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Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis

Dealing with the Unconscious in Psychotherapeutic Practice

©2015 34 Seiten

Zusammenfassung

Die unter dem Titel ‚Das Unbewusste und die psychoanalytische Praxis‘ veröffentlichten drei Vorlesungen aus dem Jahr 1959 zählen zum Besten, was Fromm je über die therapeutische Beziehung und den Umgang mit Patientinnen und Patienten mitgeteilt hat. Entscheidend ist eine urteilsfreie und solidarische Beziehung „von Herz zu Herz“ (‚core-to-core‘) und das Erleben, dass das, was im Patienten vor sich geht, einem als Psychoanalytiker und Psychoanalytikerin nicht fremd ist.

Gerade weil Fromm nie seine Art zu therapieren systematisch zur Darstellung gebracht hat, stellen diese Vorträge unverzichtbare Quellentexte dar und sind für psychotherapeutisch Arbeitende und therapeutisch Interessierte gleichermaßen eine echte Entdeckung.
Aus dem Inhalt
• Das Unbewusste ist der ganze Mensch
• Voraussetzungen für das Verstehen eines Patienten
• Entfremdung als besondere Form der Unbewusstheit
• Entfremdetes und authentisches Selbsterleben
• Das Verstehen des gesellschaftlichen Unbewussten
• Das Bezogensein aus der Mitte
• Über Grenzen von Psychoanalytikern

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Das ganzheitliche Verständnis des Unbewussten

a) Das Unbewusste ist der ganze Mensch

Gebraucht man den Begriff „Verdrängung“, wie er gewöhnlich bei Freud und in der psychoanalytischen Literatur benützt wird, dann denkt man in erster Linie an etwas, das bewusst war und dann verdrängt wurde.[1] Nach meinem Verständnis bezeichnet das Unbewusste sowohl etwas, das einmal bewusst war, als auch etwas, dessen wir noch nie gewahr wurden. Deshalb wäre es wohl angebrachter, statt von Verdrängung von Dissoziation zu sprechen, weil man mit Dissoziation beiden Aspekten besser gerecht wird: dem, dessen wir einmal bewusst waren, und dem, dessen wir noch nie gewahr wurden. Allerdings bringt der Begriff „Dissoziation“ [im Unterschied zum Begriff „Verdrängung“] nicht mehr so gut zum Ausdruck, dass etwas zurückgedrängt wird.

Ich möchte für jene Art von Dissoziation, um die es mir geht, nämlich für das, dessen wir uns noch nie bewusst waren, ein einfaches Beispiel geben. Sie haben schon oft das Gesicht eines Ihnen wohlbekannten Menschen gesehen. Seit Jahren schon kennen Sie ihn. Eines Tages sehen Sie sein Gesicht völlig neu; Sie sehen es plötzlich gleichsam mit einem größeren Maß an Wirklichkeit. Sie sehen eine Wesensart, die sehr viel wirklicher ist als alles, was Sie bisher gesehen haben. Für einen Augenblick haben Sie tatsächlich das Gefühl, dass dieses Gesicht völlig anders ist und dass Sie es noch nie zuvor gesehen haben. Was ging hier vor? Sie wurden sich einer Wirklichkeit dieses Gesichtes bewusst, deren Sie sich zuvor nie bewusst waren. Das Gesicht war immer das gleiche und der Mann oder die Frau waren immer dieselben. Auch Sie selbst waren immer derselbe, doch Sie hatten einen Schleier vor Ihren Augen und konnten nicht sehen. Sie waren sozusagen halb blind, und plötzlich öffneten sich Ihre Augen, und Sie konnten sehen.

Der gesamte Prozess des Bewusstmachens von Unbewusstem kann als Prozess des Sehens beschrieben werden. In der mythologischen Literatur gibt es deshalb das Symbol des Blinden, des völlig Blinden, der dann zum Sehenden wird. Teiresias ist blind und wird sehend. Ödipus wird blind und schließlich sehend; Goethes Faust wird genau in dem Augenblick blind, als er sieht, und beschreibt es als ein inneres Strahlen.

