Lade Inhalt...

Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft.

Zur Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie

©2015 49 Seiten

Zusammenfassung

Dieser bereits 1937 geschriebene, aber bis 1992 verschollene Aufsatz kann als der für die Theorieentwicklung Fromms wichtigste Beitrag gelten. Nirgends sonst im Werk von Fromm lässt sich so gut nachvollziehen, wie Fromm dazu kam, die Psychoanalyse auf ein anderes theoretisches Fundament zu stellen und an die Stelle des triebtheoretischen ein bezogenheitstheoretisches Paradigma zu setzen. Hier zeigt er detailliert auf, wie sich die Erfordernisse des Wirtschaftens und des sozialen Zusammenlebens in den psychischen Strebungen der betreffenden Menschen widerspiegeln. Für jeden, der Fromms sozial-psychoanalytischen Ansatz kennen lernen will, ist dieser frühe Aufsatz ein „Muss“.
Aus dem Inhalt
• Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft
• Der gesellschaftlich erzeugte Charakter
• Die gesellschaftliche Funktion des sozial typischen Charakters
• Die Neuformulierung der Triebtheorie auf Grund eines anderen Menschenbildes
• Der sozial typische Charakter als Ausdruck der gesellschaftlich geprägten psychischen Struktur des Einzelnen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Der Irrweg der orthodoxen Psychoanalyse bei der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene

a) Die zwei Erklärungsprinzipien bei Freud

Die Sozialpsychologie[1] ist nach zwei Seiten hin ausgerichtet. Auf der einen Seite behandelt sie das Problem, inwiefern die psychische Struktur des Menschen durch gesellschaftliche Faktoren bestimmt ist, auf der anderen Seite, inwiefern die psychische Struktur selbst als beeinflussender und verändernder Faktor im gesellschaftlichen Prozess wirksam wird. Beide Seiten des Problems sind unlösbar miteinander verknüpft. Die psychische Struktur, die wir als wirksam im gesellschaftlichen Prozess erkennen können, ist selbst schon das Produkt dieses Prozesses, und ob wir die eine oder die andere Seite betrachten, die Frage ist nur, welcher Aspekt des Gesamtproblems jeweils im Mittelpunkt unseres Interesses steht.

Mit Hinblick auf das Problem der Bedingtheit der seelischen Struktur durch die Gesellschaft besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen Sozial- und Individual-Psychologie. Ob ein Einzelner oder eine mehr oder weniger große Gruppe Gegenstand der psychologischen Untersuchung ist, macht grundsätzlich keinen Unterschied. Der Einzelne ist in seiner Lebensweise durch die Gesellschaft bestimmt, die Gesellschaft andererseits ist nichts jenseits der Individuen. Freud hat bei aller Zentrierung seines Interesses um das Individuum klar erkannt, dass der Unterschied zwischen Sozialpsychologie und Individualpsychologie nur ein scheinbarer ist. „Die Individualpsychologie“, sagt Freud (1921c, GW 13, S. 73),

ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses Einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne.

Dieser Auffassung entspricht auch Freuds grundlegende Methode der Erklärung der psychischen Struktur des Individuums. Bei aller grundsätzlichen Berücksichtigung des Einflusses konstitutioneller Faktoren ist das für Freud leitende Prinzip bei der [XI-132] Analyse des Individuums die Entwicklung der Trieb- und Charakterstruktur aus den Schicksalen – speziell den frühkindlichen – zu erklären, die das Individuum im Zusammenstoß mit der Umwelt erleidet. Auf eine kurze Formel gebracht, ist das Prinzip der analytischen Methode: Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal, das heißt aus den äußeren, auf den Menschen einwirkenden Faktoren.

Bei näherem Zusehen erweist sich aber, dass diese Formel zu allgemein ist und tatsächlich zwei verschiedene Erklärungsprinzipien einschließt, die in der psychoanalytischen Deutung nebeneinander und durcheinander angewandt werden. Das eine hier gemeinte Prinzip besagt folgendes: Der Mensch muss sich, vom Drang nach der Befriedigung seiner Bedürfnisse und speziell seiner sexuellen Bedürfnisse getrieben, mit der Umwelt auseinandersetzen, die ihm teils als Mittel der Befriedigung, teils als die Befriedigung verhindernd, entgegentritt. In diesem Prozess der Auseinandersetzung[2] mit der Außenwelt kommt es zu bestimmten Impulsen und Ängsten, bestimmten freundlichen und feindseligen Einstellungen gegenüber der Außenwelt oder – um es noch anders auszudrücken – zu einer bestimmten Art von Objektbeziehung. Ein Beispiel für dieses Erklärungsprinzip stellt der Ödipuskomplex dar.

