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Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse

The Revision of Psychoanalysis

©2015 96 Seiten

Zusammenfassung

Nirgendwo sonst schreibt Erich Fromm über sein eigenes Verständnis von Psychoanalyse so klar und deutlich wie in den Beiträgen dieses Bandes, die Ende der Sechziger Jahre entstanden sind. Geschrieben wurden sie für ein nie vollendetes größeres Werk, in dem Fromm seine humanistische und dialektische Revision der Psychoanalyse ausführlich zur Darstellung bringen wollte. Eindrücklich zeigt er, welche Bedeutung das gesellschaftliche Verdrängte für die Neubestimmung des Unbewussten hat. Auch enthalten die Beiträge wichtige Ausführungen über Fromms Ansichten zur therapeutischen Praxis, und hier spricht er erstmals von der transtherapeutischen Psychoanalyse.

Jede Revision der Psychoanalyse muss sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzen, welche Bedeutung die Sexualität für das psychische Geschehen hat. Dass der Sexualität bei der Entwicklung wichtiger psychischer Strebungen und Wünsche nicht die Rolle zukommt, die ihr Freud zumaß, hatte Fromm schon in den Dreißiger Jahren gezeigt. Welche Bedeutung hingegen die Gesellschaft hat, verdeutlicht Fromm vor allem an der sadistischen Perversion. Die Neuformulierung der psychoanalytischen Perversionenlehre führt ihn dabei ganz automatisch immer wieder zur Kritik an Herbert Marcuse.

Wer sich über Fromms Neubestimmung der Psychoanalyse kundig machen will, findet in diesem Band eine gut verständliche und erhellende Zusammenfassung.

Aus dem Inhalt
• Über meinen psychoanalytischen Ansatz
• Die Notwendigkeit der Revision der Psychoanalyse
• Die dialektische Revision der Psychoanalyse
• Sexualität und sexuelle Perversionen
• Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse
  • Inhalt
  • Vorwort von Rainer Funk
  • I. Über meinen psychoanalytischen Ansatz
  • II. Die Notwendigkeit der Revision der Psychoanalyse
  • III. Die dialektische Revision der Psychoanalyse
  • 1. Gegenstand und Methode der Revision der Psychoanalyse
  • 2. Aspekte einer revidierten Triebtheorie
  • 3. Die Revision der Theorie des Unbewussten und der Verdrängung
  • a) Das Unbewusste und die Verdrängung der Sexualität
  • b) Das Unbewusste und die Verdrängung der Mutterbindung
  • c) Die Bindung an Idole als Ausdruck des gesellschaftlichen Unbewussten
  • d) Die Bindung an Idole und das Phänomen der Übertragung
  • e) Die Überwindung der Bindung an Idole
  • f) Das gesellschaftliche Verdrängte und seine Bedeutung für eine Revision des Unbewussten
  • g) Das neue Verständnis des Unbewussten bei Ronald D. Laing
  • h) Wirkfaktoren bei der Aufhebung der Verdrängung
  • 4. Die Bedeutung von Gesellschaft, Sexualität und Körper in einer revidierten Psychoanalyse
  • 5. Zur Revision der psychoanalytischen Therapie
  • a) Aspekte für den Bereich der therapeutischen Praxis
  • b) Transtherapeutische Aspekte der Psychoanalyse
  • IV. Sexualität und sexuelle Perversionen
  • 1. Aspekte der sexuellen Befreiungsbewegung
  • a) Sexualität und Konsumgesellschaft
  • b) Sexualität und neuer Lebensstil. Zur Bewegung der Hippies
  • c) Sexualität in der Psychoanalyse. Die Bedeutung Wilhelm Reichs
  • 2. Die sexuellen Perversionen und ihre Wertung
  • a) Der Wandel in der Wertung der sexuellen Perversionen
  • b) Die psychoanalytische Wertung der Perversionen
  • c) Das perverse Erleben beim Sadismus und beim analen Charakter
  • 3. Zur Re-Vision der Perversionen am Beispiel des Sadismus
  • a) Erscheinungsweisen und Wesen des Sadismus
  • b) Die gesellschaftliche Bedingtheit des Sadismus
  • c) Sadismus und Nekrophilie
  • V. Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse
  • 1. Marcuses Freudrezeption
  • 2. Marcuses Verständnis der Perversionen
  • 3. Marcuses Idealisierung der Hoffnungslosigkeit
  • Literaturverzeichnis
  • Der Autor
  • Der Herausgeber
  • Impressum

Vorwort von Rainer Funk

Im Jahre 1965 wurde Erich Fromm als Professor für Psychoanalyse an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko-Stadt emeritiert. Im gleichen Jahr wurde die Feldforschung über den Gesellschafts-Charakter des mexikanischen Bauerndorfes Chiconcuac abgeschlossen. Von den universitären Verpflichtungen entbunden und frei für ein neues Projekt, beantragte er bei verschiedenen Stiftungen Geld für ein „Systematisches Werk über Humanistische Psychoanalyse“, das zu schreiben er sich für die nächsten Jahre vorgenommen hatte. Es war auf drei bis vier Bände konzipiert und sollte sämtliche Bereiche der psychoanalytischen Theorie und Praxis unter dem Gesichtspunkt ihrer dialektischen Revision behandeln.[1]

Ursprünglich wollte Fromm dieses „systematische und umfassende Werk zur Psychoanalyse“ ganz vor dem Hintergrund seiner klinischen Erfahrungen als praktizierender Psychoanalytiker, Lehr- und Kontrollanalytiker schreiben und mit Fallbeispielen anreichern. Dazu kam es nicht. Zwar arbeitete Fromm für Jahre an dem Projekt, doch verlagerten sich mit der Zeit seine Interessen immer mehr auf das Problem einer adäquaten psychoanalytischen Aggressionstheorie. Diese legte Fromm 1973 in seinem umfangreichen Band Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a) vor.

Andere Aspekte seines Vorhabens blieben unvollendet oder wurden nur hinsichtlich der theoretischen Aspekte realisiert. Selbst veröffentlicht hat Fromm daraus nur das Kapitel Die Krise der Psychoanalyse (1970c), das im einzelnen aufzeigt, wie revisionsbedürftig die Psychoanalyse selbst in ihren Weiterentwicklungen, zum Beispiel bei den sogenannten Ich-Psychologen, ist. Fromms eigene Position aber, seine Re-Formulierung und Re-Vision der Psychoanalyse, hat er nicht veröffentlicht.

Der vorliegende Band enthält die von Fromm bis 1969 verfassten und bisher nicht publizierten Teile seiner humanistischen und dialektischen Revision der Psychoanalyse. Das größte zusammenhängende Manuskript trägt denn auch den Titel Die dialektische Revision der Psychoanalyse (1990f, GA XII, S. 27-71). Fromm entwickelt darin seine Methode der „Psychoanalyse von Theorien“, mit der er die Theorien von Freud revidiert. Besonders ausführlich beschäftigt sich Fromm mit der Bedeutung, die das gesellschaftliche Verdrängte für die Neubestimmung des Unbewussten hat. Auch enthält das Kapitel wichtige Ausführungen über Fromms Ansichten zur therapeutischen Praxis. Erstmals spricht hier Fromm auch von der transtherapeutischen Psychoanalyse, die er 1975 in Vom Haben zum Sein (1989a, GA XII, S. 433-456) weiter ausführte.

Jede Revision der Psychoanalyse muss sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzen, welche Bedeutung die Sexualität für das psychische Geschehen hat. Fromms Kritik an der Rolle, die der Sexualität beigemessen wird, kommt im Beitrag Sexualität und sexuelle Perversionen (1990g, GA XII, S. 73-96) zum Ausdruck. Wie wenig triebhafte Strebungen ursprünglich mit der Sexualität verbunden sein müssen, verdeutlicht Fromm hier am Beispiel der prägenitalen Sexualität, an den Perversionen, und hier besonders an der sadistischen Perversion. Die Neuformulierung der psychoanalytischen Perversionenlehre führt ihn ganz automatisch immer wieder zur Kritik an Herbert Marcuse. Diese ist in einem eigenen abschließenden Kapitel zusammengefasst, das Fromm ursprünglich als „Epilog“ zu seinem Sammelband Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a) veröffentlichen wollte. Es trug den Titel Infantilization and Despair Masquerading as Radicalism. Die literarische Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Institutskollegen Marcuse begann bereits 1955 in der Zeitschrift Dissent (1955b und 1956b) und setzte sich als wissenschaftliche Kritik in dem Beitrag Die Krise der Psychoanalyse (1970c, GA VIII, S. 58-62) fort. In dem hier erstmals veröffentlichten Kapitel Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse (1990h, GA XII, S. 97-111) wird besonders die Direktheit und Emotionalität der Auseinandersetzung spürbar.

In einem der Projektanträge zur Finanzierung seines geplanten mehrbändigen Werkes über Psychoanalyse berichtet Fromm über die Entstehung seines eigenen erkenntnisleitenden Interesses bei der Rezeption der Freudschen Psychoanalyse:

Meine Kenntnisse im Bereich der Soziologie und mein Interesse an ihr führten mich zuerst dazu, die Psychoanalyse auf gesellschaftliche und kulturelle Probleme anzuwenden. Meine ersten Arbeiten, zwischen 1932 und 1934 veröffentlicht, enthielten bereits die Kerngedanken meines späteren Werks. Sie zeigten erstmals, dass die psychoanalytische Theorie auf sozio-kulturelle Probleme angewandt werden kann. (...) Dabei wuchs meine kritische Einstellung gegenüber einer eng gefassten Freudschen Theorie und ich begann, sie zu modifizieren. Ich versuchte, an Freuds grundlegenden Entdeckungen festzuhalten, seine mechanistisch-materialistische Philosophie jedoch durch eine humanistische zu ersetzen. Der Mensch ist keine Maschine, die durch einen chemisch hervorgerufenen Mechanismus von Spannung und Entspannung reguliert wird. Die Grundlage meines theoretischen Denkens lautet vielmehr: Der Mensch ist eine Ganzheit und hat das Bedürfnis, auf die Welt bezogen zu sein.

Was Fromm hier vorsichtig andeutet, besagt in Wirklichkeit, dass er die Freudsche Triebtheorie durch eine grundsätzlich andere Metapsychologie ersetzt hat: Der einzelne Mensch wird als ein schon immer bezogenes und gesellschaftliches Wesen begriffen; das Unbewusste interessiert an erster Stelle als gesellschaftliches Unbewusstes und Verdrängtes; die Triebhaftigkeit des Menschen ergibt sich auf Grund seiner spezifisch menschlichen Widerspruchssituation, die sich in nur dem Menschen eigentümlichen Bedürfnisstrukturen manifestiert, deren Befriedigungsweisen immer gesellschaftlich vermittelt sind. Die nicht nur für das Freudsche Menschenbild typische Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft wird durch die Annahme einer eigenen psychischen Strukturbildung, in der sich die Erfordernisse des gesellschaftlichen Zusammenlebens widerspiegeln, überwunden, so dass im Gesellschafts-Charakter jedes Einzelnen die Gesellschaft präsent ist und unter Umständen in Konflikt mit den Orientierungen des individuellen Charakters gerät.

