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Die Überlebenschancen der westlichen Gesellschaft

The Desintegration of Societies

©2015 9 Seiten

Zusammenfassung

Auch wenn 1969, als dieser Beitrag entstand, noch nicht vom „Kampf der Kulturen“ und dem Kampf um die Vormachtstellung der westlich-abendländischen Kultur die Rede war, sondern eher die Vorstellung eines katastrophalen Endes der westlichen Gesellschaft und der gesamten Menschheit das Denken bestimmte, so steuert Erich Fromm mit diesem Beitrag doch wichtige Erkenntnisse zur Frage von Veränderung und Zukunft von Gesellschaften bei. Gesellschaften und Kulturen werden psychologisch durch die Orientierungen des Gesellschafts-Charakters zusammengehalten. Dabei begreift Fromm den das menschliche Verhalten disponierenden Charakter als eine systemische Größe. Eine dauerhafte Änderung des Verhaltens wird sich nur erreichen lassen, wenn es zu einer Veränderung des gesamten „Systems“ kommt, das heißt, wenn sich die dem Verhalten zugrunde liegende Charakter-Orientierung ändert.

Im Beitrag benennt Fromm Indikatoren für den Zerfall eines gesellschaftlichen Systems und fragt, „ob die westliche Gesellschaft noch die Vitalität hat, die notwendigen Änderungen des Systems vorzunehmen, um den Zerfall zu verhindern, oder ob wir die Kontrolle verloren haben und folglich auf eine Katastrophe zusteuern“.

Aus dem Inhalt
• Die Eigenart von Systemen
• Vom Zerfall gesellschaftlicher Systeme
• Die Zukunft der gegenwärtigen technologischen Gesellschaft – Zerfall oder Reintegration?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vom „Zerfall einer Gesellschaft“[1] zu sprechen bedeutet nicht, dass die Gesellschaft ein Organismus ist wie eine Zelle oder das gesamte Körpersystem. Tatsächlich wurden Gesellschaften in Analogie zu lebenden Organismen beschrieben, so etwa von Oswald Spengler in seinem Buch Untergang des Abendlandes (1918-1922). Für Spengler durchlaufen auch Gesellschaften die gleichen Folgen von Geburt, Jugend, Reife und Alter wie der Organismus. Nun sind Analogien zwar anregend, doch sie beweisen nichts. Auch ohne derartige Analogien zu benützen, können wir vom Zerfall der Gesellschaften sprechen, insofern wir eine Gesellschaft als ein System (oder eine Struktur) begreifen. Organismen wie Gesellschaften ist gemeinsam, dass sie beide Systeme sind. Sie sind Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die jedem System zu eigen sind, selbst wenn die Systeme substantiell sich sehr voneinander unterscheiden. Solche Systeme sind zum Beispiel der menschliche Organismus, das Sonnensystem, Sprachsysteme, Wirtschaftssysteme, politische Systeme, institutionelle Systeme usw.

1. Die Eigenart von Systemen

Es ist die Eigenart jedes Systems, dass alle seine Teile so integriert sind, dass das richtige Funktionieren jedes Teiles die notwendige Voraussetzung für das richtige Funktionieren jedes anderen Teiles ist. Das System stellt also eine Größe dar, die sich von der bloßen Summe aller seiner Bestandteile unterscheidet. Aus dieser Tatsache ergeben sich die folgenden Merkmale:

