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Über den Ungehorsam und andere Essays

On Disobedience and Other Essays

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Für Erich Fromm ist der Ungehorsam ein zutiefst menschlicher Akt, ohne den es weder Wachstum noch Befreiung und Freiheit gibt. Bereits die biblische Erzählung vom Sündenfall ist als Akt der Befreiung des Menschen zu sich selbst zu verstehen. Autoritäre Systeme jedoch haben schon immer blinden Gehorsam eingefordert und jedes ungehorsame Aufbegehren bekämpft. Heute fordern anonyme Mächte – etwa des Marktes, der Sachzwänge, der Gewinnmaximierung – Gehorsam ein. Angesichts der Bedrohung der Menschheit durch solche Gehorsamsforderungen ist die Frage des Ungehorsams von höchster Aktualität.

In dem kurz nach Fromms Tod veröffentlichten Sammelband "Über den Ungehorsam und andere Essays" wird deutlich, welch eminent politische Bedeutung die Fähigkeit zum Ungehorsam schon immer, aber insbesondere heute hat. Schon die Propheten opponierten gegen die Gehorsamforderungen der Priester. Gegen die Übermacht des Zwangs zur Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche verfolgte Fromm schon seit Mitte der Fünfziger Jahre die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges verfasste Fromm ein politisches Manifest und Programm, das den Menschen wieder zum Maß des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Handelns macht. Auch gegen den Wahnsinn atomarer Hochrüstung hilft nur eine Friedensstrategie bei der der Ungehorsam eine entscheidende Rolle spielt.

So warnt Fromm in dem den Band einleitenden Artikel Der Ungehorsam als ein psychologisches und ethisches Problem: „Die Menschheitsgeschichte begann mit einem Akt des Ungehorsams, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit einem Akt des Gehorsams ihr Ende finden wird.“
Aus dem Inhalt
• Der Ungehorsam als ein psychologisches und ethisches Problem
• Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie
• Propheten und Priester
• Zum Problem einer umfassenden philosophischen Anthropologie
• Den Vorrang hat der Mensch. Ein sozialistisches Manifest und Programm
• Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle
• Gründe für eine einseitige Abrüstung
• Zur Theorie und Strategie des Friedens

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der Ungehorsam als ein psychologisches und ethisches Problem

(Disobedience as a Psychological and Moral Problem)

(1963d)[2]

Jahrhundertelang haben Könige, Priester, Feudalherren, Industrielle und Eltern darauf bestanden, dass Gehorsam eine Tugend und Ungehorsam ein Laster sei. Ich möchte hier[3] einen anderen Standpunkt vertreten und dem entgegenhalten: Die Menschheitsgeschichte begann mit einem Akt des Ungehorsams, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit einem Akt des Gehorsams ihr Ende finden wird.

Nach dem hebräischen und auch nach dem griechischen Mythos steht am Anfang der Menschheitsgeschichte ein Akt des Ungehorsams. Als Adam und Eva noch im Garten Eden lebten, waren sie ein Teil der Natur; sie standen in voller Harmonie mit ihr und transzendierten sie noch nicht. Sie befanden sich in der Natur wie der Embryo im Mutterleib. Sie waren Menschen und gleichzeitig waren sie es noch nicht. All das änderte sich, als sie einem Gebot nicht gehorchten. Dadurch dass der Mensch seine Bindung an die Erde und Mutter löste, dass er die Nabelschnur durchtrennte, tauchte er aus der vormenschlichen Harmonie auf und konnte so den ersten Schritt in die Unabhängigkeit und Freiheit tun. Der Akt des Ungehorsams setzte Adam und Eva frei und öffnete ihnen die Augen. Sie erkannten, dass sie einander fremd waren und dass auch die Außenwelt ihnen fremd, ja sogar feindlich war. Ihr Akt des Ungehorsams zerstörte die primäre Bindung an die Natur und machte sie zu Individuen. Die Erbsünde hat den Menschen keineswegs verdorben, sondern setzte ihn frei; sie war der Anfang der Geschichte. Der Mensch musste den Garten Eden verlassen, um zu lernen, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen und ganz Mensch zu werden.

