Zusammenfassung
Fromm hatte die Gabe, mit Hilfe von ein paar Stichworten frei und fast druckreif sprechen zu können. Und er konnte komplizierte Sachverhalte in einfachen, erlebnisnahen Worten zur Darstellung bringen. Die hier versammelten Vorträge und Interviews können über das Erich Fromm Institut Tübingen (fromm-estate@fromm-online.com) auch auf CD erworben werden.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Über die Liebe zum Leben. Rundfunksendungen
- Inhalt
- Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft
- 1. Der passive Mensch
- 2. Die moderne Langeweile
- 3. Die produzierten Bedürfnisse
- 4. Die Krise der patriarchalen Ordnung
- 5. Das Fiasko der Religion
- 6. Wider die Grenzen des menschlichen Wachstums
- Über die Ursprünge der Aggression
- Der Traum ist die Sprache des universalen Menschen
- Einführung in H. J. Schultz „Psychologie für Nichtpsychologen“
- 1. Vormoderne und moderne Psychologie
- 2. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds
- a) Verdrängung
- b) Widerstand
- c) Übertragung
- 3. Die Weiterentwicklung der Psychoanalyse
- Im Namen des Lebens. Ein Porträt im Gespräch mit Hans Jürgen Schultz
- Hitler – wer war er und was heißt Widerstand gegen diesen Menschen? Interview mit Hans Jürgen Schultz
- Die Aktualität der prophetischen Schriften
- Wer ist der Mensch?
- Literaturverzeichnis
- Der Autor
- Der Herausgeber
- Impressum
Über die Ursprünge der Aggression
(1983c [1971])[4]
Dass man sich heute mit dem Problem der Aggression[5] immer mehr beschäftigt, braucht einen kaum zu wundern: Wir haben Kriege hinter uns, wir erleben Kriege in der Gegenwart, und wir fürchten uns vor einem Atomkrieg, für den sich alle Großmächte rüsten. Gleichzeitig fühlen sich die Menschen ohnmächtig, daran etwas zu ändern. Sie sehen, dass die Regierungen scheinbar bei aller Weisheit und allem guten Willen es noch nicht einmal zustande bringen, das atomare Wettrüsten zu verringern oder zu stabilisieren. Und so ist es verständlich, dass die Menschen auf der einen Seite gerne wissen möchten, woher denn die Aggression kommt, und dass sie auf der anderen Seite aber auch sehr empfänglich sind für Theorien, die besagen, dass die Aggression gar nicht von den Menschen selbst geschaffen wird, dass sie auch nicht in den sozialen Bedingungen begründet liegt, sondern in der Natur des Menschen. Gerade diese Position wurde sehr populär durch ein Buch von Konrad Lorenz, das vor einigen Jahren erschienen ist: Das sogenannte Böse – Zur Naturgeschichte der Aggression (K. Lorenz, 1963). Lorenz behauptet, dass Aggression ständig und spontan im Menschen erzeugt wird, und zwar in seinem Gehirn, dass sie ein Erbe unserer tierischen Ahnen ist und dass diese Aggression immer mehr steigt, immer größer wird, wenn sie kein Ventil hat. Gibt es einen Anlass, dann drückt sie sich aus; sind die Anlässe aber sehr schwach oder gibt es keine, dann explodiert zum Schluss diese akkumulierte Aggression. Der Mensch kann gar nicht anders, als nach einiger Zeit aggressive Akte zu begehen, weil die aggressive Energie sich in ihm so angehäuft hat. Diese Theorie kann man eine „hydraulische Theorie“ nennen: Je mehr der Druck steigt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass schließlich das Wasser oder der Dampf explodiert. Lorenz hat ein ganz hübsches Beispiel gegeben, mit dem er diese Theorie illustriert, die Geschichte von seiner Tante in Wien. Diese Dame hat jedes halbe Jahr ein neues Dienstmädchen angestellt; das war noch in den alten Zeiten. Und wenn das Dienstmädchen kam, dann war sie immer ganz begeistert und hatte die größten Erwartungen. Das dauerte ein, zwei Wochen, dann schwand langsam die Begeisterung. Schließlich wurde sie kritisch, unzufrieden, und nach ungefähr sechs Monaten wurde sie so wütend auf das Dienstmädchen, dass sie ihm gekündigt hat. Das spielte sich mehr oder weniger regelmäßig alle sechs Monate ab. Dieses Beispiel soll zeigen, wie die [XI-350] Aggression langsam akkumuliert und wie sie sich dann an einem bestimmten Punkt entladen muss.
Von außen gesehen sieht das vielleicht so aus. Aber wenn man etwas mehr vom Menschen versteht als Lorenz – er versteht sehr viel von Tieren –, dann weiß man, dass das keine sehr gute Erklärung ist. Ein Psychoanalytiker – und nicht nur er, sondern die meisten Menschen mit ein bisschen Einsicht – wird annehmen, dass diese Tante eine sehr narzisstische, ausbeuterische Frau ist, die gerne möchte, dass, wenn sie schon ein Dienstmädchen mietet, sie mit dem Gehalt oder Lohn nicht nur acht Stunden Arbeit kauft, sondern die Liebe, die Treue, die Anhänglichkeit, die Freundlichkeit und fünfzehn Stunden Arbeit am Tag. So kommt sie immer mit dieser großen Erwartung dem neuen Mädchen entgegen, ist wohl am Anfang auch etwas nett und verführerisch zu ihr, weil sie schon im Voraus annimmt, das wird die Richtige sein. Aber bei näherem Zusehen ist das Dienstmädchen durchaus nicht die Person, die ihren Erwartungen entspricht. So wird sie immer enttäuschter, wird wütender, wirft sie in der Hoffnung hinaus, dass sie das nächste Mal die Richtige finden wird. Da sie außerdem wahrscheinlich nicht viel zu tun hat, gibt das ihrem Leben etwas Dramatik. Und sie hat etwas zu erzählen; wahrscheinlich ist es der Hauptgesprächsstoff, über den sie mit ihren Freundinnen reden kann. Das alles hat also gar nichts mit aufgestauter Aggressivität zu tun, sondern mit einer ganz bestimmten Charakterstruktur. Ich bin sicher, zumindest die Älteren von Ihnen kennen eine ganze Reihe von Menschen, die sich – ob es nun noch Dienstmädchen gibt oder nicht – im entsprechenden Fall genauso verhalten würden.
Die Theorie vom angeborenen Aggressionstrieb, auf deren Einzelheiten ich hier nicht eingehen kann, steht in einer gewissen Nähe zur älteren Theorie vom Todestrieb. Seit den zwanziger Jahren nahm Freud an, dass es in jedem Menschen, in allen Zellen, in aller lebendigen Substanz zwei Triebe gibt: den Trieb zum Leben und den Trieb zum Sterben. Und dieser Trieb zum Sterben – oder, genauer gesprochen, zum Tode – äußert sich darin, dass er entweder nach außen gewendet wird, dann erscheint er als Destruktivität, oder nach innen, dann erscheint er als selbstzerstörerische Kraft, die zu Krankheit, zu Selbstmord oder, wenn vermischt mit sexuellen Impulsen, zu Masochismus führt. Der Todestrieb ist etwas dem Menschen Angeborenes; er ist nicht bedingt von Umständen, er wird durch nichts erzeugt, sondern der Mensch hat eigentlich nur die Wahl, diesen Vernichtungs- und Todestrieb gegen sich selber oder gegen andere zu wenden. Und damit hat er eine recht tragische Wahl zu treffen.
Tatsächlich sind diese Theorien von der angeborenen Aggressivität seit vielen Jahren bei den verschiedenen von diesem Problem betroffenen Wissenschaftlern kaum belegt. Im Ganzen wird in der Psychologie angenommen, dass die Aggressivität bedingt ist durch soziale Verhältnisse, oder „gelenkt“ wird durch ganz bestimmte Reize, durch die Kultur usw., eben durch viele Umstände. Aber gerade in der öffentlichen Meinung hat die Aggressionstheorie von Lorenz eine große Popularität gefunden – ich glaube, aus den Gründen, die ich vorhin erwähnt habe. Sie gibt eine Erklärung, die einen darüber hinwegtäuscht, dass man vielleicht etwas tun könnte. Sie bietet so etwas wie eine gute Entschuldigung an: Alle diese Gefahren und alle diese Aggressionen sind eben doch dem Menschen angeboren. Und was kann der Mensch schon gegen seine Natur machen? [XI-351]
Es hat schon immer zwei Meinungen gegeben. Die eine sagt: Der Mensch ist von Natur aus böse, destruktiv. Darum ist der Krieg unvermeidlich und darum sind auch strenge Autoritäten unvermeidlich. Also muss man den Menschen kontrollieren, muss man ihn vor seiner eigenen Aggressivität schützen. Und es gab die andere Idee: Der Mensch ist gut von Natur aus, er ist nur schlecht durch soziale Umstände. Ändert man die Umstände, dann kann man das Böse im Menschen, die Aggressivität des Menschen reduzieren oder sogar ganz aus der Welt schaffen. Beide Meinungen enthalten einseitige Übertreibungen. Diejenigen, die von der natürlichen und angeborenen Aggressivität des Menschen sprechen, sind geneigt zu übersehen, dass es ja sehr viele gesellschaftliche Epochen, sehr viele Kulturen und sehr viele Individuen gibt, bei denen die Aggressivität äußerst gering ist. Wäre die Aggression aber angeboren, dann dürfte das nicht so sein. Auf der anderen Seite aber waren die Optimisten, die gegen Krieg, für Frieden, für soziale Gerechtigkeit waren, oft geneigt, die Bedeutung, die Stärke der menschlichen Aggressivität wenn nicht zu verleugnen, so doch zum mindesten zu unterschätzen. Das war die Meinung der Philosophen der Aufklärung in Frankreich, und diese optimistische Meinung kann man sogar noch etwas im Werk von Karl Marx und im Glauben der frühen Sozialisten sehen.