  1. Jedes System – ob es sich um einen Organismus handelt oder um ein nicht-organisches System – hat ein Eigenleben und funktioniert nur, solange alle seine Teile in der besonderen Form, die das System erfordert, integriert bleiben. Das System als ein Ganzes beherrscht die Teile. Die Teile sind gezwungen, innerhalb des gegebenen Systems zu funktionieren – oder sie funktionieren überhaupt nicht. Das System hat einen inneren Zusammenhalt, der seine Veränderung äußerst schwer macht.
  2. Versucht man, nur einen isolierten Teil des Systems zu verändern, wird dies nicht zu einer Veränderung des Systems selbst führen. Das System wird im Gegenteil weiterhin auf seine ihm eigene Art und Weise funktionieren und versuchen, eine Veränderung an einem Teil so zu absorbieren, dass sehr bald die Wirkungen der Veränderung ungeschehen gemacht sind. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Um die Slums in Großstädten aufzulösen, wird als wirksamster Weg oft vorgeschlagen, neue Billighäuser zu bauen. Man beobachtete, dass die neuen Häuser nach einiger Zeit wieder zu Slums geworden waren und das Slumsystem wie eh und je funktionierte. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass man nur neue Häuser baute, ohne das ganze System grundlegend zu verändern – pädagogisch, wirtschaftlich, psychologisch usw. Die zugrunde liegende Struktur bleibt die gleiche, so dass sich das Slumsystem durchsetzt, indem es schließlich die neu erbauten Häuser zu neuen Slums macht. Ein System kann nur verändert werden, wenn nicht nur ein einziger Faktor geändert wird; erst wenn echte Änderungen innerhalb des gesamten Systems vorgenommen werden, kann eine neue Integration aller seiner Teile stattfinden.
  3. Um zu verstehen, welche Veränderungen innerhalb des ganzen Systems notwendig und möglich sind, muss man zuerst eine genaue Analyse über das Funktionieren des Systems machen, die Gründe für fehlerhaftes Funktionieren erforschen, um dann [XI-294] die Möglichkeiten richtig einzuschätzen, mit denen es zu einer das gesamte System betreffenden Veränderung kommen kann.
  4. Generell lässt sich das optimale Funktionieren eines Systems bzw. sein Zerfall folgendermaßen fassen: Ein System kann als wirkungsvoll arbeitend angesehen werden, wenn alle seine Teile zweckmäßig integriert sind und optimal arbeiten und es zu einem Minimum an Energie verbrauchender Reibung untereinander und im Kontakt mit benachbarten Systemen kommt. Eine wichtige Voraussetzung für das richtige Funktionieren ist darin zu sehen, dass jene Teile des Systems, die noch nicht an neue Bedingungen außerhalb des Systems richtig angepasst sind, die Fähigkeit haben, auf diese neuen Bedingungen regenerativ zu reagieren und sich diesen von alleine anzupassen.
    Umgekehrt kommt es zum Zerfall eines Systems, wenn bestimmte Teile die Fähigkeit zu einer solchen Anpassung verloren haben und „verknöchern“. Dann werden die Reibung innerhalb des Systems und die Widersprüche zwischen dem System und den benachbarten Systemen so groß werden, dass das System schließlich zerbricht und zerfällt. Zwischen diesen beiden Extremen, dem optimalen Funktionieren des Systems und seinem Zerfall, gibt es viele Schattierungen partieller Dysfunktion. Ob ein System in diesem Fall sein Gleichgewicht wiedererlangen kann oder zerfällt, hängt von der Fähigkeit ab, geeignete Veränderungen einzuführen, das heißt solche, die auf einer Analyse des Systems beruhen. Es muss erwähnt werden, dass es Systeme wie etwa das Sonnensystem gibt, die ganz auf der Grundlage von physikalischen Gesetzen funktionieren, welche außerhalb der menschlichen Kontrolle liegen. Auf der anderen Seite gibt es Systeme wie das des menschlichen Organismus oder einer Gesellschaft, die durch einen menschlichen Eingriff verändert werden können. Dies setzt aber voraus, dass dieser Eingriff auf dem richtigen Wissen um das Funktionieren des Systems basiert, und dass man über die Maßnahmen verfügt, die solche Veränderungen des Systems erlauben, und man auch bereit ist, dementsprechend zu handeln.
  5. Damit wird nicht behauptet, dass die richtige Kenntnis immer den Zerfall eines Systems verhindern könnte. Es ist offensichtlich, dass der menschliche Organismus, zumindest bis jetzt, durch den Alterungsprozess in seiner Fähigkeit zur Veränderung des Systems begrenzt ist. Genauso kann eine Gesellschaft unfähig sein, notwendige Anpassungsleistungen zu erbringen, weil ihr – etwa auf Grund der Erosion des Bodens oder wegen Naturkatastrophen – die materielle Grundlage für solche Veränderungen fehlt.
  6. Sehr oft jedoch finden Veränderungen des Systems nicht deshalb nicht statt, weil sie objektiv unmöglich wären, sondern auf Grund einer Reihe subjektiver Gründe. An erster Stelle fehlt es am Verständnis für das Funktionieren des Systems und der Gründe für seine Dysfunktion. Ein zweiter Grund lässt sich in gesellschaftlichen Systemen beobachten, wo Gruppeninteressen innerhalb einer Gesellschaft gegen Veränderungen gerichtet sind, weil diese für sie im Moment nachteilig wären. Objektiv gesehen führt die Weigerung, gewisse Privilegien aufzugeben, aber schließlich nicht nur zur Vernichtung dieser Gruppe, sondern mit ihr zum Zerfall der Gesellschaft.
    Ein weiterer subjektiver Grund ist darin auszumachen, dass die meisten Menschen, einschließlich vieler Wissenschaftler, noch immer in einem überholten linearen [XI-295] Denkschema von Ursache und Wirkung denken. Sie greifen sich die offensichtlichsten Missstände eines Systems heraus und versuchen dann den einen Grund für diese Missstände zu finden. Es fällt ihnen schwer, in Form von Prozessen innerhalb eines Systems zu denken, bei dem das Verständnis des einen Teils das Verstehen jedes anderen Teils voraussetzt; tatsächlich erfordert das Verstehen des Systems eine viel größere Flexibilität des Denkens. Die Gesellschaft als ein System zu verstehen, fällt deshalb so schwer, weil das Denken und Fühlen des Beobachters selbst Teil des Systems ist. Folglich betrachtet er das System nicht so, wie es wirklich funktioniert, sondern vom Standpunkt seiner eigenen Wünsche und von der Rolle aus, die er in dem System spielt.