Die Propheten haben mit ihrer messianischen Vorstellung die Idee bestätigt, dass es richtig gewesen war, nicht zu gehorchen; dass der Mensch durch seine „Sünde“ nicht verdorben, sondern von den Fesseln der vormenschlichen Harmonie befreit wurde. Für die Propheten ist die Geschichte der Ort, wo der Mensch menschlich wird. Im Lauf der Geschichte entwickelt er die Kräfte seiner Vernunft und Liebe, bis er eine neue Harmonie zwischen sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur erzeugt. Diese neue Harmonie wird als „das Ende der Tage“ beschrieben, als jene Geschichtsperiode, in der Friede herrscht zwischen Mensch und Mensch und zwischen [IX-368] Mensch und Natur. Sie ist ein „neues“, vom Menschen selbst geschaffenes Paradies, ein Paradies, das er nur schaffen konnte, weil er wegen seines Ungehorsams gezwungen wurde, das „alte“ Paradies zu verlassen.

Ebenso wie im alttestamentlichen Mythos von Adam und Eva geht auch nach dem griechischen Mythos die gesamte menschliche Zivilisation auf einen Akt des Ungehorsams zurück. Dadurch dass Prometheus den Göttern das Feuer stahl, legte er die Grundlage für die Entwicklung des Menschen. Ohne das „Verbrechen“ des Prometheus gäbe es keine Geschichte der Menschheit. Genau wie Adam und Eva wird auch er für seinen Ungehorsam bestraft. Aber er bereut ihn nicht und bittet nicht um Vergebung. Ganz im Gegenteil sagt er voll Stolz: „Ich möchte lieber an diesen Felsen gekettet als der gehorsame Diener der Götter sein.“

Der Mensch hat sich durch Akte des Ungehorsams weiterentwickelt. Nicht nur, dass seine geistige Entwicklung nur möglich war, weil es Einzelne gab, die es wagten, im Namen ihres Gewissens und Glaubens zu den jeweiligen Machthabern „nein“ zu sagen – auch die intellektuelle Entwicklung hatte die Fähigkeit zum Ungehorsam zur Voraussetzung, zum Ungehorsam gegenüber Autoritäten, die neue Ideen mundtot zu machen suchten, und gegenüber der Autorität lang etablierter Meinungen, die jede Veränderung für Unsinn erklärten.

Wenn auch die Fähigkeit zum Ungehorsam den Anfang der Menschheitsgeschichte darstellte, so könnte doch der Gehorsam sehr wohl deren Ende sein. Ich sage das nicht im symbolischen oder poetischen Sinn. Es besteht die Möglichkeit, ja sogar die Wahrscheinlichkeit, dass die menschliche Rasse in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Zivilisation, ja sämtliches Leben auf der Erde vernichten wird. Hierin wäre weder Vernunft noch Sinn. Tatsache ist, dass wir zwar technisch im Atomzeitalter leben, dass aber die meisten Menschen – einschließlich all derer, die an der Macht sind – emotional noch in der Steinzeit leben. Unsere Mathematik, unsere Astronomie und unsere Naturwissenschaften gehören dem Zwanzigsten Jahrhundert an. Unsere Ideen über die Politik, den Staat und die Gesellschaft sind jedoch weit hinter dem Zeitalter der Naturwissenschaft zurückgeblieben. Wenn die Menschheit Selbstmord begehen wird, dann deshalb, weil die Menschen denen gehorchen werden, die ihnen befehlen, auf den Knopf zu drücken, der die Vernichtung auslöst, weil sie den archaischen Leidenschaften von Angst, Hass und Gier und den veralteten Klischeevorstellungen von der Souveränität des Staates und von der nationalen Ehre gehorchen werden. Die Sowjetführer reden viel von der Revolution, und wir in der „freien Welt“ reden viel von der Freiheit. Aber sie wie wir unterbinden den Mut zum Ungehorsam – in der Sowjetunion ausdrücklich und gewaltsam, in der „freien Welt“ unausgesprochen und mit den raffinierteren Methoden der Überredungskunst.

Mit all dem ist natürlich nicht gesagt, dass jeder Ungehorsam eine Tugend und jeder Gehorsam ein Laster sei. Eine derartige Auffassung würde die dialektische Beziehung außer Acht lassen, die zwischen Gehorsam und Ungehorsam besteht. Immer wenn die Prinzipien, denen man gehorcht und denen man nicht gehorcht, miteinander unvereinbar sind, ist ein Akt des Gehorsams dem einen Prinzip gegenüber notwendigerweise ein Akt des Ungehorsams seinem Widerpart gegenüber und umgekehrt. Das klassische Beispiel für diese Dichotomie bietet uns Antigone. Wenn sie den [IX-369] unmenschlichen Gesetzen des Staates gehorcht hätte, so hätte sie notwendigerweise den Gesetzen der Menschlichkeit nicht gehorcht. Wenn sie letzteren gehorchte, musste sie den ersteren den Gehorsam verweigern. Alle Märtyrer der Religion, der Freiheit und der Wissenschaft mussten denen den Gehorsam verweigern, die sie mundtot zu machen suchten, um ihrem eigenen Gewissen, den Gesetzen der Menschlichkeit und Vernunft folgen zu können. Wenn ein Mensch nur gehorchen und nicht auch den Gehorsam verweigern kann, ist er ein Sklave; wenn er nur ungehorsam sein und nicht auch gehorchen kann, ist er ein Rebell und kein Revolutionär; er handelt dann aus Zorn, aus Enttäuschung und Ressentiment und nicht aus Überzeugung oder Prinzip.