Ich selbst nehme hier eine dritte Position ein, auch wenn sie der zweiten näher steht als der ersten. In erster Linie gehe ich davon aus, dass der Mensch viel destruktiver, viel grausamer ist als das Tier. Das Tier ist nicht sadistisch, das Tier ist nicht lebensfeindlich; aber die menschliche Geschichte ist ein Bericht unvorstellbarer Grausamkeiten und außerordentlicher Destruktivität. Von diesem Standpunkt aus ist es nicht nötig, die Stärke, die Intensität der Aggressivität zu verkleinern. Doch ich glaube nicht, dass die Wurzeln dieser Aggressivität im Tierischen liegen, weder in den Instinkten noch in unserer tierischen Vergangenheit. Vielmehr hat die menschliche Aggressivität, insofern sie größer ist als die des Tieres, ihre Begründung in den spezifischen Bedingungen der menschlichen Existenz. Die Aggressivität ist böse, die Destruktivität ist böse – und zwar nicht, wie Lorenz meint, nur „sogenannt“ böse –, aber sie ist menschlich. Sie ist eine Möglichkeit, die im Menschen, in uns allen angelegt ist und die sich manifestiert, wenn der Mensch sich nicht in einer besseren, reiferen Weise entwickelt.
Die menschliche „Extra-Aggression“, das heißt also die Aggression, die beim Menschen größer ist als beim Tier, liegt im menschlichen Charakter begründet. Ich meine hier Charakter nicht im juristischen Sinn, sondern Charakter im psychoanalytischen Sinn als ein System der Bezogenheiten des Menschen zur Welt.[6] Unter Charakter verstehe ich etwas, wodurch der Mensch sich einen Ersatz für die tierischen Instinkte geschaffen hat, die bei ihm nur sehr schwach entwickelt sind. Was ich hier vom Charakter sage, mag vielleicht etwas theoretisch klingen; aber wenn Sie sich nach Ihren eigenen Erfahrungen fragen, dann bin ich sicher, dass viele von Ihnen genau wissen, was man mit Charakter in diesem Sinne meint. Sicher haben Sie Menschen gesehen, von denen Sie sagen, sie haben einen sadistischen Charakter. Sie haben aber auch andere getroffen, die Sie als „gütige Menschen“ bezeichnen. Damit meinen Sie ja nicht, dass der Mann einmal sadistisch gehandelt hat oder dass der Mann einmal recht freundlich gewesen ist, sondern Sie beziehen sich auf eine Charaktereigenschaft, die sein ganzes Leben durchzieht. Es gibt sadistische Menschen, die nie sadistisch handeln, weil die [XI-352] Gelegenheit nicht da ist. Und nur die sehr feine Beobachtung kann tatsächlich kleine sadistische Handlungen feststellen. Und es gibt Charaktere, die ihrer Anlage nach nicht zerstörerisch sind, und doch können solche Menschen im Anfall der Wut oder Verzweiflung einmal jemanden totschießen; damit werden sie aber noch nicht zu zerstörerischen Charakteren.
Geht man davon aus, dass das Böse menschlich, also in der Existenz des Menschen begründet ist und nicht in seiner tierischen Vergangenheit, dann vermeidet man auch ein logisches Paradoxon, dem die Instinkt-Theoretiker schwer entgehen können. Sie versuchen nämlich, die größere Aggressivität des Menschen aus der kleineren Aggressivität des Tieres zu erklären. Wie sollte denn das sein? Man kann doch nicht annehmen, dass das, was der Mensch vom Tier ererbt hat, dazu führt, dass er viel aggressiver und destruktiver ist als das Tier. Man muss doch logischerweise annehmen, dass das, worin er sich verschieden verhält vom Tier, nämlich in der größeren Grausamkeit, etwas ist, was er nicht vom Tier hat und das deshalb in den Bedingungen der menschlichen Existenz begründet liegt.
Nun aber zunächst zur tierischen Aggressivität. Die tierische Aggressivität ist biologisch angepasst: Sie dient der Selbsterhaltung des Individuums und der Gattung beim Tier und wird mobilisiert, wenn vitale Interessen des Tieres von außen bedroht sind, wenn also eine Bedrohung seines Lebens, seiner Nahrung, seiner Beziehungen zu andersgeschlechtlichen Tieren, seines Territoriums usw. einsetzt. Liegt diese Bedrohung vor, dann reagiert das Tier – und auch der Mensch – mit Aggressivität oder mit Flucht, mit Davonlaufen. Besteht diese Bedrohung nicht, dann wird auch keine Aggressivität mobilisiert. Die Aggressivität ist also im Gehirn vorhanden als ein Mechanismus, der ständig als Möglichkeit stimuliert werden kann, der aber, wenn kein besonderer Reiz, kein besonderer Anlass vorliegt, sich nicht aufspeichert und nicht zu Handlungen drängt, der also nicht dem „hydraulischen“ Modell entspricht. Das ist zum ersten Mal sehr klar von dem Neurophysiologen [W. R.] Hess (1954) betont worden, der gezeigt hat, welche Zentren oder welche Bereiche im Gehirn Aggressivität erzeugen, wenn die entsprechenden Reize vorliegen, weil eine Bedrohung von vitalen Interessen diese Zentren mobilisiert.
Hiervon verschieden ist die Aggressivität des Raubtieres: Dieses greift ja nicht an, weil es sich bedroht fühlt; es greift an, weil es seine Nahrung sucht. Auch neurophysiologisch ist die Aggressivität des Raubtieres in anderen Zentren, in anderen Bereichen des Gehirns verankert als die defensive Aggressivität des Tieres. Überhaupt muss man sagen, dass Tiere im Allgemeinen recht wenig aggressiv sind, außer in den Fällen, in denen sie bedroht sind. Es gibt wenig Blutvergießen unter Tieren, selbst wenn sie kämpfen. Beobachtungen bei Schimpansen, Mantelpavianen und anderen Primaten zeigen, wie außerordentlich friedlich in Wirklichkeit das soziale Leben dieser Primaten ist. Man kann wohl sagen: Wenn die Menschheit das Maß an Aggressivität hätte, das die Schimpansen zeigen, dann bräuchten wir uns um Krieg und Aggression gar keine Sorgen machen. Dasselbe sieht man bei Wölfen. Der Wolf ist ein Raubtier. Wenn er ein Schaf angreift, ist er natürlich aggressiv. Aber die Menschen haben sich vom Wolf das Bild gemacht, dass er ein ungeheuer aggressives Tier ist. Man verwechselt dabei seine Aggressivität, wenn er sich Futter sucht, mit seiner Aggressivität, [XI-353] wenn er sich kein Futter sucht. Die Wölfe unter sich sind recht unaggressiv, recht freundlich. Deshalb ist es ungerecht, die Aggressivität unter den Menschen mit der unter den Wölfen zu beschreiben, wenn man sagt: es verhalte sich ein Mensch zum anderen, wie sich ein Wolf zum anderen Wolf verhält (homo homini lupus). Man könnte allenfalls sagen, wie ein Wolf zum Schaf, aber nicht wie ein Wolf zum Wolf.
Wir sehen also, dass die tierische Aggressivität nicht dem hydraulischen Modell folgt. Solange das Tier nicht bedroht ist, gibt es auch keine sich steigernde, ständig anwachsende Aggressivität, die schließlich zur Explosion führt. Man kann auch sagen: Die Aggressivität des Menschen ist eine im Gehirn biologisch angelegte Möglichkeit, aber sie ist keine Notwendigkeit. Sie wird nicht manifest, wenn sie nicht durch bestimmte, der Lebenserhaltung dienende Umstände aktiviert wird. Gegenüber der behavioristischen These, dass die Aggressivität nur erlernt sei, ist festzuhalten, dass der Mensch nur durch Umstände aggressiv wird. Aber so einfach ist es eben nun auch nicht; denn wenn er die Aggressivität nur lernen müsste durch Umstände, dann könnte sie weder so rasch noch so intensiv mobilisiert werden, wie das der Fall ist und wie es auch tatsächlich sein muss. Es ist eben so, dass die Aggressivität biologisch als Anlage, als Möglichkeit da ist, die sehr schnell mobilisiert werden kann, weil all die neurophysiologischen Mechanismen da sind und funktionieren, aber erst mobilisiert werden müssen und nicht ohne diese Mobilisation wirken. Um dies mit einem einfachen Beispiel zu erklären: Wenn ein Mensch zur Verteidigung in der Nacht einen Revolver neben sich am Bett hat oder am Tage in seinem Schreibtisch, dann heißt das ja nicht, dass dieser Mensch nun ständig schießen will. Aber es heißt, dass er im Fall einer Gefahr den Revolver benutzt. Genauso ist unsere Gehirnphysiologie angelegt. Der Revolver liegt in unserem Gehirn sozusagen bereit als Möglichkeit zur raschen Reaktion auf Angriffe. Aber es ist nicht wie in der instinktivistischen Theorie, dass das Vorhandensein dieser Bereitschaft dazu führt, dass der Mensch voller Aggressionen ist, die zum Schluss explodieren müssen.
Schließlich ist mit Hess und den Neurophysiologen festzuhalten, dass das Tier auf Gefahren nicht nur mit Angriffen, sondern mit Flucht reagiert – sogar häufiger mit Flucht als mit Angriff. Der Angriff ist nur die ultima ratio, die eintritt, wenn das Tier nicht mehr fliehen kann; dann greift es an, dann kämpft es.