Da die englisch geschriebenen Manuskripte dieses Bandes nicht in der hier zusammengestellten und gegliederten Weise vorlagen, habe ich den Text zusätzlich gegliedert und mit Zwischenüberschriften versehen. Hinzufügungen, die aus der Sicht des Herausgebers für notwendig erachtet wurden, und Auslassungen innerhalb des Textes sind durch eckige Klammern gekennzeichnet.

I. Über meinen psychoanalytischen Ansatz

(On My Psychoanalytic Approach)

(1990d [1969])[2]

Nicht nur in der wissenschaftlichen Literatur zur Psychoanalyse und zur Sozialpsychologie, sondern auch ganz allgemein in der Öffentlichkeit ist die Annahme weit verbreitet, dass es innerhalb der Psychoanalyse einen grundlegenden Widerspruch zwischen einer biologischen und einer gesellschaftlichen (oder kulturellen) Ausrichtung gibt.[3] Die Freudsche Richtung wird oft biologisch, die Theorien der sogenannten neofreudianischen „Schulen“, besonders jene von Harry Stack Sullivan, Karen Horney und mir, werden „kulturalistisch“ genannt, als ob diese im Widerspruch zu einer biologischen Ausrichtung stünden. Die Gegenüberstellung von biologischer und kultureller Betrachtungsweise ist nicht nur oberflächlich, sondern völlig irreführend. Dies gilt zumindest im Hinblick auf meine Schriften und meine theoretischen Auffassungen, die sich in grundsätzlichen Fragen von den Auffassungen von Sullivan und Horney unterscheiden, deren Positionen ihrerseits verschieden sind.

Die Einschätzung, meine Betrachtungsweise sei anti- oder nicht-biologisch, hat zwei Gründe: einmal meine Betonung der Bedeutung der gesellschaftlichen Faktoren bei der Bildung des Charakters, zum anderen meine kritische Haltung gegenüber Freuds Triebtheorie und der Libidotheorie.

Es stimmt zwar, dass die Libidotheorie wie jede Theorie, die sich auf den Lebensprozess des menschlichen Organismus bezieht, eine biologische ist, doch meine Kritik an der Libidotheorie beruht nicht auf ihrer biologischen Orientierung als solcher, sondern auf der speziellen Art von biologischer Ausrichtung: Ich kritisiere den mechanistischen Physiologismus, in dem Freuds Libidotheorie ihre Wurzeln hat.

Meine Kritik richtet sich nicht gegen Freuds allgemeine biologische Ausrichtung, im Gegenteil: Einen anderen Aspekt dieser Ausrichtung, seine Betonung der konstitutionellen Faktoren der Persönlichkeit, habe ich nicht nur theoretisch akzeptiert, sondern in meine klinische Arbeit mit einbezogen, und zwar vermutlich um einiges ernsthafter, als dies die meisten orthodoxen Psychoanalytiker tun, die zwar oft von konstitutionellen Faktoren reden, aber in der Praxis glauben, dass der Patient völlig durch seine frühen Erfahrungen innerhalb der Familienkonstellation bestimmt wird.

Freud kam beinahe unvermeidlich zu seiner besonderen mechanistisch-physiologischen Theorie. Als er seine ersten Theorien formulierte, gab es noch kaum Erkenntnisse über die Hormone und die Neurophysiologie, so dass es nahelag, ein Modell zu konstruieren, das auf der Vorstellung einer chemisch produzierten inneren Spannung [XII-014] aufbaute, die schmerzvoll wird und nach Freisetzung der angestauten sexuellen Spannung strebt – eine Entlastung, die Freud mit dem Begriff „Lust“ bezeichnete. Die Annahme der krankmachenden Rolle der sexuellen Verdrängung schien umso evidenter zu sein, da die Menschen, an denen er seine klinischen Beobachtungen machte, zur Mittelschicht mit ihrer strengen viktorianischen Sexualmoral gehörten. Erik H. Erikson hat festgestellt, dass wohl auch der große Einfluss der thermodynamischen Theorien Freuds Denken mitbestimmt hat.

Die Erkenntnis, dass bei den Neurosen noch andere Aspekte eine wichtige Rolle spielen als jene, die wir gewöhnlich sexuelle Wünsche nennen, veranlasste Freud, seinen Begriff der Sexualität auch auf die „prägenitale Sexualität“ auszudehnen. So konnte er annehmen, dass seine Libidotheorie den Ursprung jener Energie erklären konnte, die alles leidenschaftliche Verhalten, einschließlich der aggressiven und sadistischen Impulse, antreibt.

In den zwanziger Jahren entwickelte Freud im Gegensatz zu der physiologisch-mechanistischen Ausrichtung seiner Libidotheorie mit seiner Theorie des Lebens- und des Todestriebes einen sehr viel weiteren biologischen Ansatz. Er betrachtete den Lebensprozess als Ganzen und nahm an, dass die zwei Tendenzen jeder Zelle eines lebendigen Organismus innewohnen: eine Tendenz auf Leben hin, das heißt auf wachsende Einheit und Integration, die er Eros nannte, und eine Tendenz auf Tod und Desintegration hin, die er Todestrieb nannte. Zwar ist die Richtigkeit der Annahme seiner Theorie vom Lebens- und Todestrieb fragwürdig, doch hat er mit seiner neuen Auffassung eine zwar äußerst spekulative, jedoch umfassende biologische Theorie der Leidenschaften des Menschen geliefert. Von einem biologischen Standpunkt aus sollte besonders erwähnt werden, dass seine frühere Theorie trotz ihrer Enge auf der Annahme beruhte, dass es in der Natur der lebenden Organismen begründet ist, leben zu wollen, während er in seiner umfassenderen späteren biologischen Theorie die frühere Vorstellung aufgab und stattdessen annahm, die Tendenz zur Desintegration gehöre ebenso zur Natur des Menschen wie jene zu leben und zu überleben.

Die der Natur alles Lebendigen innewohnende Polarität von Leben und Tod wurde nun zur neuen Basis von Freuds Denken. Sie löste das hydraulische Modell von wachsender Spannung und notwendiger Reduktion ab. Leider hat Freud – aus vielen Gründen – niemals den grundlegenden Widerspruch zwischen der früheren und der späteren Triebtheorie aufgeklärt oder gar die beiden zur Synthese gebracht. Mit meiner Auffassung des Zusammenhangs von Nekrophilie und Analsadismus habe ich versucht, ein Element von Freuds Libidotheorie und seiner Auffassung vom Todestrieb zu verbinden. Freud hing noch immer an seiner älteren Auffassung, dass die Libido männlich sei, und vermied den beinahe selbstverständlichen Schritt, nämlich den Eros mit der männlich-weiblichen Polarität zu verbinden. Stattdessen begrenzte er den Begriff des Eros auf das allgemeine Prinzip von Integration und Vereinigung.

An Freuds biologischer Ausrichtung kann nicht gezweifelt werden, doch würde man sein Werk entstellen, wenn man seine biologische Orientierung in einen Gegensatz zu einer gesellschaftlichen Orientierung bringen würde. Ganz im Gegensatz zu einer solchen falschen Gegenüberstellung war Freud immer auch gesellschaftlich orientiert. Er betrachtete den Menschen nie als ein isoliertes Wesen und unabhängig von seinem [XII-015] sozialen Kontext. In Massenpsychologie und Ich-Analyse schreibt Freud (1921c, S. 73):

Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie.

Es stimmt allerdings, dass Freud vor allem an die Familie dachte, wenn er den gesellschaftlichen Faktor einbezog, und nicht an die Gesellschaft als ganze bzw. an gesellschaftliche Schichten. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass er beim Versuch, die Entwicklung eines Menschen zu verstehen, immer auch die Wirkung der gesellschaftlichen Einflüsse (der Familie) auf die gegebene biologische Struktur zu verstehen versuchte.

Diese falsche Gegenüberstellung von biologischer und gesellschaftlicher Ausrichtung unterliegt auch der falschen Einschätzung meines Werkes als kulturell oder kulturalistisch im Gegensatz zu einem biologischen Denken. Mein Ansatz war immer ein sozio-biologischer und in dieser Hinsicht von Freuds Ansatz nicht grundsätzlich abweichend. Mein Ansatz steht allerdings in einem scharfen Widerspruch zu jener Art behavioristischem Denken in Psychologie und Anthropologie, das vom Menschen annimmt, er werde als ein leeres Blatt Papier geboren, auf das die Kultur mit ihrem alles durchdringenden Einfluss durch Sitte und Erziehung, das heißt mit anderen Worten, durch Lernen und Konditionierung, ihren Text schreibe.

Im Folgenden möchte ich eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Punkte geben, die meine sozio-biologische Ausrichtung wiedergeben.[4]

(1) Meine sozio-biologische Ausrichtung beruht vor allem auf einem bestimmten Verständnis von Evolution. Evolutionäres Denken ist historisches Denken. Wir nennen historisches Denken „evolutionär“, wenn wir von körperlichen Veränderungen sprechen, wie sie in der Geschichte der Entwicklung der Tiere vorkommen. Wir sprechen von „geschichtlichen“ Veränderungen, wenn es um solche Veränderungen geht, die nicht mehr in Veränderungen des Organismus begründet sind. Der Mensch taucht an einem bestimmten Punkt der tierischen Evolution auf. Dieser Punkt ist durch das fast völlige Verschwinden der instinktiven Determination und das Wachstum der Hirnentwicklung gekennzeichnet, mit der Selbstbewusstsein, Vorstellungsvermögen, Planen und Zweifeln einhergehen. Haben diese beiden Faktoren einen bestimmten Schwellenwert erreicht, entsteht der Mensch. Von da an sind all seine Impulse von seinem Bedürfnis bestimmt, unter den Bedingungen zu überleben, die an diesem Punkt seiner Evolution entstanden sind.

Die „evolutionären“ Veränderungen bei Lebewesen finden auf Grund von Änderungen der physischen Struktur statt; dies gilt von den Einzellern bis zu den Säugetieren. [XII-016] Die „geschichtlichen“ Veränderungen, das heißt die Evolution des Menschen, beruhen nicht auf Veränderungen seiner anatomischen oder physiologischen Struktur, sondern finden auf Grund psychischer Veränderungen statt, die sich bei der Anpassung an das gesellschaftliche System, in das ein Mensch hineingeboren wird, ergeben. Das gesellschaftliche System hängt seinerseits von vielen Faktoren wie Klima, Bodenschätzen, Bevölkerungsdichte, Mittel zur Kommunikation mit anderen Gruppen, Produktionsweise usw. ab. Die geschichtlichen Veränderungen beim Menschen finden im Bereich seiner intellektuellen Fähigkeiten und seiner emotionalen Reife statt.