Um jedoch eine Begriffsverwirrung zu vermeiden, müssen wir hier eine wichtige Klärung vornehmen. Jeder Gehorsam gegenüber einer Person, einer Institution oder Macht (heteronomer Gehorsam) ist Unterwerfung; er impliziert, dass ich auf meine Autonomie verzichte und einen fremden Willen oder eine fremde Entscheidung anstelle meiner eigenen akzeptiere. Wenn ich dagegen meiner eigenen Vernunft oder Überzeugung gehorche (autonomer Gehorsam), so ist das kein Akt der Unterwerfung, sondern ein Akt der Bejahung. Meine Überzeugung und mein Urteil sind – sofern sie wirklich die meinen sind – ein Teil von mir. Wenn ich diesen und nicht dem Urteil anderer folge, bin ich wirklich ich selbst. Man kann das Wort „gehorchen“ deshalb nur in einem metaphorischen Sinn und in einem Sinn, der sich von der Bedeutung des „heteronomen Gehorsams“ grundsätzlich unterscheidet, verwenden.

Diese Unterscheidung bedarf noch zwei weiterer Klarstellungen, von denen sich die eine auf das Gewissen und die andere auf den Begriff der Autorität bezieht. Das Wort „Gewissen“ steht für zwei völlig unterschiedliche Erscheinungen: einmal für das „autoritäre Gewissen“, die internalisierte Stimme einer Autorität, die wir zufriedenstellen und keinesfalls verärgern möchten. Dieses autoritäre Gewissen erleben die meisten Menschen, wenn sie „ihrem Gewissen gehorchen“. Es ist dies auch das Gewissen, von dem Freud spricht und das er als „Über-Ich“ bezeichnet. Es repräsentiert die internalisierten Gebote und Verbote des Vaters, die der Sohn aus Angst vor ihm respektiert. Von dem autoritären Gewissen unterscheidet sich das „humanistische Gewissen“, die in jedem Menschen gegenwärtige Stimme, die von äußeren Sanktionen oder Belohnungen unabhängig ist. Das humanistische Gewissen gründet sich auf die Tatsache, dass wir als menschliche Wesen intuitiv wissen, was menschlich und was unmenschlich ist, was das Leben fördert und was es zerstört. Dieses Gewissen hilft uns, als menschliche Wesen zu funktionieren. Es ist die Stimme, die uns zu uns selbst, zu unserer Menschlichkeit zurückruft.

Das autoritäre Gewissen (Über-Ich) ist auch dann immer noch Gehorsam gegenüber einer Macht außerhalb unserer selbst, wenn diese Macht internalisiert ist. Bewusst glaube ich meinem Gewissen zu folgen, tatsächlich aber habe ich die Prinzipien der Macht in mich aufgenommen. Gerade wegen der Illusion, dass das humanistische Gewissen und das Über-Ich identisch seien, ist die internalisierte Autorität soviel wirksamer als die Autorität, von der ich mir bewusst bin, dass sie kein Teil von mir selbst ist. Der Gehorsam gegenüber dem „autoritären Gewissen“ schwächt – wie jeder Gehorsam gegenüber Ideen und Mächten, die von außen an uns herantreten – das [IX-370] „humanistische Gewissen“ und unsere Fähigkeit, wir selbst zu sein und selbständig zu urteilen.

