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Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse

Infantilization and Dispair Maskerading as Radicalism

©2015 16 Seiten

Zusammenfassung

Erich Fromm und Herbert Marcuse, die ehemaligen Kollegen am Institut für Sozialforschung, gerieten Mitte der Fünfziger Jahre in einen heftigen Disput um das Verständnis von Psychoanalyse und deren Rolle bei der Veränderung von Gesellschaft. Als Marcuse sich als Kenner der Psychoanalyse in der 1968er-Bewegung zum Wortführer einer Gesellschaftsveränderung machte, griff Fromm noch einmal zur Feder und schrieb diese scharfe Kritik an Marcuse, die er aber nie veröffentlichte. Hier wird der 1969 entstandene Beitrag zugänglich gemacht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

  • Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse
  • Inhalt
  • 1. Marcuses Freudrezeption
  • 2. Marcuses Verständnis der Perversionen
  • 3. Marcuses Idealisierung der Hoffnungslosigkeit
  • Literaturverzeichnis
  • Der Autor
  • Der Herausgeber
  • Impressum

1. Marcuses Freudrezeption

Aus zwei Gründen fühle ich mich genötigt, mich eigens mit den Schriften von Herbert Marcuse auseinanderzusetzen[1]: Erstens vertritt er mir völlig entgegengesetzte Auffassungen, obwohl er in gewissen Fragen eine ähnliche Linie des kritischen Denkens hat, wie ich sie nicht nur in meinen frühen Arbeiten seit Beginn der dreißiger Jahre, sondern auch in Die Furcht vor der Freiheit (1941a) und in den nachfolgenden Büchern ausgedrückt habe. Ich denke, dass ich meine eigene Position noch verdeutlichen kann, wenn ich, und sei es nur knapp, einige der wichtigsten Theorien erörtere, die Marcuse entwickelt hat.

Der zweite Grund ist wichtiger: Marcuse neigt dazu, durch seine falschen Interpretationen von Freud (und Marx) und außerdem durch sein oft irreführendes und widersprüchliches Denken den Geist vieler Leser zu verwirren, und dies besonders bei einigen Anhängern der radikalen Linken. Ich glaube, dass diese Wirkung gefährlich ist. Hört radikales Denken auf, kritisch und rational zu sein, dann hört es auch auf, „radikal“ zu sein, das heißt an die Wurzeln zu gehen; es wird abenteuerlich und führt zu irrationalen Handlungen. Wie ein großer Teil der jungen Generation, ist auch die neue Linke zudem kaum mit der Literatur der Vergangenheit vertraut. Wird sie nun mit einem entstellten Freud und einem entstellten Marx bekannt, dann wird dies in Wirklichkeit keine Hilfe sein, um mit der humanistischen und revolutionären Tradition in Berührung zu kommen. [XII-098]

Ich zögere, einen intelligenten und gebildeten Menschen wie Marcuse, der ein ausgezeichnetes und tiefschürfendes Buch, Vernunft und Revolution (1941), geschrieben hat, der falschen Interpretation jener Werke anzuklagen, die er erörtert. Da ich aber davon überzeugt bin, dass er nicht willentlich und absichtlich entstellt, muss es in ihm machtvolle persönliche Motive geben, die ihn nicht gewahr werden lassen, was für absurde Dinge er 1955 in Triebstruktur und Gesellschaft (1966) und in Der eindimensionale Mensch (1964) geschrieben hat. Was die Motive auch sein mögen, ich werde mich auf den folgenden Seiten nur auf seine Argumente konzentrieren und versuchen, eine Antwort zu geben.

Bevor ich beginne, seine Darstellung von Freuds Theorien zu kritisieren, muss ich auf eine Schwäche hinweisen, die Marcuse selbst erwähnt, allerdings ohne sich ihrer Implikationen ausreichend bewusst zu sein. Er erhebt den Anspruch, dass er sich nur mit Freuds Theorien auseinandersetzen will, mit der klinischen Anwendung der psychoanalytischen Erkenntnisse aber weder vertraut sei noch sich hierfür kompetent fühle. Eine solche „Philosophie“ der Psychoanalyse, die sich nicht auf klinische Erfahrung bezieht, ist ein Zugang, der das Verstehen der psychoanalytischen Theorie weitgehend behindert. Nimmt man Freuds Erkenntnisse aus ihrem klinischen Kontext heraus, werden sie zu abstrakten Theorien, die eine Bewertung der wirklichen Bedeutung von Freuds Theorien unmöglich machen, weil sie nicht in klinischen Beobachtungen wurzeln.

Marcuses entscheidende Fehlinterpretation der Freudschen Position ist in dem Versuch zu sehen, Freud als einen revolutionären Denker zu interpretieren. Freud war ein typischer Vertreter des Bürgertums des Neunzehnten Jahrhunderts und des mechanistischen Materialismus und bis zum Ersten Weltkrieg ein optimistischer liberaler Reformer; danach und später hatte er keine Hoffnung auf irgendeine gesellschaftliche Änderung zum Besseren. In Das Unbehagen in der Kultur (1930a) hat Freud seine negative Einstellung gegenüber sozialistischen oder revolutionären Zielen in unmissverständlicher Klarheit ausgedrückt. Er nahm an, dass die Zivilisation auf der Verdrängung der libidinösen Triebe aufbaue und das Ergebnis von Sublimierungen oder Reaktionsbildungen sei, für die diese Verdrängung eine Bedingung sei. Dementsprechend sei der [XII-099] Mensch vor die Alternative gestellt, entweder nicht zu verdrängen, was bedeutet, dass es keine Zivilisation gibt, oder zu verdrängen, so dass es zwar Zivilisation gibt, aber auch viele Neurosen.