Wer von einem „aggressiven Instinkt“ beim Menschen spricht, der müsste genauso von einem Fluchtinstinkt beim Menschen sprechen. Und wenn die Anhänger der instinktorientierten Aggressivitäts-Theorie sagen, der Mensch sei ständig von Aggressionen angestachelt und könne sie nur mit großer Mühe kontrollieren, dann wäre es genauso richtig zu sagen, der Mensch sei von einem fast unkontrollierbaren Fluchtimpuls beseelt, den er nur mit großer Mühe kontrollieren könne. Tatsächlich weiß jeder, der Kriege beobachtet hat, wie stark der Fluchtimpuls des Menschen ist. Sonst gäbe es keine Gesetze, nach denen Desertion oft mit dem Tode bestraft wird. Der Mensch hat also zwei von seinem Hirn vorgegebene Möglichkeiten, auf Attacken zu reagieren: mit Angriff oder mit Flucht. Aber beide – der Fluchtimpuls und der Angriffsimpuls – sind untätig, wenn keine Attacke, wenn keine Bedrohung vorliegt. Deshalb erzeugen sie auch keine von alleine ständig wirkende und sich vergrößernde Aggressions- oder Fluchtleidenschaft. [XI-354]
Wir haben gesehen, dass die „hydraulische“ Theorie von der Aggression, wie sie von Lorenz und in gewisser Weise von Freud in der Todestrieb-Theorie vorgetragen wird, nicht haltbar ist. Die neurophysiologischen Befunde zeigen, dass die Aggressivität des Menschen wie des Tieres nicht eine ständig wachsende, spontan vor sich gehende Triebregung ist, sondern mobilisiert wird von Reizen, von Anlässen, die eine Bedrohung der menschlichen oder der tierischen Existenz und ganz bestimmter vitaler Interessen bedeuten. Aber diese „hydraulische“ Theorie ist nicht nur unhaltbar auf Grund der neurophysiologischen Befunde; sie ist auch unhaltbar auf Grund vieler anderer anthropologischer, paläontologischer, psychiatrischer und sozialpsychologischer Befunde. Wäre die hydraulische Theorie richtig, dann müssten wir ja annehmen, dass die Aggressivität im Großen und Ganzen bei allen Individuen und in allen Kulturen und Gesellschaften die Gleiche sei. Wir könnten zwar – wie bei der Intelligenz – verstehen, dass es Unterschiede der Intensität gibt, die jedoch immerhin relativ kleine Unterschiede sind; aber im Großen und Ganzen müssten alle Menschen das gleiche Maß von Aggressivität und destruktiven Impulsen aufzeigen. Das ist in keiner Weise so.
Kommen wir nun zu den anthropologischen Daten. Es gibt eine ganze Reihe von primitiven Stämmen, in denen man überhaupt keine besondere Aggressivität findet, sondern ganz im Gegenteil einen Geist allgemeiner Freundlichkeit. Bei der Beschreibung dieser Stämme findet man eine ganze Reihe von Zügen, die ein Syndrom bilden und deshalb zusammengehören: wenig Aggression (das heißt auch: keine Verbrechen, kaum Mord), ferner kein Privateigentum, keine Ausbeutung und keine Hierarchie. Solche Stämme finden Sie zum Beispiel in Nordamerika bei den sogenannten Pueblo-Indianern; Sie finden Sie aber auch auf der ganzen Welt. Colin M. Turnbull, 1965, hat eine sehr interessante Beschreibung eines Stammes gegeben, dessen Mitglieder nicht wie die Pueblo-Indianer Bauern sind, sondern ganz primitive Jäger: die Pygmäen in Zentralafrika. Sie unterscheiden sich nicht viel von den Jägern vor 30°000 Jahren und leben in einem Urwald. Es gibt kaum Aggression bei ihnen. Natürlich wird auch mal jemand ärgerlich bei ihnen, doch dies ist noch lange kein Grund, die These von ihrer geringen Aggressivität zu bestreiten. Ob jemand einmal ärgerlich wird oder ob er so voller Aggressionen ist, dass er Kriege führen und Menschen umbringen will, sind in der Regel schon zwei ganz verschiedene Sachen. Es muss jemand schon sehr wenig Beobachtungsgabe haben, wenn er keinen Unterschied darin sieht, ob jemand einmal ärgerlich werden kann oder ob er ein destruktiver, hasserfüllter Mensch ist.
Diese Jäger leben im Urwald, sie empfinden den Urwald als ihre Mutter, sie jagen – wie alle Jäger – so viel Tiere, wie sie brauchen, wie sie essen können. Sich etwas aufzubewahren kommt natürlich gar nicht in Frage; denn man kann das Fleisch ja nicht konservieren. Es wird eben gejagt, so wie man es braucht. Es gibt auch keinen großen Überschuss, doch haben sie im Großen und Ganzen genug zu leben. Deshalb gibt es auch kein Privateigentum. Und sie haben keine Führer. Wozu auch? Das Leben ist von den Notwendigkeiten der Situation reguliert, und alle wissen, was man zu tun hat. Wenn Sie so wollen: Es gibt unter diesen Stämmen eine ganz tief sitzende Demokratie; keiner schreibt einem anderen etwas vor. Und es gibt auch keinen Grund dafür, [XI-355] denn er würde gar keinen Vorteil haben, ihm etwas vorzuschreiben. Natürlich gibt es auch keine Ausbeutung. Wozu sollte man denn einen anderen Menschen benutzen? Um zu jagen, damit ich nicht zu jagen brauche? Dann wäre das Leben ja furchtbar langweilig. Und wozu sonst? Es gibt nichts, was er für mich tun kann. Das Familienleben ist friedlich, im Großen und Ganzen herrscht Monogamie mit sehr leichter Scheidung, vor der Ehe gibt es freie Sexualbeziehungen. Die Sexualität ist nicht von Schuldgefühlen begleitet. Sie heiraten gewöhnlich, wenn die Frau schwanger wird, und dann bleiben die beiden Partner für ein Leben lang zusammen, außer wenn sie sich, was nicht so häufig ist, nicht mehr mögen.
Die Menschen haben auch keine Sorgen – obwohl das mit dem Jagen gar nicht so einfach ist; denn manchmal kommen die Tiere nicht, manchmal gibt es schlechte Jahre. Aber sie haben das Zutrauen zum Urwald, dass sie ernährt werden. Sie sind nicht besessen von der Idee, dass man mehr gebrauchen muss, mehr sparen muss, mehr haben muss, weshalb sie auch im Allgemeinen sehr zufrieden sind. Solche Stämme sind eigentlich die wirkliche Überfluss-Gesellschaft – nicht, weil sie so reich sind, sondern weil sie nicht mehr wollen, als sie haben. Und das, was sie haben, genügt, um ein sicheres und auch angenehmes Leben zu führen.
Ich möchte ausdrücklich betonen, wie wichtig es ist, hier immer das System und die Struktur zu sehen, statt einen Zug herauszugreifen. Wenn Sie sich nur fragen, ist dies Aggressivität oder Nicht-Aggressivität, dann ist das sehr schwer zu sagen; lenken Sie den Blick aber auf die Struktur, dann sehen Sie, dass Sie im Ganzen freundliche, nicht miteinander kämpfende, keine eifersüchtigen Menschen vor sich haben und dass der Mangel an Aggressivität ein logischer Teil des gesamten psychischen und auch sozialen Systems ist. Und Sie sehen auch, wie eng das psychische mit dem sozialen System verflochten ist.
Eine der interessantesten Epochen in der menschlichen Geschichte ist die sogenannte „neolithische Revolution“. Sie hat in Kleinasien vor ungefähr 10°000 Jahren mit der Entwicklung des Ackerbaus stattgefunden. Es ist übrigens sehr wahrscheinlich, obwohl man dafür keine Beweise hat, dass die Frauen den Ackerbau entdeckt haben. Sie haben nämlich entdeckt, dass man auch wildes Gras züchten und zu essbarem Weizen oder Korn verbessern kann. Die Männer waren nicht so erfinderisch, sie haben zur gleichen Zeit wahrscheinlich weiter gejagt oder haben sich Schafherden zugelegt und betreut. Mit dem Ackerbau hat man entdeckt, dass man beim Essen nicht nur darauf angewiesen ist, was die Natur von sich aus spendet, sondern dass man selbst schöpferisch in den Naturprozess eingreifen und dass der Mensch mit seiner eigenen Vernunft, mit seiner eigenen Geschicklichkeit etwas erzeugen kann. Das ist, wie gesagt, erst vor kurzer Zeit geschehen. In diesen ersten – sagen wir mal – 4°000 Jahren der neolithischen Revolution finden Sie eine wahrscheinlich höchst friedliche Gesellschaft, vielleicht in vieler Hinsicht ähnlich jener Gesellschaft, die Sie bei den nordamerikanischen Dorfindianern finden. Vermutlich waren sie sogar matriarchalisch organisiert und lebten in kleinen Dörfern. Man hat ein bisschen mehr produziert, als man im Augenblick brauchte. Dadurch war man gesicherter und konnte die Bevölkerung sich vermehren. Aber man hat nicht so viel mehr angesammelt, dass einer auf den anderen neidisch werden konnte, dass man es anderen wegnehmen konnte. In dieser [XI-356] neolithischen Gesellschaft herrschte wahrscheinlich – wie bei den Stämmen, die ich vorhin erwähnt habe – eine sehr genuine demokratische Form des Lebens mit einer sehr viel stärkeren Rolle der Frau und Mutter. Erst später wurde die Gesellschaft patriarchalisch organisiert. Das beginnt so um 4°000 bis 3°000 vor Christus – in einer Zeit, in der alles sich ändert. Man produziert sehr viel mehr als man verbraucht; man hat Sklaven; die Arbeitsteilung wird größer; man hat Armeen, man hat Regierungen, man führt Krieg. Und plötzlich entdeckt der Mensch, dass man andere Menschen dazu benutzen kann, für einen selbst zu arbeiten. Es bildet sich eine Hierarchie mit einem König an der Spitze, der zunächst einmal der Stellvertreter Gottes und oft mit dem Hohenpriester identisch ist. In dieser Situation entwickelt sich dann sehr viel Aggressivität; denn nun kann man rauben, wegnehmen, ausbeuten. Die natürliche Demokratie hat einer Hierarchie, in der jeder gehorcht, Platz gemacht.
