Zusammenfassung
Aus dem Inhalt
• Etappen der Entwicklung des westlichen Menschen
• Die Entfremdung als Krankheit des modernen Menschen
• Die Gleichgültigkeit als neue Erscheinungsweise des Bösen
• Die Alternative: Renaissance des Humanismus
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Der moderne Mensch und seine Zukunft
- Inhalt
- 1. Etappen der Entwicklung des westlichen Menschen
- 2. Die Entfremdung als Krankheit des modernen Menschen
- 3. Die Gleichgültigkeit als neue Erscheinungsweise des Bösen
- 4. Die Alternative: Renaissance des Humanismus
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
Heute [im Jahr 1961] über das Thema „Der moderne Mensch und seine Zukunft“ zu sprechen[1], heißt nicht nur, danach zu fragen, was die Zukunft des Menschen sein wird, sondern auch, ob der Mensch überhaupt eine Zukunft haben wird. Zugleich bezieht sich diese Zukunftsfrage nicht nur auf den modernen Menschen und seine Zivilisation; angesichts der wachsenden Zerstörungskraft der Atomwaffen geht es um das Leben des Menschen auf dieser Erde überhaupt. Dass man eine solche Frage stellen muss, geschieht in der Geschichte des Menschen sicher zum ersten Mal. Die Atombombe ist das schwerste Krankheitssymptom der modernen Gesellschaft.
Was meine ich mit dem „modernen“ Menschen? Damit kann entweder der Mensch von heute – also alle Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts – gemeint sein, oder der Mensch in den westlichen Industrieländern im Unterschied zu den Menschen in Asien, Afrika und in den nicht-industrialisierten Teilen der Welt. Bei der Nachfrage, was ich unter dem „modernen“ Menschen verstehe, wird deutlich, dass sich auch hier zum ersten Mal etwas in der historischen Situation geändert hat: Die Menschen der nicht-industrialisierten Länder gleichen sich mit zunehmender Schnelligkeit dem Menschen des Westens an. Der westliche Mensch hat seine Technik und bestimmte Ideen in die noch nicht industrialisierten Länder exportiert. Weil aber der Westen seine Macht über die Welt, die er für Jahrhunderte innehatte, zu verlieren scheint oder schon verloren hat, ist er dabei, die ganze Welt im Sinne seiner eigenen westlichen Entwicklung zu verwandeln.
Wenn ich von der eigenen westlichen Entwicklung spreche, dann meine ich damit in erster Linie die westliche Technik und Industrie sowie den westlichen Gedanken des historischen Fortschritts und eines historischen Ziels. Diese haben sich im Osten oft in Form eines pervertierten Marxismus und Sozialismus eingebürgert. Zur Entwicklung des Westens gehört auch der Nationalismus, der ein relativ junges westliches Produkt ist.
Vielleicht geschieht heute etwas Ähnliches wie damals, als das Christentum von Rom aus auf ein heidnisches Europa aufgepfropft wurde. Zwar verlor Rom seine politische Macht, doch es lagerte seine Kultur, seine Ideen, seine Organisationsformen in einen fremden Boden ein. Dieser Boden war damals vergleichsweise noch viel primitiver, als es heute die vorindustrialisierten Völker im Vergleich zum Westen sind.
1. Etappen der Entwicklung des westlichen Menschen
Im Rahmen einer Vorlesung einen Gesamtüberblick über die wichtigsten Etappen der westlichen Entwicklung zu geben, kann hier nur andeutungsweise und schematisch geschehen, doch ist er zum Verständnis des Nachfolgenden eine unerlässliche Voraussetzung.
(1) Die erste Etappe der Entwicklung des westlichen Menschen umfasst den Zeitraum von etwa 1500 vor Christus bis zur christlichen Zeitrechnung. Sie ist durch die große Wendung des Menschen vom Götzendienst zur humanistischen Religion gekennzeichnet. Ich werde noch im Einzelnen darauf zurückkommen, was ich unter „Götzendienst“ verstehe; hier möchte ich nur sagen, dass ich unter Götzendienst jene Form der Einheitssuche des Menschen mit der Welt verstehe, bei der der Mensch zur Natur, zu seiner eigenen „Tierheit“, dadurch zurückkehrt, dass er sich unterwirft. Er unterwirft sich der Natur, dem Werk seiner Hände (in Form von Götzen aus Gold und Silber oder Holz) oder er unterwirft sich anderen Menschen.
