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Ein neuer Humanismus als Voraussetzung für die eine Welt

A New Humanism as a Condition for the One World

©2015 16 Seiten

Zusammenfassung

Als noch niemand von Globalisierung sprach, entwickelte Erich Fromm bereits 1962 in einem Vortrag die Idee vom „universalen Menschen“. Er griff dabei auf die Jahrtausende alte Idee des Humanismus von der ‚einen‘ Welt zurück und verband diese mit der psychoanalytischen Vorstellung, dass im Unbewussten alle Möglichkeiten des Menschseins vorhanden sind. Für Fromm gilt deshalb nicht nur, dass es die Fragen sind, die die Menschen verbinden, während die historisch gegebenen Antworten zeitbedingt und von Machtansprüchen und Interessen geleitet sind und deshalb die Menschen sich verschieden erleben lassen; vielmehr gilt auch, dass die gegebenen Antworten, Möglichkeiten eines jeden Menschen sind - auch wenn sie gesellschaftlich verdrängt und vom Bewusstsein ferngehalten werden. Ein psychoanalytisch fundierter Humanismus ist deshalb eine wichtige Voraussetzung für die ‚eine‘ Welt.

Aus dem Inhalt
• Zur Geschichte der Idee des Humanismus
• Die Bedeutung des Humanismus für die Gegenwart

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Ein neuer Humanismus als Voraussetzung für die eine Welt
  • Inhalt
  • 1. Zur Geschichte der Idee des Humanismus
  • 2. Die Bedeutung des Humanismus für die Gegenwart
  • Literaturverzeichnis
  • Der Autor
  • Der Herausgeber
  • Impressum

1. Zur Geschichte der Idee des Humanismus

Es gibt keinen Zweifel daran: Die eine Welt ist im Entstehen.[1] Wahrscheinlich ist dies das revolutionärste Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Die eine Welt kündigt sich, wie bereits beobachtet werden kann, darin an, dass die industrielle Produktion schließlich allen Völkern der Welt gemeinsam sein wird, und – durch unsere neuen Kommunikationsmethoden noch verstärkt – eine größere Nähe zwischen allen Menschen schaffen wird. Allerdings ist es fraglich, ob das Kommen der einen Welt den Lebenswert steigern wird oder ob alles in einem großem Schlachtfeld enden wird.

Ist der moderne Mensch des Zwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich darauf vorbereitet, in einer Welt zu leben? Oder ist es so, dass wir zwar intellektuell im Zwanzigsten Jahrhundert, gefühlsmäßig aber in der Steinzeit leben? Stimmt es nicht, dass bei aller Vorbereitung auf diese eine Welt unsere Gefühle und Affekte noch jene der Stammesstruktur sind? Teilen wir nicht genau jene Haltung, die wir bei den allermeisten primitiven Stämmen finden? Dort hat man nur zu den Mitgliedern des eigenen Stammes Vertrauen und nur ihnen gegenüber fühlt man eine moralische Verpflichtung. Auch wenn es trivial klingt, so trifft es doch genau den Punkt: Verbunden fühlen wir uns mit denen, die das gleiche Essen haben, die gleichen Lieder singen und die gleiche Sprache sprechen. In einer solchen Stammesstruktur wird der Fremde mit Argwohn betrachtet, und alles Böse in einem selbst wird auf den Fremden projiziert. Die Moral der Stammesstruktur ist immer nur eine Moral für den Binnenbereich, nur für die Mitglieder des gleichen Stammes gültig. Dabei macht es – menschlich gesehen – nicht den geringsten Unterschied, ob dieser Stamm aus 100 Menschen besteht oder ob zu ihm eintausend oder gar 500 Millionen Menschen gehören. Immer ist der Fremde einer, der nicht zum gleichen Stamm gehört und deshalb nicht als ein vollwertiges menschliches Wesen empfunden wird.

Wir befinden uns noch immer mitten in einer Stammesstruktur. Wir nennen sie Nationalismus. Wir scheinen den Nationalismus wie die große Befreiung der eigenen Nationen aus der vormaligen Abhängigkeit von noch stärkeren Völkern zu begrüßen – und bis zu einem gewissen Grade stimmt dies ja auch. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass der Nationalismus, der in der westlichen Welt wirklich erst vor 150 Jahren als Folge der Französischen Revolution seinen Anfang nahm, nun zum vorherrschenden [XI-554] Gefühl fast überall auf der Welt geworden ist.

Meines Erachtens ist dies eine sehr gefährliche Entwicklung. Lernen wir es nämlich nicht, als der eine Mensch in der einen Welt zu leben, dann wird dieser Nationalismus Bedingungen und Situationen hervorbringen, die die Gefahr heraufbeschwören, dass der Mensch sich selbst zerstört. Ohne einen neuen Humanismus gibt es deshalb die eine Welt nicht. [XI-555]

Mit der Kennzeichnung „neuer Humanismus“ als Voraussetzung für die eine Welt meine ich in Wirklichkeit nicht etwas ganz Neues. Der Humanismus als Philosophie ist schon ungefähr 2°500 Jahre alt. An ihm ist nichts Neues, außer dass er für uns neu ist. Wir haben den Humanismus während der vergangenen 50 Jahre vergessen. Deshalb möchte ich zunächst die Geschichte der humanistischen Idee in Erinnerung rufen. Eigentlich müsste ich auch über den chinesischen und indischen Humanismus sprechen, wie er sich im Taoismus und Buddhismus manifestierte. Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf den Humanismus in der westlichen Tradition und beginne mit der Idee des Humanismus im Alten Testament.