An diesem Punkt darf ich vielleicht eine Bemerkung über die Ursache des Krieges machen. Von den Vertretern der Instinkttheorie wird sehr oft gesagt, dass der Krieg seine Ursache in den aggressiven Instinkten des Menschen habe. Das ist nicht nur naiv, sondern auch falsch. Denn erstens wissen wir, dass die meisten Kriege erst dadurch zustande kommen, dass die Regierungen ihren Bevölkerungen einreden, dass sie angegriffen werden, dass sie deshalb ihre heiligsten Werte verteidigen müssen: ihr Leben, die Freiheit, die Demokratie und was nicht alles. Hat die Kriegsbegeisterung ein paar Wochen gedauert, dann ist sie meistens schon vorbei und man muss den Menschen Strafe androhen, damit sie noch weitermachen. Wäre der Mensch aber von Natur aus so aggressiv, dass der Krieg tatsächlich die Erfüllung seiner aggressiven Instinkte wäre, dann hätten die Regierungen das gar nicht nötig, ganz im Gegenteil; sie müssten ständig Friedenspropaganda machen, damit die Menschen nicht den Krieg herbeisehnen, um ein Ventil für ihre Aggressivität zu haben. Eben dies ist aber – wie wir alle wissen – nicht der Fall. Man kann sogar sehr genau sagen, dass der Krieg als Institution wohl erst in der Zeit nach der neolithischen Revolution angefangen hat oder, wenn Sie so wollen, erfunden worden ist. Dies war zu einer Zeit, als die Stadtstaaten sich gebildet haben mit Armeen, mit Königen und also auch mit der Möglichkeit, Krieg zu führen, Sklaven zu bekommen, Schätze zu rauben usw. Organisierten Krieg gab es unter den Jägern und unter den primitiven Ackerbauern nicht, weil dazu keine Möglichkeit bestand.
In diesem Zusammenhang interessiert die Tatsache, dass wir bei einer ganzen Reihe von primitiven Stämmen ein System von großem Mangel an Aggressivität und von einer weitgehenden Freundlichkeit und Kooperation finden. Wenn das so ist, dann lässt sich allerdings die hydraulische Instinkttheorie der Aggressivität nicht aufrechterhalten. Wir finden darüber hinaus, dass sogar innerhalb einer Gesellschaft das Maß an Aggression sich sehr wandelt. Nehmen Sie als Beispiel Deutschland zu Beginn der dreißiger Jahre: Das Zentrum des Nazi-Erfolges lag zu einem ganz wesentlichen Teil im alten Kleinbürgertum oder in den Offiziers- und Studentenkreisen, die aus ihrer Karriere gerissen waren, aber es lag gefühlsmäßig nicht im Bürgertum oder im Großbürgertum. Ich will damit nicht sagen, dass sich diese Schichten nicht dem Nazi-System gefügt haben; aber die begeisterten Nazis kamen nicht aus diesen Schichten und ganz gewiss nicht aus der Arbeiterklasse; da waren überzeugte Nazis, wie wir alle [XI-357] wissen, eher eine Ausnahme, obwohl auch die überzeugten Anti-Nazis unter den Arbeitern eine Ausnahme waren.[7]
Die gleiche Beobachtung lässt sich in den Südstaaten Amerikas machen. Bei den armen Weißen im Süden gibt es ein ungeheures Maß an Aggressivität, viel größer als im Mittelbürgertum im Süden und größer auch als in der Arbeiterklasse im Süden oder auch im amerikanischen Osten. Immer sind es jene Schichten, die an der untersten Stufe, am Boden der sozialen Pyramide stehen, die vom Leben wenig Genuss haben, die ungebildet sind, die sehen, dass sie langsam aus dem gesamten gesellschaftlichen Prozess verdrängt werden, die keine Anregung, keine Interessen haben und in denen sich eine ungemeine Wut aufspeichert, ein Sadismus, der sich in Menschen, die etwas schaffen, die sich im Mittelpunkt wähnen oder zumindest nicht vom gesellschaftlichen Prozess abgedrängt fühlen, nicht bildet. Letztere haben Interessen, sie haben das Gefühl, dass sie mit dem Rest der Gesellschaft marschieren. Deshalb gibt es in diesen Schichten nicht das gleiche Maß an Sadismus und Aggressivität, wie zum Beispiel im alten Kleinbürgertum in Deutschland oder auch in gewissen Teilen von Amerika.
Unterschiede hinsichtlich der Aggressivität gibt es auch bei Individuen. Da kommt etwa jemand zu einem Psychiater und sagt: „Herr Doktor, ich hasse jeden Menschen. Ich hasse meine Frau, ich hasse meine Kinder, ich hasse meine Kollegen, ich hasse alle.“ Für den Psychiater hat er damit eine Diagnose ausgesprochen, und ich hoffe, für die meisten Menschen auch: Dass er nämlich krank ist. Man sagt nicht: „Na ja, das ist ja ganz klar: Der Aggressionstrieb ist hier tätig“, sondern man sagt, dass der Mensch einen Charakter hat, der so ist, dass er ständig Aggressivität erzeugt. Es lässt sich fragen: Wie ist denn der Mensch so geworden? Was sind die sozialen Umstände, was ist die Familiengeschichte, welche Erlebnisse hat der Mann gehabt, um zu verstehen, warum sich in der Charakterstruktur dieses Menschen eine so starke Aggressivität entwickelt hat. Aber man sagt nicht, wie das die Instinkttheoretiker tun, wenn sie über den Krieg reden: „Ja, da kann man nichts machen; da zeigt sich eben nur wieder die Stärke der angeborenen Aggressivität.“
Jeder von uns kennt aggressive Menschen – und mit aggressiven Menschen meine ich jetzt nicht jene, die leicht aufbrausen, sondern zerstörerische, feindselige, sadistische Menschen. Und jeder kennt freundliche Menschen, die ihn – nicht nur oberflächlich, sondern in der Tiefe – als menschenfreundlich, als nicht-aggressiv anmuten, ohne deshalb schwach oder unterwürfig zu sein. Wenn einer diesen Unterschied nicht merkt, dann ist er im Leben schlecht dran, und viele Menschen sind schlecht dran, weil sie es nicht merken. Aber die meisten Menschen, die einigermaßen fähig sind zu beobachten, wissen genau, dass es diesen charakterologischen Unterschied gibt.
Wir müssen uns jetzt einmal etwas genauer fragen, wie es denn mit der spezifisch menschlichen Aggression steht. Wir haben bisher nur darüber gesprochen, warum sie nicht dem hydraulischen Bild folgt. Prinzipiell kann man zwischen zwei Arten der Aggressivität beim Menschen unterscheiden, einer biologisch angepassten, defensiven, die dieselbe ist wie beim Tier, und einer, die man beim Tier nicht findet, einer spezifisch menschlichen Aggression, näherhin der menschlichen Grausamkeit einerseits [XI-358] und der menschlichen Lebensfeindlichkeit, des Hasses gegen das Leben, also der Nekrophilie (auf die ich hier nicht eingehen kann) andererseits.[8]
Bleiben wir zunächst einmal bei der ersten Art, bei der biologisch angepassten Aggressivität des Menschen, die die gleiche ist wie beim Tier. Wir haben gesehen: Das Tier reagiert auf Grund seiner neurophysiologischen Organisation, die dieselbe ist wie beim Menschen, mit Aggression, wenn seine vitalen Interessen bedroht sind. So tut es auch der Mensch. Aber beim Menschen ist diese Reaktion, diese reaktive oder defensive Aggressivität viel umfangreicher, und zwar hauptsächlich aus drei Gründen: Zum einen erlebt das Tier Bedrohung nur in der Gegenwart. Es erlebt nur: „In diesem Augenblick bin ich bedroht.“ Der Mensch kann sich, weil er denken kann, die Zukunft vorstellen. Und deshalb kann der Mensch auch eine Bedrohung erleben, die erst in der Zukunft auf ihn trifft. Der Mensch reagiert also aggressiv nicht nur auf die im Moment bestehende Bedrohung, sondern auf die in der Zukunft liegende Bedrohung. Natürlich gibt das der reaktiven Aggression einen viel größeren Umfang und ist die Zahl der Situationen, in denen eine Bedrohung in der Zukunft vorliegt und die Zahl der Menschen, die eine solche spüren, recht groß.
Zum anderen ist die reaktive Aggression beim Menschen umfangreicher, weil man dem Menschen etwas suggerieren kann, dem Tier nicht. Man kann dem Menschen einreden, dass sein Leben, seine Freiheit bedroht ist. Dazu braucht man Worte, dazu braucht man Symbole. Dem Tier kann man nicht das „Gehirn waschen“, weil es dazu an den Symbolen, an den Worten fehlt. Redet man dem Menschen ein, er sei bedroht, dann ist seine subjektive Reaktion genau dieselbe, wie wenn er wirklich bedroht wäre; es macht ja gar keinen Unterschied für seine Reaktionen, dass er nur glaubt, er sei bedroht. Ich brauche nicht weiter darüber zu reden, in wie vielen Fällen Kriege dadurch möglich wurden, dass man Menschen eingeredet hat, sie seien bedroht. Damit hat man jene Aggressivität geschaffen, die man braucht, um die Menschen in den Krieg zu treiben.
Schließlich gibt es einen dritten Grund: Der Mensch hat spezielle vitale Interessen, die darin gründen, dass er Werte hat, Ideale, Institutionen, mit denen er sich identifiziert, so dass ein Angriff auf diese Ideale, auf die Personen, die für ihn lebenswichtig sind, auf die Institutionen, die für ihn heilig sind, dieselbe Bedeutung haben kann wie ein Angriff auf sein Leben, auf seine Nahrung. Das kann die Idee der Freiheit, die Idee der Ehre sein, das können die Eltern, der Vater, die Mutter, die Ahnen in gewissen Kulturen, der Staat, die Fahne, die Regierung, die Religion, Gott sein. All diese Werte, Institutionen oder Ideale sind für ihn so lebenswichtig wie sein körperliches Leben. Wenn sie bedroht sind, dann reagiert er mit Feindseligkeit.
