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Auf der Suche nach der humanistischen Alternative

The Search for a Humanistic Alternative

©2015 9 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Beitrag entstand 1968 aus einem „Memo“, das Erich Fromm dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten Eugene McCarthy für dessen Wahlkampfreden zukommen ließ und das McCarthy – mehr oder weniger verändert – für seine eigenen Reden übernahm.

Fromm verband sein (letztes großes politisches) Engagement mit der Idee, eine alternative humanistische „Bewegung“ zu mobilisieren. Er war zu diesem Zeitpunkt noch davon überzeugt, dass es für sie in der amerikanischen Bevölkerung eine breite Basis gibt. Der Beitrag ist ein Basistext für die alternative Bewegung in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, der in manchen Aussagen noch immer aktuell ist. „Damit eine Idee effektiv werden kann, muss sie in Gruppengefühlen und Gruppenaktivitäten Fleisch werden. Es lässt sich zeigen, dass Ideen, die einflussreich geworden sind, von kleinen Gruppen von Enthusiasten verbreitet wurden.“

Aus dem Inhalt
• Die Menschheit am Scheideweg
• Die Bedingungen für eine humanistische Alternative
• Die Notwendigkeit einer alternativen „Bewegung“

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Auf der Suche nach der humanistischen Alternative
  • Inhalt
  • 1. Die Menschheit am Scheideweg
  • 2. Die Bedingungen für eine humanistische Alternative
  • 3. Die Notwendigkeit einer alternativen „Bewegung“
  • Literaturverzeichnis
  • Der Autor
  • Der Herausgeber
  • Impressum

1. Die Menschheit am Scheideweg

Wir wissen alle um die Gefahren[1], die der Welt und den Vereinigten Staaten durch einen Atomkrieg drohen. Ebenso bekannt ist uns die immer tiefer werdende Kluft zwischen armen und reichen Nationen, der Verfall amerikanischer Städte und das Scheitern der Bemühungen, die Situation der „unterentwickelten“ Schichten der amerikanischen Bevölkerung zu ändern. Bekannt ist auch, dass wir trotz dieses Wissens keinen Plan und keinen wirkungsvollen Ansatz haben, um den Lauf der Dinge zu ändern, der, wenn er seiner eigenen Logik folgen darf, zum Zusammenbruch der Zivilisation führen kann oder möglicherweise zur völligen Vernichtung der Menschheit.

In den hochindustrialisierten Ländern, speziell in den Vereinigten Staaten, lässt sich im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Organisation noch ein weiteres Phänomen erkennen: der gänzlich bürokratisierte Industrialismus, jene Maschinerie, die aus Maschinen und Menschen besteht. Lewis Mumford (1967) hat sie die „Megamaschine“ genannt. Das Bild dieser Gesellschaft wurde 1946 von Aldous Huxley in The Brave New World in Romanform gezeichnet; Lewis Mumford kommt zu diesem Bild auf Grund einer eindrücklichen kulturellen und gesellschaftlichen Analyse; kürzlich hat, wenn auch viel oberflächlicher, Zbigniew Brzezinski (1968) von dieser Gesellschaft als einer „technotronen“ gesprochen. In glänzender Weise, wenn auch völlig oberflächlich, spricht Herman Kahn (1967) in seinem Buch The Year 2000 von ihr. In dieser neuen Gesellschaft der zweiten industriellen Revolution gibt es kein Individuum mehr. Der Mensch erliegt völlig der Entfremdung. Er wird programmiert von den Prinzipien der maximalen Produktion, des maximalen Konsums und der minimalen Reibung. Er versucht, sich von seiner Langeweile zu befreien durch alle Arten von Konsum, einschließlich Drogen und Sex. Zusammen mit neurologisch und physiologisch erzeugten Veränderungen in seinen Gefühlen und mit der Manipulation seiner Denkprozesse durch suggestive Methoden werden sie zum Einsatz gebracht, um für das reibungslose Funktionieren des Menschen als eines Teiles der Megamaschine zu sorgen.

