Zusammenfassung
Aus dem Inhalt
• Aspekte einer revidierten Triebtheorie
• Die Revision der Theorie des Unbewussten und der Verdrängung
• Die Bindung an Idole und das Phänomen der Übertragung
• Wirkfaktoren bei der Aufhebung der Verdrängung
• Die Bedeutung von Gesellschaft, Sexualität und Körper in einer revidierten Psychoanalyse
• Zur Revision der psychoanalytischen Therapie
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Die dialektische Revision der Psychoanalyse
- Inhalt
- 1. Gegenstand und Methode der Revision der Psychoanalyse
- 2. Aspekte einer revidierten Triebtheorie
- 3. Die Revision der Theorie des Unbewussten und der Verdrängung
- a) Das Unbewusste und die Verdrängung der Sexualität
- b) Das Unbewusste und die Verdrängung der Mutterbindung
- c) Die Bindung an Idole als Ausdruck des gesellschaftlichen Unbewussten
- d) Die Bindung an Idole und das Phänomen der Übertragung
- e) Die Überwindung der Bindung an Idole
- f) Das gesellschaftliche Verdrängte und seine Bedeutung für eine Revision des Unbewussten
- g) Das neue Verständnis des Unbewussten bei Ronald D. Laing
- h) Wirkfaktoren bei der Aufhebung der Verdrängung
- 4. Die Bedeutung von Gesellschaft, Sexualität und Körper in einer revidierten Psychoanalyse
- 5. Zur Revision der psychoanalytischen Therapie
- a) Aspekte für den Bereich der therapeutischen Praxis
- b) Transtherapeutische Aspekte der Psychoanalyse
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
1. Gegenstand und Methode der Revision der Psychoanalyse
Eine kreative Erneuerung der Psychoanalyse[1] ist nur möglich, wenn sie den positivistischen Konformismus[2] überwindet und wieder zu einer kritischen, herausfordernden Theorie aus dem Geist des Humanismus wird. Eine derart revidierte Psychoanalyse wird fortfahren, noch tiefer in die „Unterwelt“ des Unbewussten hinabzusteigen; sie wird allen gesellschaftlichen Arrangements gegenüber, die den Menschen entstellen und deformieren, kritisch sein; und sie wird sich auf jene Prozesse konzentrieren, die zur Anpassung der Gesellschaft an die Bedürfnisse des Menschen führen können, anstatt zur Anpassung des Menschen an die Gesellschaft.
Ihr besonderes Augenmerk richtet die revidierte Psychoanalyse auf jene psychischen Phänomene, die die Pathologie der gegenwärtigen Gesellschaft begründen: auf Entfremdung, Angst, Einsamkeit, auf die Angst vor tiefreichenden Gefühlen, auf den Mangel an Tätigsein und auf das Fehlen von Freude. Diese Symptome haben die zentrale Rolle übernommen, die die Verdrängung der Sexualität zur Zeit Freuds innehatte. Die psychoanalytische Theorie muss deshalb so gefasst werden, dass sie die unbewussten Aspekte dieser Symptome und deren krankmachende Bedingungen in Gesellschaft und Familie verständlich macht. Darüber hinaus muss die Psychoanalyse die „Pathologie der Normalität“ erforschen, jene chronische, leichte Schizophrenie, die von der kybernetisch organisierten technologischen Gesellschaft von heute und morgen erzeugt wird.
Ich halte eine dialektische Revision der klassischen Freudschen Theorie bzw. ihre Weiterführung in folgenden Bereichen für notwendig: in Bezug auf die Triebtheorie, auf die Theorie des Unbewussten, auf die Theorie der Gesellschaft, die Theorie der Sexualität und des Körpers sowie in Bezug auf die psychoanalytische Therapie. Allen Bereichen der Revision sind bestimmte Elemente gemeinsam:
- Der Wechsel des philosophischen Hintergrundes von einem mechanistischen Materialismus entweder zu einem historischen Materialismus und einem prozessualen Denken oder zur Phänomenologie und zur Existenzphilosophie.
- Gemeinsam ist ihnen auch ein anderer Erkenntnisbegriff, da es um die Erkenntnis von [XII-028] Menschen geht; dieser unterscheidet sich von dem in den Naturwissenschaften üblichen. Es geht dabei um den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem hebräischen und dem griechischen Begriff von Erkenntnis. Für das hebräische Denken war „erkennen“ (jada) gerade kein Abstraktionsvorgang, sondern hauptsächlich das aktive Erleben eines Menschen, eine konkrete und persönliche Beziehungsweise, wie sie auch im doppelten Wortgebrauch von „erkennen“ als eindringende sexuelle Liebe und als tiefes Verstehen ausgedrückt ist.[3] Im griechischen Denken und hier vor allem bei Aristoteles ist gegenständliche Erkenntnis unpersönlich und objektiv. Diese Art von Erkenntnis wurde zum Vorbild für die Naturwissenschaften. Zwar denkt der Therapeut auch in diesen gegenständlichen Begriffen, sofern er die vielfältigen Aspekte der Probleme seiner Patienten im Blick hat; sein hauptsächlicher Zugang muss aber die „Erkenntnis auf Grund eines aktiven Erlebens“ sein. Sie ist die geeignete wissenschaftliche Methode, Menschen zu verstehen.