Die Idee des Humanismus drückt sich im Alten Testament zum Beispiel darin aus, dass Gott nur einen Menschen erschafft, Adam. Wie talmudische Quellen sagen, werden damit zwei Dinge angezeigt. Erstens kann kein Mensch sagen: „Ich stehe über dir, weil meine Vorfahren über den deinen standen.“ Zweitens drücke sich darin aus, dass jeder, der ein einziges Leben rettet, dem gleicht, der die Menschheit rettet, und jeder, der ein einziges Leben zerstört, dem gleicht, der die Menschheit zerstört.

Ein anderer Ausdruck der humanistischen Idee vom einen Menschen ist die Aussage des Alten Testaments, dass der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist. Weil alle Menschen Gott zum Ebenbild geschaffen sind, sind sie trotz der Tatsache, dass sie nicht dieselben sind, doch alle gleich. Schließlich findet sich bereits im Alten Testament ein bedeutendes Liebesgebot, das oft übersehen und nicht beachtet wird; es bezieht sich nicht nur auf die Nächstenliebe, sondern auch auf die Liebe zum Fremden. Der Fremde ist genau der, mit dem wir nicht vertraut sind, der nicht zum gleichen Stamm oder zum gleichen Volk oder zur gleichen Kultur gehört. Die Bibel sagt: „Liebt den Fremden, denn ihr wart selbst Fremde in Ägypten und kennt deshalb die Seele des Fremden.“ [Vgl. Lev 19,33.] Nur wenn man das erfahren hat, was der Fremde erfährt, wenn man sich in seine Lage versetzt, kann man ihn verstehen. Allgemeiner ausgedrückt: Nur wenn man das wahrnehmen kann, was jedes andere menschliche Wesen empfindet, kann man es verstehen und kann man wissen, was es fühlt.

Den deutlichsten Ausdruck der humanistischen Idee findet man im Alten Testament wohl in der prophetischen Vorstellung des Messianismus. Hier wird das Stammesgefühl [XI-556] überwunden mit der Vision, dass alle Völker gleichermaßen von Gott geliebt sind und dass keine einzelne Nation begünstigt ist. Jesaja sagt im Blick auf Ägypten und Assur (die damals die beiden traditionellen Feinde der Hebräer waren):

An jenem Tag wird eine Straße von Ägypten nach Assur führen, so dass die Assyrer nach Ägypten und die Ägypter nach Assur ziehen können. Und Ägypten und Assur werden dem Herrn dienen. An jenem Tag wird Israel als drittes Land dem Bund von Ägypten und Assur beitreten, zum Segen für die ganze Erde. Denn der Herr der Heere wird sie segnen und sagen: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assur, das Werk meiner Hände, und Israel, mein Erbteil. (Jes 19,23-25)

Die gleiche humanistische Tradition setzt sich im Neuen Testament fort. Dort gibt es das Gebot der Feindesliebe [Mt 5,44]. Zwischen der Feindesliebe und der Fremdenliebe besteht in Wirklichkeit nur ein sehr kleiner Unterschied. Wenn ich nämlich den Fremden liebe, hört dieser auf, ein Fremder zu sein, und wird mein Nächster, wird „Ich“; liebe ich den Feind, dann hört auch er wirklich auf, ein Feind zu sein. Seinen Feind zu lieben, ist ein Paradoxon, weil es eigentlich, wenn ich den Fremden und den Feind liebe, keinen Feind mehr gibt.

Auch die katholische Kirche wurde auf der Grundlage von Humanismus und Universalismus und gegen nationale Grenzen gegründet. Ein Humanist des späten Mittelalters, der große christliche Denker Nikolaus von Kues, sagte, dass die humanitas Christi das sei, was die Welt zusammenhalte, der höchste Beweis ihrer inneren Einheit. Für seinen Humanismus war gerade das Menschsein Christi eine Garantie für das Einssein aller Menschen.

Die Idee des Humanismus hat ihre Wurzeln auch in der griechischen und römischen Tradition. In Sophokles’ Drama Antigone kämpft Antigone gegen Kreon, den wir heute vielleicht als einen faschistischen Kaiser bezeichnen würden, weil sie darauf beharrt, dass das natürliche Gesetz, das heißt das Gesetz des Mitgefühls für den Menschen, Vorrang vor dem Gesetz des Staates hat. Sie ist gewillt zu sterben, um das Gesetz der Humanität zu erfüllen, sollte diesem Gesetz der Humanität durch die Gesetze des Staates widersprochen werden. Sie bestattet deshalb ihren Bruder, trotz der Tatsache, dass dieser die Gesetze des Staates verraten hat.

Der Humanismus kommt nicht nur in Sophokles’ Antigone zum Ausdruck, sondern überhaupt in der griechischen und römischen Philosophie. Er zeigt sich insbesondere in der Vorstellung eines Naturrechts, also eines Gesetzes, das in der Natur des Menschen wurzelt. Dieses hat vor allen anderen Gesetzen, vor allem vor den Staatsgesetzen, Vorrang. In der Antigone wird die Vorstellung des Naturrechts sehr schön ausgedrückt, wenn Antigone über die göttlichen Gebote sagt:

Denn heute nicht und gestern, nein, es leben die
Ohn’ Ende, niemand wüsste, wann sie kamen, auch.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959121040
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Humanismus
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Titel: Ein neuer Humanismus als Voraussetzung für die eine Welt