Nimmt man diese drei Faktoren zusammen, dann versteht man, dass schon die defensive Feindseligkeit des Menschen, obwohl sie auf demselben Mechanismus beruht wie die defensive Feindseligkeit des Tieres, sehr viel größer ist, weil es viel mehr Bedrohungen gibt oder weil mehr Dinge als Bedrohung erlebt werden, als das beim Tier der Fall sein kann.
Der Mensch teilt mit dem Tier die biologisch angepasste, defensive Aggressivität, die der Verteidigung seiner vitalen Interessen gegen Angriffe dient. Darüber hinaus gibt es beim Menschen aber Formen der Aggressivität, die wir beim Tier nicht kennen, die [XI-359] biologisch nicht angepasst sind und die nicht der Verteidigung dienen, sondern die in seinem Charakter wurzeln. Warum ein Mensch einen solchen aggressionsträchtigen Charakter entwickelt, ist eine komplizierte Frage, auf die ich hier nicht eingehen kann.[9] Dennoch gibt es diesen aggressionsträchtigen Charakter, und zwar ausschließlich beim Menschen. Ich möchte hier nur auf eine Erscheinungsweise, auf den sadistischen Charakter eingehen.
Häufig versteht man unter Sadismus nur die sexuelle Perversion: etwa dass die sexuelle Erregung eines Mannes davon abhängt, dass er eine Frau schlagen oder misshandeln kann. Dann aber versteht man unter Sadismus die Leidenschaft oder den Wunsch, einen anderen Menschen körperlich zu verletzen. Das Wesen des Sadismus liegt jedoch darin, dass ein Mensch Kontrolle über ein anderes lebendes Wesen haben will, vollständige, absolute Kontrolle. Das kann ein Tier sein, ein Kind, ein anderer Mensch; immer kommt es darauf an, dass dieses andere lebende Wesen zum Besitz, zum Ding, zum Herrschaftsobjekt des sadistischen Menschen wird.
Wenn jemand einen anderen Menschen dazu zwingen kann, Schmerzen zu ertragen, ohne sich wehren zu können, dann ist das eine extreme Form der Kontrolle, aber es ist nicht die einzige. Sie finden diese Form des Sadismus manchmal unter Lehrern, Sie sehen sie in der Behandlung von Gefangenen usw. Da lässt sich nachspüren, wie diese Form des Sadismus, wenn auch nicht sexuell im engeren Sinne, so doch – sagen wir einmal – eine warme, sinnliche Form des Sadismus ist. Aber das ist nur eine Form. Verbreiteter ist der „kalte Sadismus“, der gar nicht sinnlich ist und schon gar nichts mit Sexualität zu tun hat, der aber die gleiche Eigenart hat wie der sinnliche und der sexuelle Sadismus: Sein Ziel ist die Kontrolle, die Allmacht über einen anderen Menschen, um ihn ganz in die Hand zu bekommen – wie Ton in des Töpfers Hand.
Es gibt sogar gutartige Formen des Sadismus, etwa wenn Mütter oder Chefs einen anderen Menschen kontrollieren, aber nicht zu seinem Nachteil, sondern zu seinem Vorteil. Er sagt ihm, was er tun soll. Alles, was er tun soll, ist ihm vorgeschrieben. Es ist nützlich für ihn, allerdings verliert er seine Freiheit und wird vollkommen unselbständig. Manchmal finden Sie das in den Beziehungen von Müttern zu Söhnen oder Vätern zu Söhnen. Hier ist sich der sadistische Mensch natürlich auch der kleinsten Regung des Sadismus gänzlich unbewusst, denn er „meint es ja so gut“. Auch das Opfer des Sadismus ist sich dessen nicht bewusst, denn es sieht ja nur, wie es davon profitiert. Es sieht eben nicht, dass seine Seele Schaden nimmt, dass hier ein unterwürfiger, abhängiger, unfreier Mensch entsteht.
Ich möchte Ihnen zunächst einmal ein Beispiel von einer der extremsten Formen des Sadismus nennen, wo ein Mensch die Leidenschaft der vollkommenen Allmacht hat, wo er omnipotent, wo er Gott sein will. Das ist sehr schön dargestellt in dem Theaterstück Caligula von Camus. Caligula, der römische Kaiser, ein Tyrann, hat unbeschränkte Macht. Er mag zunächst vielleicht gar nicht so verschieden von anderen Menschen gewesen sein. Dann aber kommt er in die Situation zu fühlen, dass er eigentlich außerhalb der normalen Bedingungen der menschlichen Existenz steht; denn seine Macht ist unbeschränkt. So verführt er zunächst einmal die Frauen seiner Freunde. Die Freunde wissen das – nicht nur, dass sie es herausfinden, sondern er [XI-360] macht es ihnen sehr klar. Sie müssen aber kommen, höflich zu ihm sein und ihm schmeicheln. Sie dürfen sich, wenn sie nicht ermordet werden wollen, niemals einfallen lassen, ihren Ärger oder ihren Unwillen auch nur zu zeigen. Sonst bringt er sie um – mal diesen, mal jenen, wie Caligula gerade die Lust packt. Er tut dies nicht, weil er sie nicht mehr sehen will, sondern weil es ein Zeichen seiner Macht, seiner Allmacht ist, dass er umbringen kann, wen er will. Aber auch das befriedigt diesen Wunsch nach Allmacht nicht; denn schließlich ist auch das begrenzt. Und so äußert sich der Wunsch nach Allmacht – wie das Camus sehr schön ausdrückt – in dem symbolischen Wunsch, den Mond zu wollen. Würde er das heute sagen, klänge das vielleicht etwas komisch. Vor ein paar Jahrzehnten war das nur ein Ausdruck für: „Ich will das Unmögliche. Ich will die Macht, die kein Mensch haben kann. Ich bin der Einzige, ich bin Gott. Ich habe Kontrolle über alles und jedes; was ich will, kann ich haben.“
In der Leidenschaft der absoluten Kontrolle versucht der Mensch, die Bedingungen der menschlichen Existenz zu umgehen, zu überschreiten; denn es gehört zur menschlichen Existenz, dass der Mensch keine Allmacht hat. Und sogar wenn er sehr viel Macht hat, zeigt ihm der Tod, wie ohnmächtig er gegenüber der Natur ist. Camus beschreibt eindringlich, wie dieser Caligula zunächst gar nicht so anders ist als andere, bis er verrückt wird. Er wird verrückt, weil er versucht, die Grenzen der menschlichen Existenz zu überschreiten, wie jeder verrückt wird, der das versucht und den Weg nicht mehr zurückfinden kann. Wir sehen hier, dass die Verrücktheit eigentlich keine Krankheit ist, sondern eine bestimmte Weise, das Problem der menschlichen Existenz zu lösen. Der Verrückte verneint die Ohnmacht, die dem Menschen innewohnt und die ihn quält, da er ja in seiner Phantasie keine Grenzen hat. Er verhält sich so, als existiere diese Ohnmacht nicht. Aber da sie doch existiert, muss er seinen Verstand verlieren, wenn er an seinem Ziel festhalten will. Eigentlich ist das keine Krankheit, sondern eine Philosophie, oder, besser gesagt, eine Form der Religion. Die Verrücktheit ist der Versuch, die menschliche Ohnmacht zu verneinen, zu verleugnen, indem man in einer ganz bestimmten Form sich selbst vorspielt, dass es sie nicht gibt.
Es ist zwar richtig, dass man vor 50 Jahren noch geglaubt hat, die Caligulas hätten nur in der römischen Geschichte existiert. Inzwischen haben wir im zwanzigsten Jahrhundert erlebt, dass es eine ganze Reihe von Caligulas gibt – in Europa, in Amerika, in Afrika, überall. Und die Caligulas sind alle nach dem gleichen Maß geschnitten: Sie erleben unbegrenzte Macht und sie kommen nicht mehr los von der Leidenschaft, ihre Existenzprobleme dadurch lösen zu wollen, dass sie die Begrenztheit ihrer Macht leugnen. Wir sehen das sehr klar bei Stalin wie auch bei Hitler. Die Beschränkung der menschlichen Existenz wird ignoriert, und damit tritt eine bestimmte Art von Verrücktheit ein.
Die meisten Menschen müssen sich zum Glück damit begnügen, soweit sie Sadisten sind und Kontrolle wollen, diesen kalten Sadismus in bescheideneren Formen auszuleben, wenn auch in solchen, die ihnen Befriedigung geben. Man weiß, dass Eltern sich sadistisch gegen ihre Kinder benehmen können, indem sie komplette Kontrolle haben wollen. Das ist heute nicht mehr so häufig, weil sich die Kinder das nicht mehr so leicht gefallen lassen, aber vor 20, 30, 40 Jahren war das noch sehr häufig. Ärzte wissen von vielen Fällen, wo Kinder mit recht erheblichen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert [XI-361] werden, die von Schlägen und Misshandlungen der Eltern herrühren. Und das ist nur ein ganz kleiner Prozentsatz der wirklichen sadistischen Misshandlungen, die vorkommen; denn sowohl nach dem Gesetz wie nach dem Brauch können ja Eltern ziemlich alles mit den Kindern machen, was sie wollen, solange sie nur behaupten können, es geschah zum Wohl des Kindes und solange die körperlichen Anzeichen der Misshandlung nicht zu drastisch sind. Über das Maß der Kontrolle und sogar direkt sadistischer Misshandlungen, die von Eltern ausgehen, könnte man Bücher schreiben. Entsprechendes gilt auch für Polizisten, Krankenschwestern, Gefängniswärter etc. Ihre Macht ist nicht die des Caligula, denn sie müssen auch gehorchen; sie sind ganz kleine Leute, die nicht viel zu sagen haben, aber gegenüber den Kindern, gegenüber den Kranken, gegenüber den Gefangenen – da haben sie relativ große Macht. Und so finden Sie eine große Zahl von Sadisten in diesen Berufen. Damit will ich nicht sagen, dass die meisten Lehrer oder Krankenschwestern Sadisten wären, im Gegenteil; es gibt bestimmt eine große Zahl von Menschen, die Lehrer oder Krankenschwestern werden, weil sie einen sehr tiefen Impuls haben zu helfen, weil sie den Menschen gegenüber freundlich eingestellt sind, weil sie die Menschen lieben. Ich spreche aber von denen, bei denen der Impuls entgegengesetzt ist und die sich gewöhnlich nicht bewusst sind, dass jenseits der Rationalisierungen, die sie sich konstruieren, sie in Wirklichkeit von einer Leidenschaft zu kontrollieren getrieben werden.