Freuds Sympathien lagen zweifellos auf Seiten von Zivilisation und Verdrängung. Wie viele liberale Reformer dachte Freud aber andererseits auch, dass die sexuelle Verdrängung zu weit gehe. Reduziere man die Verdrängung ein wenig, dann ließen sich auch die Neurosen verringern, ohne dass dadurch die grundlegende Struktur der Gesellschaft gefährdet würde. Freud war fest von dem unausweichlichen Konflikt zwischen triebhaften Bedürfnissen und Zivilisation überzeugt und zweifelte nicht an der Richtigkeit und Notwendigkeit der bestehenden bürgerlichen Gesellschaftsform. Folglich war Freud ein Gegner des Sozialismus. Diese Opposition war ein Hauptelement in seiner Feindseligkeit gegen Wilhelm Reich, der seine kommunistischen Vorstellungen, die er zur Zeit des Konflikts mit Freud vertrat, später jedoch verwarf, mit einer radikalen Theorie der sexuellen Befreiung verband.

Man kann nur staunen: Der liberale, antisozialistische Freud soll zu einem revolutionären Theoretiker verwandelt werden! Manchmal unterscheidet Marcuse zwischen dem Freud, dem er beipflichtet, und bestimmten Äußerungen von Freud, die er kritisiert. Dies macht die Erörterung etwas schwierig, denn Marcuses Argumentation ist schlüpfrig. Er macht regelrechte Einschränkungen in seiner Zustimmung zu Freud, doch insgesamt spricht er Freud die Rolle eines revolutionären Denkers zu. Wie ist dies möglich?

Soweit ich sehen kann, ist eine Antwort, dass Marcuse von Freuds „Materialismus“ beeindruckt ist. Die Triebe sind die realen und materiellen Bedürfnisse des Menschen, und alles andere ist Rationalisierung oder Ideologie. Diese Antwort könnte zufriedenstellen, hätten wir es mit einem Autor zu tun, der sich weniger als Marcuse des Unterschieds zwischen mechanistischem Materialismus und Marx’ historischem Materialismus bewusst wäre und der sich nicht, wie Marcuse dies tat, ausdrücklich gegen den ersteren wendet.

Zu Beginn von Der eindimensionale Mensch (1964) scheint Marcuse alle Hoffnungen für die Vollendung des technologischen Prozesses zu hegen:

Die technologischen Prozesse der Mechanisierung und Standardisierung können individuelle Energie für ein noch unbekanntes Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit freigeben. Die innere Struktur des menschlichen Daseins würde geändert; das Individuum würde von den fremden Bedürfnissen und Möglichkeiten befreit, die die Arbeitswelt ihm auferlegt. Das Individuum wäre frei, Autonomie über ein Leben auszuüben, das sein eigenes wäre. Könnte der Produktionsapparat im Hinblick auf die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse organisiert und dirigiert werden, so könnte er durchaus zentralisiert sein; eine derartige Kontrolle würde individuelle Autonomie nicht verhindern, sondern ermöglichen. (H. Marcuse, 1964, S. 22.)

Was ist dieses „noch unbekannte Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit“?

Marcuse ist äußerst ungenau, wenn er beschreibt, was er wirklich meint. In Triebstruktur und Gesellschaft erwähnt er bei den Zielen für die gute Gesellschaft, dass die Menschen „ohne Angst sterben können“ (H. Marcuse, 1966, S. 233), dass sie schmerzlos sterben und nicht „sterben, ehe sie müssen und wollen“ (a.a.O., S. 232). – Es fällt [XII-100] mir schwer, diese Äußerungen ernst zu nehmen. Es wird immer Menschen geben, die sterben, bevor sie zu sterben wünschen. Die psychologischen Aspekte hierbei haben weniger mit der Gesellschaftsordnung zu tun, sondern eher mit Vererbung und Konstitution. Die Forderung, der Mensch solle mit einem Minimum an Schmerz sterben, klingt in einer Gesellschaft ziemlich nichtssagend, in der die medizinische Kunst alles tut, um den Schmerz beim Sterbeprozess zu lindern. Und bezüglich der Vorstellung, dass der Mensch ein Recht hat, sich das Leben zu nehmen, wenn er sich dazu entscheidet, gibt es heute viele, die Marcuse beipflichten. Es braucht deshalb keine grundsätzliche Änderung in der Gesellschaft, um seinem Leben leichter freiwillig ein Ende setzen zu können. Unsere Selbstmordrate zeigt, dass selbst unter den gegebenen Umständen niemand ernsthaft daran gehindert wird, sich das Leben zu nehmen, wenn er es tun will.

Warum die Beseitigung der Angst vor dem Tod eine derart große Rolle bei Marcuses Ideal des neuen Menschen spielen soll, wird deutlicher, wenn man das grundlegende Ideal von Marcuses neuem Menschen betrachtet. Es lässt sich sehr einfach ausdrücken, wenn man auf die intellektuellen Ausschmückungen verzichtet, mit denen Marcuse den Sachverhalt ein wenig verschleiert. Wenn der Mensch in der vollendeten technologischen Gesellschaft sich nicht mehr um seine Arbeit sorgen muss, weil all seine materiellen Bedürfnisse erfüllt sind, dann kann er regredieren und wieder zum Kind werden oder vielleicht sogar zum Säugling. Marcuse sagt dies nicht mit so vielen Worten, denn es würde zu absurd oder gewagt klingen, wenn er es ausspräche. Und doch macht er dieses Ideal zu Genüge deutlich, wenn man seinen Überlegungen im einzelnen folgt.

Eine Manifestation der neuen, säuglingshaften Existenz ist das, was Marcuse „polymorphe Sexualität“ nennt. Was meint er damit?

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120920
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Herbert Marcuse Gesellschaft
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Titel: Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse