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Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung

Causes for the Patient’s Change in Analytic Treatment

©2015 21 Seiten

Zusammenfassung

Was wirkt eigentlich bei einer Psychotherapie? Diese Frage ist mittlerweile empirisch gut erforscht. Umso interessanter ist, was Erich Fromm auf Grund seiner eigenen therapeutischen Erfahrung vor mehr als 50 Jahren als Wirkfaktoren ausgemacht hat. Neben konstitutionellen Wirkfaktoren nennt er unter anderem den Leidensdruck, das Vorhandensein einer Vision von dem, „was jemand mit seinem Leben will“, die Ernsthaftigkeit des Veränderungswunsches und die aktive Teilnahme des Patienten; nicht zuletzt aber ist auch die Persönlichkeit der Psychoanalytikerin und des Psychoanalytikers ein wichtiger Wirkfaktor.
Der aus einem Vortrag von 1964 hervorgegangene Beitrag ist noch aus einem anderen Grund wichtig: Fromm unterscheidet in ihm zwischen einer gutartigen und einer bösartigen Neurose und zeigt deutlich die Grenzen der psychoanalytischen Behandlung auf. Vor allem enthält er – fast ein Unikum bei Fromm – ein erhellendes Fallbeispiel.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Die therapeutischen Wirkfaktoren nach Sigmund Freud
und meine Kritik daran

Zur Frage, welche Faktoren bei der psychoanalytischen Behandlung ausschlaggebend sind[1], hat Freud mit seiner Schrift Die endliche und die unendliche Analyse (S. Freud, 1937c) meines Erachtens den wichtigsten Beitrag geleistet. Die Schrift ist nicht nur brillant, sondern auch äußerst couragiert geschrieben, wobei es Freud in keinem seiner Werke an Courage fehlte. Sie entstand kurz vor seinem Tode; in gewisser Weise fasst er in ihr seine eigenen Ansichten über die Wirkung der analytischen Behandlung zusammen. Ich möchte im Folgenden zunächst die wichtigsten Gedanken dieser Schrift kurz darstellen, um dann ausführlich auf sie einzugehen und weiterführende Vorschläge zu machen.

An erster Stelle fällt auf, dass Freud in dieser Schrift eine Theorie der Psychoanalyse vorstellt, die sich seit den frühesten Tagen kaum verändert hat. Die Neurose fasst er als Konflikt zwischen den Trieben und dem Ich auf: Entweder ist das Ich nicht stark genug, oder die Triebstärke ist zu groß; in jedem Fall aber wird das Ich wie ein Damm gesehen, der dem Ansturm der Triebkräfte nicht widerstehen kann, weshalb es zur Ausbildung einer Neurose kommt. Diese Vorstellung liegt in der Konsequenz und auf der Linie seiner frühen Theorie, die er, ohne Verbesserungen und Veränderungen zu machen, im Kern hier wieder aufnimmt. Aus ihr ergibt sich, dass die analytische Kur im wesentlichen in einer Stärkung des Ichs besteht. Dieses Ich war von der Kindheit her zu schwach und wird durch die analytische Kur dazu befähigt, jetzt mit den Triebkräften fertig zu werden. Die Stärkung des Ichs gegen den Ansturm der Triebkräfte ist das Wesen der analytischen Therapie.

Zweitens ist zu fragen, was nach Freud eine erfolgreiche analytische Behandlung ist. In Die endliche und die unendliche Analyse (S. Freud, 1937c, S. 63) nennt Freud als erste Bedingung, dass „der Patient nicht mehr an seinen Symptomen leidet und seine Ängste wie seine Hemmungen überwunden hat“. Es gibt aber noch eine zweite sehr wichtige Bedingung. Freud glaubt nicht, dass die Befreiung von Symptomen, also das Verschwinden der Symptome allein, bereits Heilung bedeutet. Nur wenn der Analytiker davon überzeugt ist, dass ausreichend unbewusstes Material an die Oberfläche gebracht wurde, das erklären kann, warum die Symptome sich aufgelöst haben, kann von einer Heilung gesprochen und davon ausgegangen werden, dass die früheren [XII-240] Symptome nicht mehr wiederkehren. Freud spricht im Zusammenhang mit dem analytischen Prozess von der „Bändigung der Triebe“ und davon, dass „der Trieb (...) allen Beeinflussungen durch die anderen Strebungen im Ich zugänglich ist“ (S. Freud, 1937c, S. 64 und S. 68). Zuerst also werden die Triebe zu Bewusstsein gebracht – denn wie sollten sie sich sonst bändigen lassen? –, dann wird in der analytischen Kur das Ich gestärkt und gewinnt jene Stärke, die es in der Kindheit nicht entwickeln konnte.

