reaktionsmustern ausgestattet ist, die es zu einem normalen Wesen machen. Und eben dies ist der Grund, warum er auf sein eigenes Kindsein in ihm reagieren kann. Kommt es nicht zu dieser Konfrontation – und nach der Freudschen Methode kommt es im allgemeinen nicht dazu –, dann wird auch nicht der Konflikt in Erscheinung treten. Wird dieser Konflikt aber nicht in Gang gebracht, dann fehlt der psychoanalytischen Behandlung meines Erachtens eine ihrer wichtigsten Voraussetzungen.

Es gibt noch ein anderes Extrem Freudscher psychotherapeutischer Methode, das manchmal auch Psychoanalyse genannt wird. Hier degeneriert der gesamte psychoanalytische Prozess zu einer psychologischen Unterhaltung zwischen dem Analytiker und dem Erwachsenen im Patienten, wobei das Kind im Patienten überhaupt nicht mehr in Erscheinung tritt. Der Patient wird behandelt, wie wenn es überhaupt keine archaischen Kräfte in ihm gäbe. Man hofft, dass man den Patienten durch eine Art Überredung heilen wird, indem man ihm sagt: „Ihre Mutter war schlimm, Ihr Vater war schlimm, aber ich werde Ihnen helfen, Sie können sich bei mir sicher fühlen.“ Vielleicht kann eine sehr leichte Neurose auf diese Weise geheilt werden, doch gibt es dafür wahrlich kürzere Methoden als eine fünfjährige Psychoanalyse. Eine schwere Neurose wird sich niemals heilen lassen, es sei denn, man hat – wie Freud sagte – ausreichend unbewusstes und bedeutsames Material ausgegraben und aufgedeckt.

Für mich ist die psychoanalytische Situation sowohl für den Patienten als auch im gewissen Sinne für den Analytiker eine paradoxe: Der Patient ist in der psychoanalytischen Situation weder nur ein Kind und ein irrationaler Mensch mit allen möglichen verrückten Phantasien, noch ist er nur der Erwachsene, mit dem man sich auf intelligente [XII-250] Weise über seine Symptome unterhalten kann; vielmehr muss der Analysand fähig sein, sich in derselben Stunde gleichzeitig als beides zu erleben, so dass er eben jene Konfrontation spüren kann, die das Entscheidende in Gang bringt.

Der entscheidende Punkt bei der psychoanalytischen Behandlung ist für mich der wirkliche Konflikt, der sich im Patienten auf Grund dieser Konfrontation zuspitzt. Dies lässt sich weder theoretisch bewältigen noch mit Worten erledigen. Was bedeutet es, wenn zum Beispiel ein Patient sagt: „Ich habe so sehr Angst vor meiner Mutter?“ Geht es um die Angst, die wir alle kennen, wenn wir uns vor dem Lehrer in der Schule fürchteten oder vor einem Polizisten oder wenn wir Schläge erwarteten? Eine solche Angst ist nicht weltbewegend. Der Patient kann aber auch, wenn er von seiner Angst vor seiner Mutter spricht, eine Angst meinen, die sich etwa so umschreiben lässt: „Ich soll in einen Käfig gesteckt werden. In diesem Käfig ist aber ein Löwe. Jemand tut mich hinein und schließt die Türe, und ich spüre panische Angst.“ Dass es um eine solche Angst geht, zeigt sich oft in den Träumen, wenn ein Alligator oder ein Löwe oder ein Tiger den Patienten anzufallen droht. Allein mit den Worten „Ich habe Angst vor meiner Mutter“ kommt man nicht an die wirkliche Angst heran, mit der der Patient zu kämpfen hat.

3. Konstitutionelle und andere Wirkfaktoren

Unter den weiteren günstigen und ungünstigen Wirkfaktoren für die Therapie sind an erster Stelle die konstitutionellen zu nennen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass meines Erachtens die konstitutionellen Wirkfaktoren viel wichtiger zu nehmen sind. Hätte ich vor 30 Jahren über konstitutionelle Wirkfaktoren das gehört, was ich jetzt gleich darüber ausführen werde, dann hätte ich mich sehr darüber entrüstet. Ich hätte wohl von einer reaktionären oder faschistischen Art von Pessimismus gesprochen, der keinerlei Veränderung zulasse. Im Laufe meiner psychoanalytischen Arbeit kam ich aber auf Grund meiner eigenen Erfahrung (und nicht auf Grund theoretischer Überlegungen, zumal ich kaum etwas über Vererbung weiß) immer mehr zu der Überzeugung, dass die Annahme einfach nicht wahr ist, dass die Schwere der Neurose proportional zu der Schwere der traumatischen und der umwelthaften Umstände ist.

Wenn man bei homosexuellen Patienten herausfinden kann, dass sie eine sehr strenge Mutter und einen sehr schwachen Vater hatten, dann lässt sich damit eine Theorie bilden, die die Homosexualität erklärt. Allerdings hat man außerdem noch zehn andere Patienten, die einen ebenso schwachen Vater und eine gleichfalls strenge Mutter hatten, aber nicht homosexuell wurden. Wir haben also ähnliche Umweltfaktoren, und doch ganz verschiedene Auswirkungen. Eben deshalb glaube ich, dass man – abgesehen von den oben angesprochenen Fällen, in denen man außerordentlich traumatische Faktoren ausfindig machen kann – die Entwicklung zu einer neurotischen Erkrankung nie wird wirklich verstehen können, wenn man nicht konstitutionelle Faktoren in die Überlegungen mit einbezieht. Es kann sein, dass diese so stark sind, dass sie allein ausschlaggebend sind; es kann aber auch sein, dass die konstitutionellen Faktoren erst in Verbindung mit bestimmten Bedingungen ihre Wirkung zeigen. Bestimmte konstitutionelle Faktoren lassen Umweltfaktoren traumatisch werden, andere zeigen diese Wirkung nicht.