2. Vom Zerfall gesellschaftlicher Systeme

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über die Eigenart von Systemen geht es nun um das spezielle Problem des Zerfalls von Gesellschaften. Zuerst gilt es, in Erinnerung zu rufen, was bereits über den Zerfall von Systemen gesagt wurde: Systeme zerfallen, wenn ihre inneren Widersprüche überhandnehmen und wenn einzelne Teile und das gesamte System die Fähigkeit zu einer regenerativen Anpassung an veränderte Umstände verloren haben. Eine weitere Aussage kann noch hinzugefügt werden: Gewöhnlich erzeugt der Vorgang des Zerfallens einer Gesellschaft ein hohes Maß an Gewalt und Destruktivität innerhalb der zerfallenden Gesellschaft, wie der Zerfall des Römischen Reiches und der mittelalterlichen Gesellschaft belegen. Die zunehmende Gewalt heutzutage kann als ein Hinweis auf die Zerfallstendenzen der technologischen Gesellschaft angesehen werden.

In der Geschichte gibt es eine ganze Reihe von Gesellschaften, die auf eine Weise zerfielen, dass man annehmen könnte, sie seien gestorben, um durch völlig neue gesellschaftliche Systeme wieder ersetzt zu werden. Auf der anderen Seite finden wir gesellschaftliche Systeme, in denen solch ein Zusammenbruch vermieden wurde, weil grundlegende Veränderungen des Systems zu seiner Fortdauer führten. Eines der am häufigsten zitierten Beispiele für den Zerfall eines gesellschaftlichen Systems ist das Römische Reich. Obwohl das letzte Wort über die Gründe für den Untergang des Römischen Reiches noch nicht gesprochen wurde, nimmt man doch im allgemeinen an, dass der Grund für seinen Zerfall in seiner Unfähigkeit zu suchen ist, sich an verändernde Umstände anzupassen. Insbesondere verfügte es nicht über die technologische Basis, die wirtschaftlichen Widersprüche zu lösen, die sich innerhalb des Systems entwickelt hatten. Somit wurde das bewegliche und kosmopolitische System des Römischen Reiches durch das Feudalsystem ersetzt, das Europa für ungefähr tausend Jahre beherrschte.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959121026
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Gesellschaft Charakter Zerfall gesellschaftliche Systeme
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