Freud geht davon aus, dass das Kind (aus Gründen der Einfachheit spricht er hier nur vom kleinen Jungen) seine sexuellen Wünsche auf seine Mutter richtet. Bei dem Versuch, den seinen Wünschen entsprechenden Impulsen Raum zu geben, gerät er mit seinem Vater in Konflikt, der ihm die Befriedigung seiner Wünsche verbietet und ihm Strafe androht. Diese Erfahrung mit dem verbietenden Vater erzeugt eine bestimmte psychische Reaktion im Kind, eine bestimmte Beziehung zum Vater, nämlich eine des Hasses und der Feindseligkeit. Die gegen den Vater gerichteten feindseligen Impulse stoßen auf dessen Überlegenheit, erzeugen im Jungen Angst und zwingen ihn, diese Impulse zu verdrängen; er unterwirft sich stattdessen dem Vater oder identifiziert sich mit ihm. Feindseligkeit, Unterwerfung, Identifikation sind die Ergebnisse des Zusammenstoßes des von seinen sexuellen Wünschen getriebenen Jungen mit einer bestimmten Außenweltkonstellation. Ganz unabhängig von der Frage, inwieweit die allgemeine Gültigkeit der Annahme eines Ödipuskomplexes gerechtfertigt ist und ob Freuds Annahme stimmt, dass der Ödipuskomplex bereits grundsätzlich eine ererbte Aneignung ist, bleibt es doch eine Tatsache, dass Freud die Intensität und besonderen Qualitäten der Erfahrung des Ödipuskomplexes im Einzelnen den Besonderheiten seiner Lebenserfahrungen zuordnet.

Ganz anders lautet das Erklärungsprinzip, das Freud bei der Erklärung des Zusammenhangs von Triebstruktur und Lebenserfahrungen anwendet. Bei diesem zweiten Prinzip nimmt er an, dass die Außenwelt auf die Sexualität einwirkt und sie in einer ganz bestimmten Weise verändert und dass bestimmte psychische Impulse die unmittelbaren Ergebnisse besonderer Formen der Sexualität sind. Dieses Erklärungsprinzip setzt die Freudsche Libidotheorie voraus. Bei dieser Theorie wird davon ausgegangen, dass die Sexualität verschiedene Entwicklungsphasen durchläuft. Die orale, anale, die phallische und die genitale Entwicklungsphase sind jeweils an erogenen Zonen orientiert; außerdem zeigen sich – mehr oder weniger an diese erogenen Zonen geknüpft – bestimmte sexuelle Partialtriebe wie Sadismus, Masochismus, Voyeurismus und Exhibitionismus. Völlig unabhängig von den Bedingungen, die eine Außenwelt [XI-133] stellt, durchläuft der Einzelne auf Grund gegebener biologischer Tatsachen alle diese Phasen, bis schließlich die reife genitale Sexualität zum vorherrschenden Trieb wird. Insofern allerdings die Außenwelt teils durch Versagen, teils durch Verwöhnen die verschiedenen Phasen der Sexualität beeinflusst, kommt es in der einen oder anderen Form zu Fixierungen an diese Phasen (obwohl solche Fixierungen nach Freud ausdrücklich auch durch konstitutionelle Stärke oder Schwäche bestimmter erogener Zonen bestimmt sein können). Im Unterschied zur normalen Entwicklung behalten diese Phasen eine ungewöhnliche Stärke und werden zur Quelle für die Entwicklung wichtiger psychischer Impulse – sei es auf dem Wege der Sublimierung, sei es durch Reaktionsbildung. Auf diese Weise erklärt Freud die Existenz so wichtiger Triebe oder Charakterzüge wie Gier, Sparsamkeit, Ehrgeiz, Ordentlichkeit usw.

Mit dem gleichen analytischen Erklärungsprinzip werden auch bestimmte Haltungen und[3] bestimmte Beziehungen zu anderen Menschen erklärt. So werden Sparsamkeit und Geiz als die Sublimierung des Triebes, den Kot zurückzuhalten, verstanden. Eine verächtliche Einstellung zu Menschen wird dadurch erklärt, dass diese Menschen für den Betreffenden unbewusst Kot bedeuten, und die Abscheu, die diesem galt, auf die Menschen übertragen wird. Eine Haltung, die dadurch charakterisiert ist, dass ein Mensch die Einstellung hat, er brauche zur Erreichung seiner Ziele sich nicht anzustrengen, denn das von ihm Gewünschte werde sich ganz plötzlich irgendwann einmal zutragen, wird als Sublimierung der Lust an einer plötzlichen Stuhlentleerung nach einer langen Stuhlzurückhaltung gedeutet.

Der Unterschied zwischen beiden Erklärungsprinzipien liegt auf der Hand. Im einen Fall wird eine psychische Erscheinung als Reaktion des Menschen auf die Umwelt verstanden, die sich der Durchsetzung seiner Bedürfnisse[4] in der einen oder anderen Weise gegenüber verhält. Im anderen Fall wird die psychische Erscheinung [XI-134] unmittelbar aus der Sexualität erklärt; sie ist nicht eine Reaktion auf die Umwelt, sondern ein Ausdruck der durch die Umwelt modifizierten Sexualität.

img1

Eine schematische Skizze[5] soll das Gesagte noch verdeutlichen. Die unter I fallenden Reaktionen werden von Freud als die direkten Abkömmlinge der Sexualität verstanden, die ihrerseits durch Umwelteinflüsse modifiziert wird. Die unter II fallenden Reaktionen sind Objektbeziehungen, die nicht direkte Produkte der Sexualität sind, sondern Reaktionen auf die Umwelt, die im Prozess der Durchsetzung der Triebe entstehen.