Im Unterschied zu Freud, für den konstitutionelle Faktoren entsprechend der Libidotheorie im wesentlichen triebhafte Faktoren sind, verstehe ich konstitutionelle Faktoren viel umfassender. Ohne dies hier im einzelnen ausführen zu können, gehören zu diesen für mich nicht nur das, was man gewöhnlich „Temperament“ nennt, sei es im Sinne der griechischen Lehre von den Temperamenten, oder sei es im Sinne der Sheldon-Typen [vgl. W. H. Sheldon, 1942], [XII-252] sondern auch Faktoren wie die Vitalität, die Liebe zum Leben, der Mut und anderes. Ein Mensch wird auf Grund seines Chromosomensatzes bereits als ein klar definiertes Wesen empfangen. Die Frage ist dann, was das Leben diesem bereits bei der Geburt besonders ausgezeichneten Menschen zufügt. Für einen Psychoanalytiker ist es eine gute Übung, sich folgendes zu überlegen: Wie wäre dieser Mensch, wenn seine Lebensumstände dem Wesen, als das er empfangen wurde, förderlich gewesen wären? Und was sind die besonderen Entstellungen und Schädigungen, die das Leben und die Umstände diesem Menschen zugefügt haben?

Zu den günstigen konstitutionellen Faktoren gehört das Ausmaß der Vitalität, insbesondere das Ausmaß der Liebe zum Leben. Jemand kann an einer ziemlich schweren Neurose leiden mit einem beträchtlichen Maß an Narzissmus, ja sogar mit einem Gutteil an inzestuöser Fixierung. Es ist meine persönliche Überzeugung, dass das Bild völlig anders aussieht, wenn diesem Menschen die Liebe zum Leben zu eigen ist. Als Beispiele möchte ich Roosevelt und Hitler nehmen. Beide waren ziemlich narzisstisch, Roosevelt sicher weniger als Hitler, aber doch immer noch ausreichend. Beide waren ziemlich an die Mutter fixiert, Hitler vermutlich auf eine malignere Weise und tiefer als Roosevelt. Der alles entscheidende Unterschied zwischen beiden aber war, dass Roosevelt ein Mensch voller Liebe zum Leben war, während Hitler ganz vom Toten angezogen war. Hitlers Ziel war die Zerstörung, auch wenn er sich dessen nicht einmal bewusst war, sonst hätte er nicht viele Jahre lang daran geglaubt, dass sein Ziel die Erlösung sei; in Wirklichkeit aber war sein Ziel die Destruktion, und er fühlte sich von allem angezogen, das zu Zerstörung führte. – Hier haben wir es mit zwei Persönlichkeiten zu tun, bei denen der Faktor Narzissmus und der Faktor Mutterbindung, wenn auch in verschiedenem Ausmaß, so aber doch deutlich erkennbar, vorhanden ist. Sie unterscheiden sich aber grundsätzlich bezüglich des jeweiligen Ausmaßes an Biophilie bzw. Nekrophilie. Wenn ich einen Patienten vor mir habe, der möglicherweise schwer krank ist, bin ich dennoch ganz optimistisch, wenn ich bei ihm biophile Kräfte sehen kann. Wenn ich zu allem anderen nur wenig Biophilie entdecken kann, aber eine Menge Nekrophilie, bin ich hinsichtlich der Prognose äußerst pessimistisch.

Es gibt noch eine Reihe anderer Wirkfaktoren, die für den Erfolg oder Misserfolg einer Psychoanalyse verantwortlich sind, die wenigstens kurz erwähnt werden sollen. Es handelt sich durchweg um nicht-konstitutionelle Faktoren, über die man sich ziemlich gut während der ersten fünf oder zehn Analysestunden ein Bild machen kann.

Ein erster Wirkfaktor betrifft die Frage, ob ein Patient wirklich den Tiefpunkt seines Leidens erreicht hat. Ich kenne einen Therapeuten, der einen Patienten erst dann zur Analyse nimmt, wenn dieser alle in den Vereinigten Staaten praktizierten therapeutischen Methoden durchprobiert hat und keine dieser anderen Methoden erfolgreich war. Natürlich kann eine solche Bedingung auch ein ganz schönes Alibi für den eigenen therapeutischen Misserfolg sein, doch in diesem Fall dient es als Probe dafür, ob ein Patient den Tiefpunkt seines Leidens erreicht hat. Dies herauszufinden, halte ich für sehr wichtig. Harry Stack Sullivan betonte diesen Punkt immer ganz besonders, wenn auch mit etwas anderen Begriffen. Er behauptete, dass der Patient zu beweisen habe, warum er eine Behandlung brauche. Damit meinte er freilich nicht, dass ihm der [XII-253] Patient eine Erklärung für seine Krankheit oder etwas Ähnliches geben sollte. Ihm ging es ganz entschieden darum, dass der Patient nicht mit der Vorstellung kommt: „Ich bin krank. Sie sind der Spezialist, der in Aussicht stellt, kranke Menschen zu heilen. Hier bin ich also!“ Wenn ich einen Satz an die Wand meiner Praxis schreiben sollte, dann würde ich schreiben: „Hier zu sein, genügt nicht!“ – Deshalb ist die erste und wichtigste Aufgabe der Analyse, dem Patienten eher dabei zu helfen, sich unglücklich zu erleben, als ihm Mut zuzusprechen. In Wirklichkeit gibt es keinerlei Grund für eine Ermutigung, mit der man sein Leiden zu lindern und zu mildern versucht; im Gegenteil, dies ist definitiv schlecht für den weiteren Fortgang der Analyse. Ich glaube nicht, dass jemand genügend Initiative und Impulse hat, um die enormen Anstrengungen zu erbringen, die eine Analyse – wenn es wirklich eine Psychoanalyse ist – erforderlich macht, wenn er sich nicht des ganzen Ausmaßes seines in ihm liegenden Leidens gewahr ist. Und dieser Leidenszustand ist noch lange nicht der schlechteste. Er ist weitaus besser als jener Zustand, der einem schattenhaften Land vergleichbar ist, in dem man weder leidet noch glücklich sein kann. Zu leiden ist wenigstens ein ganz reales Gefühl, das zum Leben dazugehört. Wer sich seines Leidens nicht bewusst ist und nur fernsieht oder mit sonst etwas sich die Zeit vertreibt, der ist weder hier noch dort.