Des Weiteren ist nach den Faktoren zu fragen, die Freud in Die endliche und die unendliche Analyse für das Ergebnis einer Analyse – für die Heilung oder für das Scheitern der Analyse – verantwortlich macht. Er erwähnt drei Faktoren: erstens den „Einfluss von Traumen“, zweitens die „konstitutionelle Triebstärke“ und drittens die „Ichveränderung“ im Prozess der Abwehr gegen den Ansturm der Triebe (S. Freud, 1937c, S. 68). Eine ungünstige Prognose ergibt sich nach Freud, wenn eine konstitutionell gegebene Stärke der Triebe auf ein in der Abwehr geschwächtes Ich stößt. Da Freud selbst diese Konstellation in Die endliche und die unendliche Analyse nicht ganz klärt, konzentriere ich mich hier auf die beiden ersten Faktoren, auf den Einfluss der Traumen und auf die konstitutionelle Triebstärke.

Es ist hinlänglich bekannt, dass der konstitutionelle Faktor der Triebstärke für Freud hinsichtlich der Heilung einer Krankheit von entscheidender prognostischer Bedeutung war. Es ist schon sehr seltsam, dass Freud quer durch sein ganzes Werk, von den frühen Schriften bis zu seinen allerletzten, die Bedeutung der konstitutionellen Faktoren unterstrich, und dass Freudianer wie Nicht-Freudianer diesen Faktoren, die Freud so wichtig waren, höchstens Lippenbekenntnisse gezollt haben.

Für Freud war also der eine die Heilung ungünstig beeinflussende Faktor die konstitutionelle Triebstärke, und zwar selbst bei normaler Ichstärke. Aber auch der zweite die Heilung ungünstig beeinflussende Faktor, die Ich-Verschiedenheit, kann konstitutionell sein. Es gibt für Freud deshalb auf beiden Seiten einen konstitutionellen Faktor: auf der Seite der Triebe und auf der Seite des Ichs. Schließlich gibt es einen weiteren Faktor, der sich ungünstig auswirkt, nämlich jenen Teil des Widerstands, der seine Quelle im Todestrieb hat. Dieser zusätzliche Faktor taucht erst mit Freuds späterer Theoriebildung auf. Im Jahre 1937, als Die endliche und die unendliche Analyse entstand, sah Freud auch in diesem Faktor einen die analytische Kur ungünstig beeinflussenden Faktor (vgl. S. Freud, 1937c, S. 88°f.).

Welche Voraussetzung sieht Freud als günstig für die analytische Behandlung an? Eigenartigerweise nehmen die wenigsten wahr, dass Freud in der Schrift Die endliche und die unendliche Analyse die These vertritt, dass die Chancen für die Heilung umso günstiger sind, je größer das Trauma ist. Ich möchte der Frage nachgehen, warum dies so ist und wohl auch von Freud so vertreten wurde, auch wenn er nur wenig darüber schreibt. Der andere für den therapeutischen Erfolg günstige Faktor ist nach Freud die Person des Psychoanalytikers. In dieser letzten Schrift macht Freud eine sehr interessante Bemerkung zur analytischen Situation, die es wert ist, zitiert zu werden: Beim Psychoanalytiker sei zu fordern, „dass er auch eine gewisse Überlegenheit benötigt, um auf den Patienten in gewissen analytischen Situationen als Vorbild, in anderen als Lehrer zu wirken. Und endlich ist nicht zu vergessen, dass die analytische Beziehung auf Wahrheitsliebe, das heißt auf die Anerkennung der Realität gegründet [XII-241] ist und jeden Schein und Trug ausschließt“ (S. Freud, 1937c, S. 94). – Meines Erachtens macht Freud mit dieser wichtigen Feststellung sehr klar, dass der Ausschluss von Schein und Trug ein entscheidender Faktor auf Seiten des Analytikers ist, der dazu beiträgt, dass ein Patient von seinen Symptomen loskommt.