Die hier auseinandergehaltenen beiden Erklärungsprinzipien gehen in der psychoanalytischen Literatur durcheinander, ohne dass ihre Verschiedenheit bemerkt wurde. (Auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Objektbeziehungen und Sublimierungen und Reaktionsbildungen der genitalen Sexualität habe ich bereits in meinem Beitrag Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie (1932b, GA I, S. 59-77) hingewiesen.) Dies führte zu vielen Unklarheiten, die oft das Verständnis der analytischen Theorie erschwerten. Ein gutes Beispiel für das Durcheinandergehen beider Erklärungsprinzipien liefert der von Freud konzipierte und von anderen, speziell von Abraham und Jones, weitergeführte Begriff des analen Charakters. Freud fand ein häufig wiederkehrendes Syndrom von drei Charakterzügen, nämlich Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn, verknüpft mit bestimmten Erlebnissen in den Vorgängen der Stuhlentleerung und der Reinlichkeitsgewöhnung. Der Eigensinn wird verstanden als eine Reaktion auf die Umwelt, die sich den physiologischen Bedürfnissen des Kindes in einer feindlichen und überstrengen Weise entgegenstellt. Das Erklärungsprinzip hier ist dasselbe, wie wir es oben beim Ödipuskomplex dargestellt haben. Die anale Funktion spielt nur die Rolle, dass an ihr als einem wichtigen Bedürfnis sich die Auseinandersetzung mit der Umwelt in einer bestimmten Weise vollzieht. Die Sparsamkeit hingegen wird als direktes Produkt der Analerotik, genauer gesagt, der Lust am Zurückhalten des Stuhls, angesehen, und nur die Tatsache, dass gerade diese Lust so stark ist, durch Einflüsse der Umwelt erklärt.

Wir begnügen uns an dieser Stelle mit einer Beschreibung dieser zwei Erklärungsprinzipien und wollen zunächst, bevor wir zu einer kritischen Diskussion dieser zwei Prinzipien[6] kommen, eine weitere Abweichung von der Freudschen Theorie darstellen, die für das Problem einer Sozialpsychologie wichtig ist.

b) Das bürgerliche Menschenbild Freuds und Freuds Desinteresse am Charakter der Gesellschaft

Wir sagten bereits, dass Freud die Triebstruktur vom Lebensschicksal her erklärt, dass heißt von den äußeren Einflüssen, die auf den Einzelnen bei der Arbeit einwirken. Diese Aussage muss jedoch entscheidend eingeschränkt werden. In Wirklichkeit trifft sie nur insofern zu, als sie zur Erklärung individueller Unterschiede in der Triebstruktur jener Menschen dient, die Freud in seiner Praxis oder andernorts beobachtete. Fand Freud zum Beispiel einen Patienten, der eine ungewöhnlich starke Angst [XI-135] vor der väterlichen Autorität zeigte, sodann einen anderen, der mit jedem, mit dem er in Kontakt trat, in völlig überzogener Weise zu rivalisieren anfing, dann erklärte Freud diese Unterschiede in der Triebstruktur (zusammen mit einem Verweis auf die Möglichkeit einer konstitutionellen Stärke) mit den individuellen Besonderheiten im Lebensschicksal des Patienten. Im ersten Fall fand er – schematisch gesprochen –, dass der Patient einen sehr strengen Vater gehabt habe, vor dem er sich sehr fürchtete. In einem anderen Fall war ein Geschwister geboren, das bevorzugt wurde und gegen das der Patient eine heftige Rivalität entwickelte. War Freud hingegen nicht an den individuellen Unterschieden seiner Patienten interessiert, sondern hatte er die psychischen Züge im Auge, die – unabhängig von diesen Unterschieden – allen Patienten gemeinsam waren, gab er eigentlich das historische, das heißt das gesellschaftliche Erklärungsprinzip auf und sah in diesen gemeinsamen Zügen die „Natur des Menschen“, wie sie physiologisch und anatomisch konstituiert ist. Mit anderen Worten war also für Freud die Charakterstruktur, wie sie im Allgemeinen für eine Gesellschaft normaler Menschen typisch ist und wie er sie beobachtete, als solche nicht wert, analysiert zu werden; vielmehr war für ihn der bürgerliche Charakter im wesentlichen mit der menschlichen Natur identisch.

Wir möchten uns hier nur mit einigen wichtigen Beispielen für diese These begnügen. Freud betrachtet den Ödipuskomplex als einen grundlegenden Mechanismus für das gesamte innere Leben. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass besondere Modifikationen des Ödipuskomplexes zurückverfolgt werden können auf Besonderheiten im Lebensschicksal; doch hat der moderne Mensch den Ödipuskomplex vererbt bekommen, zumindest nimmt dies Freud hypothetisch an.

