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Sexualität und sexuelle Perversionen

Sexuality and Sexual Perversions

©2015 22 Seiten

Zusammenfassung

Erich Fromm hat bereits in den Dreißiger Jahren die Rolle, die die Sexualität bei der Entstehung und Ausgestaltung von psychischen Leidenschaften spielt, anders eingeschätzt als Sigmund Freud. Wie wenig triebhafte Strebungen ursprünglich mit der Sexualität verbunden sein müssen, zeigt Fromm in diesem Ende der Sechziger Jahre entstandenen Beitrag am Beispiel der prägenitalen Sexualität, an den Perversionen und hier besonders an dem so weit verbreiteten Sadismus auf. Für Fromm definiert sich das Sexualverhalten auf weiten Strecken durch gesellschaftlich vorgegebene Bezogenheitsformen.
Aus dem Inhalt
• Sexualität und Konsumgesellschaft
• Die Bedeutung Wilhelm Reichs
• Der Wandel in der Wertung der sexuellen Perversionen
• Die gesellschaftliche Bedingtheit des Sadismus
• Sadismus und Nekrophilie

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Aspekte der sexuellen Befreiungsbewegung

Eine sehr tiefgreifende und immer schneller vor sich gehende Wandlung ist seit den letzten zehn bis zwanzig Jahren (und in einem umfassenderen Sinne schon seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts) im Verständnis der Sexualität und im sexuellen Verhalten zu beobachten.[1] Der Wandel ist derart einschneidend, dass wir geradezu von einer sexuellen Revolution bzw. von einer Bewegung zur sexuellen Befreiung sprechen können. Ein allgemeines Kennzeichen dieser Bewegung ist der Anspruch, dass sexuelle Lust ein Zweck ist, der sich aus sich selbst rechtfertigt und der keiner besonderen Rechtfertigung durch die Absicht – oder die objektive Möglichkeit – der Fortpflanzung als Begleiterscheinung des sexuellen Aktes bedarf. Sexueller Genuss wird als unveräußerliches und uneinschränkbares Recht eines jeden Menschen betrachtet.

Dieser Einstellungswandel weist die herkömmliche christliche Auffassung, und hier speziell jene der katholischen Kirche, zurück, für die die Fortpflanzung der „natürliche“ Zweck des sexuellen Aktes ist, so dass jede Sexualität, die diesem Zweck nicht gerecht wird, als „unnatürlich“ (weil dem göttlichen Heilsplan widersprechend) und sündig gilt und mit Onans Masturbation verglichen wird. Die Bewegung zur sexuellen Befreiung begann bereits in begrenztem Umfang bei der jüngeren Generation der zwanziger Jahre. In den fünfziger und sechziger Jahren wurde sie dann in Nordamerika und in den meisten europäischen Ländern zu einem Massenphänomen. Die Stärke dieser Bewegung findet einen bezeichnenden Ausdruck in der Tatsache, dass Millionen von Menschen, die beileibe nicht als radikal oder rebellisch angesehen werden können, der Einstellung des Papstes zur Antibaby-Pille weitgehend widersprechen.

Definiert man deshalb die sexuelle Revolution im Sinne der Bejahung des Rechts auf sexuelle Lust oder sexuelles Glück, wird sie zu einem Teilaspekt des allgemeinen Strebens nach Befreiung und größerer Freiheit, das für die politische Entwicklung in den westlichen Ländern typisch ist. Sie könnte als historisch folgerichtige und progressive Entwicklung angesehen werden. Es ergeben sich jedoch eine Reihe von Fragen, die zeigen, dass das Problem nicht so einfach ist. Vor allem ist zu fragen, ob man denn innerhalb der westlichen Welt überhaupt von einer solchen Tendenz wachsender persönlicher Freiheit sprechen kann. Ist eine solche Behauptung nicht [XII-076] hauptsächlich ideologisch und widerspricht ihr nicht die Tatsache des Anwachsens von Konformismus und Entfremdung? Sind die unter den Erwachsenen der Mittelschicht und unter den Jüngeren aller Klassen so weitverbreiteten sexuellen Praktiken der Promiskuität, des „Gruppen-Sex“ usw. wirklich Zeichen dafür, dass die Mittelschicht ein höheres Maß an Spontaneität und Freiheit erreicht hat? Es hat den Anschein, dass die gleichen Menschen, die die neue Sexualität praktizieren, auf der anderen Seite sehr gut an die vorherrschenden gesellschaftlichen Muster des Denkens und Fühlens angepasst sind und überhaupt keine radikale Avantgarde darstellen. Kann die sexuelle Revolution bei diesen gut angepassten Mitgliedern unserer entfremdeten Gesellschaft wirklich eine Revolution oder eine Befreiung genannt werden, solange deren Lebensstil so konventionell ist? Ist das sexuelle Verhalten der Hippies und der linken Studenten Teil des gleichen Phänomens?