Eine zweite Bedingung für eine wirksame Psychoanalyse lautet: Der Patient muss eine Vorstellung von dem haben, was sein Leben sein sollte oder sein könnte; er muss eine Vision dessen haben, was er mit seinem Leben will. Ich habe schon gehört, dass Patienten zum Psychoanalytiker kamen, weil sie keine Gedichte schreiben konnten. Dieser Wunsch ist ein wenig ausgefallen, obwohl solche Fälle gar nicht so selten sind, wie man glauben könnte. Viele Patienten kommen einfach deshalb, weil sie nicht glücklich sind. Doch es reicht nicht aus, einfach nur unglücklich zu sein. Würde mir ein Patient sagen, ich möchte gerne eine Psychoanalyse machen, weil ich mich so unglücklich fühle, dann würde ich ihm antworten: „Die meisten Menschen sind nicht glücklich. Dies ist noch nicht Grund genug, Jahre auf eine Kraft kostende, mühsame und schwierige Arbeit mit einer Person zu verwenden.“ – Dass ein Mensch weiß, was er vom Leben will, ist nicht nur eine Frage der Erziehung und Klugheit. Es kann durchaus sein, dass ein Patient noch nie eine Vorstellung davon entwickelte, was er eigentlich mit seinem Leben will – trotz unseres großartigen Erziehungssystems. Dennoch ist es meines Erachtens eine Aufgabe des Psychoanalytikers, am Beginn einer Psychoanalyse herauszufinden, ob der Patient dazu fähig ist, eine Vorstellung von dem zu entwickeln, was das Leben, außer glücklich zu sein, sonst noch bedeuten könnte. Natürlich gebrauchen die Menschen in den Großstädten der Vereinigten Staaten alle möglichen Wörter, um die Frage zu beantworten, zum Beispiel dass sie sich selbst zum Ausdruck bringen möchten, doch dies sind nur Phrasen. Das Gleiche gilt, wenn jemand sich dilettantisch mit Musik beschäftigt und auf Hi-Fi oder sonst etwas „steht“. Ein Psychoanalytiker darf sich mit solchen Antworten nicht zufriedengeben. Er muss auf den Boden der Realität gelangen und den Patienten fragen: Was ist seine wirkliche Intention, und zwar nicht theoretisch? Weswegen kommt er wirklich?

Ein dritter wichtiger Wirkfaktor ist die Ernsthaftigkeit des Patienten. Es gibt viele narzisstische Menschen, die eine Psychoanalyse nur deshalb machen möchten, weil sie [XII-254] über sich selbst reden wollen. Es stimmt ja auch: Wo sonst kann man dies tun? Weder eine Frau noch Freunde noch Kinder sind bereit, einem Menschen stundenlang zuzuhören: was er gestern tat, warum er dies tat usw. Nicht einmal ein Barkeeper kann so lange zuhören, weil er noch andere Kunden hat. So zahlt der narzisstische Mensch [umgerechnet] 100 Euro, oder wie viel eine Stunde kostet, und hat jemanden, der ihm die ganze Zeit über zuhört. Natürlich muss er als Patient begriffen haben, dass er in der Psychoanalyse über psychologisch relevante Dinge reden muss und nicht über Bilder, Gemälde oder Musik. Man muss über sich selbst reden und warum man den Ehepartner nicht ausstehen kann oder warum man ihn gern hatte usw. – In einer Analyse nur über sich zu reden, genügt nicht. Auch für den Psychoanalytiker ist dies nicht ausreichend, es sei denn, es geht ihm nur darum, Geld zu verdienen.

Ein vierter Wirkfaktor, mit dem vorstehenden innerlich verwandt, ist des Patienten Fähigkeit, zwischen Banalität und Realität unterscheiden zu können. Im allgemeinen unterhalten sich die Menschen über Banales. Das beste Beispiel hierfür sind die Kommentare in der New York Times. Wenn ich hier von Banalität im Unterschied zu Realität spreche, dann meine ich nicht, dass das Banale nicht klug sein kann, sondern dass es unwirklich ist. Wenn ich in der New York Times zum Beispiel einen Beitrag über den Krieg in Vietnam lese, dann mutet mich dieser banal an, was natürlich eine Frage der politischen Überzeugung ist, und zwar einfach deshalb, weil er unwirklich ist, denn er handelt von Fiktionen, die so weit gehen, dass plötzlich amerikanische Schiffe auf unsichtbare Ziele feuern und niemand weiß, worauf wirklich geschossen wurde. Dies alles hat dann auch noch mit der Rettung vom Kommunismus und Gott weiß was zu tun. Dies meine ich mit banal. Ebenso banal ist die Art, wie Menschen über ihr persönliches Leben reden, weil sie über unwirkliche Dinge reden. Wenn jemand erzählt, dass der Ehemann dieses oder jenes getan habe oder dass er befördert oder nicht befördert worden ist, oder ob jemand den Freund anrufen soll oder nicht, dann ist dies banal, weil es an nichts Wirkliches rührt, sondern sich nur mit Rationalisierungen beschäftigt.

Ein weiterer Wirkfaktor bei der Psychoanalyse sind die Lebensumstände des Patienten. Mit wie viel Neurose ein Patient noch erfolgreich über die Runden kommt, hängt ganz und gar von der Situation ab. Ein Kaufmann kann mit einer bestimmten Neuroseform noch ungeschoren davonkommen, mit der ein College-Professor nicht mehr bestehen könnte, und zwar nicht wegen des verschiedenen kulturellen Niveaus, sondern schlicht und einfach, weil der Professor mit einer bestimmten Art hochnarzisstischen, aggressiven Verhaltens in einem kleinen College untragbar wäre; er würde hinausgeworfen werden. Der Kaufmann hingegen kann mit diesem Verhalten äußerst erfolgreich sein. – Oft sagen Patienten: „Herr Doktor, ich kann einfach nicht mehr so weitermachen.“ Meine Antwort auf diese Eröffnungsrede ist dann gewöhnlich: „Ich kann keinen Grund erkennen, warum Sie nicht weitermachen können. Sie haben 30 Jahre so gelebt, und viele Menschen, ja Millionen von Menschen leben so bis zu ihrem Ende. Warum Sie so nicht weitermachen können, kann ich nicht sehen. Ich kann wohl sehen, warum Sie es nicht wollen, doch ich benötige noch einige Belege, warum und dass Sie nicht mehr so weitermachen wollen. Dass Sie nicht können, ist schlichtweg nicht wahr.“ [XII-255]