Ein anderes Beispiel für den gleichen Erklärungsgrundsatz sind Freuds Ansichten zur Psychologie der Frau. Er nimmt an, dass die Frau auf Grund von anatomischen Unterschieden notwendigerweise Gefühle der Minderwertigkeit, des Hasses und des Neides gegenüber dem Mann – das heißt gegenüber seinen Genitalien – entwickeln muss und dass die weiblichen Minderwertigkeitsgefühle wegen der fehlenden männlichen Sexualorgane notwendige Phänomene sind. „Die Anatomie ist das Schicksal“, sagt Freud (1924d, S. 400), ein Wort Napoleons variierend.

Auch Freuds Verabsolutierung des bürgerlichen Charakters ist ein Beispiel für das gleiche Erklärungsprinzip: Er sieht beim Menschen in erster Linie seinen Narzissmus, das heißt [den Menschen] als grundsätzlich von seinem Mitmenschen und von denen, die ihm fremd sind, isoliert. Nicht einmal hier fragt er nach dem gesellschaftlichen Anteil dieses Phänomens, sondern akzeptiert diesen entfremdeten Menschen, wie er ihn in unserer Gesellschaft vorfindet, als ein notwendiges Ergebnis der menschlichen Natur.

In dieser Hinsicht geht Freud bei seiner Todestriebtheorie sogar noch einen Schritt weiter. Während er – wie er selbst bekennt – zu seiner eigenen Überraschung die Rolle der nicht-sexuellen Aggression im menschlichen Innenleben mehr oder weniger übersah, sieht er sie jetzt in ihrer ganzen Reichweite. Er spürt jedoch nicht ihre gesellschaftlichen Bedingungen auf, sondern nimmt an, dass sie hinsichtlich ihrer Quantität biologisch herzuleiten ist, nämlich aus dem Todestrieb, und dass ein Mensch – schematisch gesprochen – nur die Alternative hat, diese Tendenzen auf den Tod hin [XI-136] mit erotischen Trieben zu vermischen und destruktiv nach außen zu wenden oder masochistisch gegen sich selbst.

Unsere Aussage, Freud identifiziere den bürgerlichen Charakter mit der Natur des Menschen, bedarf einer gewissen Einschränkung. Man müsste genauer sagen, Freud identifiziert die Grundzüge des bürgerlichen Charakters mit der Natur des Menschen, während er bestimmte modifizierende Einflüsse auf die biologisch gegebene Triebstruktur der Kultur zuschreibt. Dies führt uns dazu, wenigstens kurz auf die Vorstellungen Freuds über die Beziehung der Kultur zur Triebstruktur einzugehen. Diese lässt sich schematisch etwa so fassen: Kulturentwicklung bedeutet wachsende Verdrängung der Triebe. Kulturelle Errungenschaften sind Sublimierungen von Trieben, die nur auf Grund von Verdrängung der Triebregungen möglich sind. Die Fähigkeit zu sublimieren ist freilich eine Begabung, die bei den Menschen nur selten vorkommt. Das Scheitern der Sublimierung führt aber zur Neurose. Freud geht sogar so weit und erwähnt die Möglichkeit, dass weitere Kulturentwicklung zu einer derart umfassenden Triebverdrängung führen könnte, dass sich die Menschen nicht mehr fortpflanzten. Es ist ohne weiteres zu erkennen, dass Freud hier Rousseaus Bild vom „Naturmenschen“ vor Augen hatte, bei dem es überhaupt keine Verdrängung gab, und dass seine Vorstellung von der Wirkung der Kultur auf die Triebe völlig mechanistisch war. Er macht keinen Versuch, qualitativ zu verbinden, was das Besondere in der Triebstruktur und was das Besondere in der gesellschaftlichen Organisation ist; vielmehr sieht er alles nur quantitativ unter dem Gesichtspunkt des Ausmaßes der Verdrängung. Mit dieser Theorie drückt Freud nicht nur eine pessimistische Einstellung bezüglich einer glücklicheren Zukunft der Menschheit aus, sondern wird geradezu zum Apologeten der bürgerlichen Moral. Mit der Alternative „entweder sexuelle Verdrängung oder keine Kultur“ gibt er eine psychologische Rationalisierung für die Notwendigkeit bürgerlicher Moral oder doch wenigstens für deren Wertschätzung.

Freud sieht die bürgerlichen Menschen einem bestimmten äußeren Druck ausgesetzt, der zur Verdrängung führt und der sie von „natürlichen“ Menschen unterscheidet. Gleichzeitig aber betrachtet er bestimmte Züge – zum Beispiel das Ausmaß der Destruktivität, das nach außen oder nach innen gewendet wird, oder Aspekte der Psychologie der Frau – als unmittelbaren Ausdruck der Natur des Menschen. Zusammen mit anderen Zügen konstruiert er aus dem bürgerlichen Menschen das Bild einer Natur des Menschen, wobei diese nur in der bürgerlichen Gesellschaft bestimmte Modifikationen erfährt. Freud hat ein statisches und geschlossenes Bild vom Menschen, so dass er auf Grund der Festgefügtheit dieses Bildes auch alle Möglichkeiten der inneren Entwicklung des Menschen für die Zukunft voraussagen kann.