Sie finden diese Leidenschaft sehr häufig auch bei Bürokraten. Ich will Ihnen ein ganz einfaches Beispiel geben, das Sie sicher selbst schon oft beobachtet haben. Denken Sie mal an den Mann hinter dem Postschalter. Da haben schon fünfzehn Leute gewartet und um sechs Uhr, am Ende der Dienstzeit, warten noch zwei. Genau auf den Schlag sechs macht er den Schalter zu, die zwei Leute, die schon eine halbe Stunde gewartet haben, müssen gehen. Sie können ein ganz leichtes Lächeln um den dünnen Mund sehen, ein leichtes, sadistisches Lächeln. Er genießt es, dass diese zwei Leute nun gehen müssen, dass er die Macht hat, dass sie da umsonst gewartet haben und morgen wiederkommen müssen. Er könnte ja vielleicht noch eine Minute zugeben, aber nein. Das würde der menschenfreundliche Mensch tun, und das tun auch viele in derselben Situation. Der Sadist macht nicht nur Schluss, weil Dienstschluss ist, sondern er genießt es. Und wenn er auch kein großes Gehalt bekommt, so ist dieser sadistische Genuss für ihn auch ein Stück Gehalt, das er nicht missen möchte.
Ich möchte Ihnen noch ein Beispiel geben von einem Sadisten, der viel schlimmere Sachen gemacht hat als nur zu kontrollieren: Heinrich Himmler. Ich lese Ihnen einen kurzen Brief vor, den er an einen höheren SS-Führer, Adalbert Graf Kottulinsky, geschrieben hat:
Lieber Kottulinsky! Sie waren sehr krank und haben stark mit dem Herzen zu tun gehabt. Im Interesse Ihrer Gesundheit lege ich Ihnen für die Dauer von zwei Jahren ein völliges Rauchverbot auf. Nach Ablauf dieser zwei Jahre wollen Sie mir ein ärztliches Gesundheitszeugnis einreichen; danach werde ich entscheiden, ob das Rauchverbot aufgehoben wird oder aufrechterhalten bleibt. Heil Hitler!“ (Zitiert nach H. Heiber, 1968, S. 18).
Das ist Kontrolle, das ist auch Demütigung. Er behandelt diesen erwachsenen Menschen wie einen dummen Schuljungen. Er schreibt ihm in dieser Weise, dass er sich gedemütigt fühlen muss. Er kontrolliert ihn. Er lässt noch nicht einmal den Arzt ihn kontrollieren und ihm sagen, ob er wieder rauchen kann, sondern er wird entscheiden, wann er wieder rauchen kann. [XI-362]
Ein anderer Zug des Bürokraten als Sadisten zeigt sich darin, dass der Bürokrat die Menschen als Dinge ansieht; sie werden zu Sachen, er hat keine Beziehung zu ihnen als Menschen. Wieder ein anderer Zug ist, dass den Sadisten nur der Hilflose reizt, nicht der, der nicht hilflos ist. Der Sadist ist gewöhnlich einem Überlegenen gegenüber feige, aber der, der hilflos ist oder den er hilflos machen kann – wie ein Kind, einen Kranken oder unter bestimmten politischen Umständen einen politischen Gegner –, der reizt seinen Sadismus. Er spürt nicht wie ein normaler Mensch Mitleid und dass man einen hilflosen Menschen nicht auch noch schlägt. Seine Hilflosigkeit reizt ihn vielmehr, weil sie die Basis ist, die vollständige Kontrolle über ihn auszuüben.
Weiterhin ist für den Sadisten im Gewand des Bürokraten eine übertriebene Ordnungsliebe charakteristisch. Ordnung ist alles, Ordnung ist das einzig Sichere, das einzige, was man kontrollieren kann. Menschen, die einen übertriebenen Ordnungssinn haben, haben gewöhnlich Angst vor dem Leben; denn das Leben ist nicht ordentlich; es ist spontan, bringt Überraschungen. Die einzige Sicherheit, die wir haben, ist die des Todes; was aber mit dem Leben geschieht, das ist immer neu. Der Mensch jedoch, der sadistisch ist, der selbst unbezogen ist, für den alles zur Sache wird, dieser Mensch hasst das Lebendige, weil es ihn bedroht, aber er liebt die Ordnung.
Es ist deshalb zum Beispiel für Himmler charakteristisch, dass er zehn Jahre lang ein Tagebuch geführt hat, seit er vierzehn Jahre war – mit den banalsten Einträgen: wie viele Brötchen er gegessen hat, ob der Zug pünktlich war. Alles, jede Kleinigkeit, die er tat, musste rubriziert werden. Oder er führte eine Korrespondenzliste, auch schon als junger Mann, über alle Briefe, die er geschrieben und empfangen hat. Das ist Ordnung. Und so kann man sagen: Das ist die Ordentlichkeit eines bestimmten Typs, des altmodischen Bürokraten, für den das Leben nichts ist, die Ordnung und die Regel aber alles.
Eichmann wurde bei seinem Prozess in Jerusalem von einem sehr menschlichen Psychiater befragt, so dass er sich dabei auch anscheinend ganz frei fühlte, ob er Schuldgefühle habe. Eichmann antwortete: Ja, er habe Schuldgefühle. Und als man ihn fragte, warum er Schuldgefühle habe, sagte er, dass er zweimal als Kind die Schule geschwänzt hatte. Das war gar nicht klug von ihm als Angeklagten in dieser Situation. Wenn er hätte klug sein wollen, hätte er ja sagen können, er habe Schuldgefühle, weil er so viel Juden umgebracht habe. Aber er war ganz aufrichtig, und es war ihm ganz natürlich: Da hat er die Ordnung verletzt. Der Bürokrat kennt nur eine Sünde, wenn man die Ordnung verletzt, wenn man der Regel zuwiderhandelt.
Schließlich ist für den sadistischen Charakter seine Unterwürfigkeit typisch. Man wünscht, den Schwachen zu kontrollieren, aber man hat zu wenig Leben in sich, um ohne die Unterwerfung unter einen Stärkeren leben zu können. Himmler zum Beispiel hat Hitler zum Idol gemacht. Wenn es nicht ein Mensch ist, dem sich der Sadist unterwirft, dann ist es die Geschichte, die Vergangenheit, sind es die Naturmächte, die stärker sind als man selbst. Immer gilt: Ich muss mich ihnen unterwerfen; ich unterwerfe mich der höheren Macht, wie immer die auch heißen mag. Aber die, die schwächer sind, die kontrolliere ich! Das ist das System des bürokratischen Sadisten und des kalten Sadisten im Allgemeinen. [XI-363]
Außerordentlich treffend für das, was ich hier beschrieben habe, ist die Charakterisierung von Himmler durch Carl J. Burckhardt, der zur Zeit, als er Völkerbundskommissar in Danzig war, Himmler so beschrieb:
Er ist unheimlich durch den Grad konzentrierter Subalternität, durch etwas engstirniges Gewissenhaftes, unmenschlich Methodisches, mit einem Element von Automatentum. (Zitiert nach J. Ackermann, 1970, S. 17.)
Das ist die Beschreibung des kalten Sadisten. Nun können Sie fragen: Wäre Himmler denn ganz anders gewesen, wenn er nicht in diese Situation gekommen wäre und wenn es keinen Nationalsozialismus gegeben hätte? Was wäre er denn dann für ein Mensch geworden? Man muss wohl sagen, dass er sehr wahrscheinlich ein beispielhafter Beamter geworden wäre. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass bei seiner Beerdigung der Pfarrer und der Vorgesetzte gesagt hätten: „Er war ein guter Familienvater, der die Kinder liebte und der seine ganze Energie seinem Beruf, seinem Amt, der Organisation gewidmet hat.“ So war Himmler tatsächlich. Man muss sich klarmachen, dass auch der sadistische Mensch irgendwo ein Bedürfnis hat, sich selbst zu beweisen, dass er ein Mensch ist, dass er auch freundlich sein kann. Wenn ein Mensch sich nicht beweisen kann, dass er irgendwo auch menschlich ist, dann ist er nahe am Verrücktwerden, denn dann erlebt er eine Vereinsamung von der gesamten Menschheit, die kaum jemand aushalten kann. Und tatsächlich ist es so, dass nach den Berichten viele Mitglieder der Einsatzkommandos, die die Exekutionen von politischen Gefangenen, Juden und Russen usw. vorgenommen haben, verrückt geworden sind, Selbstmord begangen haben und seelisch erkrankt sind. Einer der Leiter dieser Einsatzkommandos schreibt sogar, dass man den Leuten zeigen musste, wie human und militärisch die Vernichtung der Juden vor sich gegangen ist, nämlich durch Erschießen oder Vergasen, damit sie nicht in ihrem seelischen Gleichgewicht gestört wurden.