Die Wende vom Götzendienst zur humanistischen Religion beginnt vermutlich mit der religiösen Revolution von Echnaton und setzt sich dann fort in der mosaischen Religion, im Taoismus, im Buddhismus und in der klassischen Epoche der griechischen Philosophie. Alle diese Entwicklungen zielen auf eine Erlösung des Menschen, bei der der Mensch eine neue Einheit sucht, nicht mehr regressiv, wie in den primitiven Religionen des Totemismus oder des Animismus über Naturgötter und von seiner Hand gemachte Götzen, sondern indem er vorwärtsschreitet und eine neue Einheit mit der Welt in der vollen Entfaltung des Menschen findet. Mit der Wende zur humanistischen Religion während dieser fünfzehnhundert Jahre, die, historisch gesehen, nicht mehr sind als – um mit dem Psalmisten zu reden – eine Wache in der Nacht, ist die erste Etappe in der Entwicklung zum westlichen Menschen genommen.
(2) Die zweite Etappe spiegelt sich in der Vorstellung einer historischen Erlösung wider, wie man sie im prophetischen Messianismus findet. Der prophetische Messianismus entwickelte – sehr einfach dargestellt – folgende Idee: Im Paradies war der Mensch noch eins mit der Natur, aber er war – wie das Tier – ohne Bewusstsein seiner selbst. Im Akt des Ungehorsams gegen den Befehl Gottes oder – sagen wir – in der Fähigkeit, Nein zu sagen, wird der Mensch sich seiner selbst gewahr und macht den [XI-274] ersten Schritt in die Freiheit. Mit ihm wird zum ersten Mal menschliche Geschichte gesetzt. Die ursprüngliche Harmonie des Menschen mit der Natur ist zerbrochen. Der Mensch ist aus dem Paradies vertrieben und wird von zwei Engeln mit feurigen Schwertern daran gehindert, wieder zurückzukehren.
Nach prophetisch-messianischer Auffassung ist die Geschichte in einem umfassenden Sinne Heilsgeschichte: Sie ist die Geschichte der Entfaltung des Menschen zu seiner Menschlichkeit, der Entfaltung seiner spezifisch menschlichen Eigenschaften der Vernunft und der Liebe. Wenn der Mensch sich ganz und voll entfaltet hat, dann findet er eine neue Harmonie, die Harmonie des entfalteten, vernünftigen, sich seiner selbst bewussten, liebenden Individuums, das wieder eins mit der Welt wird und doch es selbst ist. Die neue Harmonie ist die alte Harmonie, aber auf einer neuen Stufe. Sie ist eine Harmonie, aber doch eine ganz andere als die, bevor der Mensch sich von der Welt getrennt hat.
(3) Im Christentum wird, historisch gesehen, diese neue prophetisch-messianische Vorstellung der Heilsgeschichte vom Boden Palästinas aus auf Europa übertragen. Dabei wird seine Form – die Form der prophetisch-messianischen Vorstellung – in mancher Weise geändert. Die wichtigste Änderung besteht darin, dass die Erlösung des Menschen, die Veränderung der Menschheit, nicht innerhalb der Geschichte stattfindet, sondern die Geschichte transzendiert. Das Reich Gottes wird nicht wie bei den meisten Propheten im messianischen Sinne – nämlich als Veränderung dieser Welt – verstanden, sondern als die Errichtung einer neuen spirituellen Welt, die diese Welt transzendiert. Trotz dieser Änderung ist die christliche Heilslehre eine Fortsetzung des Gedankens des prophetischen Messianismus und unterscheidet sich in diesem Sinne von anderen Heilslehren, etwa des Buddhismus, weil für sie das Heil immer ein kollektives Heil, eine Erlösung der Menschheit ist, und nicht nur eine Erlösung des Einzelnen. Auch wenn die christliche Heilslehre die messianische Idee der Erlösung in einem entscheidenden Punkt verändert, weil aus der historischen eine transhistorische Erlösung wird, so muss doch betont werden, dass die Geschichte des Christentums auch immer wieder der historischen Befreiung des Menschen Auftrieb gegeben hat – speziell in den vorreformatorischen und den nachreformatorischen christlichen Sekten.
(4) Die Botschaft des Evangeliums, die „Frohe Botschaft“, wird historisch in den Strom der katholischen Kirche geleitet. Hier, in der katholischen Kirche, vollzieht sich eine Verbindung, die von großer historischer Bedeutung war: Der jüdische Heilsgedanke des prophetischen Messianismus verbindet sich mit dem griechischen Gedanken der Wissenschaft, der Theorie. Diese Verbindung des prophetisch-messianischen Heilsgedankens mit dem griechischen Denken – philosophisch von Aristoteles und Platon repräsentiert – bildet etwas Neues, das in Europa über tausend Jahre lang heranreift. Dieses Heranreifen dauert vom Ende des heidnischen Roms [im Vierten Jahrhundert] bis zum Ende des europäischen Mittelalters. Für ungefähr tausend Jahre ist Europa schwanger mit griechisch-römischem und jüdisch-christlichem Erbgut. Nach tausend Jahren wird aus dem Schoße Europas etwas Neues geboren: die moderne Gesellschaft.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (ePUB)
- 9783959120999
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (November)
- Schlagworte
- Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Entwicklung Entfremdung moderner Mensch Gleichgültigkeit Humanismus