Einen Wirkfaktor, den ich besonders unterstreichen möchte, ist die aktive Teilnahme des Patienten, womit ich auf das oben Gesagte zurückkomme. Ich glaube nicht, dass irgendjemand durch Reden gesund wird, ja nicht einmal durch das Aufdecken seines Unbewussten, genauso wenig wie jemand etwas Bedeutsames erreichen kann, wenn er sich nicht sehr anstrengt, Opfer bringt, etwas riskiert und – um hier die symbolische Sprache zu gebrauchen, wie sie oft in Träumen auftaucht – durch die vielen Tunnel geht, durch die man im Laufe seines Lebens hindurch muss; solche Tunnel bedeuten Zeiten, in denen es nur dunkel ist, in denen man sich ängstigt, in denen man aber auch den Glauben hat, dass es noch eine andere Seite des Tunnels gibt, wo wieder Licht sein wird. Bei diesem Prozess spielt die Persönlichkeit des Psychoanalytikers eine große Rolle. Er muss ein guter Wegbegleiter und fähig sein, das zu tun, was ein guter Bergführer tut: Dieser trägt den, den er führt, auch nicht den Berg hinauf; doch manchmal zeigt er ihm, welches die bessere Route ist, ja manchmal gebraucht er sogar seine Hand, um ihm einen kleinen Schubs zu geben. Aber dies ist auch schon alles, was er tun kann.

Dies bringt mich zu einem letzten Wirkfaktor: zur Persönlichkeit des Psychoanalytikers. Aus der Fülle dessen, was hierzu zu sagen wäre, möchte ich einige wenige Punkte herausgreifen. Freud wies bereits auf einen sehr wichtigen Punkt hin: die Abwesenheit von Täuschung und Irreführung. Vom allerersten Augenblick an sollte der Patient an der analytischen Einstellung und Atmosphäre spüren, dass hier eine Welt ist, die sich von der üblicherweise erfahrenen unterscheidet: eine Welt der Realität, das heißt eine Welt der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, eine Welt ohne Täuschung. Darüber hinaus sollte der Patient spüren, dass von ihm keine Banalitäten erwartet werden und dass der Psychoanalytiker ihn darauf aufmerksam machen wird, wenn er sich dennoch in Banalitäten ergeht. Auch der Analytiker darf keine Banalitäten erzählen, weshalb er den Unterschied zwischen Banalität und Nichtbanalität kennen muss, was gerade in unserer heutigen Zeit gar nicht so einfach ist.

Eine andere wichtige Voraussetzung auf Seiten des Psychoanalytikers ist die Abwesenheit von Sentimentalität. Einen kranken Menschen heilt man nicht, indem man nett zu ihm ist, weder in der Medizin noch in der Psychotherapie. Dies mag vielen hart klingen, und sicherlich wird man mir unterstellen, dass ich äußerst roh mit meinen Patienten umgehe, dass ich kein Mitgefühl zeigte, autoritär sei usw. Mag sein, dass mich manche so sehen; ich erlebe das, was ich tue, allerdings nicht so, und meine Erfahrung mit meinen Patienten ist anders. Denn es gibt etwas, was ganz anders ist als alle Sentimentalität, aber die Voraussetzung für jedes Analysieren darstellt: Man muss das, worüber der Patient spricht, in sich selber spüren können. Wenn ich in mir nicht erleben kann, was es heißt, schizophren zu sein oder depressiv oder sadistisch oder narzisstisch oder zu Tode geängstigt, selbst wenn ich es in geringerem Maße als der Patient spüre, dann kann ich nicht wissen, wovon der Patient spricht. Und wenn ich diesen Versuch nicht mache, bin ich nicht in Berührung mit dem Patienten.

Es gibt einige Menschen, die eine besondere Veranlagung gegenüber bestimmten Dingen haben. Ich erinnere mich, dass Harry Stack Sullivan zu sagen pflegte, dass von Angst gerittene Patienten nie ein zweites Mal zu ihm in die Praxis kamen, weil er weder Sympathie noch Empathie für diese Art von Angst aufbringen konnte. In solchen [XII-256] Fällen sollte man diese Patienten nicht in Analyse nehmen. Man ist nur für jene Patienten ein sehr guter Therapeut, bei denen man fühlen kann, was sie fühlen.

Dass jemand fähig ist, in sich das zu spüren, was der Patient fühlt, ist ein grundlegendes Erfordernis der Psychoanalyse. Darum gibt es für den Psychoanalytiker auch keine bessere eigene Analyse als die Analyse anderer Menschen, denn im Vollzug des Analysierens anderer Menschen gibt es fast nichts im Analytiker, das nicht zum Vorschein kommt und berührt wird – vorausgesetzt, der Analytiker versucht zu spüren, was der Patient erlebt. Wenn der Analytiker freilich denkt: „Der Patient ist eben ein armer kranker Tropf, weil er zahlt“, dann bleibt er intellektuell und wird nie vom Patienten als überzeugend erlebt werden.

Aus all dem ergibt sich, dass man zwar gegenüber dem Patienten nicht sentimental, aber doch nicht ohne Mitgefühl ist, weil man ein tiefes Gespür dafür hat, dass nichts von dem, was im Patienten vor sich geht, nicht auch in einem selbst vor sich geht. Es gibt keinen Raum, wo man sich zum Richter oder Moralisten aufschwingen könnte oder sich über den Patienten entrüsten könnte, sobald man einmal erfahren hat, dass das, was im Patienten geschieht, auch in einem selbst geschieht. Wer aber das, was im Patienten vor sich geht, nicht als sein Eigenes erleben kann, der versteht es nicht. In den Naturwissenschaften kann man seinen Untersuchungsgegenstand auf den Tisch legen, wo er dann liegt, wo man ihn sehen und messen kann. In der Psychoanalyse reicht es nicht, dass der Patient sein Inneres auf den Tisch legt, weil das, was er mir zeigt, so lange keine Tatsache ist, solange ich es nicht in mir als etwas, was real ist, sehen kann.