Die folgenden Überlegungen versuchen, auf einige dieser Fragen eine Antwort zu geben.

a) Sexualität und Konsumgesellschaft

Eine Analyse der sozialpsychologischen Veränderungen der letzten fünfzig Jahre zeigt das Vorhandensein von zwei völlig verschiedenen Trends. Der bemerkenswerteste ist das Wachstum der Konsumhaltung. Im Neunzehnten Jahrhundert verlangten die ökonomischen Bedürfnisse der Kapitalanhäufung vom Mitglied der Mittelklasse, dass es einen Charakter entwickelte, dem Sparen und Anhäufen ein inneres Bedürfnis wurden, dessen Erfüllung es befriedigte. Die durch die Erfordernisse der Massenproduktion gekennzeichnete kybernetische Gesellschaft zu Beginn der zweiten industriellen Revolution verlangt einen Menschen, der seine Befriedigung im Ausgeben und Konsumieren findet. Der Mensch wird zu einem geschäftigen, aber innerlich passiven homo consumens verwandelt. Aldous Huxley hat das Motto dieses neuen Typus von Mensch in seinem Buch Schöne neue Welt (1946) treffend ausgedrückt: „Schiebe nie das Vergnügen, das du heute haben kannst, auf morgen auf.“

Es ist wichtig, den modernen Konsum als eine Haltung oder, genauer gesagt, als einen Charakterzug anzusehen. Dabei kommt es nicht darauf an, was konsumiert wird: Man kann Essen, Trinken, Fernsehen, Bücher, Zigaretten, Gemälde, Musik oder Sexualität konsumieren. Die Welt in ihrem Reichtum ist zu einem Gegenstand des Konsums umgewandelt. Im Akt des Konsumierens saugt der Mensch gierig am Gegenstand seines Konsums und wird zugleich von diesem aufgesaugt. Die Gegenstände des Konsums verlieren ihre konkrete Qualität, denn sie werden nicht auf Grund von spezifischen und realen menschlichen Fähigkeiten begehrt, sondern auf Grund des einen allmächtigen Verlangens: von der Gier zu haben und zu gebrauchen. Die Konsumhaltung ist die entfremdete Weise, mit der Welt in Kontakt zu sein, weil die Welt zu einem Gegenstand der Gier gemacht wird, statt dass der Mensch an ihr interessiert und auf sie bezogen ist.

Ein Wirtschaftssystem, das die Konsumhaltung als Gesellschafts-Charakterzug braucht, kann kaum an einer viktorianischen Moral festhalten. Man kann keine [XII-077] Konsum-Sucht hervorbringen und gleichzeitig die Menschen zum Horten und zur Verdrängung ihrer immer (tatsächlich oder potenziell) gegenwärtigen sexuellen Wünsche anhalten. Auch für den sexuellen Konsum gilt, was für jede Konsumhaltung charakteristisch ist: Er ist flach, unpersönlich, ohne Leidenschaftlichkeit, ereignislos, passiv. Im Unterschied zu anderen Formen der Konsumhaltung hat er den Vorteil, dass er praktisch kostenlos ist und die Arbeitsfähigkeit des Menschen nicht beeinträchtigt. Er macht Lust und hilft, die Sorgen und Schmerzen des Alltags zu vergessen. (Der Vorteil, dass er praktisch kostenlos ist, wäre eigentlich für eine Gesellschaft von Nachteil, in der alles darauf ankommt, dass jeder so viel wie möglich kauft, vorausgesetzt, es würden weniger Waren gekauft, weil man mit dem sexuellen Konsum beschäftigt ist. Doch dies ist nicht so, denn erstens stimuliert der sexuelle Konsum das Bedürfnis nach Konsum überhaupt und hilft deshalb das notwendige Maß an Gier hervorzubringen; zweitens stimmt es zwar, dass der Sexualverkehr abgesehen von empfängnisverhütenden Mitteln keinerlei Geldaufwand verlangt, doch führt er indirekt auf anderen Ebenen zu mehr Konsum: Man braucht mehr Geld für Reisen, Kosmetika, Kleider und all die anderen Waren und Dienstleistungen, die zu einer größeren sexuellen Attraktivität verhelfen sollen.) Eine auf Konsum ausgerichtete Kultur muss unter diesen Umständen auf sexueller Freiheit bestehen, selbst wenn dies wie in unserer Kultur zu einer bemerkenswerten Meisterschaft in doppelzüngigem Gerede und zu einer strikten Isolierung von offizieller Ideologie und sanktionierter Praxis führt.