c) Kritik der Freudschen Rückführung psychischer Strebungen des Einzelnen und der Gesellschaft auf die Sexualität

Dass Freud die Grundzüge der psychischen Struktur des bürgerlichen Menschen als schon immer für die Natur des Menschen kennzeichnend ansah, ist ein Vorurteil, das er mit vielen bürgerlichen Psychologen (und hier vor allem mit jenen, die an der [XI-137] Instinkttheorie festhalten) sowie mit Anthropologen und Philosophen seiner Zeit gemeinsam hat. Mit der Annahme, eine große Zahl der wichtigsten Triebe und Charakterzüge habe direkt mit der Sexualität und ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu tun, wird die Vorstellung der Existenz einer „Natur des Menschen“ selbst – insofern es um diesen Aspekt der Freudschen Interpretation geht – zu einer Voraussetzung für diesen Teil der Libidotheorie. Zugleich formt eine andere Vorstellung, die für das philosophische Denken und jene gesellschaftlichen und intellektuellen Hintergründe, die Freud bestimmten, kennzeichnend sind, die Basis für seine Libidotheorie, nämlich jene des bürgerlichen Materialismus, der geistige und psychische Phänomene als direkte Produkte physischer Phänomene erklärt. Selbst wenn – wie wir zu zeigen versuchten – die unmittelbare Zurückführung des Psychischen auf das Sexuelle bei Freuds Interpretationsmethode nur einen Aspekt repräsentiert, so stellt sie doch einen derart wichtigen Aspekt dar, dass wir mit Recht behaupten können, der bürgerliche Materialismus bilde eine entscheidende und wichtige Begründung für das gesamte Freudsche Denken. In seiner Todestriebtheorie führt er Aggressivität und Phänomene wie Sadismus und Masochismus auf gegebene biologische Tatsachen zurück, so dass diese Art zu denken noch mehr in den Vordergrund tritt.

Zu welchen Ergebnissen führte die Annahme einer derartigen, grundsätzlich immer gültigen Natur des Menschen in Verbindung mit der Rückführung wichtiger psychischer Strebungen direkt auf sexuelle Quellen? Im Hinblick auf die Psychologie des Einzelnen war das Ergebnis, dass Freud die Neigung hatte, eine große Anzahl psychischer Phänomene zu übersehen, bei denen die Rückführung auf erogene Zonen oder Partialtriebe nicht einmal spekulativ möglich war. Diesbezüglich ist die Aggressivität das eindrücklichste Beispiel. Bei der Erörterung seiner Todestriebtheorie merkt Freud selbst an, wie eigenartig es sei, dass ihm die Bedeutung der Aggressivität für das menschliche Innenleben so viele Jahre hatte entgehen können. Mit der Todestriebtheorie gelang es ihm, die Aggressivität direkt wieder auf eine organische Quelle – den biologisch verankerten Todestrieb – zurückzuführen. Damit verfolgt er das gleiche Erklärungsprinzip, mit dem er Züge wie Ehrgeiz, Gier, Sparsamkeit usw. erklärt hatte. Während Freud hier eine Korrektur einbrachte, wenn auch eine in der falschen Richtung, tat er es bei einer großen Zahl anderer psychischer Phänomene nicht. Das Ergebnis war, wie wir später zeigen werden, dass er eine Reihe von Phänomenen nicht zufriedenstellend und ausreichend verstand und andere, die zum Bild der psychischen Struktur gehörten, völlig unter den Tisch fallen ließ.

Die Auswirkungen waren hinsichtlich des psychologischen Verstehens gesellschaftlicher Phänomene noch verhängnisvoller. Von seinem Ausgangspunkt, dass die Natur des Menschen auf Grund gegebener biologischer Bedingungen grundsätzlich gleichbleibend ist, konnte Freud kaum zu einer psychologischen Interpretation gesellschaftlicher und historischer Phänomene kommen. Seine Art, die Natur des Menschen zu sehen, wurde zum Modell, mit dem er gesellschaftliche Phänomene erklärte. Charakteristische Beispiele dieser psychologischen Interpretationsmethode sind etwa die folgenden: Der Krieg ist als das „Ergebnis“ der menschlichen Aggressionstriebe zu „erklären“; eine Revolution ist das Ergebnis eines Hasses gegen den Vater; der Kapitalismus ist das Ergebnis einer außerordentlich starken analen Libido bei den [XI-138] Menschen dieser Epoche. Wann immer fremde, das heißt von der bürgerlichen Kultur abweichende Gesellschaftsformen untersucht wurden, hielt man es nicht für notwendig, sie zu analysieren, das heißt zu fragen, wie eine bestimmte Gesellschaftsstruktur eine bestimmte Charakterstruktur hervorbringt. Stattdessen begnügte man sich mit Analogien und bemühte sich zu zeigen, dass es zwischen dem Verhalten von Menschen in einer Gesellschaft und Symptomen neurotischer einzelner Menschen Ähnlichkeiten gibt. Auf Grund von Analogieschlussbildungen nahm man an, dass sogar die Gründe für das Verhalten der Menschen anderer Kulturen die gleichen sind wie für das neurotische Verhalten von Patienten. (Vgl. meine Polemik in Die Entwicklung des Christusdogmas (1930a, GA VI, S. 62-66) gegen die Analogiedeutungen, die Theodor Reik bei seiner Erklärung des Christusdogmas macht.) Diese Art Psychologismus bei der Deutung gesellschaftlicher Phänomene führt notwendigerweise zu einer völligen Verleugnung der determinierenden gesellschaftlichen Ursprünge der zu untersuchenden Phänomene oder doch zumindest zu einer falschen Einschätzung ihrer Wichtigkeit.

