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Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Zukunft

©2015 22 Seiten

Zusammenfassung

Zu Erich Fromms 75. Geburtstag fand in Locarno ein Symposium statt, bei dem Fromm diesen Beitrag über die Bedeutung der Psychoanalyse für die Zukunft vortrug. Eindrucksvoll zeigt Fromm hier, wie sehr sein psychoanalytisches Denken von den bleibenden Erkenntnissen Freuds bestimmt ist und warum er das Zeitbedingte in Freuds Theoriebildungen und deren klinischen Anwendungen durch eigene Theorien und Anwendungen weiterentwickelt hat. Der Beitrag macht bei aller Kritik an Freud deutlich, wie sehr Fromm das Grundanliegen der Psychoanalyse – die meist unbewussten irrationalen Antriebskräfte des Menschen zu erkennen und bewusst zu machen – für die Zukunft zu bewahren sucht und wie sehr sich Fromm auch am Ende seines Lebens als Psychoanalytiker in der Tradition Freuds versteht.

Aus dem Inhalt
• Freuds Entdeckungen, ihre Entstellungen und ihre zukunftsweisende Bedeutung
• Das Ende der Verdrängung der Sexualität und die verdrängten Probleme der Gegenwart
• Von der befreienden Wirkung der Ent-Täuschung
• Fragen der sogenannten therapeutischen Technik

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Die gesellschaftlich bedingte Fehlerhaftigkeit von Theorien

Ein 75. Geburtstag ist eine recht persönliche Angelegenheit und keine Ursache zu öffentlichen Veranstaltungen.[1] Wenn ich trotzdem nach einigem Zögern der Idee der Veranstalter dieses Symposiums zugestimmt habe, dann kam es aus der Erwägung, dass es in diesem Jahr auch 50 Jahre her sind, dass ich in beruflicher Verbindung mit der Psychoanalyse stehe. Vor 50 Jahren habe ich meine erste Lehranalyse begonnen. Und ich dachte mir, dass es vielleicht manche von Ihnen interessieren könnte, was nun ein Mann, der 50 Jahre lang beruflich und theoretisch in der Psychoanalyse tätig war, der seine Meinungen in diesem und jenem geändert hat, der nie besonders dogmatisch gebunden war, nun nach 50 Jahren als Fazit seiner Erfahrungen und als Ausblicke auf die Möglichkeiten der Analyse mitzuteilen hätte. Ob diese Ansichten richtig sind oder nicht, ist in einem gewissen Sinne eine sekundäre Frage; sie sind eben gewonnen aus einer Sicht, aus einer Bemühung am Material – und richtig ist ja Gott sei Dank nichts, denn sonst wäre es ja tot.

Da es um einen Rückblick und Ausblick geht, möchte ich mit einem Satz von Freud beginnen, der nicht sehr bekannt ist, weil er sich an einer etwas versteckten Stelle befindet. Es handelt sich um einen Satz am Ende der Selbstdarstellung, die 1925 veröffentlicht wurde. Er lautet:

So kann ich denn, rückschauend auf das Stückwerk meiner Lebensarbeit, sagen, dass ich vielerlei Anfänge gemacht und manche Anregungen ausgeteilt habe, woraus denn in der Zukunft etwas werden soll. Ich kann selbst nicht wissen, ob es viel sein wird oder wenig. Aber ich darf die Hoffnung aussprechen, dass ich für einen wichtigen Fortschritt in unserer Erkenntnis den Weg eröffnet habe. [S. Freud, 1925d, GW 14, S. 96.]

Mit dieser schönen Feststellung blickt Freud zurück und betont die Fragwürdigkeit und Nicht-Endgültigkeit seiner Funde, und er blickt voraus, wenn er in aller Bescheidenheit und – nimmt man den Inhalt ernst – in aller Sicherheit (und gar nicht unbescheiden) sagt, er habe den Weg zu wichtigen neuen Erkenntnissen eröffnet.

Ich möchte mit meinem Vortrag zum einen die Fragwürdigkeit mancher alter Erkenntnisse aufzeigen, dann aber von den Richtungen sprechen, in die in der Zukunft vielleicht der Weg von Freud weitergeführt wird. Ich werde mit einer allgemeinen Erörterung beginnen, in der ich – notwendigerweise ganz kurz nur – ein Problem [XII-370] behandle, das in Wirklichkeit ein ungeheuer kompliziertes und weitreichendes ist, das aber, um über Freud zu sprechen, eine notwendige Voraussetzung darstellt.