Es wurde immer wieder behauptet, die sexuelle Revolution sei zu einem großen Teil durch Freuds Werk verursacht worden. Dies hieße aber, Ursache und Wirkung durcheinanderzubringen. Freuds Pathos war vor allem ein viktorianisches; er zeigte nie Sympathien für sexuelle Praktiken jenseits derer, die die Moral seiner Gesellschaft vorschrieb. Der kühnste Schritt hinsichtlich einer freieren sexuellen Praxis, den Freud tat, war seine Verteidigung der Masturbation. Noch wichtiger aber ist, dass Freud nur auf Grund der Bedürfnisse einer Konsumentenkultur derart populär geworden ist. Die Popularisierung von Freuds Theorien war eine bequeme, halbwissenschaftliche Rationalisierung für den Wandel der Sitten, der in jedem Fall in der Zeit nach 1920 stattgefunden hätte.

b) Sexualität und neuer Lebensstil.
Zur Bewegung der Hippies

Sex als Konsumartikel ist eine Erscheinung der Zweiten industriellen Revolution. Seine Wirkung ist, wenn überhaupt, dann reaktionär und gerade nicht revolutionär, weder politisch noch persönlich. (Die Gegner der neuen Sexualmoral kamen und kommen aus jenen Schichten des alten Kleinbürgertums und Bürgertums, die nicht wohlhabend genug waren, um an der neuen Konsumkultur teilhaben zu können, und sie deshalb ablehnten. Die Tatsache aber, dass die Gegner der sexuellen Revolution politisch reaktionär waren, bedeutet jedoch nicht, dass diejenigen, die den neuen Sex-Konsum fördern und an ihm teilhaben, revolutionär oder progressiv sind.) So sehr heute die sexuelle Befreiungsbewegung ein Ausdruck der Konsumhaltung ist, so machen die Konsumenten doch nicht das gesamte Spektrum der Bewegung aus. Neben [XII-078] der Mehrheit, die sich durch eine Konsumhaltung auszeichnet, gibt es eine Minderheit, die das genaue Gegenteil repräsentiert. Zu dieser Minderheit gehören vor allem die Hippies[2] und ein Teil des radikalen Flügels der Jugend. Mit ihren Ideen und ihrer eigenen Lebenspraxis sind sie radikale Kritiker der Konsumentenkultur. Sie protestieren gegen die Verdinglichung des Menschen und gegen seine Umwandlung in eine „konsumierende Sache“. Sie wehren sich gegen die Entfremdung, den Mangel an Freude, die götzendienerische Unterwerfung unter Dinge, Verhaltensmuster, Slogans, künstliche Persönlichkeiten; sie haben ein feines Gespür für den ganzen Schwindel und die Doppelzüngigkeit, die in unserer Kultur herrschen, und reagieren allergisch darauf. Die meisten von ihnen hungern nach Leben, wollen sein statt haben und gebrauchen. Soweit sie politisch engagiert sind, streben sie nach einer Kultur, in der das Lebendige über das Tote herrscht und der Mensch über die Dinge.