Die Vorstellung von Verdrängung, bei der man von dem spricht, was zwar in einem da [XII-204] ist, dessen man sich aber noch nie bewusst war, setzt voraus, dass in Wirklichkeit alles in uns ist. Um es anders auszudrücken: Wir wissen alles, doch wir wissen nicht, was wir wissen. Wenn ich annehme, dass ich jemanden noch nie so wahrgenommen habe, wie ich ihn jetzt sehe, dann bedeutet dies bei meiner Betrachtungsweise, dass ich ihn in Wirklichkeit bereits zuvor kannte; allerdings war ich mir dieser Kenntnis nicht bewusst. Hätte ich ihn wirklich nicht gekannt oder wäre ich in Wirklichkeit blind gewesen, dann könnte ich nur von einer neuen Einsicht, und nicht von einer verborgenen, unterdrückten, unbewussten Einsicht sprechen, die ans Tageslicht kam.

Ich glaube tatsächlich, dass wir alles in uns haben. Dies meine ich nicht nur in dem Sinne, dass wir alle Menschen sind und uns nichts Menschliches fremd ist. Es gibt in uns das Kind, den Kriminellen, den Verrückten, den Heiligen, den Durchschnittsmenschen. Ich glaube nicht nur, dass dies alles in uns ist, sondern dass wir uns all dessen auch gewahr sind und es spüren, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Dies ist einer der Gründe, warum die Wahrheit und warum der Verweis auf die Wirklichkeit (was für mich in diesem Zusammenhang das Gleiche bedeutet) eine so besondere Wirkung auf Menschen hat. Die Wahrheit rührt nur etwas an, das sie eigentlich schon wissen. Ist die Saite aber einmal berührt, dann können diese Menschen fast nicht mehr anders, als zu antworten.

Die Lüge berührt nicht die Wirklichkeit. Die Lüge bewegt nichts. Man kann tausend Lügen daherbringen; es tut sich nichts, weil man etwas Fiktives, etwas Unwirkliches berührt. Sobald man aber die Wirklichkeit anrührt, das heißt sobald man die Wahrheit sagt, versucht etwas im Menschen zu antworten, weil das, was man sagt, auf etwas trifft, das dieser Mensch weiß und doch nicht weiß. Natürlich ist dieser Vorgang nicht so einfach, dass ein Mensch zwangsläufig reagiert. Es kann eine derart große Abwehr gegen das eigene Reagieren geben – also das, was wir Widerstand nennen –, dass er nicht antworten wird. Und doch ist es unsere Hoffnung, ist es die Hoffnung für die Menschheit überhaupt, dass die Wahrheit uns frei macht, wie das Neue Testament [Jo 8,32] sagt.

Es gibt in uns ein Spüren der Wirklichkeit – unserer inneren Wirklichkeit wie der äußeren Realität –, an das man mit einem wahren Wort appellieren kann. Gäbe es dieses Spüren nicht, dann gäbe es auch keine psychoanalytische Methode; sie wäre nur eine Methode der Überredung. Es gibt im Jüdischen einen sehr interessanten talmudischen Mythos, der besagt, dass das Kind, bevor es geboren wird, alles weiß. Mit diesem Wissen aber geboren zu werden, wäre derart schmerzvoll, dass ein Engel kommt und aus Erbarmen das Kind berührt und damit sein ganzes Wissen hinwegnimmt. Dieser Mythos drückt auf symbolische Weise sehr treffend aus, worum es mir geht: Unbewusst wissen wir alles, und doch wissen wir es nicht, weil dieses Wissen zu schmerzvoll wäre. Gleichzeitig gibt es nichts Belebenderes, selbst wenn es weh tut, als zu wissen und mit der Wirklichkeit in Berührung zu sein.

b) Individuelle und gesellschaftliche Verdrängung

Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der Zusammenhang von individueller und gesellschaftlicher Verdrängung. Mein Interesse gilt vor allem der gesellschaftlichen Verdrängung, gegenüber der die individuelle Verdrängung nur individuelle Varianten und Abweichungen darstellt, die auf dem Boden der gesellschaftlichen Verdrängung operieren und in diesem oder jenem Bereich mehr oder weniger viel zur Verdrängung beitragen.