Mit der Entwicklung dieser neuen Gesellschaft geht eine Änderung im Leben des Menschen einher, im Vergleich zu der der Wandel von der mittelalterlichen zur [XI-570] modernen Gesellschaft verblasst und revolutionäre Veränderungen wie die Folgen der Französischen und Russischen Revolution zu unbedeutenden kleinen Wellen der Geschichte werden. Viele sehen diese Entwicklung als unvermeidbar an oder halten sie für segensreich. Sie übersehen die Tatsache, dass der Mensch nicht dazu geschaffen ist, ein passives, totes „Ding“ zu sein. Vielmehr wird der Zustand einer leichten chronischen Schizophrenie (durch die Trennung des Denkens vom Affekt) und die Depression, die wir in ihren Anfängen schon jetzt sehen können, entweder zu Ausbrüchen von wahnsinniger Gewalt führen oder zum Aussterben solcher Gesellschaften auf Grund fehlender Vitalität.

Zwischen welchen Alternativen können wir wählen? Die Mehrheit der Menschen, einschließlich der Menschen guten Willens und der Intelligenz, hofft das Beste und lässt den Dingen einfach ihren Lauf. Bei dieser Lösung vermeidet man zwar schlaflose Nächte, doch ändert man mit ihr nicht den Gang der Ereignisse und die Entwicklung auf eine Katastrophe hin.

Eine zweite Möglichkeit könnte man die „maoistische Alternative“ nennen (obwohl man nicht sicher sein kann, ob jene, die sich selbst für Maoisten halten, wirklich die Meinung und die Intentionen der chinesischen Führer repräsentieren). Diese Alternative geht von der Voraussetzung aus, dass sich das System auf eine Katastrophe zubewegt und dass keinerlei Reform diesen Verlauf ändern kann. Die einzige Möglichkeit, die Katastrophe zu verhindern, besteht hier in der Änderung des Systems selbst, wobei diese Änderung nur durch eine Revolution von internationalem Ausmaß herbeigeführt werden kann. Erst wenn deshalb alle unterentwickelten Länder sich gegen die Industrieländer und besonders deren Führer – die Vereinigten Staaten – wenden, werden sie fähig sein, das System zu stürzen – so wie die chinesischen Bauern ihre Herrscher in den Städten stürzten. Zweifellos klingt diese Lösung sehr logisch und kühn. Dennoch ist sie eine Alternative der Verzweiflung, gemischt mit einer Portion Romantik, nichtssagenden Phrasen und Abenteurertum. Ein Generalangriff auf die Vereinigten Staaten würde zum Faschismus in den Vereinigten Staaten und wahrscheinlich in allen anderen Industrieländern führen, in der übrigen Welt aber zu den skrupellosesten Diktaturen. Sollten sich die herrschenden Kräfte in den Vereinigten Staaten ernsthaft bedroht fühlen, wären sie gezwungen, einen Atomkrieg zu riskieren, wenn nicht die Chinesen selbst einen solchen Krieg entfesseln würden. Aber diejenigen, die so ein Programm befürworten, vergessen, dass die amerikanische Gesellschaft sich noch nicht in einem Zustand der Desintegration befindet. Viele Amerikaner, junge und alte, sind nicht gewillt, sich auf den Weg von Zerstörung oder Faschismus führen zu lassen. Überdies gibt es kein Anzeichen in den Vereinigten Staaten für das, was eine „revolutionäre Situation“ genannt werden könnte. Eine solche existiert nur in den romantischen Phantasien einer kleinen Zahl von Leuten. Darum ist der Einsatz revolutionärer Mittel in einer nicht-revolutionären Situation tatsächlich nur großartiges Gerede und Abenteurertum.

Ich glaube, dass es einen dritten Weg gibt. Diese Möglichkeit, so gering sie auch ist, bietet sich vielleicht derzeit zum letzten Mal. Diese Alternative ist nur real, solange die amerikanische Gesellschaft nicht die grundlegenden Elemente einer demokratischen Gesellschaft verloren hat und solange es noch eine ausreichende Anzahl von [XI-571] Menschen gibt, die seelisch noch nicht verstümmelt sind, weil sie zu Robotern und Organisationsmenschen geworden sind.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959121033
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Humanismus
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Titel: Auf der Suche nach der humanistischen Alternative