Weil sie in diesem Zusammenhang nicht relevant ist, verzichte ich auf eine ausführliche Kritik dieser Bewegung und will nur folgende Punkte kritisch anmerken: dass die Hippies keine Vorschläge für einen Lebensstil der über Dreißigjährigen entwickeln; dass sie von Drogen abhängig sind; dass sie mit eben jener Tradition brechen, deren Abkömmlinge sie sind; dass sie unfähig sind, eine Synthese zwischen neo-matriarchaler, anarchistischer Erfahrung von Gleichberechtigung und Un-Ordnung einerseits und einem neo-patriarchalen Akzeptieren von rationaler Autorität, Struktur und einem Minimum an Organisation andererseits zu finden oder anzustreben; ferner, dass sie selbst der Passivität erliegen, die viele von ihnen zu Konsumenten werden lässt, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau der materiellen Bedürfnisse, und dass es nekrophil-destruktive Züge gibt, die für einige von ihnen, wenn auch nur für wenige, motivierend sind. Trotz all dieser kritischen Punkte gilt doch, dass für viele von ihnen sexuelle Lust Freude bedeutet und einen ganz wichtigen Teil ihres Hungers nach Bejahung des Lebens darstellt. Sexualität ist für sie ein Ausdruck von Liebe zum Leben, wenn auch vielleicht nicht in Begriffen individueller Liebe, wie sie für das Eheleben als gegeben vorausgesetzt wird. Die Sexualität ist ein Aspekt des Seins, nicht des Besitzens. Indem die Hippies das überkommene Stigma der Sexualität überwinden, fehlt der Sexualität auch das Lüsterne, das sie für jene hat, die Sex in der Welt des Konformismus auf entfremdete Weise praktizieren.

Um die Bewegung der Hippies (und ich verstehe darunter alle, die sich einem ähnlichen Lebensstil und einer ähnlichen Philosophie verschreiben, einschließlich jenen, die zugleich eine radikale politische Philosophie vertreten) zu verstehen, muss man sie als ursprüngliche religiöse Massenbewegung begreifen, vielleicht sogar als die einzig bedeutende in unserer Zeit. Sie ist natürlich nicht-theistisch, doch gründet sie sich auf den Glauben an die Liebe, das Leben, die Gleichberechtigung und den Frieden. Sie steht in völligem Widerspruch zur herrschenden zweckgebundenen Religion, die die Maschine verehrt. Sie gründet sich auf eine gemeinsame Begeisterung und auf bestimmte Rituale. Kleidung und Haartracht ihrer Anhänger sind nicht nur ein Protest gegen alles, was dem Bürgertum verehrungswürdig ist; sie sind ein gemeinsames Ritual, durch das sich die Mitglieder der neuen Religion selbst identifizieren. Das gleiche gilt meines Erachtens auch zum Teil im Hinblick auf ihren Drogenkonsum: Einerseits reicht er aus, um augenblickshaft eine „spirituelle“ Erfahrung zu machen, und [XII-079] eben darin ist er ein Produkt der Konsumentenkultur; andererseits ist der Drogenkonsum auch ein gemeinsames Ritual, das den Mitgliedern der neuen Religion die Erfahrung von Einheit und Solidarität erlaubt.

Das Zusammenkommen von 300°000 bis 400°000 Begeisterten im Staat New York und von 200°000 auf der Isle of Wight im Sommer 1969 war eine eindrucksvolle Demonstration, wie stark diese Bewegung ist, und zwar nicht nur hinsichtlich der Zahl der Menschen, die zusammenkamen, um den beliebtesten Künstlern zuzuhören, sondern auch durch die Ordnung, das Fehlen von Aggressivität, die allgemeine Hilfsbereitschaft und die gute Stimmung unter widrigsten Umständen. Dieser neue Geist war so sichtbar, dass selbst die konservativen Ortsbewohner beeindruckt waren, ihnen halfen und mit ihnen sympathisierten. Die religiöse Qualität der Bewegung lässt sich in einem Vergleich ausdrücken: Das Happening war kein massenhafter Konzertbesuch, sondern eine Wallfahrt mit den dabei üblichen Eigentümlichkeiten von gemeinsamer Absicht, gemeinsamem Interesse und gemeinsamer Erfahrung. Und doch glaube ich, dass angesichts der eigenen Grenzen und der Macht des vorhandenen Götzendienstes ihr Überleben höchst zweifelhaft ist.