- Gemeinsam ist ihnen ferner eine revidierte Vorstellung vom Menschen: Anstelle eines isolierten und erst sekundär sozialen homme machine ist der Mensch primär als soziales Wesen zu sehen. Es gibt den Menschen nicht anders denn als bezogenes Wesen, dessen Leidenschaften und Strebungen in den Bedingungen seiner menschlichen Existenz wurzeln.
- Auch eine humanistische Orientierung ist für alle Bereiche der Revision typisch: Sie geht davon aus, dass alle menschlichen Wesen grundsätzlich ein gleiches Potenzial haben und dass der andere, weil er letztlich niemand anderer ist als ich selbst, bedingungslos zu akzeptieren ist.
- Allen Bereichen der Revision sind schließlich gesellschaftskritische Einsichten gemeinsam, die sich aus dem Konflikt zwischen dem Interesse der meisten Gesellschaften, nur das eigene System erhalten zu wollen, und dem Interesse des Menschen an einer optimalen Entfaltung seiner ihm eigenen Möglichkeiten ergeben. Dies bedeutet, dass man sich weigert, Ideologien um ihrer selbst willen zu akzeptieren, und dass man statt dessen die Suche nach der Wahrheit als einen Prozess versteht, bei dem man sich von Illusionen, falschem Bewusstsein und von Ideologien befreit.
Die genannten Bereiche, in denen es zu einer produktiven Entwicklung der Psychoanalyse kommen soll, sind nie unabhängig voneinander zu sehen. Sie gehören vielmehr zusammen und werden hoffentlich in einem revidierten System der Psychoanalyse integriert werden. Leider gab es bisher viel zu wenig Kontakt zwischen einigen dieser Bereiche mit bestimmten anderen. Aus diesem Grund ist es vorteilhaft, sie im nachfolgenden Versuch getrennt zu behandeln und dabei zu verdeutlichen, was mit der „dialektischen Revision der psychoanalytischen Theorie“ gemeint ist.
Die dialektische Revision verfolgt zwei Ziele. Zum einen will sie Freuds Erkenntnisse und theoretische Schlussfolgerungen im Lichte zusätzlicher Erkenntnisse, neuer [XII-029] philosophischer Deutungsrahmen und der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte überprüfen. Zum anderen aber ist sie eine Kritik an Freud auf der Basis einer Art „Psychoanalyse von Theorien“. Jeder kreative Denker sieht mehr, als er in Worten ausdrücken kann oder als er sich bewusst wird. Um Theorien zu formulieren, muss er oft einen bestimmten Bereich seiner Erkenntnis ausschließen und wird sich nie bewusst, dass es noch andere Möglichkeiten gibt oder dass diese ihre eigene Gültigkeit haben. Selbstverständlich wird er jene Elemente seiner Beobachtungen und Gedanken wählen, für die er die meisten Belege hat und die am besten in den Rahmen seiner eigenen philosophischen, politischen und religiösen Überzeugungen passen. Träfe er keine derartige Auswahl, würde er zu sehr zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, etwas anzuschauen und zu erklären, hin und her gerissen werden und käme nie zu einer systematischen Theorie.
Wie kommen wir aber zu dem Schluss, dass er unbewusst auch andere Möglichkeiten denkt, ja dass er sich selbst voraus ist? In Wirklichkeit ist es nicht sehr viel anders als bei einer Psychoanalyse: Wir schließen auf die Gegenwart unbewusster Ideen auf Grund von eigentümlichen Auslassungen, Versprechern, Unter- oder Übertreibungen, Unentschlossenheiten, abrupten Übergängen, Träumen usw. Im Fall der Psychoanalyse von Theorien benützen wir dieselbe Methode, außer dass wir keine Träume haben: Wir analysieren genau die Art und Weise, in der ein Autor sich ausdrückt, wir spüren die immanenten Widersprüchlichkeiten auf, die er nicht ganz glätten konnte, die kurze Erwähnung einer Theorie, auf die er nie wieder zurückgriff, das übermäßige Insistieren auf bestimmten Punkten, das Auslassen einer möglichen Hypothese. Auf diese Weise können wir schlussfolgern, dass der Autor sich bestimmter anderer Möglichkeiten gewahr gewesen sein muss, aber doch nur so wenig, dass sie nur gelegentlich einen kurzen offenen Ausdruck finden, während sie ansonsten wirklich verdrängt bleiben. Die Brauchbarkeit und Gültigkeit einer solchen Psychoanalyse von Theorien wird freilich von denen verneint werden, die die Richtigkeit der Psychoanalyse auch sonst verneinen, bzw. von solchen, die im Werk eines Psychologen, Soziologen, Historikers nichts anderes als ein Produkt eines von persönlichen Faktoren unbeeinflussten Intellekts sehen.