Ich möchte zunächst über die sozial bedingte notwendige Fehlerhaftigkeit jeder Theorie sprechen. [XII-371]

Wir müssen davon ausgehen, dass das, was wir den „gesunden Menschenverstand“ nennen, in Wirklichkeit der gesunde Menschenverstand einer ganz bestimmten Gesellschaft und Kultur ist. Verschiedene Kulturen haben einen ganz verschiedenen „gesunden Menschenverstand“, haben verschiedene Denkkategorien, haben eine verschiedene Logik. In jeder Kultur sind gewisse Gedanken nicht nur unaussprechlich, vielmehr sind sie im wörtlichen Sinne un-denkbar, das heißt, sie können nicht zu Bewusstsein kommen, sie sind sozusagen unbewusst. Vom Standpunkt der aristotelischen Logik aus ist zum Beispiel die paradoxe Logik des Ostens un-denkbar, sie ist Un-sinn. Oder ein anderes Beispiel: Vom Standpunkt des mittelalterlichen Denkens ist die heliozentrische Theorie oder ein Weltbild ohne Gott un-denkbar. Bei dem, was un-denkbar und deshalb unbewusst ist, geht es also nicht nur um bestimmte Gedankeninhalte, sondern auch um bestimmte Gedankenkategorien, in denen man denkt. Doch darauf will ich jetzt nicht näher eingehen. [...]

Mein Interesse richtet sich auf das merkwürdige Geschehen, wenn in einer Gesellschaft, in einer Kultur, ein wirklich neuer Gedanke gedacht wird. Dieser weicht zumindest von den Denkinhalten, aber manchmal sogar von den Denkschemata der bestehenden Kultur ab. Jeder Denker innerhalb einer Kultur, der einen neuen Gedanken denkt, muss notwendigerweise in den Schemata der Kultur denken. Er muss mit den Gedankenbausteinen dieser Kultur seine Theorie aufbauen, obwohl sich unter Umständen das, was er zu sagen hat, noch gar nicht in den Denkschemata dieser Kultur ausdrücken lässt. Das Neue, das er zu sagen hat, ist ihm oft selbst in der Form, in der er es wirklich intuiert, noch gar nicht bewusst, so dass er es klar ausdrücken könnte. Vor allem das Beste und Neueste, das ein schöpferischer und großer Denker denkt, ist auch ihm selbst oft unbewusst. Darum drückt er dieses Neue oft in falschen, verengten, eingeschränkten Formen aus. Er konstruiert notwendigerweise falsche Theorien bzw. trägt zumindest seine Theorien in einer sehr beschränkten und eingeengten Form vor. Es gibt hierfür viele Beispiele aus der Geschichte der Philosophie und aus der Geschichte der Naturwissenschaften, doch möchte ich darauf jetzt nicht eingehen.

Als allgemeine Folgerung kann man sagen, dass jede schöpferische Theorie notwendigerweise [XII-372] falsch ist und dass sie erst im geschichtlichen Prozess ihre richtigere Formulierung gewinnt. Auch die richtigere Formulierung ist wieder relativ falsch, weil auch sie wieder im geschichtlichen Prozess von neuen Einsichten und neuen Daten korrigiert werden wird. Die Wahrheit ist eine geschichtliche Kategorie. Sie entwickelt sich, sie entfaltet sich in der Geschichte. Theologisch, aber auch halb politisch könnte man sagen, die Wahrheit werde erst in der messianischen Zeit erkannt. Erst in der ganz vernünftigen Lebensordnung und Lebenspraxis der Menschen werden diejenigen Widersprüche im Menschen selbst aufgehoben sein, die dazu führen, dass sein Denken mit dem Sein in notwendigem Konflikt steht.

Ich möchte das Gesagte ein wenig verständlicher machen, indem ich nun Freud als Beispiel nehme. Im Falle Freuds waren vor allem zwei Dinge un-denkbar. Zum einen war es für ihn undenkbar, dass es psychische Kräfte geben soll, die nicht direkt aus der Physiologie des Menschen zu erklären sind. Freud stand sehr unter dem Einfluss des mechanistischen Materialismus seiner Zeit. Dieser war in Deutschland besonders stark und radikal ausgebildet: von den primitiveren Formulierungen eines Oscar Vogt, Jakob Moleschott und Ludwig Büchner bis zu den sehr feinen Formulierungen seines Lehrers Ernst von Brücke und dessen Mitarbeitern.