Eine wichtige Bemerkung muss hinzugefügt werden: Auch wenn es stimmt, dass der Mensch jene anatomische und physiologische Konstitution nicht überschritten hat, die er zum Zeitpunkt des Auftauchens aus dem Tierreich hatte, so ist doch das Wissen um das Verhalten und die neurophysiologischen Prozesse bei den Tieren, und hier besonders bei den Säugetieren, von beträchtlichem Interesse für die Erforschung des Menschen. Selbstverständlich sind oberflächliche Analogien der Art, wie sie Konrad Lorenz zu machen beliebt, von geringem wissenschaftlichem Wert. Auch muss man äußerst vorsichtig sein, für das menschliche Verhalten irgendwelche Schlussfolgerungen aus dem tierischen zu ziehen, und zwar genau deshalb, weil der Mensch ein System sui generis darstellt, das durch das gleichzeitige Vorhandensein von Schwäche der Instinktausstattung und einem hochentwickelten Gehirn gekennzeichnet ist.

Ist man sich dieser Fallstricke bewusst, können die Ergebnisse der Erforschungen tierischen Verhaltens und der neurophysiologischen Prozesse bei Tieren sehr anregend für die Erforschung des Menschen sein. Dies gilt selbstverständlich auch für die psychoanalytische Erforschung des Menschen: Auch sie kann von den den Menschen betreffenden neurophysiologischen Erkenntnissen Gebrauch machen. Zwar sind Psychoanalyse und Neurophysiologie Wissenschaften mit völlig verschiedenen Methoden, die nicht notwendig zu neuen Einsichten kommen, wenn sie dasselbe Problem zur gleichen Zeit angehen. Deshalb muss auch jede dieser Wissenschaften der Logik ihrer eigenen Methoden folgen. Es kann aber doch erwartet werden, dass sich eines Tages psychoanalytische und neurophysiologische Ergebnisse zusammenfügen lassen. Solange dies noch nicht möglich ist, sollten die Disziplinen der Wissenschaft vom Menschen nicht nur Respekt vor der jeweils anderen haben, sondern sich gegenseitig stimulieren, indem sie ihre Ergebnisse veröffentlichen und Fragen formulieren, die der Forschung in dem jeweils anderen Gebiet förderlich sind.

(2) Ein weiterer Drehpunkt der sozio-biologischen Ausrichtung ist die Frage des Überlebens: Wie kann der Mensch mit seiner physiologischen und neurophysiologischen Ausrüstung und angesichts seiner existenziellen Widersprüche physisch und psychisch überleben? Dass der Mensch physisch überleben muss, bedarf keiner Erklärung. Doch die Behauptung, dass er auch psychisch überleben muss, bedarf einiger weiterer Erläuterungen.

Vor allen Dingen ist der Mensch ein gesellschaftliches Wesen. Seine physische Konstitution ist derart, dass er in Gruppen leben muss, und dies bedeutet, dass er zumindest zum Zweck der Arbeit und der Verteidigung zur Kooperation mit anderen fähig ist. Voraussetzung für eine solche Kooperation ist, dass er seelisch gesund ist. Um [XII-017] psychisch gesund zu bleiben, das heißt, um psychisch (und indirekt auch physisch) zu überleben, muss der Mensch auf andere bezogen sein, und er braucht einen Rahmen der Orientierung, der es ihm erlaubt, die Wirklichkeit zu begreifen und einen relativ konstanten Bezugsrahmen zu haben, der ihm einen Orientierungspunkt in einer ansonsten chaotischen Wirklichkeit ermöglicht. Dieser Rahmen der Orientierung befähigt ihn zugleich, mit anderen zu kommunizieren.

Der Mensch braucht einen Rahmen der Hingabe, der auch Werte einschließt, und der ihn befähigt, seine Energie in eine besondere Richtung zu bündeln und zu kanalisieren, womit er das rein physische Überleben transzendiert. Die Art des Rahmens der Orientierung ist zum Teil eine Frage der Wahrnehmung und wird über das Erlernen der Denkformen seiner Gesellschaft erworben; zum größeren Teil ist sie eine Frage des Charakters.

Der Charakter ist jene Form, in die menschliche Energie im Prozess der „Sozialisation“ (in der Bezogenheit zu anderen) und der „Assimilierung“ (in der Art und Weise der Aneignung von Dingen) kanalisiert wird. Der Charakter ist eigentlich der Ersatz für die fehlenden Instinkte. Müsste der Mensch, weil er in seinen Handlungen nicht mehr durch die Instinkte determiniert ist, vor jeder Handlung erst entscheiden, wie er handelt, wäre er unfähig, jemals rasch zu handeln. Zu Entscheidungen zu kommen, würde zu lange dauern; auch gäbe es keine Konsistenz seiner Handlungen. Handelt er gemäß seinem Charakter, dann handelt er quasi-automatisch und konsistent. Die Energie, mit der die Charakterzüge geladen sind, garantiert eine rasche und schlüssige Handlung – mehr, als jeder Zwang zum Lernen leisten würde.

Freud nahm an, dass die Charakterzüge in der Libido und besonders in den libidinös besetzten erogenen Zonen wurzeln. In meiner Revision des Charakterbegriffs wird der Charakter als ein biologisch notwendiges Phänomen gesehen, notwendig deshalb, weil er das psychische und physische Überleben des Menschen garantiert. Auch die Begriffe „Sozialisation“ und „Assimilierung“ als Aspekte der Charakterorientierungen gründen auf der biologischen Betrachtung, dass der Mensch ein zweifaches Bedürfnis hat: sich auf andere zu beziehen und sich Dinge anzueignen.

Wer mit meinen früheren Schriften vertraut ist, weiß, dass ich Freuds klinische Beschreibung der verschiedenen Charaktersyndrome voll und ganz akzeptiere. Der Unterschied liegt in den verschiedenen biologischen Ansätzen. Darüber hinaus gibt es noch einen anderen Unterschied, der eigens erwähnt sein soll: Für Freud sind die Charakterzüge mit libidinöser Energie geladen, das heißt, sie sind sexuell (in dem weiten Wortsinn, in dem Freud diesen Begriff benutzte). Die Energie, von der ich spreche, ist die Energie des lebendigen Organismus mit seinem Wunsch zu überleben; sie wird in verschiedene Bahnen kanalisiert, die es dem Einzelnen ermöglichen, seinen Anforderungen gemäß zu reagieren. (Carl Gustav Jung war der erste, der von Energie im allgemeinen statt von sexueller Energie im engeren Sinn sprach. Allerdings verband er sein anderes Energieverständnis nicht mit der sozio-biologischen Funktion des Charakters.)

Die sozio-biologische Funktion des Charakters bestimmt nicht nur die Bildung des individuellen Charakters, sondern auch die des Gesellschafts-Charakters. Der Gesellschafts-Charakter enthält die „Matrix“ oder den „Kern“ der Charakterstruktur der [XII-018] meisten Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe. Er bildet sich als das Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und der Lebensweise, die eben dieser Gruppe gemeinsam sind. Von einer sozio-biologischen Warte aus hat der Gesellschafts-Charakter die Funktion, menschliche Energie derart umzugestalten, dass sie als „Rohmaterial“ für die Zwecke der besonderen Struktur einer gegebenen Gesellschaft benützt werden kann. Ich möchte hier eigens anmerken, dass es so etwas wie eine Gesellschaft als solche nicht gibt, sondern nur verschiedene Gesellschaftsstrukturen; genauso wenig gibt es psychische Energie als solche, sondern nur auf verschiedene Weisen kanalisierte psychische Energie, die jeweils für eine gegebene Charakterstruktur typisch ist.

Die Entwicklung des Gesellschafts-Charakters ist unabdingbar für das Funktionieren einer gegebenen Gesellschaft; das gesellschaftliche Überleben aber ist eine biologische Notwendigkeit für das Überleben des Menschen. Dies bedeutet freilich nicht, dass der gegebene Gesellschafts-Charakter die Stabilität einer gegebenen Gesellschaft garantiert. Widerspricht die Gesellschaftsstruktur den menschlichen Bedürfnissen zu sehr und kommt es gleichzeitig zu neuen technischen und sozio-ökonomischen Möglichkeiten, dann werden bisher verdrängte Charakterelemente in den fortschrittlichsten Individuen und Gruppen zum Vorschein kommen, und diese neuen Charakterzüge werden dabei helfen, die Gesellschaft in menschlich befriedigendere Formen zu verwandeln. So sehr der Gesellschafts-Charakter in Perioden sozio-ökonomischer Stabilität der Zement der Gesellschaft ist, so wird er in Zeiten drastischer Änderungen zu Dynamit.

Ich fasse zusammen: Es gibt keine „kulturelle“ Ausrichtung, die im Gegensatz zu einer „biologischen“ stände, wobei Freud für die biologische und ich für die kulturelle Schule stehen würde. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich kein Gründer einer Schule bin, sondern ein Psychoanalytiker, der Freuds Theorie dadurch zu fördern versuchte, dass ich bestimmte Revisionen vornahm, ist meine Ausrichtung eine sozio-biologische. Für diese tritt der Mensch an einem bestimmten und definierbaren Punkt der Evolution des tierischen Lebens auf. Die Entwicklung der Persönlichkeit wird als der Versuch des Menschen verstanden, mit Hilfe einer dynamischen Anpassung an die gesellschaftliche Struktur, in die er geboren wird, zu überleben.

Die falsche Gegenüberstellung von kultureller und biologischer Ausrichtung ist teils Ausdruck der allgemeinen Tendenz, Ideen lieber in bequeme Klischees zu packen, als sie zu verstehen, teils ist sie der Ideologie der bürokratisch organisierten Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft verpflichtet, in der es Mitglieder und Sympathisanten gibt, die anscheinend ein leicht zu begreifendes Etikett brauchen, um ihre Abneigung gegen die Ideen jener Psychoanalytiker rationalisieren zu können, die davon überzeugt sind, dass Psychoanalyse und bürokratischer Geist unversöhnlich sind.[5]

II. Die Notwendigkeit der Revision der Psychoanalyse

(The Necessity for the Revision of Psychoanalysis)

(1990e [1969])[6]

Revision ist ein normaler Prozess innerhalb der Wissenschaft.[7] Eine Theorie, die über 60 Jahre die gleiche bleibt, ohne revidiert zu werden, bleibt paradoxerweise nicht die gleiche, sondern wird zu einem System steriler Formeln. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob oder ob nicht revidiert werden soll, sondern was revidiert wird und in welche Richtung die Revision führt: Setzt sie die Richtung der ursprünglichen Theorie fort, auch wenn sie viele einzelne Hypothesen innerhalb der Theorie ändert, oder verkehrt sie die Richtung, obwohl sie beansprucht, nur die Gedanken ihres Meisters weiterzuführen?