c) Sexualität in der Psychoanalyse.
Die Bedeutung Wilhelm Reichs

Nach der Unterscheidung zwischen der sexuellen Revolution als Aspekt der Konsumentenkultur einerseits und als Aspekt einer Revolution zugunsten des Lebens andererseits möchte ich nochmals die Frage ihrer Beziehung zur Psychoanalyse aufgreifen. Auch wenn, was ich bereits andeutete, wahr ist, dass Freud nicht mit einer losen Sexualmoral sympathisierte und vermutlich durch das, was die Menschen in den Vorstädten und was die Hippies praktizieren, geschockt würde, so hat er doch eine Türe geöffnet. Seine Behauptung war ja, dass alle intensiven leidenschaftlichen Strebungen des Menschen, abgesehen von jenen der Selbsterhaltung, sexueller Natur seien und dass der Mensch als leidenschaftliches Wesen in Wirklichkeit ein sexuelles Wesen ist. Freilich gäbe es keine Zivilisation, wenn die Sexualität nicht gezügelt und verdrängt würde, doch der Stoff, aus dem die menschlichen Strebungen – abgesehen von jenen, die dem Überleben dienen – gemacht sind, ist die Libido. Wie Wilhelm Reich vorwurfsvoll bemerkte, öffnete Freud die Türe nicht weiter. Er dachte auch nicht an die Möglichkeit einer radikalen sexuellen Revolution, die sich später ereignen könnte. Der einzige Psychoanalytiker, der wirklich die Türe zur sexuellen Revolution öffnete, war Wilhelm Reich.

Reichs wichtigster Beitrag zur Frage der Sexualität bestand meines Erachtens darin, dass er sich mit Freuds Auffassung der genitalen Potenz nicht zufriedengab. Freud fragte nicht nach der Qualität der sexuellen Erfahrung. Vermochte ein Mann den Sexualakt erfolgreich auszuführen, wurde er als genital potent betrachtet; erfolgreich bedeutete, dass er eine Erektion bekommen und den Sexualakt lange genug fortsetzen konnte, um auch seiner Partnerin die Chance zum Orgasmus zu geben. Gemäß diesem Kriterium sind die meisten Männer genital potent, und jene, die absolut oder relativ impotent sind, können als krank betrachtet werden. Die Einschätzung des [XII-080] Sexualaktes erfolgte ganz aus dem biologischen Blickwinkel, der Reproduktion des Menschen zu dienen, mit dem Spielraum des Genusses für die Frau.

Reich befasste sich mit dem ganzen Körper, mit seinem Entspannt- und Freisein und mit seinem Verkrampftsein, und ging damit einen entscheidenden Schritt über Freud hinaus. Ihm ging es um die Qualität des orgastischen Erlebens, nicht nur um seine Ausführung. Die Geschlechtsorgane wurden von ihm nicht wie Hilfsmittel betrachtet, die ursprünglich dazu da sind, Kinder hervorzubringen, sondern als Teile des Körpers, die zusammen mit dem ganzen Körper fähig sind, ekstatische Freude und Freiheit zu erleben. Seine Auffassung der genitalen Potenz sprengte die Grenze des Unlust-Lust-Prinzips. Für ihn ist die genitale Potenz die Reaktion eines Menschen, der nicht verdrängt und abwehrt, die Reaktion eines das Leben ganz bejahenden und sich des Lebens erfreuenden freien menschlichen Wesens.

Der von Reich entwickelte Begriff der sexuellen Freiheit kommt vermutlich der theoretischen Auffassung von Erfahrung beim revolutionären Flügel der sexuellen Befreiungsbewegung am nächsten. So ist es nur folgerichtig, dass Reich bei deren Mitgliedern sehr populär ist. Hätte Reich sich nicht in seine zumindest meines Erachtens ziemlich phantastischen Theorien zum „Orgon“ usw. verloren (im Zusammenhang mit denen er schließlich zum Märtyrer für seine eigenen Lehren wurde), und wäre er seiner Gedankenlinie, die die Sexualität im Zusammenhang mit der gesamten Persönlichkeit sieht, treu geblieben, dann hätte er ein noch viel einflussreicherer Lehrer für die sexuellen Revolutionäre werden können. Abgesehen davon irrte Reich auch in seinem naiven Glauben, dass sich aus der Einstellung einer sexuell befreiten Jugend unmittelbare politische Konsequenzen ergäben. Er nahm fälschlicherweise an, dass der strengeren Sexualmoral eines Reaktionärs eine gegenteilige Einstellung beim Revolutionär entsprechen müsse. Insbesondere sah er nicht voraus, dass die Nazis zumindest faktisch nicht nach den konservativen Standards der Sexualmoral lebten.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120913
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Sexualität Sigmund Freud Perversion Konsumgesellschaft
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