Ich möchte den Mechanismus veranschaulichen, wie individuelle und gesellschaftliche Verdrängung zusammenwirken: Eine Mutter wird jedes Mal, wenn das Kind etwas „Böses“ tut, ängstlich und reagiert entsprechend. Das Kind spürt diese Angst und reagiert bei jeder Ahnung von „böse“ äußerst empfindlich. Nehmen wir an, dass diese Mutter im Neunzehnten Jahrhundert lebt und um etwa 30 Prozent zwanghafter ist als der ohnehin bezüglich gut und böse zwanghafte Durchschnittsmensch des letzten Jahrhunderts. Das Kind wird in dieser Kultur große Schwierigkeiten haben, über die von der Mutter vorgelebte Angst hinsichtlich gut und böse hinwegzukommen, eben weil diese Angst von der gesamten Kultur gestützt wird. Die Kultur leugnet nie den grundlegenden Einfluss der Mutter. Auch dürfen wir grundsätzlich nicht vergessen, dass weder der Vater noch die Mutter noch die Familie in einer Kultur zufällige, sondern durch die Kultur geprägte Größen sind. Das Kind selbst ist zwar während der ersten Lebensjahre nur ganz wenig mit der Gesellschaft als solcher in Kontakt, dafür aber mit den Agenten der Gesellschaft, den Eltern. Deren Charakter wurde von der Gesellschaft geprägt, und ihre soziologische Funktion besteht darin, den Charakter des Kindes so zu prägen, dass dieser so wird, wie sich ihn die Gesellschaft wünscht.

Sind die Eltern „verrückt“, das heißt, sind sie wirklich völlig verschieden von der Kultur, in der sie leben, dann hat das Kind eine weitaus bessere Chance, dem Einfluss der Eltern zu entkommen. Das Verrücktsein der Eltern würde insgesamt keine so große Rolle spielen, weil das Kind, wenn es älter wird, sieht, dass die Eltern in Wirklichkeit außerhalb dessen, was als vernünftig und normal betrachtet wird, stehen.

c) Die Unbewusstheit des Erlebens

Auch beim Erleben gibt es ein Nichtgewahrsein des Erlebens. Was geschieht wirklich, wenn wir etwas erleben? Nehmen wir als Beispiel einen Ball, den wir so werfen, dass er rollt. Wir sagen dann: Der Ball rollt. Was aber erleben wir in Wirklichkeit, wenn wir sagen, der Ball rollt? Meiner Meinung nach „erleben“ wir etwa Folgendes: Unser Verstand sagt uns bzw. bestätigt unser Wissen, dass ein runder Gegenstand auf einer relativ glatten Oberfläche rollt, sofern man ihn anstößt. Wenn wir also sagen, der Ball rollt, machen wir eine intellektuelle Feststellung, die in Wirklichkeit nur besagt, dass wir sprechen können. Wir wissen, dass dies ein Ball ist, und wir kennen das Naturgesetz, dass ein Ball rollt.

Was geht aber in einem vierjährigen Jungen vor, wenn der Ball rollt? Hier trifft es zu, dass der Junge den Ball wirklich rollen sieht. Er hat ein gänzlich anderes Erleben, ein [XII-206] sehr schönes Erleben. Man kann es „ekstatisch“ nennen, und der ganze Körper nimmt an diesem schönen Vorgang, einen Ball rollen zu sehen, Anteil. Manche Menschen kennen dieses Erleben vom Zuschauen beim Tennis, vorausgesetzt ihr Interesse richtet sich auf die schönen Bewegungen des Balles, wie er hin- und hergeht, und nicht auf die Frage, wer gewinnt. Den meisten von uns kommt das bloße Rollen eines Balles bereits beim zweiten Mal als etwas Langweiliges vor. Wir finden es langweilig, denn unserem Gefühl nach wissen wir bereits, dass der Ball rollt. Für den kleinen Jungen geht es nicht darum, dass er es bereits kennt. Er ist ganz damit befasst, diese Bewegung mitzubekommen, und dieses Erleben füllt ihn ganz aus.

Mit einigen anderen teile ich die Überzeugung, dass jeder Gedanke, der nicht bereits vom Erleben dissoziiert ist, nicht nur ein Gedanke unseres Gehirns, sondern ein Gedanke unseres Körpers ist. Wir denken mit unseren Muskeln, wir denken mit allen Fasern unseres Körpers. Hat unser Körper keinen Anteil an unserem Denken, dann ist das Denken bereits dissoziiert. Dies trifft zumindest auf Gedanken über Dinge und Menschen zu. Wenn einer einen kleinen Teddybär mit einem weichen und schönen Fell sieht und sagt: „Ist er nicht schön?“ und dabei keinen Impuls in seinen Fingern spürt, den Teddybär zu streicheln, dann ist meiner Meinung nach seine Äußerung, dass er schön sei, nicht echt. Es war vielmehr nur eine jener Äußerungen wie „Oh, wie schön!“ oder „Es geht mir gut“, die wir täglich x-mal tun. In Wirklichkeit hat er nicht erlebt, was er mit dem Satz „Ist er nicht schön?“ zu erleben vorgab.

Jemand sieht einen Berg. Was fragt er zuerst? „Wie heißt der Berg und wie hoch ist er?“ Wenn sein Gehirn die Daten registriert hat, kann das Gesehene zu den Akten gelegt werden. Wer einen anderen Menschen kennen lernt, will seinen Namen, sein Alter, seinen Stand – kurz: die Daten seines Passes wissen. Ibsen hat dies in Peer Gynt treffend zum Ausdruck gebracht. Als Peer Gynt an seiner Identität zu zweifeln beginnt, fragt er sich schließlich: „Wer bin ich?“ und antwortet: „Mein Pass!“ Diese Angaben werden als die eigene Identität wahrgenommen, und damit hat es sein Bewenden.

Wenn wir Äußerungen machen wie „dies bin ich“, „ein Ball rollt“, „dies ist eine Rose“, „dies ist ein Berg“, dann sind wir bereits vom ganzheitlichen Erleben, von seinem affektiven Teil dissoziiert. Unsere Äußerung klingt dann zwar wie eine vollständige Äußerung, in Wirklichkeit ist sie eine dissoziierte Äußerung, bei der wir uns des affektiven Erlebens nicht bewusst sind, das es zwar gibt, das aber nicht ins Bewusstsein tritt. Dies aber ist der Punkt, wo in Wirklichkeit das Unbewusste im täglichen Leben beginnt.

d) Die Fähigkeit zu paradoxem Erleben

Man kann einen Menschen nur verstehen, wenn man weiß, dass das Leben paradox ist. Nur wer paradox zu denken vermag, wird deshalb das Leben verstehen.[2] Ich kann zum Beispiel die Feststellung treffen: „Ich bin einzigartig. Ich bin so einzigartig, wie meine Fingerabdrücke einzigartig sind. Es gibt, gab und wird keinen geben, der mir gleich ist.“ Und ich kann feststellen: „Ich bin du, ich bin alle anderen, es gibt keinerlei [XII-207] Individualität und überhaupt nichts Einzigartiges an mir.“ Natürlich sind die Äußerungen nicht wirklich paradox, wenn ich sie so zuordne, dass ich sage, ich sei in einigen Hinsichten einzigartig, in anderen aber nicht. Solche Urteile passen nach der aristotelischen Logik sehr wohl zueinander, weil man sich nicht wirklich widerspricht, wenn man behauptet, hier bin ich einzigartig und dort nicht.

Mir geht es um echte paradoxe Äußerungen, wobei ich nicht so sehr an Feststellungen interessiert bin, sondern an paradoxen Erfahrungen. Kann ich, das Subjekt, mich zugleich als etwas völlig Einmaliges und als etwas ganz und gar nicht Einmaliges erleben? Kann ich ganz und gar mein Ich erleben und doch zugleich der sein, der alles mit jedem Menschen teilt, ja der bis zu einem gewissen Grad mit jedem Lebewesen – einer Fliege oder einer Blume – die Eigenschaft des Lebens teilt? Kann ich beides zugleich erleben oder kann ich es nicht?