Sehen wir das Problem des Revisionismus in dieser Weise, dann stoßen wir auf die schwierige Frage, wer darüber entscheidet, was das Wesentliche der ursprünglichen Theorie ist. Es ist klar, dass ein monumentales Werk eines Genies, das im Zeitraum von über 40 Jahren wächst und sich ändert, bei diesem Prozess Widersprüche zeitigt. So ist es notwendig, seinen Kern zu verstehen, sozusagen sein Wesen im Unterschied zur Gesamtsumme aller Theorien und Hypothesen. Aber die Frage bleibt, wer darüber entscheidet, was dieses Wesentliche ist. Der Gründer des Systems? Dies wäre freilich sehr wünschenswert und die bequemste Lösung für alle, die nach dem Meister kommen. Meistens ist dies aber leider nicht möglich.

Selbst der größte Denker ist ein Kind seiner Zeit und von Vorurteilen und Denkgewohnheiten beeinflusst. Oft ist er derart von der Auseinandersetzung mit älteren Ansichten oder der Formulierung von neuen und originellen absorbiert, dass er selbst den Durchblick verliert, was denn nun wirklich für sein System wesentlich ist. Er mag einige Details, die er unbedingt brauchte, um zu neuen Erkenntnissen fortzuschreiten, als wichtiger ansehen als jene, die seine Entdeckungen rezipieren und dabei nicht mehr auf die Hilfskonstruktionen angewiesen sind.

Wer kommt sonst noch in Frage, darüber zu befinden, was wesentlich ist? Die Autoritäten? Dieses Wort klingt wohl deplatziert im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Entdeckungen, doch es ist durchaus angemessen. Wissenschaft wird oft durch Institutionen und von Bürokraten verwaltet, die über die Geldmittel verfügen, über die Ausstattung von Forschungsvorhaben befinden usw. und die in der Tat einen beherrschenden Einfluss auf die Richtung haben, die wissenschaftliche Entwicklung [XII-022] nehmen soll. Dies ist zwar nicht immer der Fall, aber bei der psychoanalytischen „Bewegung“ war es zweifellos so. Ohne in eine Erörterung der Gründe einzusteigen, glaube ich, dass die psychoanalytische Bürokratie versucht hat festzulegen, welche Theorien und therapeutischen Praktiken verdienen, „Psychoanalyse“ genannt zu werden, und ich denke nicht, dass diese Wahl von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus allzu erfolgreich war. Dies ist auch kein Wunder: Wissenschaftliche Bürokratien erwerben wie alle anderen bald unabdingbare Rechte hinsichtlich Macht, Rangfolge und Prestige, und indem sie über die Theorie Herrschaft ausüben, können sie Menschen beherrschen.[8]

Wenn weder ihr Schöpfer noch die offizielle Bürokratie eine Antwort auf die Frage nach dem, was für irgendein großes theoretisches Gebäude (wie etwa den Platonismus, Spinozismus, Marxismus oder den Freudianismus) wesentlich ist, geben kann, wie lässt sich dann das Wesentliche bestimmen? Die Antwort auf diese Frage kann nicht sehr befriedigend ausfallen, weil sie uns keine klare und feste Regel gibt, doch ist die folgende meines Erachtens noch die einzig brauchbare.

Das Wesen eines Systems zu entdecken, ist primär eine historische Aufgabe. Wer sich dieser Aufgabe unterziehen will, muss herausfinden, was die neuen und kreativen Gedanken in dem System waren, die den allgemein akzeptierten Ansichten und Ideen zu dieser Zeit widersprachen. Dann muss man fortfahren und das allgemeine „Klima“ des Denkens und der persönlichen Erfahrung sowohl auf gesellschaftlicher Ebene wie im Leben des Meisters für jene Zeit erforschen, in der das System geschaffen wurde. Man muss herausarbeiten, wie der Meister seine neuen Entdeckungen auszudrücken versuchte und mit welchen Begriffen er an das Denken seiner Zeit anknüpfen wollte, so dass sich weder er noch seine Anhänger völlig isoliert oder „verrückt“ vorkamen. Dann gilt es zu verstehen, wie die Formulierungen des ursprünglichen Systems von dem Versuch beeinflusst wurden, einen Kompromiss zwischen dem Neuen und dem bereits Bestehenden zu finden. Schließlich gilt es herauszufinden, wie der Kerngedanke des Systems erweitert, übersetzt und revidiert werden könnte im Prozess des gesellschaftlichen Wandels und angesichts des Wandels der Erfahrung und des Lebensstils. Auf eine kurze Formel gebracht, kann der entscheidende Punkt so ausgedrückt werden: Das Wesen des Systems ist das, was das traditionelle Denken übersteigt, wobei dieses Wesen von dem traditionellen Gepäck, in das dieses transzendierende Denken hineingepackt und formuliert ist, befreit werden muss.

Im Hinblick auf das System, das Freud geschaffen hat, glaube ich, dass folgende Entdeckungen die entscheidenden waren:

  1. Der Mensch wird weitgehend von Trieben bestimmt, die wesentlich irrational sind und mit seiner Vernunft, seinen moralischen Standards und den Standards seiner Gesellschaft in Konflikt stehen.
  2. Die meisten dieser Triebe sind ihm nicht bewusst. Der Mensch erklärt sich sein Handeln zwar als Ergebnis vernünftiger Motive (rationalisiert sie also), doch er denkt, fühlt und handelt entsprechend den unbewussten Kräften, die sein Verhalten motivieren.
  3. Jedem Versuch, das Vorhandensein und die Geltung [der unbewussten [XII-023] Triebwünsche] zu Bewusstsein zu bringen, begegnet der Mensch mit energischer Abwehr und mit Widerstand, die viele Formen annehmen können.
  4. Abgesehen von seiner konstitutionellen Ausstattung ist die Entwicklung des Menschen weitgehend von den in seiner Kindheit wirksamen Umständen bestimmt.
  5. Die unbewussten Motive des Menschen können durch Schlussfolgerungen (Deutungen) aus seinen Träumen, Symptomen und unbeabsichtigten kleinen Handlungen erkannt werden.
  6. Konflikte zwischen dem, wie der Mensch sich und seine Welt sieht, und den ihn unbewusst motivierenden Kräften können, wenn ihre Stärke einen bestimmten Stellenwert überschreitet, psychische Störungen wie Neurosen, neurotische Charakterzüge oder ganz allgemein diffuse Lustlosigkeit, Angstzustände, Depressivität usw. hervorrufen.
  7. Werden die unbewussten Kräfte bewusst, dann hat dieser Wandel einen höchst bedeutsamen Effekt: Das Symptom verschwindet, ein Anwachsen der Energie findet statt, der Mensch lebt in größerer Freiheit und mit größerer Freude.

Jede dieser sieben Entdeckungen Freuds hat eine spezielle Beziehung zu dem historischen Hintergrund, in dem Freud arbeitete. Freud war zugleich der Höhepunkt und das Ende der Periode des Rationalismus und der Aufklärung. Insofern er an die Macht der Vernunft und an ihre Fähigkeit, die lösbaren Rätsel des Lebens zu lösen, glaubte, war er ein Rationalist. Aber Freud transzendierte den Rationalismus mit der Erkenntnis, dass der Mensch in einem Ausmaß von irrationalen Kräften motiviert wird, das der Rationalismus des Achtzehnten Jahrhunderts nicht vorhersah. Diese Entdeckung der Irrationalität des Menschen und der unbewussten Eigenart der irrationalen Kräfte ist die radikalste Entdeckung von Freud. Mit ihr transzendierte er – und besiegte im gewissen Sinn auch – den optimistischen Rationalismus, der im Mittelklasse-Denken seines Jahrhunderts gang und gäbe war. Er entthronte das bewusste Denken von seinem erhöhten Platz, gleichzeitig gab er der Vernunft dadurch eine noch größere Bedeutung, dass sie das bewusste Denken kritisieren sollte. Dadurch, dass Freud fähig war, das Irrationale rational zu erklären, stellte er die Vernunft auf eine neue und noch weitaus solidere Basis.

Freud wäre wohl zum Anwalt von Pessimismus und Hoffnungslosigkeit geworden, hätte er nicht eine Methode entdeckt, mit der er den Menschen von der Macht der irrationalen Kräfte befreien konnte, indem das Unbewusste bewusst gemacht wird. Dieses Prinzip, das Freud einmal in die Worte fasste: „Wo Es war, soll Ich werden“ (S. Freud, 1933a, S. 86), verwandelte die Einsicht in die Irrationalität des Menschen in ein Instrument seiner Befreiung. Freud öffnete deshalb nicht nur eine neue Dimension von Wahrheit, sondern auch eine neue Dimension der Freiheit. Handelsfreiheit oder die Freiheit, sein Eigentum zu gebrauchen, sowie politische Freiheit bedeuten vergleichsweise wenig, wenn der Mensch sich nicht von seinen inneren irrationalen und unbewussten Kräften selbst befreien kann. Der freie Mensch ist der, der sich selbst kennt, allerdings auf eine neue Weise. Er muss die täuschende Oberfläche des bloßen Bewusstseins durchdringen und die verborgene Realität in sich erfassen. [XII-024]

Hat Freud in all diesen Aspekten das rationalistisch-optimistische Menschenbild, das tief im Denken und Fühlen seiner Zeit verwurzelt war, herausgefordert, so war er doch in anderen Aspekten vom zeitgenössischen Bezugsrahmen abhängig. Dies gilt vor allem für seine Bewunderung des mechanistischen Materialismus und die Anwendung seiner Methoden. Deren führende Vertreter war eine Gruppe deutscher Professoren: Hermann Ludwig F. Helmholtz, Du Bois-Reymond und Ernst von Brücke. Letzterer war Freuds Lehrer und Vorgesetzter als Leiter des psychologischen Laboratoriums an der Universität zu Wien. Er hinterließ bei seinen Studenten, die ihm Dankbarkeit und Bewunderung entgegenbrachten, einen bleibenden Eindruck.

Als Freud von der Physiologie, Neurologie und Psychiatrie (wie man sie damals verstand) zur Psychologie wechselte, behielt er dennoch die grundlegenden Begriffe und Methoden bei, von denen er auf Grund des Brückeschen Werks durchdrungen war. Er suchte das physiologische Substrat der psychischen Energie (libido). Auch das „Neurologisieren“, wie es in Brückes Laboratorium gepflegt wurde, behielt er in seinem Denken für den Bereich der Psychoanalyse bei. Begriffe wie „Besetzung“ von Energie, „gebundene“ und „freie“ Energie, „Verschiebung“ von Energie gehören zu den grundlegenden Kategorien seines neuen Denkens.