In meiner Kritik an der Freudschen Sicht möchte ich zuerst auf eine Freudsche Vorstellung zu sprechen kommen, die er nicht eigens ausdrückt, die sich aber doch – wenn ich ihn richtig verstehe – unterschwellig durch sein ganzes Werk durchzieht: seine durchgängig mechanistische Betrachtungsweise des therapeutischen Prozesses. Bekanntlich war Freud ursprünglich der Ansicht, dass das Auf- oder Entdecken des verdrängten Affektes die Wirkung habe, dass der Affekt sich sozusagen mit dem Bewusstwerden auflöse. Dieser Vorgang wurde „Abreagieren“ genannt, wobei ein ganz mechanisches Vorstellungsmodell Pate stand, etwa so, wie wenn Eiter aus einem entzündeten Pickel ausfließt, was als natürlicher und automatischer Vorgang angesehen wird.

Freud und viele andere Psychoanalytiker merkten, dass dies nicht wahr sein konnte. Dieser Vorstellung zufolge müssten jene, die ihre Irrationalität am meisten ausleben, die gesündesten Menschen sein. Doch sie sind eben nicht die gesündesten. Deshalb wurde die Theorie aufgegeben und durch eine weniger deutliche ersetzt. Gemäß dieser verschwinden die Symptome einfach, sobald ein Patient Einsicht zeigt oder – um ein anderes Wort zu benutzen – sobald er seiner unbewussten Realität gewahr wird. Der Patient muss sich dabei in Wirklichkeit nicht besonders anstrengen; er muss lediglich kommen und frei assoziieren und die damit notwendigerweise verbundenen Ängste durchstehen. Vorausgesetzt, es gelingt ihm, seine Widerstände zu überwinden und das verdrängte Material zum Vorschein kommen zu lassen, wird es ihm gut gehen. Das Ergebnis ist aber nicht eine Frage der besonderen Anstrengung und des besonderen Willens des Patienten. Diese Sicht ist zweifellos nicht mehr so mechanistisch, wie Freuds ursprüngliche Theorie des „Abreagierens“ es war. Dennoch beinhaltet sie in meinen Augen noch immer mechanistische Vorstellungen. Sie impliziert, dass der Prozess reibungslos verlaufen und es dem Patienten gut ergehen wird, wenn das Material nur aufgedeckt wird.

Nachfolgend möchte ich einige weiterführende Gedanken und einige Revisionen der Ansichten Freuds über die Wirkfaktoren beim therapeutischen Prozess mitteilen. Hinsichtlich der Frage, was eine analytische Behandlung ist, stimme ich mit der allen Psychoanalytikern gemeinsamen Überzeugung überein, dass nach Freud die Psychoanalyse als eine Methode definiert werden kann, die die unbewusste Wirklichkeit eines Menschen aufzudecken versucht und die annimmt, dass ein Mensch bei diesem Aufdeckungsprozess die Chance hat, dass es ihm bessergeht. Dieses Ziel vor Augen, reduziert sich der Streit unter den verschiedenen Schulen beträchtlich. Wer immer dieses Ziel verfolgt, weiß, wie schwierig und trügerisch es ist, die unbewusste Wirklichkeit in einem Menschen aufzuspüren, so dass man sich nicht zu sehr über die verschiedenen Wege, auf denen man dies versucht, ereifern muss. Vielmehr sucht man, welcher Weg, welche Methode, welcher Zugang für dieses Ziel, das für die Psychoanalyse kennzeichnend ist, passender ist. Andererseits behaupte ich, dass jede therapeutische [XII-242] Methode, die dieses Ziel nicht verfolgt, zwar therapeutisch sehr wertvoll sein mag, jedoch nichts mit Psychoanalyse zu tun hat. Ich würde genau an dieser Stelle eine ganz klare Trennungslinie ziehen.