Freud hatte die Idee, dass eine starke seelische Kraft existieren könnte, deren physiologische Wurzel man nicht zeigen kann. Diese Idee war un-denkbar. Es war für Freud ausgeschlossen, dass es dies wirklich gab, denn Freud stand sein ganzes Leben lang – oder doch zumindest für lange Zeit – unter dem Einfluss des Denkens gerade seines Lehrers von Brücke. Denkbar war deshalb nur eins, wenn Freud die Leidenschaften verstehen wollte: Er nahm an, dass alle diese Leidenschaften der Ausdruck des Substrats der Sexualität sind. In der Sexualität hatte man ja – und Freud sagte das – eine Kraft, die offensichtlich gleichzeitig physiologisch und psychisch eine Rolle spielte. Wenn man nun hier ansetzte, so dachte Freud, hatte man den wissenschaftlich korrekten Ansatzpunkt, den Reichtum aller menschlichen Leidenschaften aus einem wissenschaftlich legitimen Gesichtspunkt zu erklären. Wird Sexualität in diesem weiten Sinne verstanden, passen fast alle Leidenschaften in sie hinein. (Später, in den zwanziger Jahren, änderte Freud seine Theorie auf „gefährliche“ Weise, indem er den alten Konflikt zwischen Selbsterhaltung und Libido durch den Konflikt zwischen den Todestrieben und den Lebenstrieben ersetzte und die Selbsterhaltung als libidinös ansah. Ich sage „gefährlich“, weil er dadurch sehr nahe an Jung herankam, der die Libido als allgemeine psychische Energie begriff. Dies wollte Freud unter allen Umständen vermeiden, indem er den Konflikt zwischen den Todestrieben und den Lebenstrieben konstruierte und damit auf seine alte Dualität zurückkam.) Die Annahme von Leidenschaften, die nicht in der Sexualität verwurzelt waren, war für Freud un-denkbar.

Zum anderen war für Freud eine nicht-autoritäre patriarchalische Gesellschaft un-denkbar. Um ein kleines Beispiel zu geben: Freud war ein großer Verehrer von John Stuart Mill und hat Mill auch zum Teil übersetzt. Mill aber war ein Anhänger der Gleichberechtigung der Frauen. In einem Brief schrieb deshalb Freud, Mill sei in diesem Punkt einfach verrückt. Wie könne er nur denken, dass die Frau dem Mann gleichgestellt sei! Das Wort „verrückt“ ist sehr kennzeichnend, denn das, [XII-373] was un-denkbar ist, ist ver-rückt. Im besten Falle werden undenkbare Ideen von den wenigen verstanden, die auch schon an das Undenkbare rührten; doch von allen anderen werden sie als ver-rückt erklärt. Denkbar war für Freud nur ein Bild von einer Frau, die dem Mann in jeder Weise unterlegen war.

Von der Freudschen Psychologie der Frau kann man wohl sagen, dass sie – soweit ich das sehe – der einzige Punkt seiner ganzen Theorie ist, der wirklich keinerlei Wert und keinerlei Verdienst hat, sondern eine reine Propaganda-Rationalisierung für die patriarchalische Idee der Überlegenheit des Mannes ist. Vielen wird wahrscheinlich seine Theorie über den Penisneid und den Kastrationskomplex bekannt sein. Freud geht noch weiter, er behauptet an einer Stelle [vgl. S. Freud, 1905d, GW 5, S. 91°f.] sogar, dass eine immense Anzahl von Frauen Prostituierte seien oder sein möchten; dies ergebe sich aus ihrer polymorph-perversen Konstitution. Es ist einfach absurd, von einer immensen Zahl solcher Frauen zu sprechen. Es sind dennoch die gleichen Argumente, wie man sie zum Beispiel in Amerika bezüglich der Schwarzen vorbringt: Diese seien ja sehr nett, aber sie seien kindlich, unverantwortlich, ungeheuer narzisstisch, und es fehle ihnen der Realitätssinn. Freud war so tief in seiner patriarchalischen Kultur verwurzelt, dass für ihn die Idee, die Frauen – und dies ist immerhin die Hälfte der Menschheit – seien keine verkrüppelten Menschen, einfach unsinnig, das heißt un-denkbar war.