Im Unterschied zur Psychoanalyse von Personen konzentriert sich die Psychoanalyse von Theorien nicht primär auf verdrängte Gefühle und Wünsche, sondern auf verdrängte Gedanken und auf die Entstellungen im Denken eines Autors. Sie versucht die verborgenen Gedanken zu erforschen und die Entstellungen zu erklären. In jedem Fall spielen bei einer solchen Analyse psychologische Überlegungen eine wichtige Rolle. Ganz offensichtlich ist der Fall dort, wo die Ängste eines Autors ihn von logischen Schlussfolgerungen abhalten und ihn dazu bringen, seine eigenen Daten falsch zu interpretieren, oder wo es ihm gefühlsmäßige Vorurteile verunmöglichen, bestimmte Fehler in seiner Theorie zu sehen und auf bessere theoretische Erklärungen zu kommen (bei Freud ist seine patriarchale Befangenheit am eindrucksvollsten). Es kommt aber nicht so sehr darauf an, die gefühlsmäßigen Motivationen aufzudecken, als vielmehr die Ideen zu rekonstruieren, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht oder nur indirekt und vorübergehend zum manifesten Inhalt des Denkens eines Autors wurden. [XII-030]
Die Gründe für die Verdrängung von bestimmten oder möglichen Einsichten sind natürlich von Autor zu Autor sehr verschieden. Ein häufiger Grund für die Verdrängung von unpopulären oder sogar gefährlichen Gedanken ist Angst. Ein anderer ist tief in affektiven „Komplexen“ verwurzelt; ein weiterer ist ein starker Narzissmus, der für eine hilfreiche Selbstkritik hinderlich ist. Im Falle von Freud spielte wohl weder Angst noch Narzissmus eine wichtige Rolle, doch ist ein anderes Motiv ganz bezeichnend: Freuds Rolle als Führer einer „Bewegung“. Seine Anhänger wurden durch die gemeinsame Theorie verbunden. Hätte Freud seine Theorie in entscheidenden Punkten geändert, hätte er wohl sein Streben nach Wahrheit befriedigt, aber er hätte in den Reihen seiner Anhänger Verwirrung gestiftet und so die Bewegung gefährdet. Ich halte es für möglich, dass seine Angst, die Bewegung zu gefährden, manchmal seine wissenschaftliche Leidenschaft beeinträchtigt hat.[4]
Ich möchte betonen, dass die Psychoanalyse von Theorien kein Urteil darüber beansprucht, ob eine Theorie richtig oder falsch ist. Sofern dafür Anzeichen vorliegen, fördert sie nur ans Tageslicht, was ein Autor hinter und jenseits von dem, was er zu denken glaubte, noch an Gedanken gehabt haben mag. Die Psychoanalyse von Theorien kann uns also helfen, den Autor besser zu verstehen, als dieser sich selbst verstand. Über die Gültigkeit der erschlossenen Möglichkeiten kann aber nur auf dem Boden ihrer wissenschaftlichen Verdienste argumentiert werden.
2. Aspekte einer revidierten Triebtheorie
Besonders seit 1941 habe ich in meinen Veröffentlichungen versucht, eine revidierte Theorie jener Triebe und Leidenschaften zu entwickeln, die das menschliche Verhalten zusätzlich zu denen, die seiner Selbsterhaltung dienen, motivieren. Ich habe angenommen, dass diese Triebe nicht adäquat erklärt werden können, wenn man sie als rein chemischen Prozess von Spannung und Ent-Spannung begreift, sondern nur, wenn man sie auf der Basis der „Natur“ des Menschen versteht.
Mein Begriff von „Natur“ oder „Wesen“ des Menschen, also von dem, was den Menschen zum Menschen macht, unterscheidet sich jedoch von all jenen Vorstellungen, die fordern, dass das Wesen des Menschen in positiven Begriffen beschrieben werden könne, etwa als Substanz oder als eine unveränderliche Struktur mit bestimmten unwandelbaren Qualitäten wie gut oder böse, liebend oder hassend, frei oder unfrei etc. Das „Wesen“ des Menschen ist ein Widerspruch, der sich nur beim Menschen finden lässt: der Natur und all ihren Gesetzen unterworfen zu sein und gleichzeitig die Natur zu transzendieren, weil der Mensch, und nur er, sich seiner selbst und seines Daseins bewusst ist. Der Mensch ist tatsächlich das einzige Beispiel in der Natur, wo Leben sich seiner selbst bewusst wurde.
Seiner unauflösbaren existenziellen Widersprüchlichkeit („existenzielle“ hier im Unterschied zu historisch bedingten Widersprüchen, die man zum Verschwinden bringen kann, wie etwa den Widerspruch zwischen Reichtum und Armut) liegt eine biologisch gegebene Tatsache zugrunde: Der Mensch taucht aus der tierischen Evolution zu dem Zeitpunkt auf, als seine Determinierung durch Instinkte ein Minimum erreicht hat, während gleichzeitig sich jene Dimension des Gehirns, die die Grundlage für Denken und Vorstellung ist, weit über jenes Maß hinausentwickelt hat, das sich bei den Primaten findet. Dieser Umstand macht den Menschen einerseits hilfloser als das Tier, gibt ihm andererseits aber auch die Möglichkeit für eine neue, wenn auch gänzlich andere Art von Stärke. Der Mensch als Mensch wurde aus der Natur hinausgeworfen und ist ihr doch unterworfen. Er ist sozusagen eine Laune der Natur. Diese biologische Tatsache der dem Menschen eigenen Widersprüchlichkeit verlangt Lösungen, das heißt, verlangt nach einer menschlichen Entwicklung.