Dieser Irrweg, auf dem sich die orthodoxe analytische Interpretation gesellschaftlicher Phänomene selbst vorfand, ist umso bemerkenswerter, als einer der Aspekte Freudscher Deutungsmethoden, nämlich jener, bei dem psychische Phänomene als Ergebnis eines Zusammenstoßes eines nach Befriedigung seiner Bedürfnisse suchenden Menschen mit der bestehenden Außenweltkonstellation verstanden werden, zu einer angemessenen sozialpsychologischen Methode hätte führen können. Werden die psychischen Impulse und die gesamte Charakterstruktur eines Menschen von der besonderen Form des individuellen Schicksals bestimmt, dann werden jene, einer Gesellschaft oder Klasse gemeinsamen Züge, das heißt die für diese Menschen typische Charakterstruktur, vom gemeinsamen Lebensschicksal dieser Gruppe bestimmt, also von ihrer Art zu leben; diese ist ihnen letztlich von der entscheidenden Grundlage vorgeschrieben: von der Produktionsweise mit ihren jeweiligen Produktivkräften und von der sich daraus ergebenden Gesellschaftsstruktur.

2. Die Relevanz der analytischen Sozialpsychologie für die Neuformulierung einzelner Aspekte der psychoanalytischen Theorie

Freud entwickelte für die Analyse der Triebstruktur eine bis dahin unbekannte Methode, bei der detailliert das individuelle Lebensschicksal aus der individuellen Lebenspraxis untersucht wurde. Die Anwendung desselben Prinzips für die Analyse der für eine gesellschaftliche Gruppe typischen Charakterstruktur erfordert eine ebenso erschöpfende Kenntnis der gesamten Lebenspraxis dieser Gruppe; diese aber setzt ihrerseits[7] die Analyse der fundamentalen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen dieser Lebenspraxis voraus. Die gleiche methodische Rolle, die bei der Analyse des Individuums die individuelle Lebensgeschichte spielt, spielt bei der Analyse der für eine Gruppe typischen Charakterstruktur die ökonomische und gesellschaftliche Struktur dieser Gruppe.

Das Verständnis der Lebenspraxis einer Gruppe ist allerdings ein außerordentlich viel komplexeres und schwierigeres Unterfangen als das der Lebensgeschichte eines Individuums. Es setzt die Analyse der ökonomischen und gesellschaftlichen Struktur dieser Gruppe voraus. Eine Kenntnis des „Milieus“, das heißt gewisser manifester gesellschaftlicher und kultureller Erscheinungen, ohne dass diese auf ihre dynamisch entscheidenden Bedingungen hin analysiert werden, und ebenso auch die Kenntnis einzelner isolierter ökonomischer Faktoren wie Fülle oder Spärlichkeit der Lebensmittel, Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit des Bodens, technischer Entwicklung usw., sind völlig unzureichend. Verständnis der Lebenspraxis in dem hier gemeinten Sinne heißt Analyse der Dynamik der gesellschaftlichen Struktur.

Die konsequente Anwendung dieser Methode führt aber zu gewissen Abweichungen von der Freudschen Theorie und zwar in den Punkten, die verantwortlich dafür sind, dass Freud und eine Reihe anderer Analytiker beim Versuch der psychologischen Analyse gesellschaftlicher Erscheinungen gescheitert sind. Die wichtigsten Probleme, in denen eine solche Abweichung von der Freudschen Theorie erfolgen muss, sind (a) die Freudsche Annahme, dass der bürgerliche Charakter im wesentlichen die Grundzüge der menschlichen Natur darstellt, (b) die Freudsche Einschätzung der Rolle der Familie und (c) die Freudsche Libidotheorie.

a) Die Neuformulierung des Ödipuskomplexes, des primären Narzissmus und der Psychologie der Frau

Die These, dass der bürgerliche Mensch mit den für ihn charakteristischen fundamentalen Mechanismen, die Freud als für den Menschen charakteristisch ansieht, ein historischer und nicht ein natürlicher Mensch ist, bedarf an dieser Stelle keines Beweises. Es mag aber für das Verständnis des Freudschen Bildes vom Menschen nützlich sein zu zeigen, dass und wie diejenigen Züge und Komplexe, die er als Erbgut des Menschen überhaupt ansieht, aus der spezifischen Daseinsform der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen sind. Wir müssen uns allerdings auch hierbei mit wenigen andeutenden Bemerkungen begnügen, die das Prinzipielle des Gedankenganges deutlich werden lassen sollen.