Schließlich ist es für den Psychoanalytiker sehr wichtig, den Patienten nicht als eine Summierung von Komplexen zu sehen, sondern als den Helden eines Dramas. In Wirklichkeit ist jeder Mensch der Held eines Dramas, und dies meine ich nun gar nicht sentimental. Ein Mensch wird mit bestimmten Gaben geboren, doch meistens versagt er, und sein Leben ist ein gewaltiger Kampf, aus dem, was ihm in die Wiege gelegt wurde, etwas zu machen. So kämpft er gegen enorme Hindernisse. Selbst der gewöhnlichste Mensch wird – von außen betrachtet – höchst interessant, wenn man ihn einmal als jenes lebendige Wesen sieht, das in diese Welt geworfen wurde, an einen Ort, den er sich weder gewünscht hat noch der ihm bekannt war, und wie er sich seinen Weg durch das Leben erkämpft. Große Schriftsteller zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie einen Menschen vorstellen, der einerseits ganz gewöhnlich ist, andererseits aber zum Helden wird. Die Figuren bei Balzac zum Beispiel haben meistens nichts Interessantes, und doch werden sie durch die Kraft des Dichters außerordentlich interessant. Wir sind zwar keine Balzacs und können nicht wie er schreiben, aber wir sollten dennoch die Fähigkeit in uns entwickeln, in einem Patienten und schließlich in jedem menschlichen Wesen ein menschliches Drama zu sehen, das uns interessiert, und eben nicht nur einen Patienten, der mit diesem oder jenem Symptom kommt.

Abschließend möchte ich auf die Frage der Prognose zu sprechen kommen. Ich bin davon überzeugt, dass die Chancen einer psychoanalytischen Behandlung bei den von mir so genannten benignen Neurosen recht gut sind, während sie für die malignen nicht sehr gut sind. Ich möchte mich hier auf keine Prozentzahlen festlegen. Dennoch [XII-257] dürfte es eine allgemeine Erfahrung sein, dass die Prognosen für die schweren, malignen Neurosen nicht sehr günstig sind. Dieser Befund hat nichts Beschämendes. Wenn es in der Medizin bei einer schweren Krankheit mit einer bestimmten Methode noch 5 % Heilungschancen gibt – und ich glaube, dass die Chancen bei der Psychoanalyse noch etwas besser sind – dann werden alle, der Arzt, der Patient, seine Freunde und Verwandten, die größten Anstrengungen unternehmen, den Erkrankten wieder gesund zu machen.

Der Fehler liegt darin, dass wir nicht den Unterschied zwischen einer benignen und einer malignen Neurose sehen und der Analytiker am Anfang in einer Art Flitterwochenstimmung ist und denkt: „Mit der Psychoanalyse lässt sich schon alles heilen.“ Oft macht er sich dann im Blick auf den Patienten etwas vor, dass die Dinge gar nicht so schwer seien und gar nicht so hoffnungslos, wie sie manchmal sind.

Selbst in den Fällen, in denen ein Patient nicht gesund wird, würde ich dennoch behaupten, dass in einer guten Psychoanalyse zumindest eine Bedingung erfüllt ist: Die Stunden der Psychoanalyse werden, wenn sie lebendig und bedeutsam waren, zu den wichtigsten und wertvollsten Stunden gehören, die ein Mensch in seinem Leben erfuhr. Dies kann nicht von vielen Therapien gesagt werden. Es kann für den Psychoanalytiker ein Trost sein, der sich mit Patienten abmüht, die nur eine sehr geringe Heilungschance haben.

Bei den nicht-malignen Neurosen ist die Prognose sehr viel besser. Bei diesen leichten Neurosen glaube ich auch, dass es Wege gibt, die eine Heilung in weniger als zwei Jahren Psychoanalyse erlauben. Allerdings muss man den Mut haben, die analytischen Einsichten dazu zu gebrauchen, den Patienten sehr direkt anzugehen, ihn ebenso direkt mit dem Problem zu konfrontieren und möglicherweise das in zwanzig Stunden zu erreichen, was man als Psychoanalytiker sonst in 200 Stunden zu erreichen sich verpflichtet fühlt. Es sollte uns keine falsche Scham davon abhalten, direkte Methoden zu gebrauchen, wenn dies möglich ist.

Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse

(Therapeutic Aspects of Psychoanalysis)

(1991d [1974])[4]

1. Zum Selbstverständnis und zum Menschenbild der Psychoanalyse
a) Welches Ziel hat die Psychoanalyse?

Die Frage, mit der ich beginnen möchte, ist zugleich auch die Grundfrage für alles weitere: Welches Ziel hat die Psychoanalyse? Dies ist eine einfache Frage, und es gibt auch eine einfache Antwort: Die Psychoanalyse zielt darauf, sich selbst zu erkennen. Selbsterkenntnis ist ein sehr altes menschliches Bedürfnis. Von den Griechen über das Mittelalter bis zur Gegenwart lässt sich die Vorstellung nachweisen, dass die Selbsterkenntnis die Grundlage der Erkenntnis der Welt ist – oder um es mit einer drastischen Formulierung von Meister Eckhart auszudrücken: „Es gibt nur einen einzigen Weg, Gott zu erkennen: sich selbst zu erkennen.“ Selbsterkenntnis ist eine der ältesten Sehnsüchte der Menschen. Sie ist eine Sehnsucht oder eine Zielsetzung, die ihre Wurzeln sehr wohl in objektiven Gegebenheiten hat.