Das Bewusstsein, aus seiner natürlichen Grundlage herausgerissen und nur noch ein [XII-032] isoliertes und unbezogenes Teilchen in einer chaotischen Welt zu sein, würde den Menschen verrückt werden lassen. (Der Verrückte ist der, der seinen Platz in einer strukturierten Welt, die er mit anderen teilt und in der er sich orientieren kann, verloren hat.) Deshalb zielen alle Energien des Menschen darauf, die unerträgliche Widerspruchssituation in eine erträgliche zu verwandeln und je neue und – soweit möglich – bessere Lösungen für den Widerspruch zu schaffen. Sämtliche Leidenschaften und Begierden des Menschen – normale, neurotische oder psychotische – sind Versuche des Menschen, seinen immanenten Widerspruch zu lösen. Da es für den Menschen lebensnotwendig ist, eine Lösung zu finden, sind seine Lösungsversuche mit der ihm zur Verfügung stehenden Energie geladen. Sie gehen über die Frage des physischen Überlebens hinaus und stellen Versuche dar, dem Erleben der Nichtigkeit und des Chaos zu entgehen und einen Rahmen der Orientierung und Hingabe zu finden. Sie dienen dem psychischen, nicht dem physischen Überleben. Sie sind – in einem weiten Wortsinn – „spirituelle“ Wege, wobei ich mit „spirituell“ leidenschaftliche Strebungen meine und unter „Spiritualität“ im Sinne von S. Sontag (1969, S. 3) „Entwürfe, Terminologien, Ideen einer Haltung (verstehe), die auf die Fülle menschlichen Bewusstseins, auf Transzendenz ausgerichtet sind und die darauf zielen, den schmerzvollen strukturellen Widerspruch, der der menschlichen Situation innewohnt, aufzulösen.“
Nach der hier vertretenen Theorie ist die Natur oder das Wesen des Menschen nichts anderes als der Widerspruch, welcher der biologischen Konstitution des Menschen innewohnt und der verschiedene Lösungen hervorbringt. Das Wesen des Menschen ist dabei nicht mit einer dieser Lösungen identifizierbar. Natürlich sind Anzahl und Qualität der Lösungen nicht beliebig und unbegrenzt, sondern durch die Eigengesetzlichkeiten des menschlichen Organismus und seiner Umwelt determiniert. Mit den Erkenntnissen der Geschichte, der Psychologie des Kindes, der Psychopathologie und besonders denen der Geschichte der Kunst, Religion und Mythen lassen sich zwar schon bestimmte Hypothesen über mögliche Lösungen formulieren; da die Menschheit bisher aber unter dem Prinzip des Mangels und deshalb auch der Gewalt und Herrschaft lebte, sind die Möglichkeiten von solchen Lösungen noch lange nicht ausgeschöpft. Mit der Möglichkeit, ein soziales Leben auf der Basis des Überflusses zu gestalten, so dass lähmende Herrschaftsformen verschwinden können, wird auch die Entwicklung von neuen Lösungsversuchen für die existenziellen Widersprüche wahrscheinlich.
Meine Theorie vom Wesen des Menschen ist dialektisch. Sie steht im Widerspruch zu solchen Theorien, die als das Wesen eine Substanz oder feststellbare Qualität des Menschen annehmen. Sie steht aber auch im Gegensatz zu Vorstellungen der Existenzphilosophie, ja sie stellt eine Kritik existenzphilosophischen Denkens dar. (Die hier vertretenen Ansichten kreisen zwar um das Problem der menschlichen Existenz und könnten deshalb existenzialistisch oder existenzphilosophisch genannt werden. Eine solche Bezeichnung wäre aber sehr irreführend, da sie kaum etwas mit Existenzphilosophie zu tun haben. Es wäre passender, einen deskriptiven Begriff zu wählen, um deutlich zu machen, dass meine Ansichten im radikalen Humanismus verwurzelt sind.) Wenn die Existenz der Essenz vorausgeht, was bedeutet dann auf den Menschen hin gesehen Existenz? Die Antwort kann nur heißen, dass die Existenz des [XII-033] Menschen von den physiologischen und anatomischen Merkmalen determiniert wird, die für alle Menschen seit dem Auftauchen aus dem Tierreich charakteristisch sind; ansonsten bleibt „Existenz“ ein abstrakter und leerer Begriff. Charakterisiert der biologische Widerspruch jedoch nicht nur die physische Existenz des Menschen, sondern resultieren aus ihm auch psychische Widersprüche, die nach Lösungen verlangen, dann ist Sartres Äußerung, dass der Mensch nur das sei, was er aus sich selbst macht (vgl. J.-P. Sartre, 1957), unhaltbar. Was der Mensch aus sich macht und was er wünschen kann, sind die verschiedenen Möglichkeiten, die sich aus seinem Wesen ergeben, und dieses Wesen ist nichts anderes als sein existenziell-biologischer und psychischer Widerspruch. Die Existenzphilosophie definiert aber Existenz nicht in diesem Sinne; sie bleibt deshalb gerade wegen der abstrakten Natur ihres Existenzbegriffs in einer voluntaristischen Position gefangen.
Der von mir skizzierte Begriff spezifisch menschlicher Leidenschaften ist dialektisch; er versteht psychische Phänomene als das Ergebnis widerstreitender Kräfte. Meines Erachtens empfiehlt er sich,
- weil er die unhistorische Vorstellung einer definierten Substanz oder Qualität als Wesen des Menschen vermeidet;
- weil er den Irrtum eines abstrakten Voluntarismus vermeidet, bei dem der Mensch ausschließlich durch Verantwortlichkeit und Freiheit charakterisiert wird;
- weil er das Verständnis der Natur des Menschen auf die empirische Basis seiner biologischen Konstitution als Mensch stellt und nicht nur erklärt, was er mit dem Tier gemeinsam hat, sondern dialektisch begreift, welche widersprüchlichen Kräfte freigesetzt werden, wenn der Mensch seine animalische Existenz transzendiert;
- weil er hilfreich ist, um die Leidenschaften und Strebungen zu erklären, die den Menschen motivieren, und zwar seine ganz archaischen wie seine hochentwickelten.