(1) Der Mechanismus, dem Freud die größte Bedeutung zugemessen hat, ist der Ödipuskomplex. Er enthält, wenn wir ihn in seiner ursprünglichen Form nehmen und uns der Einfachheit halber am Beispiel des Knaben orientieren, eine doppelte These: einmal die, dass der kleine Knabe von der Mutter sexuell angezogen werde und sie zum wichtigsten Objekt seiner sexuellen Wünsche nehme, und zweitens, dass er dabei auf den Vater als Rivalen stößt, diesen aus Gründen der sexuellen Eifersucht hasst, aber gleichzeitig aus Angst vor ihm und speziell den von ihm ausgehenden Kastrationsdrohungen seine sexuellen Wünsche, wie auch die Feindseligkeit gegen den Vater unterdrückt, sich dem Vater unterwirft beziehungsweise sich mit ihm durch Bildung des Über-Ichs identifiziert. Während Freud annimmt, dass die sexuelle Bindung des Knaben an die Mutter ein allgemein menschliches Phänomen sei, glaubt er, dass die Unterdrückung und feindseligen Wünsche gegen den Vater und die daraus resultierende Über-Ich-Bildung einmal in der Urgeschichte der Menschheit erfolgt sei, aber von da an zum erblich fixierten Bestand der menschlichen Natur gehört.

Wir wollen hier nicht näher auf die Tatsache eingehen, dass die anthropologische Forschung zeigt, dass der Ödipuskomplex im Freudschen Sinne kein universeller, bei allen Völkern zu findender Komplex ist. Wir wollen auch nicht die Frage erörtern, ob er gewichtsmäßig in der bürgerlichen Gesellschaft die große und allgemeine Rolle spielt, die Freud ihm zuschreibt. Wir wollen davon ausgehen, dass der Ödipuskomplex auf jeden Fall in einer sehr großen Zahl von Fällen zu beobachten ist und uns fragen, wie er sich aus den für die bürgerliche Gesellschaft spezifischen Verhältnissen erklärt.

Was zunächst die Bezogenheit der sexuellen Wünsche des Kindes auf den gegengeschlechtlichen Elternteil anlangt, so gibt es eine Reihe von gesellschaftlich bedingten Tatsachen, die die Stärke dieser Wünsche erklären. Die erste dieser Tatsachen ist das Tabu, das auf der sexuellen Betätigung des Kindes und besonders auf sexuellen Spielen mit anderen Kindern beruht. Wir wissen von einer großen Reihe von Völkern, bei denen die Kinder einen im Rahmen ihrer physiologischen Entwicklung liegenden spielerischen sexuellen Kontakt mit anderen Kindern haben, der frei und ohne praktische oder moralische Einmischung seitens der Umwelt vor sich geht. In der bürgerlichen Familie ist diese natürlich gegebene Richtung der kindlichen Sexualbetätigung praktisch zum Teil und moralisch völlig blockiert. Können andere Kinder nicht zu [XI-141] Objekten der sexuellen Strebungen werden, so werden die sexuellen Wünsche und Phantasien leichter in die Richtung auf die Eltern gedrängt.

Gewiss würde der eben erwähnte Umstand noch nicht befriedigend erklären, warum das Tabu gegenüber sexuellen Wünschen mit Bezug auf die Eltern nicht auch diese Wünsche in gleicher Weise schwächt wie die mit Bezug auf Gleichaltrige, wenn nicht noch andere wichtige Umstände hinzukämen. Der eine ist die Tatsache, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die Familie der einzige Kreis ist, in dem überhaupt enge und nahe Gefühlsbeziehungen bestehen. Jeder, der nicht zum Familienkreis gehört, der „Fremde“, steht außerhalb der gefühlsmäßigen Reichweite des Individuums und auch des Kindes. Nur wer zum eigenen Clan gehört, wird geliebt, und nur von ihm kann Liebe erwartet werden. Diese Einengung menschlicher Nähe, Solidarität und Liebe auf den Familienkreis und die mit ihm einhergehende Beziehungslosigkeit zum Fremden trägt dazu bei, dass die Familienmitglieder auch zu den wichtigsten Objekten der sexuellen Wünsche werden können. In vielen Fällen jedoch hält Freud die Intensität der seelischen Beziehungen innerhalb der Familie auf Grund seiner theoretischen Voraussetzungen für sexuell bedingt, wo dies gar nicht der Fall ist.

Freud hat in der Tat mit seiner Theorie von der Allgemeinheit und Stärke der inzestuösen Wünsche einen der entscheidenden psychischen Züge der bürgerlichen Gesellschaft gesehen: die Tatsache der relativen Beschränktheit der gefühlsmäßigen Expansion auf die Familie, welche nur die andere Seite der Tatsache der Gestörtheit der positiven Gefühlsbeziehung zum „Fremden“ ist. Er hat aber diese Tatsachen durch das mangelnde Verständnis ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit wie durch die Erklärung aller positiven Objektbeziehung aus sexuellen Wünschen nur in theoretisch verzerrter und dadurch unbefriedigender Form theoretisch ausdrücken können.