In unserem bewussten Denken sind wir weitgehend von der aristotelischen Logik beeinflusst. Es ist deshalb schwierig, eine Wirklichkeit wahrzunehmen, die sich nur auf paradoxe Weise erleben lässt. Wir sind dann nämlich versucht, die beiden Pole des Paradoxons zu trennen. Entweder spüren wir dann, ganz und gar einzigartig zu sein, oder wir fühlen – ähnlich den christlichen Mystikern –, niemand zu sein, keine Individualität mehr zu haben, nicht zu existieren oder völlig in Gott oder in der Menschheit aufgegangen zu sein oder wie ein durch und durch masochistischer oder unterwürfiger Mensch zu sein, der seine Individualität nicht mehr spürt. Was durch eine solche Trennung der Pole herbeigeführt wird, lässt sich ganz einfach mit der Trennung elektrischer Pole vergleichen: Werden die beiden Pole auf einer gewissen Distanz gehalten, kommt es zur Funkenbildung; ist der Abstand zwischen den Polen zu groß, passiert gar nichts mehr, verschwindet der Abstand aber, dann fließt der Strom.

Ich bin davon überzeugt, dass wir bezüglich der grundlegenden Tatsachen des Lebens nicht anders können, als das Paradoxon zu leben, und dass wir in Paradoxa denken müssen, wenn wir das Leben verstehen wollen.

Ein anderes Beispiel für paradoxes Erleben gibt es hinsichtlich des Zeitfaktors in der psychoanalytischen Therapie. Hier kann ich sagen, dass jemand jeden Augenblick „aufwachen“ und die Abwehr durchbrechen kann, jetzt in diesem Moment; und ich kann sagen, dass es Jahre brauchen wird. Vom Erfahrungsmoment her geht es um ein Paradoxon: erwarte ich, dass es jetzt, im nächsten Augenblick geschieht, oder erwarte ich, dass es Jahre dauern wird? Die paradoxe Einstellung erfordert beides. Trennt man die beiden Pole und nimmt man an, dass es logischerweise viele Jahre dauern wird, dann erwartet man nicht, dass es jetzt in diesem Augenblick eintreten kann. Ist man andererseits davon überzeugt, es wird jetzt gleich geschehen, dann wird man morgen sehr enttäuscht sein, wenn sich nichts ereignet hat.

Die Literatur bietet viele Beispiele solcher Paradoxa. Ich möchte als Beispiel nur aus der talmudischen Literatur das Paradoxon der messianischen Erwartung erwähnen. In der jüdischen Tradition wird das Kommen des Messias für jeden Augenblick erwartet. Gleichzeitig kennt der Talmud eine sehr strikte und ziemlich eindringliche Aussage, dass man den Messias nicht herbeizwingen und ungeduldig sein dürfe. Es gibt dort also eine Vorstellung geduldiger Ungeduld, eine paradoxe Geduld, bei der man jeden Augenblick gerüstet ist und doch gleichzeitig erwartet, dass der Messias [XII-208] erst in einigen Jahren oder im Laufe des Lebens der Menschheit kommen wird bzw. dass es Tausende von Jahren dauern wird.

Das Beispiel sollte das innere Erleben veranschaulichen, zu beiden Einstellungen gleichzeitig fähig zu sein, und zwar gerade trotz der Tatsache, dass sie sich widersprechen. Ich möchte noch ein anderes Beispiel anführen. Es hat mit der Einstellung des Psychoanalytikers zum Patienten zu tun. Für mich gilt, dass man gegenüber jedem Menschen, den man wirklich versteht oder zu verstehen versucht, ein Gefühl der Verantwortung hat. Es gilt also: „Ich bin für dich verantwortlich, denn wenn ich dir nahe genug bin, kannst du sagen, dass ich dein Bruder bin“ – und dann bin ich in der Tat der Hüter meines Bruders. Und gleichzeitig ist es ebenso wahr und muss ich zu ihm sagen: „Ich bin überhaupt nicht für dich verantwortlich! Du bist für dich selbst verantwortlich; Gott mag für dich verantwortlich sein oder deine Gene oder das ganze Universum, ich aber nicht!“ Auch dies ist ein Paradoxon, das es zu erleben gilt. Zieht man nämlich die beiden Seiten auseinander, dann fühlt man sich entweder schuldig und spürt nur eine völlig unrealistische Verantwortlichkeit, mit der man in Wahrheit niemandem hilft, sondern nur schadet, oder man spürt keine Verantwortung; dann ist man in Wirklichkeit gleichgültig, und auch dies hilft nicht. Die Einstellung, um die es geht, ist, das Paradoxon zu leben, dass beide Feststellungen – ich bin verantwortlich und ich bin nicht verantwortlich – gleich wahr sind und dass ich mit ihnen und diesem Widerspruch lebe.