Die dem Menschen innewohnende Widersprüchlichkeit ist die Grundlage für seine leidenschaftlichen Strebungen; welche von ihnen aktiviert und im Charaktersystem einer Gesellschaft oder eines Einzelnen dominant wird, hängt weitgehend von der Gesellschaftsstruktur ab, die mit ihrer besonderen Lebenspraxis, ihren Lehren, Verboten und Sanktionen eine selektive Funktion im Hinblick auf die verschiedenen möglichen Triebe hat.
Die Annahme von Leidenschaften und Trieben[5], die spezifisch menschlich sind, weil sie durch die existenzielle Widerspruchssituation des Menschen hervorgebracht werden, schließt nicht die Existenz von Trieben aus, die in der Physiologie des Menschen wurzeln und die er mit allen Tieren teilt, wie das Bedürfnis zu essen, zu trinken, zu schlafen und – bis zu einem gewissen Grad, um das Überleben der Rasse zu sichern – sein sexueller Trieb. Sie gehören zu dem physiologisch bedingten Bedürfnis nach Überleben und sind, trotz eines gewissen Grads von Gestaltbarkeit, unbeliebig.
Der wesentliche Unterschied zur klassischen Theorie ist darin zu sehen, dass Freud versuchte, alle menschlichen Leidenschaften als in physiologischen oder biologischen [XII-034] Bedürfnissen wurzelnd zu verstehen, und geistreiche theoretische Konstruktionen erfand, um diese Position aufrechtzuerhalten. Im hier vorgestellten theoretischen Rahmenwerk sind die mächtigsten menschlichen Triebe nicht jene nach physischem Überleben, zumindest solange das Überleben nicht bedroht ist; die mächtigsten Triebe sind vielmehr jene, mit denen der Mensch eine Lösung auf seine existenzielle Widerspruchssituation zu finden sucht – ein Ziel für sein Leben, das seine Energie in eine Richtung lenkt, mit dem er sich als ein Organismus, der das Überleben sucht, selbst transzendiert und das seinem Leben Bedeutung gibt. Alle klinischen und historischen Erfahrungen zeigen, dass dort, wo der Mensch nur seine biologischen Bedürfnisse verfolgt und befriedigt, er unbefriedigt bleibt und eine Neigung zu ernsten Störungen entwickelt.
Die Triebe können regressiv, archaisch und selbst-destruktiv sein, oder sie können dem Menschen zu seiner vollen Entfaltung verhelfen und eine Einheit mit der Welt unter der Bedingung von Freiheit und Integrität herstellen. In diesem günstigen Fall sind seine das Überleben transzendierenden Bedürfnisse keine Ausgeburt von Unlust und „Mangel“, sondern das Ergebnis seines Reichtums an Möglichkeiten, die ihn leidenschaftlich danach streben lassen, sich in die Objekte, die ihnen entsprechen, zu ergießen. Ein solcher Mensch wünscht zu lieben, weil er ein Herz hat; er denkt gerne, weil er ein Gehirn hat; er möchte berühren, weil er eine Haut hat. Der Mensch braucht die Welt, weil er ohne sie nicht sein kann. Im Vollzug des Bezogenseins auf die Welt wird er eins mit seinen „Objekten“, und die Objekte hören auf, Objekte zu sein.[6] Dieses tätige Bezogensein auf die Welt bedeutet Sein; seinen Körper, Besitz, Status, sein Image usw. zu pflegen und zu nähren, bedeutet Haben oder Gebrauchen.
Aus der Untersuchung der Existenzweise des Habens bzw. des Seins ergeben sich zentrale Fragen einer dialektischen Revision der Triebtheorie der Psychoanalyse. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den Begriff des Ego als Kennzeichnung des Subjekts beim „Haben“ und „Gebrauchen“ und des Selbst als Kennzeichnung des Subjekts beim „Sein“; ferner ergeben sich wichtige Einsichten aus der Untersuchung der Kategorien von Aktivität und Passivität und des Angezogenseins vom Lebendigen bzw. des Toten. – Eine Revision der klassischen Triebtheorie bezüglich der prägenitalen Sexualität habe ich in Psychoanalyse und Ethik (1947a, GA II, S. 41°f.) vorgenommen.[7] Der zentrale Punkt dieser Revision betrifft die These, dass der „orale“ und „anale“ Charakter nicht das Ergebnis einer oralen und analen Erregung sind, sondern [diese Charaktere] die besondere Art von Bezogensein zur Welt manifestieren und eine Antwort auf die „psychische Atmosphäre“ in Familie und Gesellschaft darstellen.