Zieht man alles in Betracht, dann werden die geschichtsträchtigen Entdeckungen Freuds deutlich: (1) Freud entdeckte, dass es mächtige irrationale Kräfte gibt, die den Menschen motivieren; (2) Freud entdeckte die unbewusste Natur dieser Kräfte; (3) Freud entdeckte ihre (unter bestimmten Umständen) krankmachende Funktion; (4) Freud entdeckte den heilenden und befreienden Einfluss der Bewusstmachung des Unbewussten.

Die Entdeckungen Freuds wurden von jenen Psychiatern und Psychologen attackiert, die sie nicht verstanden. Auch frühere Schüler und Anhänger von Freud wandten sich gegen sie; diese hatten sie zwar verstanden, doch nahmen sie eine kritische Stellung gegen sie ein und wollten sich gleichzeitig vom Joch der überlegenen Rolle Freuds und seiner oft hartnäckigen Weigerung, die Entdeckungen zu revidieren, befreien. Unter diesen Rebellen sind Alfred Adler und Carl Gustav Jung die bekanntesten. Sie schlugen Revisionen vor, die wohlbegründet waren; einige von ihnen übernahm Freud später selbst.

Alfred Adler sah lange vor Freud die Wichtigkeit der aggressiven und destruktiven Impulse. Carl Gustav Jung befreite den Begriff der psychischen Energie von seiner Verengung als rein sexuelle Energie und entwickelte seine eigene Auffassung von psychischer Energie. Jung hatte auch ein umfassenderes Verständnis der Symbolsprache und der Mythologie als Freud. Er erkannte, dass der Mensch nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie von persönlichen Faktoren in seinem Leben beeinflusst ist, sondern dass diese persönlichen Faktoren, wie zum Beispiel die Mutter, universelle Phänomene und Archetypen repräsentieren, die einen mächtigen Einfluss auf das Leben eines jeden Menschen haben, und zwar unabhängig von der Persönlichkeit einer ganz konkreten Mutter.

Im Hinblick auf diese Vorbehalte und Revisionen gibt es eigentlich keinen vernünftigen Grund, oder doch zumindest keinen zwingenden Grund, für eine Spaltung. Selbst [XII-025] Freuds eigene Unnachgiebigkeit und der persönliche Ehrgeiz von Adler und Jung reichen nicht für eine Erklärung aus. Der wahre Grund und die Notwendigkeit für einen Bruch ergaben sich aus der Tatsache, dass Adler und Jung – jeder auf seine Weise – Freuds grundlegende Einstellung nicht teilten. Adler war zwar begabt und besaß einen großen psychologischen Scharfsinn, aber er war kein Mann, der an der Grenze des Rationalismus stand und in den Abgrund der Irrationalität schaute. Er gehörte zu einer Gruppe von Menschen, die einen neuen, verhältnismäßig oberflächlichen Optimismus vertrat und die für die neue Mittelschicht Deutschlands und Österreichs vor und nach dem Ersten Weltkrieg typisch war. Ihrem Denken war nichts Paradoxes oder Tragisches zu eigen, vielmehr glaubten sie, dass es mit der Welt immer nur aufwärtsgehen könne und dass Hindernisse und Nachteile in Vorteile zu wenden seien. (Den gleichen naiven Optimismus gab es auch bei den österreichischen Reformisten und den deutschen Sozialdemokraten, zu denen sich Adler zählte.)

Jung lebte in einer völlig anderen geschichtlichen Situation. Er war von Grund auf ein Romantiker und ein Antirationalist. Für diese romantische Tradition war das Irrationale nicht etwas, das es zu verstehen und damit zu überwinden galt; für sie war das Irrationale vielmehr der Urquell der Weisheit, den es zu erforschen, zu verstehen und in sich aufzunehmen galt, um sein Leben zu bereichern und zu vertiefen. Freud war am Irrationalen und Unbewussten interessiert, weil er den Menschen von deren Macht befreien wollte; Jung hingegen wollte dem Menschen helfen und ihn heilen, indem er ihm half, mit seinem Unbewussten in Berührung zu sein. Freud und Jung waren wie zwei Menschen, die jeweils in die entgegengesetzte Richtung gehen, sich für einen Moment an der gleichen Stelle treffen, sich angeregt unterhalten und dabei vergessen, dass sich die Distanz zwischen ihnen wieder vergrößern wird, wenn sie ihren Spaziergang fortsetzen.

Die dritte Gruppe von Dissidenten wird gewöhnlich „Neofreudianer“ oder „Kulturalisten“ oder einfach „Revisionisten“ genannt. Die wichtigsten Vertreter dieser Gruppe [in Amerika] sind Harry Stack Sullivan, Karen Horney und ich selbst. Natürlich gab es auch andere, die beträchtlich von den herrschenden orthodoxen Ansichten abwichen, wie etwa Franz Alexander und Sándor Radó. Da sie aber innerhalb der Freudschen Organisation verblieben, wurde das Etikett „Neofreudianer“ auf sie nicht angewandt.

Die sogenannten Neofreudianer vertreten überhaupt keine übereinstimmenden Ansichten. Gemeinsam ist ihnen lediglich eine größere Betonung der kulturellen und gesellschaftlichen Fakten, als dies sonst bei den Freudianern üblich ist. Doch diese Betonung war gewiss nur eine Weiterentwicklung von Freuds eigener gesellschaftlicher Orientierung, die den Menschen immer in seinem sozialen Kontext sah und die der Gesellschaft eine entscheidende Rolle beim Verdrängungsprozess zusprach. Sullivan ging es weniger um Sexualität und mehr um die Vermeidung von Angst und Unsicherheit. Horney betonte die Rolle der Angst, der Furcht und der unversöhnlichen Ich-Ideale. Außerdem schlug sie grundlegende Veränderungen in Bezug auf Freuds Psychologie der Frau vor.

Ich selbst bekam immer mehr Zweifel an der Libidotheorie und entwickelte eine [XII-026] Theorie, in deren Mittelpunkt die Bedürfnisse stehen, die sich aus den Existenzbedingungen des Menschen ergeben. Ich betone die Rolle der Gesellschaft, und zwar nicht als „Kultur“, sondern als eine bestimmte Gesellschaft, die entsprechend den Maximen ihrer Produktionsweise und ihrer wichtigsten Produktivkräfte strukturiert ist. Darüber hinaus betone ich die Bedeutung von Werten und ethischen Fragen für das Verstehen des Menschen.

Keine der oben aufgezählten grundlegenden Theorien Freuds wurde angegriffen, noch versuchte einer der drei Psychoanalytiker eine neue Schule zu gründen, die die Freudsche ersetzen sollte. Dass sie die Freudsche Organisation verließen, hatte vor allem mit der Intoleranz der Bürokratie gegenüber den Dissidenten zu tun und gerade nicht mit deren Vorhaben, für neue oder anti-Freudsche Systeme Organisationen zu gründen. In dieser entscheidenden Hinsicht sind die Neofreudianer völlig anders als Adler und Jung. Dieser Unterschied drückt sich symbolisch darin aus, dass Adler und Jung ihren Systemen einen neuen Namen gaben (Individualpsychologie bzw. Analytische Psychologie), während die Neofreudianer darauf bestanden, am Wort „Psychoanalyse“ festzuhalten, wogegen einige Freudianer protestierten, die behaupteten, dass jene, die nicht den Regeln der Organisation entsprächen, sich auch nicht mehr Psychoanalytiker nennen dürften. (Zu welcher Absurdität dieser bürokratische Geist führen kann, zeigt sich beispielhaft darin, dass der Gebrauch der Couch und eine Wochenfrequenz von fünf Sitzungen zu Kriterien wurden, die darüber entschieden, ob jemand Psychoanalyse machte oder nicht.)

Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus haben die Gründer von neuen Schulen, Adler und Jung, vor allem den Fehler begangen, die großen Entdeckungen Freuds zu bagatellisieren, ja sie schließlich völlig aufzugeben und durch ihre eigenen und oft mittelmäßigen „Markenzeichen“ zu ersetzen. Die Neofreudianer, mich eingeschlossen, mögen mit Recht dafür kritisiert werden, dass sie manchmal Freud zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt oder ihn unnötigerweise kritisiert haben. Auch wenn dies vom Prozess des Kritisierens her verständlich ist, zumal dann, wenn der Kritik mit größter Feindseligkeit auf Seiten der Freudianer begegnet wird, so war die Kritik der Neofreudianer meines Erachtens nicht übertrieben oder einseitig. Trotz der großen Unterschiede, die es unter den Neofreudianern gibt, gilt doch für alle, dass das Verstehen der unbewussten Prozesse im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stand und dass es auch ihr Ziel war, das Unbewusste bewusst zu machen. Allerdings versuchte keiner von ihnen solche Formulierungen zu finden, die bei der Freudschen Bürokratie mit Wohlwollen aufgenommen worden wären und vielleicht zu einer freundlicheren Rezeption des neofreudianischen Denkens hätten führen können.

III. Die dialektische Revision der Psychoanalyse

(The Dialectic Revision of Psychoanalysis)

(1990f [1969])[9]

1. Gegenstand und Methode der Revision der Psychoanalyse

Eine kreative Erneuerung der Psychoanalyse[10] ist nur möglich, wenn sie den positivistischen Konformismus[11] überwindet und wieder zu einer kritischen, herausfordernden Theorie aus dem Geist des Humanismus wird. Eine derart revidierte Psychoanalyse wird fortfahren, noch tiefer in die „Unterwelt“ des Unbewussten hinabzusteigen; sie wird allen gesellschaftlichen Arrangements gegenüber, die den Menschen entstellen und deformieren, kritisch sein; und sie wird sich auf jene Prozesse konzentrieren, die zur Anpassung der Gesellschaft an die Bedürfnisse des Menschen führen können, anstatt zur Anpassung des Menschen an die Gesellschaft.

Ihr besonderes Augenmerk richtet die revidierte Psychoanalyse auf jene psychischen Phänomene, die die Pathologie der gegenwärtigen Gesellschaft begründen: auf Entfremdung, Angst, Einsamkeit, auf die Angst vor tiefreichenden Gefühlen, auf den Mangel an Tätigsein und auf das Fehlen von Freude. Diese Symptome haben die zentrale Rolle übernommen, die die Verdrängung der Sexualität zur Zeit Freuds innehatte. Die psychoanalytische Theorie muss deshalb so gefasst werden, dass sie die unbewussten Aspekte dieser Symptome und deren krankmachende Bedingungen in Gesellschaft und Familie verständlich macht. Darüber hinaus muss die Psychoanalyse die „Pathologie der Normalität“ erforschen, jene chronische, leichte Schizophrenie, die von der kybernetisch organisierten technologischen Gesellschaft von heute und morgen erzeugt wird.