Wie kann jemand die Welt erkennen, wie vermag jemand zu leben und richtig zu reagieren, wenn uns das Instrument zum Handeln und zur Entscheidung nicht bekannt ist? Wir sind der Führer dieses „Ichs“, das es irgendwie fertigbringt, dass wir in der Welt leben, Entscheidungen fällen, Prioritäten setzen und uns zu Werten bekennen. Wenn dieses Ich, dieses Subjekt, das entscheidet und handelt, uns nicht genügend bekannt ist, bedeutet dies, dass all unsere Handlungen und Entscheidungen halbblind oder nur in einem halbwachen Zustand erfolgen. Es gilt, in Betracht zu ziehen, dass der Mensch im Unterschied zum Tier keine solchen Instinkte hat, die ihm sagen, wie er zu handeln hat, so dass das Tier auch gar nichts außer dem, was ihm die Instinkte sagen, wissen muss. Allerdings gilt diese Feststellung nur mit der Einschränkung, dass auch im Tierreich die Tiere etwas lernen müssen, und zwar selbst die auf niedrigem Evolutionsniveau. Instinkte funktionieren nicht ohne wenigstens ein Minimum an Lernen. Dieser Aspekt ändert aber nichts daran, dass die Tiere im Großen und Ganzen nicht viel „wissen“ müssen. Das Tier muss sehr wohl einige Erfahrungen gesammelt haben, die durch die Erinnerung vermittelt werden.

Der Mensch hingegen muss Erkenntnis haben, um entscheiden zu können. Seine Instinkte sagen ihm nicht, wie er sich entscheiden soll. Sie sagen ihm nur, dass er essen, trinken, sich verteidigen und schlafen muss, und nach Möglichkeit auch, dass er Kinder [XII-262] hervorbringen soll, wobei der Trick der Natur darin besteht, dass sie den Menschen mit einem bestimmten Vergnügen oder einer Lust auf sexuelle Befriedigung ausgestattet hat. Doch das sexuelle Verlangen ist bei weitem kein so starkes instinktives Verlangen wie die anderen Triebe und Impulse. Das Verlangen, sich selbst zu kennen, ist deshalb nicht nur unter einer spirituellen, religiösen, moralischen oder menschlichen Perspektive eine Bedingung des Menschen, sondern auch bei biologischer Betrachtungsweise.

Das Optimum an Lebensfähigkeit hängt vom Grad der Kenntnis über uns selbst ab. Diese Kenntnis ist das Instrument, mit dem wir uns in der Welt orientieren und unsere Entscheidungen treffen. Offensichtlich ist es so: Je besser wir uns selbst bekannt sind, desto richtiger sind unsere Entscheidungen, die wir treffen. Und je weniger wir uns kennen, desto unklarer müssen unsere Entscheidungen ausfallen.

Die Psychoanalyse eignet sich nicht nur zur Therapie, sondern ist auch ein Instrument, sich selber zu verstehen, das heißt, sich selber zu befreien. Als Hilfsmittel bei der Kunst des Lebens hat die Psychoanalyse unter persönlichen und praktischen Gesichtspunkten meiner Meinung nach sogar die wichtigste Bedeutung.

Der Hauptwert der Psychoanalyse liegt darin, dass sie zu einer spirituellen Veränderung der Persönlichkeit verhelfen kann, und weniger darin, Symptome zu heilen. Solange es keine bessere und kürzere Methode gibt, Symptome zu heilen, hat die Psychoanalyse auch hier ihre Bedeutung; ihre tatsächliche historische Bedeutung liegt in Richtung jener Erkenntnis, die man auch im buddhistischen Denken findet: Es geht der Psychoanalyse um eine bestimmte Art des Gewahrwerdens seiner selbst, um „Achtsamkeit“, wie sie in der buddhistischen Praxis eine zentrale Rolle spielt, mit dem Ziel, einen besseren Zustand des Seins zu erreichen und sinnvoller leben zu können als der durchschnittliche Mensch.

Die Psychoanalyse behauptet, dass Selbsterkenntnis eine heilende Wirkung hat. Diesen Anspruch erhob bereits das Evangelium: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ [Jo 8,32] Warum soll die Kenntnis des eigenen Unbewussten, also eine umfassende Selbsterkenntnis, dazu verhelfen, einen Menschen von seinen Symptomen zu befreien, ja ihn sogar glücklich machen?

b) Sigmund Freuds therapeutische Zielsetzung und ihre Kritik

Ich möchte zuerst auf die therapeutische Zielsetzung der klassischen, der Freudschen Psychoanalyse, zu sprechen kommen. Freud sah das therapeutische Ziel darin, den Menschen arbeitsfähig und sexuell genussfähig zu machen, so dass er sich der Sexualität erfreuen kann und fähig ist, sexuell zu funktionieren. Um es mit anderen Worten zu sagen, das Ziel ist, zu arbeiten und sich fortzupflanzen. Dies sind zugleich die zwei großen Forderungen, die die Gesellschaft an jeden Einzelnen stellt. Die Gesellschaft muss den Menschen Gründe liefern und sie indoktrinieren, warum sie arbeiten und Kinder hervorbringen sollen. Wir tun dies schlecht und recht aus vielerlei Gründen. Der Staat tut im allgemeinen nichts besonderes, um die Menschen dazu anzuhalten; braucht der Staat aber mehr Kinder, als derzeit hervorgebracht werden, dann wird er alle möglichen Anstrengungen dazu unternehmen. [XII-263]

Freuds Definition von psychischer Gesundheit ist in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Definition. Sie zielt auf eine Normalität im gesellschaftlichen Sinne ab. Es geht darum, dass der Mensch der gesellschaftlichen Norm gemäß funktioniert; dementsprechend ist auch die Definition des Symptoms eine gesellschaftliche: Ein Symptom liegt dann vor, wenn es für den Einzelnen schwierig ist, der gesellschaftlichen Norm gemäß zu funktionieren. Deshalb wird der Konsum von Drogen als schweres Symptom angesehen, das zwanghafte Rauchen dagegen nicht, obwohl es vom Psychologischen her das gleiche Phänomen ist. Gesellschaftlich gesehen gibt es einen großen Unterschied, denn wenn jemand bestimmte Drogen nimmt, dann hindern diese ihn in vielen Situationen daran, gesellschaftlich angemessen zu funktionieren. Jemand kann sich zu Tode rauchen – wen kümmert es? Stirbt er an Lungenkrebs, dann ist dies kein gesellschaftliches Problem. Die Menschen sterben so oder so. Und wenn jemand mit fünfzig Jahren an Lungenkrebs stirbt, dann ist er gesellschaftlich gesehen auch nicht mehr wichtig. Immerhin hat er die gewünschte Zahl von Kindern gehabt, hat seine Arbeitskraft der Gesellschaft zur Verfügung gestellt und sein Bestes getan. Sein Rauchen und der Lungenkrebs sind uninteressant, weil sie die genannten gesellschaftlichen Funktionen nicht stören.