Ich möchte hier nicht gegen die Vorstellung Freuds, dass mit der therapeutischen Arbeit sozusagen der Damm gegen den Ansturm der Triebkräfte verstärkt wird, argumentieren. Es spricht durchaus vieles zugunsten einer solchen Vorstellung. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf eine Abgrenzung wie der zwischen Psychose und Neurose, denn hier geht es wirklich um die Brüchigkeit des Ichs und um die eigenartige Frage, warum der eine unter der Wucht bestimmter Impulse zusammenbricht, der andere aber nicht. Ich verneine deshalb die Gültigkeit der allgemeinen Vorstellung nicht, dass die Ichstärke etwas mit dem therapeutischen Prozess zu tun hat. Trotz dieses Zugeständnisses ist für mich das Hauptproblem der Neurose und ihrer Heilung aber gerade nicht so zu begreifen, dass es auf der einen Seite irrationale Leidenschaften gibt und auf der anderen Seite ein Ich, das den Menschen dagegen schützt, krank zu werden.

Für mich gibt es eine andere Gegenüberstellung, nämlich die zweier Arten von Leidenschaften, die sich bekämpfen: Es gibt archaische, irrationale und regressive Leidenschaften, die im Kampf mit anderen Leidenschaften des Menschen liegen. Unter den archaischen Leidenschaften verstehe ich näherhin eine starke Mutterbindung, intensive Destruktivität und extremen Narzissmus.

Mit starker Bindung meine ich eine symbiotische Fixierung – oder in Freudscher Terminologie: eine prägenitale Fixierung – an die Mutter. Ich verstehe darunter jene tiefe Bindung, deren Ziel die Rückkehr in den Bauch der Mutter oder die Rückkehr ins Tote ist. Freud selbst hat in seinen späteren Schriften gesagt, er habe die Bedeutung der prägenitalen Fixierung unterschätzt, hatte er doch in seinem gesamten Werk die genitale Fixierung betont und dabei das Problem des Mädchens nicht gewürdigt. Für den Jungen konnte er plausibel machen, dass alle Probleme mit der erotisch-sexuellen Bindung an die Mutter beginnen sollten; beim Mädchen gibt dies jedoch keinen rechten Sinn. Freud erkannte schließlich eine starke prägenitale Bindung an die Mutter – also eine nicht-sexuelle Bindung im engeren Sinne des Wortes –, die es beim Jungen und Mädchen gleichermaßen gibt und der er in seinen Schriften grundsätzlich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Doch auch diese Bemerkung Freuds ist in der psychoanalytischen Literatur irgendwie verlorengegangen. So kommt es, dass die Psychoanalytiker, wenn sie von der ödipalen Phase, dem ödipalen Konflikt und allem, was damit zusammenhängt, sprechen, im allgemeinen in Begriffen der genitalen und nicht der prägenitalen Fixierung oder Bindung an die Mutter denken.

Mit Destruktivität meine ich hier nicht jene Destruktivität, die ihrem Wesen nach defensiv ist und im Dienste des Lebens steht; es geht mir auch nicht einmal um jene Destruktivität, die sekundär in der Verteidigung des Lebens steht wie etwa der Neid oder die Enttäuschung, sondern um jene Destruktivität, bei der der Wunsch zu zerstören Selbstzweck ist. Ich nenne diese Art von Destruktivität „Nekrophilie“. (Vgl. zu den hier genannten Faktoren und Quellen wirklich schwerer Pathologien die Ausführungen, die ich in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 179-185] gemacht habe.) [XII-243]

Starke Mutterbindung, nekrophile Destruktivität und extremer Narzissmus sind maligne Leidenschaften, insofern sie bei schweren psychischen Erkrankungen vorkommen und für diese ursächlich sind. Gegen diese bösartigen Leidenschaften gibt es meiner Überzeugung nach auch gegenläufige Leidenschaften im Menschen: die Leidenschaft zu lieben und das leidenschaftliche Interesse an der Welt – also alles, was man mit Eros umschreiben könnte. Zu diesen Leidenschaften gehört nicht nur das leidenschaftliche Interesse an Menschen, sondern auch das leidenschaftliche Interesse an der Natur, an der Wirklichkeit, dazu gehört die Lust am Denken, dazu gehören alle künstlerischen Interessen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120937
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Wirkfaktoren gutartige Neurose bösartige Neurose Leidensdruck
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Titel: Wirkfaktoren der psychoanalytischen Behandlung