Ich halte eine dialektische Revision der klassischen Freudschen Theorie bzw. ihre Weiterführung in folgenden Bereichen für notwendig: in Bezug auf die Triebtheorie, auf die Theorie des Unbewussten, auf die Theorie der Gesellschaft, die Theorie der Sexualität und des Körpers sowie in Bezug auf die psychoanalytische Therapie. Allen Bereichen der Revision sind bestimmte Elemente gemeinsam:

  1. Der Wechsel des philosophischen Hintergrundes von einem mechanistischen Materialismus entweder zu einem historischen Materialismus und einem prozessualen Denken oder zur Phänomenologie und zur Existenzphilosophie.
  2. Gemeinsam ist ihnen auch ein anderer Erkenntnisbegriff, da es um die Erkenntnis von [XII-028] Menschen geht; dieser unterscheidet sich von dem in den Naturwissenschaften üblichen. Es geht dabei um den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem hebräischen und dem griechischen Begriff von Erkenntnis. Für das hebräische Denken war „erkennen“ (jada) gerade kein Abstraktionsvorgang, sondern hauptsächlich das aktive Erleben eines Menschen, eine konkrete und persönliche Beziehungsweise, wie sie auch im doppelten Wortgebrauch von „erkennen“ als eindringende sexuelle Liebe und als tiefes Verstehen ausgedrückt ist.[12] Im griechischen Denken und hier vor allem bei Aristoteles ist gegenständliche Erkenntnis unpersönlich und objektiv. Diese Art von Erkenntnis wurde zum Vorbild für die Naturwissenschaften. Zwar denkt der Therapeut auch in diesen gegenständlichen Begriffen, sofern er die vielfältigen Aspekte der Probleme seiner Patienten im Blick hat; sein hauptsächlicher Zugang muss aber die „Erkenntnis auf Grund eines aktiven Erlebens“ sein. Sie ist die geeignete wissenschaftliche Methode, Menschen zu verstehen.
  3. Gemeinsam ist ihnen ferner eine revidierte Vorstellung vom Menschen: Anstelle eines isolierten und erst sekundär sozialen homme machine ist der Mensch primär als soziales Wesen zu sehen. Es gibt den Menschen nicht anders denn als bezogenes Wesen, dessen Leidenschaften und Strebungen in den Bedingungen seiner menschlichen Existenz wurzeln.
  4. Auch eine humanistische Orientierung ist für alle Bereiche der Revision typisch: Sie geht davon aus, dass alle menschlichen Wesen grundsätzlich ein gleiches Potenzial haben und dass der andere, weil er letztlich niemand anderer ist als ich selbst, bedingungslos zu akzeptieren ist.
  5. Allen Bereichen der Revision sind schließlich gesellschaftskritische Einsichten gemeinsam, die sich aus dem Konflikt zwischen dem Interesse der meisten Gesellschaften, nur das eigene System erhalten zu wollen, und dem Interesse des Menschen an einer optimalen Entfaltung seiner ihm eigenen Möglichkeiten ergeben. Dies bedeutet, dass man sich weigert, Ideologien um ihrer selbst willen zu akzeptieren, und dass man statt dessen die Suche nach der Wahrheit als einen Prozess versteht, bei dem man sich von Illusionen, falschem Bewusstsein und von Ideologien befreit.

Die genannten Bereiche, in denen es zu einer produktiven Entwicklung der Psychoanalyse kommen soll, sind nie unabhängig voneinander zu sehen. Sie gehören vielmehr zusammen und werden hoffentlich in einem revidierten System der Psychoanalyse integriert werden. Leider gab es bisher viel zu wenig Kontakt zwischen einigen dieser Bereiche mit bestimmten anderen. Aus diesem Grund ist es vorteilhaft, sie im nachfolgenden Versuch getrennt zu behandeln und dabei zu verdeutlichen, was mit der „dialektischen Revision der psychoanalytischen Theorie“ gemeint ist.

Die dialektische Revision verfolgt zwei Ziele. Zum einen will sie Freuds Erkenntnisse und theoretische Schlussfolgerungen im Lichte zusätzlicher Erkenntnisse, neuer [XII-029] philosophischer Deutungsrahmen und der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte überprüfen. Zum anderen aber ist sie eine Kritik an Freud auf der Basis einer Art „Psychoanalyse von Theorien“. Jeder kreative Denker sieht mehr, als er in Worten ausdrücken kann oder als er sich bewusst wird. Um Theorien zu formulieren, muss er oft einen bestimmten Bereich seiner Erkenntnis ausschließen und wird sich nie bewusst, dass es noch andere Möglichkeiten gibt oder dass diese ihre eigene Gültigkeit haben. Selbstverständlich wird er jene Elemente seiner Beobachtungen und Gedanken wählen, für die er die meisten Belege hat und die am besten in den Rahmen seiner eigenen philosophischen, politischen und religiösen Überzeugungen passen. Träfe er keine derartige Auswahl, würde er zu sehr zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, etwas anzuschauen und zu erklären, hin und her gerissen werden und käme nie zu einer systematischen Theorie.

Wie kommen wir aber zu dem Schluss, dass er unbewusst auch andere Möglichkeiten denkt, ja dass er sich selbst voraus ist? In Wirklichkeit ist es nicht sehr viel anders als bei einer Psychoanalyse: Wir schließen auf die Gegenwart unbewusster Ideen auf Grund von eigentümlichen Auslassungen, Versprechern, Unter- oder Übertreibungen, Unentschlossenheiten, abrupten Übergängen, Träumen usw. Im Fall der Psychoanalyse von Theorien benützen wir dieselbe Methode, außer dass wir keine Träume haben: Wir analysieren genau die Art und Weise, in der ein Autor sich ausdrückt, wir spüren die immanenten Widersprüchlichkeiten auf, die er nicht ganz glätten konnte, die kurze Erwähnung einer Theorie, auf die er nie wieder zurückgriff, das übermäßige Insistieren auf bestimmten Punkten, das Auslassen einer möglichen Hypothese. Auf diese Weise können wir schlussfolgern, dass der Autor sich bestimmter anderer Möglichkeiten gewahr gewesen sein muss, aber doch nur so wenig, dass sie nur gelegentlich einen kurzen offenen Ausdruck finden, während sie ansonsten wirklich verdrängt bleiben. Die Brauchbarkeit und Gültigkeit einer solchen Psychoanalyse von Theorien wird freilich von denen verneint werden, die die Richtigkeit der Psychoanalyse auch sonst verneinen, bzw. von solchen, die im Werk eines Psychologen, Soziologen, Historikers nichts anderes als ein Produkt eines von persönlichen Faktoren unbeeinflussten Intellekts sehen.

Im Unterschied zur Psychoanalyse von Personen konzentriert sich die Psychoanalyse von Theorien nicht primär auf verdrängte Gefühle und Wünsche, sondern auf verdrängte Gedanken und auf die Entstellungen im Denken eines Autors. Sie versucht die verborgenen Gedanken zu erforschen und die Entstellungen zu erklären. In jedem Fall spielen bei einer solchen Analyse psychologische Überlegungen eine wichtige Rolle. Ganz offensichtlich ist der Fall dort, wo die Ängste eines Autors ihn von logischen Schlussfolgerungen abhalten und ihn dazu bringen, seine eigenen Daten falsch zu interpretieren, oder wo es ihm gefühlsmäßige Vorurteile verunmöglichen, bestimmte Fehler in seiner Theorie zu sehen und auf bessere theoretische Erklärungen zu kommen (bei Freud ist seine patriarchale Befangenheit am eindrucksvollsten). Es kommt aber nicht so sehr darauf an, die gefühlsmäßigen Motivationen aufzudecken, als vielmehr die Ideen zu rekonstruieren, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht oder nur indirekt und vorübergehend zum manifesten Inhalt des Denkens eines Autors wurden. [XII-030]

Die Gründe für die Verdrängung von bestimmten oder möglichen Einsichten sind natürlich von Autor zu Autor sehr verschieden. Ein häufiger Grund für die Verdrängung von unpopulären oder sogar gefährlichen Gedanken ist Angst. Ein anderer ist tief in affektiven „Komplexen“ verwurzelt; ein weiterer ist ein starker Narzissmus, der für eine hilfreiche Selbstkritik hinderlich ist. Im Falle von Freud spielte wohl weder Angst noch Narzissmus eine wichtige Rolle, doch ist ein anderes Motiv ganz bezeichnend: Freuds Rolle als Führer einer „Bewegung“. Seine Anhänger wurden durch die gemeinsame Theorie verbunden. Hätte Freud seine Theorie in entscheidenden Punkten geändert, hätte er wohl sein Streben nach Wahrheit befriedigt, aber er hätte in den Reihen seiner Anhänger Verwirrung gestiftet und so die Bewegung gefährdet. Ich halte es für möglich, dass seine Angst, die Bewegung zu gefährden, manchmal seine wissenschaftliche Leidenschaft beeinträchtigt hat.[13]

Ich möchte betonen, dass die Psychoanalyse von Theorien kein Urteil darüber beansprucht, ob eine Theorie richtig oder falsch ist. Sofern dafür Anzeichen vorliegen, fördert sie nur ans Tageslicht, was ein Autor hinter und jenseits von dem, was er zu denken glaubte, noch an Gedanken gehabt haben mag. Die Psychoanalyse von Theorien kann uns also helfen, den Autor besser zu verstehen, als dieser sich selbst verstand. Über die Gültigkeit der erschlossenen Möglichkeiten kann aber nur auf dem Boden ihrer wissenschaftlichen Verdienste argumentiert werden.

2. Aspekte einer revidierten Triebtheorie

Besonders seit 1941 habe ich in meinen Veröffentlichungen versucht, eine revidierte Theorie jener Triebe und Leidenschaften zu entwickeln, die das menschliche Verhalten zusätzlich zu denen, die seiner Selbsterhaltung dienen, motivieren. Ich habe angenommen, dass diese Triebe nicht adäquat erklärt werden können, wenn man sie als rein chemischen Prozess von Spannung und Ent-Spannung begreift, sondern nur, wenn man sie auf der Basis der „Natur“ des Menschen versteht.

Mein Begriff von „Natur“ oder „Wesen“ des Menschen, also von dem, was den Menschen zum Menschen macht, unterscheidet sich jedoch von all jenen Vorstellungen, die fordern, dass das Wesen des Menschen in positiven Begriffen beschrieben werden könne, etwa als Substanz oder als eine unveränderliche Struktur mit bestimmten unwandelbaren Qualitäten wie gut oder böse, liebend oder hassend, frei oder unfrei etc. Das „Wesen“ des Menschen ist ein Widerspruch, der sich nur beim Menschen finden lässt: der Natur und all ihren Gesetzen unterworfen zu sein und gleichzeitig die Natur zu transzendieren, weil der Mensch, und nur er, sich seiner selbst und seines Daseins bewusst ist. Der Mensch ist tatsächlich das einzige Beispiel in der Natur, wo Leben sich seiner selbst bewusst wurde.

Seiner unauflösbaren existenziellen Widersprüchlichkeit („existenzielle“ hier im Unterschied zu historisch bedingten Widersprüchen, die man zum Verschwinden bringen kann, wie etwa den Widerspruch zwischen Reichtum und Armut) liegt eine biologisch gegebene Tatsache zugrunde: Der Mensch taucht aus der tierischen Evolution zu dem Zeitpunkt auf, als seine Determinierung durch Instinkte ein Minimum erreicht hat, während gleichzeitig sich jene Dimension des Gehirns, die die Grundlage für Denken und Vorstellung ist, weit über jenes Maß hinausentwickelt hat, das sich bei den Primaten findet. Dieser Umstand macht den Menschen einerseits hilfloser als das Tier, gibt ihm andererseits aber auch die Möglichkeit für eine neue, wenn auch gänzlich andere Art von Stärke. Der Mensch als Mensch wurde aus der Natur hinausgeworfen und ist ihr doch unterworfen. Er ist sozusagen eine Laune der Natur. Diese biologische Tatsache der dem Menschen eigenen Widersprüchlichkeit verlangt Lösungen, das heißt, verlangt nach einer menschlichen Entwicklung.

Das Bewusstsein, aus seiner natürlichen Grundlage herausgerissen und nur noch ein [XII-032] isoliertes und unbezogenes Teilchen in einer chaotischen Welt zu sein, würde den Menschen verrückt werden lassen. (Der Verrückte ist der, der seinen Platz in einer strukturierten Welt, die er mit anderen teilt und in der er sich orientieren kann, verloren hat.) Deshalb zielen alle Energien des Menschen darauf, die unerträgliche Widerspruchssituation in eine erträgliche zu verwandeln und je neue und – soweit möglich – bessere Lösungen für den Widerspruch zu schaffen. Sämtliche Leidenschaften und Begierden des Menschen – normale, neurotische oder psychotische – sind Versuche des Menschen, seinen immanenten Widerspruch zu lösen. Da es für den Menschen lebensnotwendig ist, eine Lösung zu finden, sind seine Lösungsversuche mit der ihm zur Verfügung stehenden Energie geladen. Sie gehen über die Frage des physischen Überlebens hinaus und stellen Versuche dar, dem Erleben der Nichtigkeit und des Chaos zu entgehen und einen Rahmen der Orientierung und Hingabe zu finden. Sie dienen dem psychischen, nicht dem physischen Überleben. Sie sind – in einem weiten Wortsinn – „spirituelle“ Wege, wobei ich mit „spirituell“ leidenschaftliche Strebungen meine und unter „Spiritualität“ im Sinne von S. Sontag (1969, S. 3) „Entwürfe, Terminologien, Ideen einer Haltung (verstehe), die auf die Fülle menschlichen Bewusstseins, auf Transzendenz ausgerichtet sind und die darauf zielen, den schmerzvollen strukturellen Widerspruch, der der menschlichen Situation innewohnt, aufzulösen.“

Nach der hier vertretenen Theorie ist die Natur oder das Wesen des Menschen nichts anderes als der Widerspruch, welcher der biologischen Konstitution des Menschen innewohnt und der verschiedene Lösungen hervorbringt. Das Wesen des Menschen ist dabei nicht mit einer dieser Lösungen identifizierbar. Natürlich sind Anzahl und Qualität der Lösungen nicht beliebig und unbegrenzt, sondern durch die Eigengesetzlichkeiten des menschlichen Organismus und seiner Umwelt determiniert. Mit den Erkenntnissen der Geschichte, der Psychologie des Kindes, der Psychopathologie und besonders denen der Geschichte der Kunst, Religion und Mythen lassen sich zwar schon bestimmte Hypothesen über mögliche Lösungen formulieren; da die Menschheit bisher aber unter dem Prinzip des Mangels und deshalb auch der Gewalt und Herrschaft lebte, sind die Möglichkeiten von solchen Lösungen noch lange nicht ausgeschöpft. Mit der Möglichkeit, ein soziales Leben auf der Basis des Überflusses zu gestalten, so dass lähmende Herrschaftsformen verschwinden können, wird auch die Entwicklung von neuen Lösungsversuchen für die existenziellen Widersprüche wahrscheinlich.

Meine Theorie vom Wesen des Menschen ist dialektisch. Sie steht im Widerspruch zu solchen Theorien, die als das Wesen eine Substanz oder feststellbare Qualität des Menschen annehmen. Sie steht aber auch im Gegensatz zu Vorstellungen der Existenzphilosophie, ja sie stellt eine Kritik existenzphilosophischen Denkens dar. (Die hier vertretenen Ansichten kreisen zwar um das Problem der menschlichen Existenz und könnten deshalb existenzialistisch oder existenzphilosophisch genannt werden. Eine solche Bezeichnung wäre aber sehr irreführend, da sie kaum etwas mit Existenzphilosophie zu tun haben. Es wäre passender, einen deskriptiven Begriff zu wählen, um deutlich zu machen, dass meine Ansichten im radikalen Humanismus verwurzelt sind.) Wenn die Existenz der Essenz vorausgeht, was bedeutet dann auf den Menschen hin gesehen Existenz? Die Antwort kann nur heißen, dass die Existenz des [XII-033] Menschen von den physiologischen und anatomischen Merkmalen determiniert wird, die für alle Menschen seit dem Auftauchen aus dem Tierreich charakteristisch sind; ansonsten bleibt „Existenz“ ein abstrakter und leerer Begriff. Charakterisiert der biologische Widerspruch jedoch nicht nur die physische Existenz des Menschen, sondern resultieren aus ihm auch psychische Widersprüche, die nach Lösungen verlangen, dann ist Sartres Äußerung, dass der Mensch nur das sei, was er aus sich selbst macht (vgl. J.-P. Sartre, 1957), unhaltbar. Was der Mensch aus sich macht und was er wünschen kann, sind die verschiedenen Möglichkeiten, die sich aus seinem Wesen ergeben, und dieses Wesen ist nichts anderes als sein existenziell-biologischer und psychischer Widerspruch. Die Existenzphilosophie definiert aber Existenz nicht in diesem Sinne; sie bleibt deshalb gerade wegen der abstrakten Natur ihres Existenzbegriffs in einer voluntaristischen Position gefangen.

Der von mir skizzierte Begriff spezifisch menschlicher Leidenschaften ist dialektisch; er versteht psychische Phänomene als das Ergebnis widerstreitender Kräfte. Meines Erachtens empfiehlt er sich,

  1. weil er die unhistorische Vorstellung einer definierten Substanz oder Qualität als Wesen des Menschen vermeidet;
  2. weil er den Irrtum eines abstrakten Voluntarismus vermeidet, bei dem der Mensch ausschließlich durch Verantwortlichkeit und Freiheit charakterisiert wird;
  3. weil er das Verständnis der Natur des Menschen auf die empirische Basis seiner biologischen Konstitution als Mensch stellt und nicht nur erklärt, was er mit dem Tier gemeinsam hat, sondern dialektisch begreift, welche widersprüchlichen Kräfte freigesetzt werden, wenn der Mensch seine animalische Existenz transzendiert;
  4. weil er hilfreich ist, um die Leidenschaften und Strebungen zu erklären, die den Menschen motivieren, und zwar seine ganz archaischen wie seine hochentwickelten.

Die dem Menschen innewohnende Widersprüchlichkeit ist die Grundlage für seine leidenschaftlichen Strebungen; welche von ihnen aktiviert und im Charaktersystem einer Gesellschaft oder eines Einzelnen dominant wird, hängt weitgehend von der Gesellschaftsstruktur ab, die mit ihrer besonderen Lebenspraxis, ihren Lehren, Verboten und Sanktionen eine selektive Funktion im Hinblick auf die verschiedenen möglichen Triebe hat.

Die Annahme von Leidenschaften und Trieben[14], die spezifisch menschlich sind, weil sie durch die existenzielle Widerspruchssituation des Menschen hervorgebracht werden, schließt nicht die Existenz von Trieben aus, die in der Physiologie des Menschen wurzeln und die er mit allen Tieren teilt, wie das Bedürfnis zu essen, zu trinken, zu schlafen und – bis zu einem gewissen Grad, um das Überleben der Rasse zu sichern – sein sexueller Trieb. Sie gehören zu dem physiologisch bedingten Bedürfnis nach Überleben und sind, trotz eines gewissen Grads von Gestaltbarkeit, unbeliebig.

Der wesentliche Unterschied zur klassischen Theorie ist darin zu sehen, dass Freud versuchte, alle menschlichen Leidenschaften als in physiologischen oder biologischen [XII-034] Bedürfnissen wurzelnd zu verstehen, und geistreiche theoretische Konstruktionen erfand, um diese Position aufrechtzuerhalten. Im hier vorgestellten theoretischen Rahmenwerk sind die mächtigsten menschlichen Triebe nicht jene nach physischem Überleben, zumindest solange das Überleben nicht bedroht ist; die mächtigsten Triebe sind vielmehr jene, mit denen der Mensch eine Lösung auf seine existenzielle Widerspruchssituation zu finden sucht – ein Ziel für sein Leben, das seine Energie in eine Richtung lenkt, mit dem er sich als ein Organismus, der das Überleben sucht, selbst transzendiert und das seinem Leben Bedeutung gibt. Alle klinischen und historischen Erfahrungen zeigen, dass dort, wo der Mensch nur seine biologischen Bedürfnisse verfolgt und befriedigt, er unbefriedigt bleibt und eine Neigung zu ernsten Störungen entwickelt.

Die Triebe können regressiv, archaisch und selbst-destruktiv sein, oder sie können dem Menschen zu seiner vollen Entfaltung verhelfen und eine Einheit mit der Welt unter der Bedingung von Freiheit und Integrität herstellen. In diesem günstigen Fall sind seine das Überleben transzendierenden Bedürfnisse keine Ausgeburt von Unlust und „Mangel“, sondern das Ergebnis seines Reichtums an Möglichkeiten, die ihn leidenschaftlich danach streben lassen, sich in die Objekte, die ihnen entsprechen, zu ergießen. Ein solcher Mensch wünscht zu lieben, weil er ein Herz hat; er denkt gerne, weil er ein Gehirn hat; er möchte berühren, weil er eine Haut hat. Der Mensch braucht die Welt, weil er ohne sie nicht sein kann. Im Vollzug des Bezogenseins auf die Welt wird er eins mit seinen „Objekten“, und die Objekte hören auf, Objekte zu sein.[15] Dieses tätige Bezogensein auf die Welt bedeutet Sein; seinen Körper, Besitz, Status, sein Image usw. zu pflegen und zu nähren, bedeutet Haben oder Gebrauchen.