Dass für Freud nicht-sexuelle Wurzeln der Leidenschaften und eine nicht-patriarchalische Gesellschaft un-denkbar waren, weist tatsächlich auf die entstellendsten Elemente in seiner Theoriebildung hin [und zeigt die gesellschaftlich bedingte Fehlerhaftigkeit von Theorien auf eindrückliche Weise].

2. Freuds Entdeckungen, ihre Entstellungen und ihre zukunftsweisende Bedeutung

Im Folgenden möchte ich nun über die Freudsche Theorie in der Weise sprechen, dass ich zunächst jeweils die Frage stelle, was in der Freudschen Theorie die große Entdeckung war, welche Form sie einengte, und schließlich was die weitergehende Bedeutung der Theorie ist, wenn man sie von gewissen Fesseln befreit, die das gesellschaftliche Denken seiner Zeit Freud auferlegte.

a) Die Eigenart wissenschaftlichen Denkens und Freuds Wissenschaftsverständnis

Zunächst möchte ich vom wissenschaftlichen Charakter der Freudschen Theorie reden. Es ist heute Mode geworden, und zwar gerade auch bei [empirischen] Psychologen, Freuds Theorie als unwissenschaftlich abzutun. Wissenschaftlich sei eine Untersuchungsmethode, wenn man ein Experiment mache und das Experiment die Richtigkeit der Hypothese oder der Theorie beweise, die man aufgestellt habe. Nur wenn sich das Experiment wiederholen lasse, sei man ganz sicher, dass das Ergebnis stimme.

Dieses Vorgehen gibt es in der Wissenschaft zum Beispiel in der Chemie und in der Physik, wo man tatsächlich mit Sicherheit Dinge feststellen, Experimente und Voraussagen machen kann, die mit Notwendigkeit eintreffen usw. Für viele Psychologen und Soziologen ist dieser Wissenschaftsbegriff, wie ich ihn bereits in der Schule gelernt habe, noch immer gültig und zugleich das Ideal von Wissenschaft überhaupt. Das Schöne an ihm sei eben, dass man sicher sei. Fragt man heute einen theoretischen Physiker, was Wissenschaft sei, dann ist für ihn das Schöne an der Physik inzwischen gerade darin zu sehen, dass man nicht sicher ist, sondern dass man denkt und dass man mit der Potenz des Denkens die Realität durchdringen und Theorien aufstellen kann. Aber seine Theorien sind nicht sicher, sie sind sogar nicht einmal notwendigerweise beweisbar; sie kommen vielmehr aus der Beobachtung, aus der Kraft des Denkens oder – wie die theoretischen Physiker manchmal sagen – aus der Eleganz der Theorie oder der Hypothese. Man zieht Schlüsse, die „mit großer Wahrscheinlichkeit“ gelten, wohl wissend, dass man ein Jahr später schon wieder weiter sein wird, und zwar nicht [XII-375] nur, weil man neue Dinge findet, sondern auch, weil man neue Dinge denkt und weiß, dass man durch das Falsche hindurchgehen muss, um zum Richtigeren zu kommen.

Die Methode wissenschaftlichen Denkens besteht darin, dass man eine Theorie bildet. Diese kommt nicht aus dem Blauen, sondern hat sich selbst schon im Laufe des Denkens entwickelt: Man beobachtet Tatsachen, zieht aus diesen Beobachtungen Hypothesen, überprüft diese Hypothesen wieder an den Tatsachen, die man beobachtet, und kommt in diesem Prozess zu Erkenntnissen, die eine relative Wahrscheinlichkeit haben, bis sie von weiteren Beobachtungen bestätigt oder korrigiert werden. Das ist wissenschaftliche Methode. Die Frage der Voraussagbarkeit und des Experimentierens ist dabei sekundär. Ich möchte daran erinnern, dass Einstein seine Theorie der allgemeinen Relativität drei Jahre, bevor ein Experiment gemacht wurde, veröffentlicht hat. Damals hat kein Mensch gesagt, dass man ihm nicht zuhöre, bevor nicht das Experiment die Theorie beweise.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120982
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Zukunft Sexualität Enttäuschung therapeutische Technik
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