Wir erklären etwas zu einem Symptom, wenn es der gesellschaftlichen Funktion des Menschen abträglich ist. Weil dies so ist, gilt der Mensch als gesund, der unfähig ist, etwas von seinem eigenen Erleben zu spüren, und stattdessen alles immer nur ganz „realistisch“ sieht. In Wirklichkeit ist er genauso krank wie der Psychotiker, der unfähig ist, die äußere Wirklichkeit als etwas wahrzunehmen, mit dem er umgehen kann und das er gestalten kann, der stattdessen aber alles in sich wahrnimmt, was für den sogenannten normalen Menschen unzugänglich ist: Gefühle, selbst die äußerst feinen Gefühlsregungen, und das innere Erleben.

Freuds Definition von seelisch-geistiger Gesundheit ist im wesentlichen eine gesellschaftliche. Dies ist keine Kritik an Freud im engeren Sinne, denn Freud war so sehr ein Kind seiner Zeit, dass er seine Gesellschaft nie infragestellte. Die einzige Ausnahme betraf die Sexualität; hier war ihm das sexuelle Tabu zu streng, weshalb er es gemildert sehen wollte. Freud selbst war ein sehr prüder Mensch, und er wäre außerordentlich geschockt, wenn er sehen würde, zu welchem sexuellen Verhalten angeblich seine Lehren geführt haben. In Wirklichkeit hat Freud wenig mit dieser Entwicklung zu tun, denn das gegenwärtige Sexualverhalten ist Teil eines allgemeinen Konsumverhaltens.

Wie begründet Freud das beschriebene Ziel der Psychoanalyse? Die Freudsche Auffassung von dem, was in der Therapie geschieht, lässt sich im Kern von seiner Trauma-Theorie her so skizzieren: Freud nimmt ein traumatisches Ereignis in der frühen Kindheit an, das verdrängt wurde und, eben weil es verdrängt wurde, noch immer am Werk ist. Der sogenannte „Wiederholungszwang“ bindet den Menschen an dieses frühe Ereignis, und zwar nicht nur auf Grund seines Beharrungsvermögens und weil das traumatische Ereignis von damals noch immer seine Wirkung zeigt, sondern weil der Wiederholungszwang den Menschen dazu anhält, das gleiche Verhalten je neu zu wiederholen. Wird dieses Verhalten zu Bewusstsein und seine Energie in Erfahrung gebracht, und zwar nicht nur intellektuell, sondern, wie Freud bald erkannte, affektiv [XII-264] erlebt (was er „durcharbeiten“ nannte), dann hat dies die Wirkung, die Macht des Traumas zu brechen, so dass der Mensch von seinem verdrängten Einfluss befreit ist.

Ich habe schwerwiegende Zweifel an der Richtigkeit dieser Theorie. Als erstes möchte ich ein persönliches Erlebnis aus der Zeit mitteilen, als ich in Ausbildung am Psychoanalytischen Institut in Berlin war [1928 bis 1930].[5] Dort gab es einmal unter den Professoren eine lange Diskussion, an denen die Lehranalysanden gewöhnlich teilnahmen, wie oft es eigentlich vorkomme, dass ein Patient sich wirklich seiner frühen traumatischen Ereignisse erinnere. Die Mehrheit der Professoren sagte, dass dies äußerst selten geschehe. Ich war völlig überrascht, denn ich war ein guter und gutgläubiger Schüler und hatte an die Theorie geglaubt. Und plötzlich hörte ich, dass das, was als Grundlage für die Heilung galt, so selten vorkam. – (Die Professoren fanden natürlich einen Ausweg aus dem Dilemma, indem sie sagten, dass das Trauma aber in der Übertragung wiederkehre. Doch darauf möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen.)

Das Trauma ist in Wirklichkeit sehr selten und es ist tatsächlich ein einzelnes Erlebnis; es muss außerordentlich und wirklich traumatisch sein, um eine so starke Wirkung zu haben. Vieles, was für traumatisch gehalten wird – wenn etwa der Vater den dreijährigen Jungen im Zorn einmal verprügelt hat –, ist überhaupt kein traumatisches Ereignis, weil der Einfluss, den das Ereignis hat, nicht im einzelnen Ereignis begründet liegt, sondern in der gesamten und kontinuierlichen Eltern- und Familienatmosphäre. Auch wenn man heute bereits dann von traumatischen Situationen spricht, wenn man den Zug verpasst hat oder irgendwo einige unerfreuliche Erlebnisse hatte, so gilt doch, dass das wirkliche Trauma per definitionem ein Ereignis ist, das über die Belastbarkeit des menschlichen Nervensystems hinausgeht. Dies ist der Grund, warum es eine tiefe Störung verursacht und dann auch eine Wirkung zeitigt. Die meisten Ereignisse zeigen keine solche Wirkung und sind deshalb auch keine Traumata. Vielmehr ist das, was eine Wirkung zeigt, die beständige Atmosphäre.

Das Alter, in dem es zu einer Traumatisierung kommt, spielt nur bedingt eine Rolle. Einerseits kann es in jedem Alter zu einer Traumatisierung kommen, andererseits hat das gleiche traumatische Ereignis eine stärkere Wirkung, je früher es sich zuträgt. Gleichzeitig sind dann aber auch die Kräfte, mit denen sich der Mensch davon wieder erholen kann, noch stärker. Das Problem ist also sehr verwickelt, und ich möchte nur vor dem heute so häufig praktizierten ungenauen Gebrauch des Wortes Trauma warnen.