Ich glaube, man kann sagen, dass es viele Himmlers gibt, viele Sadisten, die nur deshalb keine manifesten Sadisten werden, weil die Gelegenheit nicht da ist. Aber ich glaube, es wäre ebenso falsch, zu denken, dass in uns allen ein Himmler steckt, dass wir alle die sadistischen Anlagen haben, die eben nur bei bestimmten Gelegenheiten herauskommen. Das ist genau der Punkt, über den ich hier spreche: Es gibt sadistische Charaktere, und es gibt nicht-sadistische Charaktere. Manche Menschen mit einem sadistischen Charakter werden manifeste Sadisten, wenn die Umstände dafür günstig sind. Andere werden keine Sadisten, auch wenn die Umstände günstig sind, weil sie einen anderen Charakter haben. Es ist deshalb sehr wichtig, sich darüber ein Bild zu machen und zu lernen, welche Menschen Sadisten sind und welche Menschen es nicht sind, und sich nicht davon ablenken zu lassen, dass ein Mensch sehr freundlich zu Kindern und zu Tieren ist und dieses oder jenes Gute tut. Erst im Blick auf den Charakter merkt man, was hinter dem Bewusstsein, hinter dem gesamten Verhalten dieses Menschen wirklich steckt, was die Grundzüge seines Charakters und was die mehr oberflächlichen, kompensatorischen Züge sind. Verstünden wir mehr vom Charakter und wären wir nicht so leicht vom manifesten Verhalten der Menschen beeinflussbar, dann wäre das ein sehr großer Gewinn – nicht nur für unser persönliches Leben, sondern auch für die Politik, wo der Mensch, bevor die Katastrophe kommt, sehen sollte, ob Sadisten oder Nicht-Sadisten es sind, die seine politischen Geschicke leiten wollen.
Der Traum ist die Sprache des universalen Menschen
(1972a)[10]
Wir alle glauben, dass wir nur eine Sprache beherrschen. Wir nennen sie unsere Muttersprache. Vielleicht haben wir auch noch einige Fremdsprachen gelernt: Französisch, Englisch, Italienisch. Wir vergessen dabei, dass wir alle noch eine andere Sprache sprechen, nämlich die Sprache der Träume.[11] Diese Sprache ist sehr merkwürdig. Es handelt sich um eine universale Sprache, die zu allen Zeiten in der menschlichen Geschichte und in allen Kulturen vorkam. Die Traumsprache eines Primitiven, die Traumsprache von Pharao in der Bibel, die Traumsprache eines Einwohners von Stuttgart oder von New York ist fast ganz genau dieselbe. Wir sprechen diese Sprache jede Nacht. Obwohl wir meistens vergessen, was wir geträumt haben, und deshalb meinen, wir hätten nicht geträumt, träumen wir doch Nacht für Nacht.
Was sind nun die Eigenarten dieser Traumsprache? Zunächst einmal ist sie eben eine Nachtsprache, eine Schlafsprache. Es ist, als ob wir Französisch nur in der Nacht sprechen könnten und am Tag kein Wort verstünden. Es ist außerdem eine Symbolsprache. Wir können sagen, dass diese Sprache in konkreter Form mit Bezug auf sinnliche, fast greifbare, sehbare Dinge innere Erlebnisse ausdrückt, dass das Äußere für etwas Inneres steht, das Ding für ein Erlebnis. Das ist wie in der Dichtung: Wenn ein Schriftsteller sagt: „Die rote Rose macht mein Herz warm“, dann meint niemand, dass die Temperatur steigt, denn er bezieht sich damit auf ein Gefühl, auf ein Erlebnis, das er ausdrückt in der Form eines konkreten physischen Ablaufes.
Vielleicht erläutert ein Beispiel von einem sehr interessanten Traum, was ich meine. Sigmund Freud hat ihn geträumt und erzählt.[12] Das ist der Traum vom Herbarium; er ist sehr kurz. Freud träumte, dass er ein Herbarium habe, und in dem Herbarium befinde sich eine getrocknete Blume. Das ist alles. Er hat dazu einige Einfälle, und zwar: Diese Blume ist die Lieblingsblume seiner Frau, und seine Frau beklagte sich öfters, dass er ihr nie Blumen bringe. Zugleich aber hat diese Blume etwas zu tun mit dem Kokain, das er fast zur gleichen Zeit wie der Entdecker des Kokains für medizinische Zwecke wahrgenommen hatte. Das ist ein einfaches Symbol: die Blume im Herbarium. Es bedeutet aber sehr viel. Es sagt etwas aus über einen der wesentlichsten Züge in Freuds Persönlichkeit. Die Blume ist ein Symbol der Liebe, auch der Sexualität, des Erotischen, des Lebendigen. Aber die Blume im Herbarium ist eine vertrocknete Blume, die nur [IX-312] noch einen ganz anderen Zweck hat, nämlich den der wissenschaftlichen Inspektion. Sie wird untersucht als Gegenstand der Forschung, aber nicht mehr erlebt als etwas Blühendes, Lebendiges.
Sieht man sich Freuds Haltung zu Liebe und zu Sexualität an, dann bemerkt man tatsächlich: Er hat sie zwar zum Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung gemacht, aber er war im Leben eher ein etwas prüder, scheuer Mann. Noch Anfang der vierziger Jahre schrieb er einmal einem Freunde, wie sehr es ihn überrascht habe, dass er eine Frau sah, die er attraktiv fand. Das ist nur ein Beispiel für die Erlebnishaltung von Freud in einem Alter, in dem die meisten Männer über ein solches Erlebnis nicht so erstaunt wären. Hier haben wir also ein Symbol vor uns, und man findet in diesem kleinen Symbol, das nur weniger Worte bedarf, um beschrieben zu werden, tatsächlich eine Charakterisierung Freuds, über die man viele Seiten schreiben müsste, um das genau wiederzugeben, was dieser kurze Traum in seiner symbolischen Sprache mitzuteilen vermag.
Eine weitere Erkenntnis der Traumsprache ist die, dass wir im Traum viel mehr über andere und über uns wissen, als uns im Wachsein bewusst ist. Wir sind – und ich komme gleich darauf zurück – im Traum zwar in gewisser Weise irrationaler, aber in gewisser Weise auch viel weiser, viel einsichtsvoller als im Wachsein. Das zeigt ja auch das Beispiel von Freud: Er war sich dieses Wesenszuges wohl kaum bewusst, wie man an seiner eigenen Analyse erkennen kann; aber in seinem Traum hat er seine zwiespältige, doppelwertige Stellung zu dem, was die Blume symbolisiert, klar erkannt.
Damit hängt wiederum ein Zug der Traumsprache zusammen, der im Allgemeinen nicht genügend gewürdigt wird, wenn von Träumen gesprochen wird: Die meisten Menschen (ich sage „die meisten“; wir haben jedoch keine Statistik darüber, so sollte ich vielleicht vorsichtiger nur von „vielen Menschen“ oder am besten von der Mehrzahl der Menschen reden, die ich in der analytischen Praxis gesehen habe) sind im Traum in einer Weise kreativ, wie sie sich es im Wachleben überhaupt nicht träumen ließen. Im Traum werden sie zu Schöpfern von Erzählungen, von Gedichten, von Mythen – dieselben Menschen, die im Wachzustand nichts von alledem, auch mit der größten Mühe nicht, zustande bringen würden. Wie viele Träume habe ich gehört, die man wörtlich veröffentlichen könnte und die es aufnehmen würden mit mancher Kurzgeschichte von Kafka. Und doch, wenn derselbe Mensch wach ist, und man wollte ihm sagen: „Ja, schreib doch mal eine Kurzgeschichte wie Kafka“, dann würde er einen ansehen, als ob man nicht bei Trost wäre. Und sicherlich wäre es für ihn unmöglich. Im Traum ist er ein Dichter, ein Künstler, derselbe Mensch, der im Wachsein alle diese Fähigkeiten verloren hat. Ja, man könnte sogar zugespitzt einen schöpferischen Künstler dadurch definieren, dass man sagt: Er ist ein Mensch, der schöpferisch ist, ohne zu schlafen, das heißt, er ist schöpferisch, obwohl er wacht.
Am Tage entspricht der Mensch einer bestimmten Kultur. Was wir am Tage sagen, das hängt sehr davon ab, wo wir geboren sind. Ein Afrikaner, der einem Jägerstamm angehört, spricht über andere Dinge und in anderen Kategorien als unsereiner – das versteht sich von selbst. Was wir sprechen, ist gesellschaftlich bedingt. Im Traum aber sprechen wir eine universale Sprache. Unsere Tagsprache, die wir für unsere Muttersprache oder für eine Fremdsprache halten, ist immer eine gesellschaftlich bedingte [IX-313] Sprache. Die Traumsprache dagegen ist eine universale Sprache, die Menschheitssprache.
Wie erklären wir nun diese Eigenschaft? Zunächst muss ich auf etwas eingehen, was vielleicht kompliziert erscheint, aber in Wirklichkeit doch recht einfach ist, nämlich auf den Unterschied zwischen Wachsein und Schlafen. Wir leben ja in zwei Existenzformen, die uns so selbstverständlich sind, dass wir uns ihrer oft gar nicht bewusst werden: Einen Teil unseres Lebens verbringen wir wachend und einen anderen Teil schlafend. Was heißt das aber: Wir sind wach? Wenn wir wach sind, sind wir in einem Zustand, in dem wir für unser Leben sorgen müssen: Wir müssen arbeiten, wir müssen das erwerben, was wir brauchen, um leben zu können; wir müssen uns verteidigen gegen Angriffe; kurz: Wir müssen „kämpfen und fechten“.