Hinsichtlich zweier Leidenschaften, Aggression und Eros, bedarf es einer besonders gründlichen Revision der Theorie. Indem Freud und die meisten anderen psychoanalytischen Autoren nicht zwischen qualitativ verschiedenen Arten von Aggressivität unterschieden – zum Beispiel zwischen einer reaktiven Aggression, die die vitalen Interessen verteidigt, einer sadistischen Leidenschaft nach Allmacht und absoluter Kontrolle und einer nekrophilen Destruktivität, die sich direkt gegen das Leben [XII-035] selbst richtet –, blockierten sie sich selbst den Weg, um deren Entstehung und Dynamik im einzelnen zu verstehen. Neue Theorien zu den verschiedenen Formen menschlicher Aggressivität sind nicht nur wissenschaftlich gerechtfertigt, sondern werden in einer Welt dringend benötigt, die ernsthaft in Gefahr ist, mit der von ihr hervorgebrachten Aggressivität nicht mehr fertig zu werden.[8]
In den letzten Jahren wurde eine Hypothese, die ich zuerst in Die Seele des Menschen (1964a, GA II, S. 179-185) vorgestellt habe, durch viele klinische Beobachtungen, die ich und andere (vor allem Michael Maccoby) machten, bestätigt. Ich vertrete die Auffassung, dass die zwei wichtigsten Kräfte, die den Menschen motivieren, die Biophilie, die Liebe zum Leben, und die Nekrophilie, die Liebe zum Toten, zum Verfall usw., sind. Der biophile Mensch liebt das Leben und bringt alles, was er berührt, auch sich selbst, zum Leben. Der nekrophile Mensch verwandelt wie König Midas alles in etwas Totes, Lebloses, Mechanisches. Nichts anderes als die jeweilige Stärke von Biophilie und Nekrophilie bestimmt die gesamte Charakterstruktur eines Menschen oder einer Gruppe. Diese Auffassung stellt eine Revision von Freuds [Theorie des] Lebens- und Todestriebs auf der Basis klinischer Beobachtungen dar. Im Unterschied zu Freud sehe ich in den zwei Tendenzen keine biologisch gegebenen Kräfte, die in jeder Zelle vorhanden sind; vielmehr ist für mich die Nekrophilie eine pathologische Entwicklung, die eintritt, wenn aus einer Reihe von Gründen eine biophile Entwicklung blockiert oder die Biophilie zerstört wird. Die weitere Erforschung von Biophilie und Nekrophilie stellt eine wichtige Aufgabe für die dialektische Revision der Psychoanalyse dar.
Die Revision von Freuds Verständnis der Liebe ist an die Überprüfung seiner Vorstellung von Libido und Eros geknüpft. Freud hat die Anziehungskraft zwischen Mann und Frau nicht als das primäre Phänomen angesehen, das dem sexuellen Wunsch zugrunde liegt, weil er das sexuelle Verlangen als von rein chemischen Prozessen und Spannungen, die eine Entspannung fordern, hervorgebracht sah. Neben seinem Angezogensein von dieser physiologischen Erklärung gibt es vermutlich noch einen anderen Grund, warum Freud die Polarität von Mann und Frau nicht als ursprüngliches Phänomen ansehen konnte: Polarität bedeutet Gleichberechtigung (wenn auch zugleich Unterschiedlichkeit), aber Freuds streng patriarchale Einstellung machte es ihm unmöglich, in Begriffen einer Gleichberechtigung von Mann und Frau zu denken. Freuds Auffassung von Sexualität schloss den Eros nicht mit ein; er betrachtete den Sexualtrieb beim Mann als von innerchemischen Prozessen hervorgebracht, während er die Frau als das geeignete Objekt für diesen Trieb ansah.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass Freud seine Auffassung hätte ändern können, als er seine Theorie vom Eros, der gegen den Todestrieb gerichtet ist, entwickelte. Er hätte vorschlagen können, dass Eros – wie in Platons Mythos – die spezifische Anziehungskraft zwischen Mann und Frau sei, dass Mann und Frau ursprünglich vereint gewesen seien und nach ihrer Trennung nach einem neuen Einswerden verlangten. Eine solche Auffassung hätte auch den großen theoretischen Vorteil gehabt, dass der Eros auch die Anforderungen, die nach Freud an einen Trieb zu stellen sind, nämlich seine Tendenz, auf einen früheren Zustand zurückkehren zu wollen, erfüllt hätte. Aber Freud lehnte es ab, sich in diese Richtung auf den Weg zu machen – meines Erachtens [XII-036] wiederum deshalb, weil eine solche Auffassung bedeutet hätte, die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu akzeptieren.
Freuds theoretische Schwierigkeit bezüglich des Problems von Eros und Liebe war beträchtlich. Ähnlich wie er in seinem Frühwerk die Aggression noch nicht als ursprünglichen Trieb betrachtete, auch wenn er sie niemals gänzlich vernachlässigte, sah er die Liebe nur als Epiphänomen an, als „ziel-gehemmte“ Sexualität. Ihr Substrat war die Sexualität, verstanden ganz im Geist seines „physiologisierenden“ Bezugsrahmens. Freuds ursprüngliche Auffassung von Sexualität und sein späterer Begriff von Eros lassen sich tatsächlich nicht miteinander vereinbaren. Sie entstammen völlig verschiedenen Voraussetzungen: Der Eros lässt sich ebenso wenig wie der Todestrieb auf eine besondere erogene Zone hin lokalisieren; er wird nicht durch innere, chemisch hervorgebrachte Spannungen und die Notwendigkeit zur Ent-Spannung reguliert; anders als die Libido ist er nicht der Entwicklung unterworfen, sondern wird als wesentlich gleichbleibende Qualität verstanden, die allem Leben eigen ist; schließlich entspricht er nicht den Anforderungen, die Freud an einen Trieb stellt: Ich habe bereits auf Freuds Eingeständnis hingewiesen, dass der Eros nicht die konservative Natur besitzt, die Freud einmal als für einen Trieb wesentlich annahm. Otto Fenichel (1953, S. 364°f.) hat hinsichtlich des Todestriebs auf das gleiche Problem hingewiesen.