Aus der Untersuchung der Existenzweise des Habens bzw. des Seins ergeben sich zentrale Fragen einer dialektischen Revision der Triebtheorie der Psychoanalyse. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den Begriff des Ego als Kennzeichnung des Subjekts beim „Haben“ und „Gebrauchen“ und des Selbst als Kennzeichnung des Subjekts beim „Sein“; ferner ergeben sich wichtige Einsichten aus der Untersuchung der Kategorien von Aktivität und Passivität und des Angezogenseins vom Lebendigen bzw. des Toten. – Eine Revision der klassischen Triebtheorie bezüglich der prägenitalen Sexualität habe ich in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 41°f.) vorgenommen.[16] Der zentrale Punkt dieser Revision betrifft die These, dass der „orale“ und „anale“ Charakter nicht das Ergebnis einer oralen und analen Erregung sind, sondern [diese Charaktere] die besondere Art von Bezogensein zur Welt manifestieren und eine Antwort auf die „psychische Atmosphäre“ in Familie und Gesellschaft darstellen.

Hinsichtlich zweier Leidenschaften, Aggression und Eros, bedarf es einer besonders gründlichen Revision der Theorie. Indem Freud und die meisten anderen psychoanalytischen Autoren nicht zwischen qualitativ verschiedenen Arten von Aggressivität unterschieden – zum Beispiel zwischen einer reaktiven Aggression, die die vitalen Interessen verteidigt, einer sadistischen Leidenschaft nach Allmacht und absoluter Kontrolle und einer nekrophilen Destruktivität, die sich direkt gegen das Leben [XII-035] selbst richtet –, blockierten sie sich selbst den Weg, um deren Entstehung und Dynamik im einzelnen zu verstehen. Neue Theorien zu den verschiedenen Formen menschlicher Aggressivität sind nicht nur wissenschaftlich gerechtfertigt, sondern werden in einer Welt dringend benötigt, die ernsthaft in Gefahr ist, mit der von ihr hervorgebrachten Aggressivität nicht mehr fertig zu werden.[17]

In den letzten Jahren wurde eine Hypothese, die ich zuerst in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 179-185) vorgestellt habe, durch viele klinische Beobachtungen, die ich und andere (vor allem Michael Maccoby) machten, bestätigt. Ich vertrete die Auffassung, dass die zwei wichtigsten Kräfte, die den Menschen motivieren, die Biophilie, die Liebe zum Leben, und die Nekrophilie, die Liebe zum Toten, zum Verfall usw., sind. Der biophile Mensch liebt das Leben und bringt alles, was er berührt, auch sich selbst, zum Leben. Der nekrophile Mensch verwandelt wie König Midas alles in etwas Totes, Lebloses, Mechanisches. Nichts anderes als die jeweilige Stärke von Biophilie und Nekrophilie bestimmt die gesamte Charakterstruktur eines Menschen oder einer Gruppe. Diese Auffassung stellt eine Revision von Freuds [Theorie des] Lebens- und Todestriebs auf der Basis klinischer Beobachtungen dar. Im Unterschied zu Freud sehe ich in den zwei Tendenzen keine biologisch gegebenen Kräfte, die in jeder Zelle vorhanden sind; vielmehr ist für mich die Nekrophilie eine pathologische Entwicklung, die eintritt, wenn aus einer Reihe von Gründen eine biophile Entwicklung blockiert oder die Biophilie zerstört wird. Die weitere Erforschung von Biophilie und Nekrophilie stellt eine wichtige Aufgabe für die dialektische Revision der Psychoanalyse dar.

Die Revision von Freuds Verständnis der Liebe ist an die Überprüfung seiner Vorstellung von Libido und Eros geknüpft. Freud hat die Anziehungskraft zwischen Mann und Frau nicht als das primäre Phänomen angesehen, das dem sexuellen Wunsch zugrunde liegt, weil er das sexuelle Verlangen als von rein chemischen Prozessen und Spannungen, die eine Entspannung fordern, hervorgebracht sah. Neben seinem Angezogensein von dieser physiologischen Erklärung gibt es vermutlich noch einen anderen Grund, warum Freud die Polarität von Mann und Frau nicht als ursprüngliches Phänomen ansehen konnte: Polarität bedeutet Gleichberechtigung (wenn auch zugleich Unterschiedlichkeit), aber Freuds streng patriarchale Einstellung machte es ihm unmöglich, in Begriffen einer Gleichberechtigung von Mann und Frau zu denken. Freuds Auffassung von Sexualität schloss den Eros nicht mit ein; er betrachtete den Sexualtrieb beim Mann als von innerchemischen Prozessen hervorgebracht, während er die Frau als das geeignete Objekt für diesen Trieb ansah.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass Freud seine Auffassung hätte ändern können, als er seine Theorie vom Eros, der gegen den Todestrieb gerichtet ist, entwickelte. Er hätte vorschlagen können, dass Eros – wie in Platons Mythos – die spezifische Anziehungskraft zwischen Mann und Frau sei, dass Mann und Frau ursprünglich vereint gewesen seien und nach ihrer Trennung nach einem neuen Einswerden verlangten. Eine solche Auffassung hätte auch den großen theoretischen Vorteil gehabt, dass der Eros auch die Anforderungen, die nach Freud an einen Trieb zu stellen sind, nämlich seine Tendenz, auf einen früheren Zustand zurückkehren zu wollen, erfüllt hätte. Aber Freud lehnte es ab, sich in diese Richtung auf den Weg zu machen – meines Erachtens [XII-036] wiederum deshalb, weil eine solche Auffassung bedeutet hätte, die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu akzeptieren.

Freuds theoretische Schwierigkeit bezüglich des Problems von Eros und Liebe war beträchtlich. Ähnlich wie er in seinem Frühwerk die Aggression noch nicht als ursprünglichen Trieb betrachtete, auch wenn er sie niemals gänzlich vernachlässigte, sah er die Liebe nur als Epiphänomen an, als „ziel-gehemmte“ Sexualität. Ihr Substrat war die Sexualität, verstanden ganz im Geist seines „physiologisierenden“ Bezugsrahmens. Freuds ursprüngliche Auffassung von Sexualität und sein späterer Begriff von Eros lassen sich tatsächlich nicht miteinander vereinbaren. Sie entstammen völlig verschiedenen Voraussetzungen: Der Eros lässt sich ebenso wenig wie der Todestrieb auf eine besondere erogene Zone hin lokalisieren; er wird nicht durch innere, chemisch hervorgebrachte Spannungen und die Notwendigkeit zur Ent-Spannung reguliert; anders als die Libido ist er nicht der Entwicklung unterworfen, sondern wird als wesentlich gleichbleibende Qualität verstanden, die allem Leben eigen ist; schließlich entspricht er nicht den Anforderungen, die Freud an einen Trieb stellt: Ich habe bereits auf Freuds Eingeständnis hingewiesen, dass der Eros nicht die konservative Natur besitzt, die Freud einmal als für einen Trieb wesentlich annahm. Otto Fenichel (1953, S. 364°f.) hat hinsichtlich des Todestriebs auf das gleiche Problem hingewiesen.

Freud schenkte den grundsätzlichen Unterschieden zwischen den beiden Triebkonzepten keine Aufmerksamkeit, ja vielleicht war er sich der Unterschiede nicht einmal ganz bewusst. Er versuchte, die alte Triebtheorie an die neue in der Weise anzupassen, dass der Todestrieb an die Stelle des Aggressionstriebs trat und der Eros den Platz der Sexualität einnahm. Doch lässt sich unschwer die Schwierigkeit erkennen, die er bei diesem Bemühen hatte. In der Neuen Folge der Vorlesungen spricht er von den „Sexualtrieben, im weitesten Sinn verstanden“ und fügt hinzu, dass sie auch „Eros“ genannt werden, „wenn Sie diese Benennung vorziehen“ (S. Freud, 1933a, S. 110). In Das Ich und das Es identifiziert er den Eros mit dem Sexualtrieb und dem Selbsterhaltungstrieb (vgl. S. Freud, 1923b, S. 268°f.). In Jenseits des Lustprinzips bringt Freud nahe, dass „sich uns der Sexualtrieb zum Eros“ gewandelt habe, „der die Teile der lebenden Substanz zueinander zu drängen und zusammenzuhalten sucht, und die gemeinhin so genannten Sexualtriebe erschienen als der dem Objekt zugewandte Anteil dieses Eros“ (S. Freud, 1920g, S. 66). In seinem letzten Werk, in Abriss der Psychoanalyse, behauptet Freud, die Libido sei ein „Exponent“ des Eros (während er früher vom Eros als verwandelter Libido sprach), „die sich ja in der landläufigen Auffassung, wenn auch nicht in unserer Theorie, mit dem Eros deckt“ (S. Freud, 1940a, S. 73; Hervorhebung durch mich).

Ich bin der Überzeugung, dass eine „Psychoanalyse der Theorien“ von Freuds Vorstellungen über Sexualität und Liebe zeigen kann, dass sein eigenes Denken zu einer neuen Wertschätzung der Liebe führte, und zwar der Liebe sowohl als ursprünglicher Kraft des Lebens wie in ihrer besonderen Bedeutung als Anziehung zwischen Mann und Frau. Unter der Theorie, wie er sie zum Ausdruck brachte, war eine Auffassung verborgen, in der die Liebe zum Leben, die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe zum Mitmenschen und die Liebe zur Natur nur als verschiedene Aspekte ein und [XII-037] desselben Phänomens begriffen wurden. Mag sein, dass sich Freud dieser neuen Auffassungen nicht ganz bewusst war; sie offenbaren ihr Vorhandensein auch nur in bestimmten Inkonsequenzen, überraschenden, jedoch isolierten Behauptungen usw. Das innere Schwanken Freuds sollen die folgenden Äußerungen beispielhaft veranschaulichen: In Das Unbehagen in der Kultur bemerkt Freud zum Gebot „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“: „Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann?“ (S. Freud, 1930a, S. 469.) In seinem Brief an Einstein Warum Krieg? schrieb er:

Alles, was Gefühlsbindungen unter Menschen herstellt, muss dem Krieg entgegenwirken. (...) Die Psychoanalyse braucht sich nicht zu schämen, wenn sie hier von Liebe spricht, denn die Religion sagt dasselbe: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. (S. Freud, 1933b, S. 23.)

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Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959121118
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Revision der Psychoanalyse Sexualität sexuelle Perversion Herbert Marcuse therapeutische Praxis transtherapeutische Psychoanalyse
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Titel: Die Entdeckung des gesellschaftlichen Unbewussten. Zur Neubestimmung der Psychoanalyse