Ich könnte noch mehr Beispiele solcher Paradoxa nennen. Es geht mir jedoch nur um den einen Punkt, den ich mit den Beispielen verdeutlichen wollte und der für unser westliches Denken so fremd ist: Wir tun uns ganz schwer, das echte Erleben von zwei sich widersprechenden Tatsachen, von zwei widersprüchlichen Feststellungen zu begreifen und fähig oder willens zu sein, mit diesen Widersprüchen zu leben – und nicht zu denken, sie können ja gar nicht wahr oder wirklich sein, weil sie sich widersprechen.

2. Entfremdung als besondere Form der Unbewusstheit

a) Das psychologische Verständnis von Entfremdung

Das Problem der Entfremdung stellt die Fortsetzung der Frage nach der Verdrängung, dem Unbewussten und der Dissoziierung dar. Entfremdung ist vermutlich die häufigste und für diese Zeit und Kultur besonders typische Form, mit der wir das Erleben abspalten. Man könnte sagen, dass Entfremdung eine besondere Form der Dissoziierung ist. Man kann auch noch weitergehen und sagen, dass jede Dissoziierung eine Form der Entfremdung ist. Auch wenn die Rede von der „Entfremdung“ inzwischen sehr populär geworden ist, sollten wir ernsthaft über das Phänomen sprechen.[3]

Psychologisch gesehen lässt sich der Mechanismus der Entfremdung so beschreiben, dass ich ein Erleben, das potenziell in mir ist, auf ein Objekt außerhalb von mir projiziere. Ich entfremde mich selbst von meinem eigenen menschlichen Erleben und projiziere dieses Erleben auf etwas oder auf jemanden außerhalb, um dann mit meinem eigenen menschlichen Sein wieder dadurch in Berührung zu kommen, dass ich mit dem Objekt, auf das ich meine Menschlichkeit projiziert habe, in Kontakt bin. Dies meint Entfremdung oder – worauf ich gleich zu sprechen komme – Idolatrie (Götzendienst). Beide – Entfremdung und Götzendienst – beziehen sich genau auf das gleiche Phänomen. Hegel und Marx sprachen von Entfremdung, die Propheten des Alten Testaments von Götzendienst.

Beide Begriffe, Entfremdung wie Götzendienst, bedeuten, dass ich mich meiner selbst beraube, dass ich mich leer mache, gefriere, eine lebendige Erfahrung loswerde, also mein eigenes Denken, mein eigenes Lieben, mein eigenes Fühlen auf eine andere Person oder auf ein Ding außerhalb von mir projiziere, um es dann wieder zurückzuholen, indem ich auf dieses Ding oder diesen Menschen bezogen bin. Das Objekt wurde zur Verkörperung von dem, dessen ich mich entledigt habe. Ich entsage gewissermaßen bestimmten menschlichen Kräften und spreche sie dem Kaiser oder dem Papst oder wem auch immer zu. Von da an repräsentiert diese Figur „da drüben“ mich, doch ich bin an sie gebunden und von ihr abhängig. Wenn ich ihr nicht nahe bin, bin ich verloren, denn sie ist sozusagen im Besitz meiner Seele. In Goethes Faust hat [XII-210] Mephisto, solange er für Faust wichtig ist, dessen Seele. Faust ist ein Teil von ihm, doch gelingt es Faust, sich von Mephisto zu lösen und zu sich selbst zu kommen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120975
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Das Unbewusste Entfremdung authentisches Selbsterleben
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