Freud schenkte den grundsätzlichen Unterschieden zwischen den beiden Triebkonzepten keine Aufmerksamkeit, ja vielleicht war er sich der Unterschiede nicht einmal ganz bewusst. Er versuchte, die alte Triebtheorie an die neue in der Weise anzupassen, dass der Todestrieb an die Stelle des Aggressionstriebs trat und der Eros den Platz der Sexualität einnahm. Doch lässt sich unschwer die Schwierigkeit erkennen, die er bei diesem Bemühen hatte. In der Neuen Folge der Vorlesungen spricht er von den „Sexualtrieben, im weitesten Sinn verstanden“ und fügt hinzu, dass sie auch „Eros“ genannt werden, „wenn Sie diese Benennung vorziehen“ (S. Freud, 1933a, S. 110). In Das Ich und das Es identifiziert er den Eros mit dem Sexualtrieb und dem Selbsterhaltungstrieb (vgl. S. Freud, 1923b, S. 268°f.). In Jenseits des Lustprinzips bringt Freud nahe, dass „sich uns der Sexualtrieb zum Eros“ gewandelt habe, „der die Teile der lebenden Substanz zueinander zu drängen und zusammenzuhalten sucht, und die gemeinhin so genannten Sexualtriebe erschienen als der dem Objekt zugewandte Anteil dieses Eros“ (S. Freud, 1920g, S. 66). In seinem letzten Werk, in Abriss der Psychoanalyse, behauptet Freud, die Libido sei ein „Exponent“ des Eros (während er früher vom Eros als verwandelter Libido sprach), „die sich ja in der landläufigen Auffassung, wenn auch nicht in unserer Theorie, mit dem Eros deckt“ (S. Freud, 1940a, S. 73; Hervorhebung durch mich).
Ich bin der Überzeugung, dass eine „Psychoanalyse der Theorien“ von Freuds Vorstellungen über Sexualität und Liebe zeigen kann, dass sein eigenes Denken zu einer neuen Wertschätzung der Liebe führte, und zwar der Liebe sowohl als ursprünglicher Kraft des Lebens wie in ihrer besonderen Bedeutung als Anziehung zwischen Mann und Frau. Unter der Theorie, wie er sie zum Ausdruck brachte, war eine Auffassung verborgen, in der die Liebe zum Leben, die Liebe zwischen Mann und Frau, die Liebe zum Mitmenschen und die Liebe zur Natur nur als verschiedene Aspekte ein und [XII-037] desselben Phänomens begriffen wurden. Mag sein, dass sich Freud dieser neuen Auffassungen nicht ganz bewusst war; sie offenbaren ihr Vorhandensein auch nur in bestimmten Inkonsequenzen, überraschenden, jedoch isolierten Behauptungen usw. Das innere Schwanken Freuds sollen die folgenden Äußerungen beispielhaft veranschaulichen: In Das Unbehagen in der Kultur bemerkt Freud zum Gebot „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“: „Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann?“ (S. Freud, 1930a, S. 469.) In seinem Brief an Einstein Warum Krieg? schrieb er:
Alles, was Gefühlsbindungen unter Menschen herstellt, muss dem Krieg entgegenwirken. (...) Die Psychoanalyse braucht sich nicht zu schämen, wenn sie hier von Liebe spricht, denn die Religion sagt dasselbe: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. (S. Freud, 1933b, S. 23.)
Eine Annahme [wie die, dass es bei Freud unterschwellig eine neue Wertschätzung der Liebe gab] bleibt eine Frage der Deutung und Vermutung; sie kann nicht „bewiesen“ werden, und doch können zu ihren Gunsten Belege angeführt werden, die die Möglichkeit nahelegen, dass es in Freuds eigenem Denken einen tiefen Konflikt gab. Da ihm dieser niemals ganz bewusst wurde, war er einfach genötigt, ihn zu leugnen und zu behaupten, dass es keinen Widerspruch zwischen seiner Auffassung der Sexualität und der neuen Theorie vom Eros gibt. Wie immer man auch diese Deutung bewerten mag, ich bin davon überzeugt, dass eine dialektische Revision die Widersprüche zwischen Freuds früheren und späteren Theorien erforschen und nach neuen Lösungen suchen sollte, auf die Freud zum Teil wohl selber gekommen wäre, wenn er länger gelebt hätte.[9]
3. Die Revision der Theorie des Unbewussten und der Verdrängung
a) Das Unbewusste und die Verdrängung der Sexualität
Freuds zentrale Entdeckung war die des Unbewussten und der Verdrängung. Er verband diese zentrale Einsicht mit seiner Libidotheorie und nahm an, dass das Unbewusste der Sitz der triebhaften sexuellen Wünsche sei (später machte er geltend, dass auch Teile des Ichs und des Über-Ichs unbewusst seien). Leider begünstigte diese Verknüpfung eine Entwicklung, die das psychoanalytische Denken in die Enge führte.