Ich kenne eine ganze Menge Menschen, die sich im Laufe des psychoanalytischen Prozesses verändert haben. Ich habe auch viele Menschen kennengelernt, die sich dabei nicht verändert haben. Es ist aber eine Tatsache, dass es auch ohne Psychoanalyse zu tiefgreifenden Änderungen in einem Menschen kommt. Die Erfahrungen mit dem Vietnamkrieg sind hier ein gutes Beispiel. Da gab es viele, die in ihrer Einstellung bezüglich des Vietnamkriegs Falken waren; ich denke hier etwa an konservative Offiziere der Luftwaffe. Diese Leute waren in Vietnam und bekamen dort alles mit; sie sahen die Sinnlosigkeit, die Ungerechtigkeit, die Grausamkeit – und plötzlich kam es zu dem, was man in früheren Zeiten eine „Konversion“ genannt hat: Plötzlich sahen diese Menschen ihre Welt völlig anders und wandelten sich von Befürwortern des [XII-265] Krieges zu Menschen, die ihr Leben und ihre Freiheit riskierten, den Krieg zu beenden. Solche Menschen sind fast nicht wiederzuerkennen. Sie sind selbst andere Menschen geworden, und zwar nur auf Grund eines eindrucksvollen Erlebnisses und auf Grund der Tatsache, dass sie die Fähigkeit hatten, eigenständig zu reagieren. Diese Fähigkeit haben die meisten Menschen nicht, weil sie bereits zu unsensibel geworden sind. – Tiefgreifende Änderungen gibt es also innerhalb und außerhalb der Psychoanalyse, und für beide Möglichkeiten lassen sich hinreichend Beispiele finden.

c) Das Freudsche Bild vom Kind und seine Kritik

Wie jeder, der sich ein wenig mit Freud befasst hat, weiß, war Freud äußerst kritisch, wenn es um sein besonderes Thema ging: um die Beziehung des bewussten Denkens zur unbewussten Motivation. Man kann Freud sicherlich nicht vorwerfen, dass er kein radikaler Kritiker des bewussten Denkens war. Sobald es aber um die Gesellschaft, deren Regeln und Werte ging, in der Freud selbst lebte, war er von Grund auf ein Reformist. Er hatte die gleichen Einstellungen, wie sie die liberale Mittelklasse im allgemeinen vertrat, nämlich dass diese Welt die beste von allen sei, aber dass sie noch verbessert werden könne. Es könnte zum Beispiel noch längere Zeiten des Friedens geben, oder die Gefangenen könnten noch besser behandelt werden. Die Mittelklasse stellte aber nie radikale Fragen; sie fragte zum Beispiel nie – um bei der Kriminologie zu bleiben – nach dem Zusammenhang zwischen dem ganzen kriminologischen System des Strafens und seiner Verankerung in der Klassenstruktur. Ist der Kriminelle nicht deshalb kriminell, weil es für ihn keinen anderen Weg gibt, um zu einem Optimum an Befriedigung zu kommen? Ich will hier nicht das Stehlen und Rauben verteidigen. Dennoch ist unser ganzes strafrechtliches System in der Gesamtstruktur unserer Gesellschaft verankert, die es als selbstverständlich und gegeben ansieht, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen – wie man gebildet sagt – unterprivilegiert ist oder dass – wie man ehrlicher sagen müsste – die Minderheit überprivilegiert ist. Eine gleiche Linie verfolgte man mit dem nicht-radikalen Pazifismus: Man war für eine Reduktion der Armeen und schloss Verträge ab, die den Frieden sichern sollten. In ähnlicher Weise wurde auch die Psychoanalyse zu einer Bewegung, bei der man mit Hilfe einiger Reformen im Bewusstsein das Leben verbessern wollte, ohne radikal nach den Werten und der Struktur der bestehenden Gesellschaft zu fragen.

Freuds Sympathien waren auf Seiten der Regierenden, beim Establishment. Dies lässt sich vielfach belegen. So glaubte er während des Ersten Weltkriegs noch bis 1917, dass die Deutschen gewinnen würden. 1917 war allen, die ein wenig informiert waren und nachdachten, der Glaube an einen deutschen Sieg bereits abhanden gekommen. Freud aber schrieb zu diesem Zeitpunkt noch immer Briefe – ich denke zum Beispiel an einen aus Hamburg –, in denen er sich glücklich wähnte, in Hamburg zu sein, weil er in Deutschland von „unseren Soldaten“ und „unseren Siegen“ sprechen konnte. Dies klingt für uns heute geradezu beängstigend, wenn man den phantastischen Effekt und die Signalwirkung in Betracht zieht, die eine solche Äußerung auf das Gewissen gerade der besonders intelligenten und ehrbaren Menschen hatte. Die Bedeutung [XII-266] lässt sich nur richtig begreifen, wenn man die Situation damals mit den schlimmsten Zeiten in Vietnam vergleicht. Es gab zu der Zeit – und darin zeigt sich die ganze Tragik – so gut wie keine Opposition gegen den Ersten Weltkrieg. Die große Mehrheit der deutschen und der französischen Intellektuellen befürwortete den Krieg. Einstein war eine der wenigen Ausnahmen und weigerte sich, den Krieg zu billigen. Vor diesem Hintergrund ist Freuds Äußerung nicht so ungewöhnlich und schockierend, wie sie ohne Berücksichtigung der Umstände klingen würde; doch sie ist immer noch schlimm genug, wenn man in Betracht zieht, zu welcher Zeit sie gemacht wurde und dass sie von einem Menschen stammt, der sich 1925 in einem Briefwechsel mit Einstein einen „Pazifisten“ nannte.

Details

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959121125
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie psychotherapeutische Praxis CHarakterneurosen Bezogensein Wirkfaktoren Gesellschaft Widerstand
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Titel: Von der Kunst des Zuhörens. Therapeutische Aspekte der Psychoanalyse