Ein anderer Umstand, der für die Entstehung beziehungsweise Verstärkung inzestuöser Wünsche bei Kindern von großer Bedeutung ist und der merkwürdigerweise von Freud kaum betont wurde, ist in dem Verhalten der Eltern zu suchen. Während die Fälle, in denen Eltern bewusst und manifest sich sexuell ihren Kindern nähern und sie in der einen oder anderen Form verführen, relativ selten sind, allerdings bei weitem nicht so selten, wie das gewöhnlich geglaubt wird, findet man in einer sehr großen Zahl von Fällen, dass der Vater beziehungsweise die Mutter sexuelle Impulse dem Kind gegenüber haben, die im wesentlichen unbewusst sind. Die mangelnde Bewusstseinsqualität ändert aber nichts daran, dass die Impulse bestehen und dass sie ihrerseits eine bestimmte verführende und stimulierende Wirkung auf das Kind haben. Eine sehr minutiöse Beobachtung des Verhaltens von Eltern zeigt, auf wie vielen Wegen die subtile Verführung beziehungsweise sexuelle Stimulierung der Kinder durch die Eltern erfolgt und dass ein großer Teil von dem, was wir an inzestuösen Wünschen bei Kindern finden, schon die Reaktion auf diese Stimulierung ist.

Die Tatsache, dass sich in Eltern sexuelle Wünsche mit Bezug auf die Kinder entwickeln, ist aber selbst wiederum in der gesellschaftlichen Situation begründet, nämlich in der für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen relativen sexuellen Unbefriedigtheit der meisten Menschen. Indem von der frühen Kindheit an die Sexualität mit dem Stigma des Schlechten und Verbotenen belegt wird, indem die Wahl des Ehepartners zum großen Teil ganz unabhängig von der gegenseitigen sexuellen Attraktion [XI-142] erfolgt, indem sexuelle Befriedigung außerhalb der Ehe faktisch blockiert oder mit dem Stigma des Verbotenen versehen ist, indem die gesamte Lebenspraxis des bürgerlichen Menschen die Fähigkeit zum Genuss und Glück des Sexuellen wie jedes anderen aufs Äußerste reduziert, entsteht eine Situation, in der für eine außerordentlich große Anzahl von Menschen die Ehe eine nur sehr beschränkte Befriedigung ihrer Sexualität erlaubt. Diese unbefriedigte Sexualität ist eine der Bedingungen dafür, dass die Kinder zum Objekt, wenn auch meistens unbewusster, sexueller Empfindungen werden.

Wenn sexuelle Wünsche der Kinder mit Bezug auf die Eltern so zu einem erheblichen Teil ihre Erklärung in der spezifischen Struktur der bürgerlichen Familie finden, so ist auch die andere Seite des Ödipuskomplexes, die feindselig rivalisierende Einstellung gegen den anderen Elternteil, in der gleichen Struktur begründet. Gewiss bedingen die sexuellen Wünsche, soweit sie vorhanden sind, ein gewisses Maß an rivalisierender Feindseligkeit mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, also etwa Eifersucht des Knaben gegen den Vater. Aber man übersieht ganz außerordentlich wichtige Faktoren, wenn man das Maß an Feindseligkeit und Rivalität, das man tatsächlich im Verhältnis von Knaben gegen ihren Vater findet, in erster Linie als Produkt der sexuellen Eifersucht versteht.

Ein wesentlich bedeutenderer Faktor für die Erzeugung dieser Feindseligkeit liegt in der Struktur der bürgerlichen Familie begründet. Die Situation des Kindes ist die der Unterworfenheit unter die Gewalt der Eltern und speziell unter die väterliche Gewalt. Hatte der römische Familienvater noch Gewalt über Leben und Tod des Sohnes, so ist in der bürgerlichen Familie diese Gewalt ihrem praktischen Umfang nach gewiss eingeschränkt. Die Grundstruktur des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn ist aber die gleiche. Abgesehen von dem Anspruch auf die Erhaltung des Lebens hat das Kind keine Forderungen an die Eltern, die von der Gesellschaft garantiert sind. Auch der fürsorglichsten und freundlichsten Haltung der Eltern einem Kind gegenüber haftet in der bürgerlichen Familie immer noch die Qualität der Gnade an. Die Gesellschaft gibt dem Kind keinen Anspruch auf eine solche Haltung, sie stellt ein Geschenk dar und kein unabdingbares Recht. In der großen Mehrzahl der Fälle ist die Haltung der Eltern tatsächlich gar nicht die unbedingten Wohlwollens und tiefer Freundlichkeit. Das Kind ist ein Objekt ihrer Herrschaft, für die große Majorität der Menschen sogar das einzige. Die Eltern erwarten von ihm Befriedigungen, seien es grob ökonomische, seien es emotionell psychische. Der Eigenwille und die Selbständigkeit des Kindes werden in mehr oder weniger grober Weise von den ersten Lebensjahren an gebrochen, seine Freiheit und Individualität unterdrückt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120951
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Determiniertheit Gesellschaft Triebtheorie gesellschaftliche Prägung
Zurück

Titel: Die Determiniertheit der psychischen Struktur durch die Gesellschaft.