Dies zeigte sich zuerst darin, dass das gesamte Interesse auf den sexuellen Inhalt, den genitalen und den prägenitalen, gerichtet und der einzig interessante Aspekt des Unbewussten die verdrängte Sexualität war. Wie man auch die Verdienste der Libidotheorie einschätzen mag, Freud schuf mit ihr ein Instrument zur Selbsterkenntnis, das sich weit über den sexuellen Rahmen hinaus in alle Bereiche des Unbewussten ausdehnte. Ich, der Mensch, bin gierig, ängstlich, narzisstisch, sadistisch, masochistisch, destruktiv, unehrlich usw.; mein Bewusstsein von all diesen Eigenschaften ist aber verdrängt. Konzentriere ich mein ganzes Interesse auf meine verdrängten sexuellen und erotischen Strebungen, dann kann ich mit dieser Art Analyse ganz gut leben, vor allem wenn ich glaube, dass Sexualität – genitale und prägenitale – gut ist und weder verdrängt noch unterdrückt werden sollte. Ich habe dann nicht die schmerzvolle Aufgabe, jene Seite von mir wahrnehmen zu müssen, die nicht mit meinem bewussten Selbstbild übereinstimmt.
Wird die große Freudsche Entdeckung des Unbewussten und Verdrängten auf die Libido begrenzt, verliert sie viel von ihrem in Wirklichkeit kritischen und demaskierenden Charakter. Sie eignet sich dann vor allem als Werkzeug, um andere zu analysieren, jene nämlich, die sich noch nicht von ihren sexuellen Tabus befreit haben. Aber sie hört auf, ein Werkzeug zu sein, mit dem man sich selbst erkennen und verändern kann.
Diese Art von Psychoanalyse kann nicht damit abgetan werden, dass man sie Therapie nennt, die in den Bereich des Klinikers gehört. Es stimmt zwar, dass es auch technische Aspekte der Therapie gibt, aber das Phänomen selbst, das Verstehen meines eigenen Unbewussten und seine Unversöhnlichkeit mit dem Bild, das ich bewusst [XII-039] von mir selbst habe, ist genau die Entdeckung, die der Psychoanalyse ihre Bedeutung gibt, ein radikaler Schritt zur Selbstentdeckung des Menschen und zu einer neuen Weise von Aufrichtigkeit zu sein. Leider ist es Mode geworden, den Begriff der Verdrängung ausschließlich auf die Sexualität anzuwenden und zu glauben, dass das Nichtvorhandensein von verdrängten sexuellen Wünschen bedeute, dass das Unbewusste bewusst gemacht worden sei.
Das Fehlen verdrängter sexueller Wünsche bedeutet beileibe nicht, dass das Unbewusste bewusst gemacht worden ist, wie jene gesellschaftlichen Gruppen eindeutig beweisen, in denen die Sexualität in all ihren Formen frei praktiziert und erlebt wird, und zwar ohne die Last der überkommenen Schuldgefühle. Dies ist denn auch eine der bemerkenswertesten Veränderungen in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft. Dabei ist besonders auffällig, dass dieses freie Erleben von Sexualität ohne Schuldgefühle nicht nur bei den radikalen politischen Gruppierungen der jungen Generation zu finden ist. Man findet es ebenso bei den unpolitischen Hippies und unter den nicht politisch engagierten Jugendlichen der Mittelklasse Nordamerikas und Westeuropas sowie in bestimmten Kreisen von Erwachsenen des wohlhabenden Mittelstandes. Es hat den Anschein, dass die sexuelle Befreiungsbewegung, deren begabtester Verfechter Wilhelm Reich war, alle Gruppierungen der Konsumgesellschaft erreicht, allerdings ohne zu den politischen Konsequenzen zu führen, auf die Reich hoffte.
Es ist jedoch wichtig, die Qualität des sexuellen Erlebens zu verstehen. Großenteils wurde die sexuelle Befriedigung zu einem Konsumartikel, so dass auf sie auch die Eigentümlichkeiten aller sonstigen Konsumgewohnheiten zutreffen: Sie ist weitgehend Ausdruck von Langeweile, verborgener Depression und Angst; der Akt der Befriedigung selbst ist flach und oberflächlich.
Mir fällt auf, dass die sexuelle Motivation bei der radikalen jüngeren Generation oft irgendwie von den theoretischen Überlegungen bei Freud und Reich beeinflusst ist. Wenn sexuelle Befriedigung zu einem Heilmittel wird, um von all seinen „Komplexen“ loszukommen, dann kann sie zwanghaft werden, vor allem, wenn sie zum Beispiel mit einer ängstlichen Selbstprüfung hinsichtlich eines „richtigen“ Orgasmus gekoppelt ist. Auch wenn theoretisch viel zugunsten von Gruppensex gesagt werden kann, etwa, dass er Besitzansprüche, Eifersuchtsgefühle usw. überwindet, so unterscheidet er sich doch zumeist weniger von dem konventionellen bürgerlichen außerehelichen Sexualleben (einschließlich Voyeurismus und Exhibitionismus), als jene, die ihn praktizieren, glauben. Dies gilt insbesondere deshalb, weil wegen des schnell erlahmenden Interesses am gleichen Partner immer neue und verschiedene Sexualpartner gebraucht werden.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (ePUB)
- 9783959120906
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (Oktober)
- Schlagworte
- Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Unbewusstes Verdrängung Sexualität