Das hat Folgen für unser Handeln, und es hat Folgen für unser Denken. Für unser Handeln: Wir müssen uns einordnen, wir müssen uns so verhalten, wie es die Gesellschaft, in der wir leben, erwartet, damit wir produzieren, damit wir arbeiten können. Aber – was wichtiger ist – es hat auch einen großen Einfluss auf die Kategorien unseres Denkens und auf unser Fühlen. Am Tage müssen wir die Dinge so sehen, wie wir sie sehen müssen, um sie zu manipulieren, um mit ihnen umzugehen, um sie zu benutzen, um etwas aus ihnen zu machen. Wir müssen uns vernünftig benehmen, und „vernünftig“ heißt, so wie die anderen, so, dass die anderen uns verstehen, aber auch so, dass sie uns mögen und nicht meinen: Das ist ja ein ganz abwegiger oder verrückter Mensch. So denken und fühlen wir, was der „gesunde Menschenverstand“ und das sogenannte „gesunde Gefühl“ uns vorschreiben.
Wir denken und fühlen, dass wir alle unsere Eltern lieben, dass sie und alle anderen Autoritäten das Beste nicht nur wollen, sondern auch das Beste wissen und tun, und was der Dinge mehr sind. Wir fühlen uns glücklich oder heiter, wenn der Anlass es gebietet, und traurig, wenn der Anlass es anders gebietet, obwohl wir in Wirklichkeit manchmal gar nichts fühlen, sondern nur denken, dass wir es fühlen, weil wir ein fröhliches oder ein trauriges Gesicht aufsetzen. Und wir denken nicht, was absurd erscheint, „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“. Das schönste Beispiel dafür kennt man aus Andersens Märchen von den Kleidern des Kaisers: Der Kaiser ist nackt, alle Erwachsenen denken, er hat wunderbare Kleider an, weil man das ja erwartet; nur der kleine Junge sieht, er hat gar keine Kleider an, weil sein Denken noch nicht so geformt ist wie das Wachdenken der meisten Menschen. Wir tun, denken und fühlen, was man von uns erwartet, wenn wir wach sind.
Ich wähle ein anderes Traumbeispiel, welches dasselbe illustriert. Ein Manager hat eine hohe Position in einem Unternehmen; es ist nur ein Direktor über ihm. Und bewusst sagt er: Ja, er steht mit dem Chef sehr gut, er mag ihn gerne, er hat gar keine Schwierigkeiten mit ihm. Dann hat er einen Traum: Er sieht sich gefesselt, mit Telefondraht sind ihm seine Hände zusammengeschnürt, und das Telefon hängt noch an einer Seite herunter. Und er sieht diesen Direktor auf der Erde neben sich liegen, anscheinend schlafend, und er spürt eine ungeheure Wut. Er entdeckt einen Hammer, nimmt ihn mit beiden Händen und versucht, den Kopf des Direktors zu zerschmettern. Er trifft, aber nichts passiert; der Direktor schlägt die Augen auf und lächelt ihn ironisch an.
Während der Mann glaubt, dass er zu seinem Direktor ein gutes Verhältnis hat, gibt uns sein Traum zu erkennen, dass er diesen Vorgesetzten [IX-314] in Wirklichkeit hasst, sich gefesselt, unterdrückt, gebunden fühlt und ihm gegenüber ganz impotent und machtlos ist. Das ist die Wirklichkeit, die er im Traum erlebt. Im Wachsein ist sie – zumindest scheinbar – verschwunden.
Was geht denn im Schlafzustand vor? Wir sind frei. Das ist merkwürdig und klingt vielleicht befremdlich. Aber in gewisser Weise kann man sagen: Nur wenn wir schlafen, sind wir frei, das heißt, da haben wir keine Verantwortung für unseren Lebenskampf, wir brauchen nichts zu erobern, wir brauchen uns nicht zu verteidigen, wir brauchen uns nicht anzupassen, wir denken und fühlen, was wir denken und fühlen. Unser Denken und Fühlen erlangen im Schlaf äußerste Subjektivität. Im Schlaf brauchen wir nichts zu tun, wir brauchen bloß zu sein. Im Schlaf haben wir keine Zwecke. Wir können die Welt so erleben, wie sie uns erscheint, wie wir sie wirklich sehen, und nicht, wie sie uns erscheinen soll, um irgendeinen Zweck zu erfüllen. Anders ausgedrückt: Im Schlaf erscheint das Unbewusste auf der Bühne. Das Unbewusste ist aber gar nichts Mysteriöses; es bedeutet nur: Im Schlaf erscheint das, was wir im Wachsein nicht wissen, als das, was wir wissen, und umgekehrt: Im Wachen wissen wir das nicht, was wir im Schlaf wissen. Man kann sogar sagen: Im Wachen ist das Schlafbewusste unbewusst, und im Schlafen ist das Wachbewusste unbewusst. Es sind zwei verschiedene Ebenen: Die eine ist im Schlafen, die andere im Wachen bewusst oder unbewusst.
Heißt das nun, dass wir im Schlafen irrationaler, triebhafter sind? Manchmal gewiss, aber durchaus nicht immer, nicht einmal in den meisten Fällen, obwohl Freud geglaubt hat, dass der Traum immer das Irrationale gegen das Rationale ausdrückt. Wir haben jedoch, wie gesagt, sehr häufig im Traum eine größere Einsicht, eine größere Weisheit, weil wir unabhängiger sind, weil wir ohne Scheuklappen schauen und empfinden können. Sogar im Schlaf zensieren wir unseren Traum, wagen wir nicht, die Freiheit der Träume anzunehmen, sondern verändern und verdecken den wahren Trauminhalt, wie man das tun würde, wenn man nicht will, dass ein anderer versteht, was man eigentlich meint. In diesem Fall: Man will sich selbst im Schlaf nicht ganz verstehen. Darum pflegen wir den Traum zu vergessen; denn die meisten unserer Träume würden in das Leben des Wachseins nicht hineinpassen; sie würden nur stören und uns irritieren.
Wir sind im Traum schöpferischer. Wir entfalten im Traum Fähigkeiten zur Kreativität, die wir im Wachsein nicht kennen, nicht ahnen. Ich denke zum Beispiel an den Traum eines Mannes, der auch ein erfolgreicher Manager ist. (Die Träume, die ich hier erzähle, stammen übrigens nicht von Patienten von mir, sondern sie sind Studien entnommen, die Manager-Persönlichkeiten gewidmet waren.[13]) Dieser Mann fühlte sich sehr glücklich, weil er erfolgreich war. Und tatsächlich, seinem Einkommen und seinem Einfluss nach muss er sich so fühlen; denn wir fühlen ja meistens das, was wir fühlen sollen. Also dieser Mann fühlt sich auch sehr glücklich – und dann hat er einen Traum. Im ersten Teil dieses Traumes ist er an einem kleinen See. Der See ist schmutzig, es ist dunkel, es ist eine hässliche, unschöne Atmosphäre. Und er erinnert sich – nach dem Traum –, dass dieser See tatsächlich genauso ist wie ein See, in dessen Nähe seine Eltern wohnten. Es ist eine unerfreuliche Erinnerung nicht nur an den See, sondern auch an die Stimmung, an das Traurige und Armselige seiner Kindheit. [IX-315]
In der zweiten Szene sieht er sich in einem der teuersten Automobile auf einer hochmodernen Landstraße einen Berg hinauffahren, mit großer Geschwindigkeit und mit einem Gefühl der Macht und des Erfolgs – und ist glücklich. Und dann kommt noch eine dritte Szene. Sie ereignet sich, nachdem er die höchste Stelle erreicht hat. Plötzlich sieht er sich in einem Pornographieladen. Er ist ganz allein – in dem Auto war er zusammen mit seiner Frau –, kein Mensch ist jetzt da, alles ist staubig und schmutzig, und er fühlt sich vollkommen einsam und verlassen. Dieser Traum sagt uns, was er in Wirklichkeit über sein eigenes Leben, über sein Schicksal fühlt. Ganz einfach ausgedrückt: Als Kind war alles traurig und schmutzig, jetzt bin ich der erfolgreiche Mann, der mit rasender Geschwindigkeit zum Gipfel des Erfolgs fährt; aber zum Schluss, wenn dieser ganze Erfolgsrummel vorbei ist, dann werde ich wieder im selben Schmutz, in derselben Armseligkeit, in derselben Traurigkeit, in derselben Verlassenheit sein wie als Kind. Alles wird vergehen, und ich komme dahin, wo ich hergekommen bin. Dies ist kein Wunsch; es ist eine tiefe Einsicht in die Leere seines Lebens, ausgedrückt in einer schöpferisch-künstlerischen Sprache.
Wir können sagen, dass viele Menschen zum schöpferischen Gestalten imstande wären, aber am Tage sosehr unter dem Druck der Gesellschaft – unter dem, was Heidegger das „Man“ nennt – stehen, dass sie nicht den Mut haben, sie selber zu sein und selbst etwas zu schaffen. In der Tat ein betrüblicher Kommentar zu unserer Gesellschaft, die dem Menschen nicht erlaubt, die schöpferischen Qualitäten, die ihm innewohnen, zu verwirklichen.
Im Traum machen wir uns selbst eine Mitteilung – wie im Talmud (Berachot 55a) zu lesen ist: „Ein ungedeuteter Traum gleicht einem ungelesenen Brief.“ In Wirklichkeit ist das Wort „deuten“ sogar nicht einmal richtig. Man braucht den Traum gar nicht zu deuten – da ist gar nichts zu deuten –, sowenig wie man Chinesisch oder Italienisch deutet, wenn man die Sprache lernt. Es ist eine Sprache, die man lernt, die ihre eigene Grammatik, die ihre eigenen Formen hat, eine Sprache, die das Erleben ausdrückt und die nicht der Beschreibung von „Tatsachen“ dient. Es ist leicht, die Traumsprache zu lernen. Dazu muss man nicht Psychoanalytiker werden, man könnte sie schon in der Schule lernen zur selben Zeit, in der man Fremdsprachen lernt.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Deutsche E-Book Ausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (ePUB)
- 9783959120876
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (September)
- Schlagworte
- Erich Fromm Psychoanalyse Rundfunksendungen Radio Sozialpsychologie