Auch die Behauptung, der Gehorsam einem anderen Menschen gegenüber sei ipso facto Unterwerfung, ist dahingehend zu qualifizieren, dass man zwischen einer „rationalen“ und einer „irrationalen“ Autorität unterscheidet. Ein Beispiel für „rationale Autorität“ ist die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler; ein Beispiel für „irrationale Autorität“ ist die Beziehung zwischen Herr und Sklave. Beide Beziehungen beruhen darauf, dass die Autorität dessen, der die Befehle erteilt, akzeptiert wird. Dynamisch gesehen sind sie jedoch verschiedener Natur. Die Interessen von Lehrer und Schüler liegen (im Idealfall) in der gleichen Richtung. Der Lehrer ist befriedigt, wenn es ihm gelingt, seinen Schüler zu fördern; gelingt es ihm nicht, so haben beide Teile Schuld. Der Sklavenhalter dagegen möchte seinen Sklaven soweit wie möglich ausbeuten. Je mehr er aus ihm herausholt, desto befriedigter ist er. Gleichzeitig versucht aber der Sklave, seinen Anspruch auf ein Minimum an Glück so gut wie möglich zu verteidigen. Die Interessen von Herr und Sklave sind deshalb antagonistisch, weil das, was für den einen von Vorteil ist, dem anderen schadet. Die Überlegenheit des einen über den anderen hat in beiden Fällen eine unterschiedliche Funktion. Im ersten Fall ist sie die Voraussetzung für die Möglichkeit, den der Autorität Unterworfenen zu fördern; im zweiten Fall ist sie die Voraussetzung für seine Ausbeutung. Ein anderer Unterschied läuft diesem parallel: Die „rationale Autorität“ ist deshalb rational, weil die Autorität, ob sie sich nun beim Lehrer befindet oder etwa beim Kapitän eines Schiffes, der in einer Notsituation seine Befehle erteilt, im Namen der Vernunft handelt, die ich – weil sie universal ist – akzeptieren kann, ohne mich zu unterwerfen. Irrationale Autorität muss sich der Gewalt (oder der Suggestion) bedienen, weil sich niemand ausbeuten ließe, wenn es ihm freistünde, es zu verhindern.

Weshalb ist der Mensch so leicht bereit zu gehorchen, und weshalb fällt ihm der Ungehorsam so schwer? Solange man der Macht des Staates, der Kirche, der öffentlichen Meinung gehorcht, fühlt man sich sicher und behütet. Tatsächlich macht es kaum einen Unterschied, welcher Macht man im einzelnen gehorcht. Es handelt sich stets um Institutionen oder um Menschen, die sich auf die eine oder andere Art der Gewalt bedienen – und die arglistig Allwissenheit und Allmacht für sich in Anspruch nehmen. Mein Gehorsam gibt mir Anteil an der Macht, die ich verehre, und daher fühle ich mich stark. Ich kann gar keinen Fehler machen, denn sie trifft ja die Entscheidung für mich; ich kann auch nicht allein sein, denn sie wacht über mich; ich kann keine Sünde begehen, denn sie lässt es nicht zu, und selbst wenn ich trotzdem sündige, läuft meine Strafe doch nur auf die Rückkehr zur allmächtigen Macht hinaus.

Um ungehorsam zu sein, muss man den Mut haben, allein zu sein, zu irren und zu sündigen. Die Fähigkeit zum Mut hängt aber vom Entwicklungsstadium des Betreffenden ab. Nur wenn ein Mensch sich vom Schoß der Mutter und den Geboten des Vaters befreit hat, nur wenn er sich als Individuum ganz entwickelt und dabei die Fähigkeit erworben hat, selbständig zu denken und zu fühlen, nur dann kann er den Mut aufbringen, zu einer Macht nein zu sagen und ungehorsam zu sein.

Ein Mensch kann durch den Akt des Ungehorsams, dadurch dass er einer Macht gegenüber nein sagen lernt, frei werden; aber die Fähigkeit zum Ungehorsam ist nicht [IX-371] nur die Voraussetzung für Freiheit – Freiheit ist auch die Voraussetzung für Ungehorsam. Wenn ich vor der Freiheit Angst habe, kann ich nicht wagen, nein zu sagen, kann ich nicht den Mut aufbringen, ungehorsam zu sein. Tatsächlich sind Freiheit und Fähigkeit zum Ungehorsam nicht voneinander zu trennen. Daher kann auch kein gesellschaftliches, politisches oder religiöses System, das Freiheit proklamiert und Ungehorsam verteufelt, die Wahrheit sprechen.

Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb es so schwer ist, ungehorsam zu sein und zur Macht nein zu sagen. In der Geschichte des Menschen wurde meistens Gehorsam mit Tugend und Ungehorsam mit Sünde gleichgesetzt. Der Grund ist einfach: Bisher hat während des größten Teils der Geschichte eine Minderheit über die Mehrheit geherrscht. Diese Herrschaft war deshalb notwendig, weil von den guten Dingen des Lebens nur für die Wenigen genügend vorhanden war und für die Vielen nur die Brosamen übrigblieben. Wenn die Wenigen die guten Dinge genießen wollten und wenn sie darüber hinaus wollten, dass die Vielen ihnen dienten und für sie arbeiteten, so ging das nur unter der Voraussetzung, dass die Vielen lernten zu gehorchen. Natürlich kann man Gehorsam mit nackter Gewalt erzwingen, doch hat diese Methode viele Nachteile. Sie bringt die ständige Gefahr mit sich, dass die Vielen eines Tages Mittel und Wege finden könnten, die Wenigen in ihre Gewalt zu bekommen; außerdem gibt es viele Arten von Arbeit, die nicht richtig ausgeführt werden können, wenn nur die nackte Angst dem Gehorsam zugrunde liegt. Daher musste der Gehorsam, der lediglich auf der Angst vor der Gewalt beruhte, in einen Gehorsam verwandelt werden, der von Herzen kam. Der Mensch muss gehorchen wollen, ja das Bedürfnis dazu spüren, anstatt nur Angst vor dem Ungehorsam zu haben. Um das zu erreichen, muss die Macht die Qualitäten des Allgütigen, Allweisen und Allwissenden annehmen. Wenn das geschieht, kann die Macht verkünden, dass Ungehorsam Sünde und Gehorsam Tugend sei. Sobald dies einmal verkündet wird, können die Vielen den Gehorsam akzeptieren, weil er etwas Gutes ist, und den Ungehorsam verabscheuen, weil er etwas Schlechtes ist – anstatt sich selbst zu verabscheuen, weil sie Feiglinge sind. Dann wird der Grundsatz aufgestellt, den Martin Luther (1967a, S.192) in die Worte gefasst hat: „Drum soll hier erschlagen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch; (es ist mit ihm) so wie man einen tollen Hund totschlagen muss: schlägst du (ihn) nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir.“ Von Luther bis ins Neunzehnte Jahrhundert hatte man es mit offenen und unverhüllten Autoritäten zu tun. Luther, der Papst, die Fürsten wollten sie erhalten; die Mittelklasse, die Arbeiter, die Philosophen versuchten, sie aus dem Sattel zu heben. Der Kampf gegen die Autorität im Staat wie auch in der Familie war oft geradezu die Basis für die Entwicklung einer unabhängigen und wagemutigen Persönlichkeit. Der Kampf gegen die Autorität war nicht zu trennen von der intellektuellen Stimmung, die für die Philosophen der Aufklärung und für die Naturwissenschaftler kennzeichnend war. Dieser „kritische Geist“ glaubte an die Vernunft und zweifelte gleichzeitig an allem, was gesagt oder gedacht wurde, wenn es sich auf Tradition, Aberglauben, Sitte oder Macht gründete. Die Grundsätze sapere aude und de omnibus est dubitandum („Wage zu wissen!“ und „Zweifle an allem!“) waren [IX-372] charakteristisch für eine Einstellung, welche die Fähigkeit, nein zu sagen, zuließ und förderte.

Wie sieht es heute mit der Autorität aus? In den totalitären Ländern herrscht die offene Autorität des Staates, die sich auf eine Verstärkung des Respekts vor der Autorität in Familie und Schule stützt. Die westlichen Demokratien dagegen sind stolz darauf, das autoritäre System des Neunzehnten Jahrhunderts überwunden zu haben. Aber haben sie das wirklich – oder hat sich dort nur die Eigenart der Autorität geändert?

Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der hierarchisch organisierten Bürokratien in der öffentlichen Verwaltung, der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Diese Bürokratien verwalten Dinge und Menschen in gleicher Weise. Sie folgen dabei gewissen Grundsätzen, vor allem dem wirtschaftlichen Prinzip des Bilanzausgleichs, der Quantifizierung, der maximalen Effizienz und des Profits, und sie funktionieren im wesentlichen nicht anders als ein Computer, der mit diesen Prinzipien gefüttert wurde. Das Individuum wird zu einer Nummer und verwandelt sich in ein Ding. Aber gerade weil es keine offene Autorität gibt, weil der Einzelne nicht „gezwungen“ wird zu gehorchen, kann er sich der Illusion hingeben, er handle freiwillig und folge nur seinem eigenen Willen und Entschluss oder er richte sich nur nach einer „rationalen“ Autorität. Wer könnte wohl dem „Vernünftigen“ den Gehorsam verweigern, wer wollte der Computer-Bürokratie nicht gehorchen, wer kann den Gehorsam verweigern, wenn er nicht einmal merkt, dass er gehorcht? In der Familie und in der Erziehung geschieht dasselbe. Die missverstandenen Theorien von der progressiven Erziehung haben zu einer Erziehungsmethode geführt, bei der dem Kind nicht mehr gesagt wird, was es zu tun hat, wo ihm keine Anordnungen gegeben werden oder wo es nicht mehr bestraft wird, wenn es solche nicht ausführt. Das Kind soll sich selbst „ausdrücken“. Aber es wird ihm von seinen ersten Tagen an ein heilloser Respekt vor der Konformität eingeimpft, die Angst, „anders“ zu sein, und die Furcht, sich von der Herde zu entfernen. Der so in Familie und Schule aufgezogene „Organisationsmensch“, dessen Erziehung dann in den großen Institutionen vervollständigt wird, besitzt Meinungen, aber keine Überzeugungen; er amüsiert sich und ist unglücklich dabei; er ist sogar bereit, sein Leben und das seiner Kinder im freiwilligen Gehorsam gegenüber unpersönlichen und anonymen Mächten zu opfern. Er akzeptiert die Kalkulationen, die man über die voraussichtlichen Todesopfer anstellt, wie sie bei den Diskussionen über einen Atomkrieg üblich geworden sind: die Hälfte der Bevölkerung eines Landes tot – „noch ganz annehmbar“; zwei Drittel tot – „vielleicht gerade nicht mehr“.

Der Fall Eichmann ist symbolisch für unsere Situation und besitzt eine Bedeutung, die weit über das hinausgeht, womit sich seine Ankläger im Jerusalemer Gerichtshof beschäftigten. Eichmann ist der Prototyp des Organisationsmenschen, des entfremdeten Bürokraten, für den Männer, Frauen und Kinder zu bloßen Nummern geworden sind. Er ist ein Symbol für uns alle. Wir können uns selbst in Eichmann wiedererkennen – aber das Allerschrecklichste an ihm ist, dass er sich, nachdem er alles zugegeben hatte, völlig gutgläubig für unschuldig erklären konnte. Es ist klar: Wenn er wieder in die gleiche Situation käme, würde er sich wieder genauso verhalten. Und auch wir würden das – und auch wir tun das! [IX-373]

Der Organisationsmensch hat die Fähigkeit zum Ungehorsam verloren, er merkt nicht einmal mehr, dass er gehorcht. An diesem Punkt der Geschichte könnte möglicherweise allein die Fähigkeit zu zweifeln, zu kritisieren und ungehorsam zu sein, über die Zukunft für die Menschheit oder über das Ende der Zivilisation entscheiden.

Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie

(The Application of Humanist Psychoanalysis to Marx’s Theory)

(1965c)[4]

Marxismus ist Humanismus.[5] Sein Ziel ist die volle Entfaltung aller Möglichkeiten des Menschen: nicht des von seinen Ideen oder von seinem Bewusstsein her bestimmten Menschen, sondern des Menschen mit all seinen körperlichen und seelischen Eigenschaften, des wirklichen Menschen, der nicht in einem Vakuum, sondern im gesellschaftlichen Kontext lebt, des Menschen, der produzieren muss, um leben zu können. Eben die Tatsache, dass es Marx um den ganzen Menschen, und nicht nur um sein Bewusstsein geht, unterscheidet den Marxschen „Materialismus“ von Hegels „Idealismus“ ebenso wie von der ökonomisch-mechanistischen Reduktion des Marxismus. Die große Leistung von Marx bestand darin, dass er die ökonomischen und philosophischen Kategorien, die sich auf den Menschen beziehen, von ihren abstrakten und entfremdeten Ausdrucksformen befreit und so Philosophie und Ökonomie ad hominem bezogen hat. Marx ging es um den Menschen, und sein Ziel war die Befreiung des Menschen von der Vorherrschaft der materiellen Interessen, aus dem Gefängnis, das seine Form der Lebenspraxis um ihn herum errichtet hatte. Wenn man dieses Anliegen von Marx nicht versteht, wird man weder seine Theorie noch deren Verfälschung durch viele begreifen, die sie zu praktizieren behaupten. Auch wenn der Titel des Hauptwerks von Marx Das Kapital lautet, so ist dieses Werk doch nur ein Teil einer umfassenden Theorie, und es sollte dem Kapital eine Geschichte der Philosophie folgen. Marx diente die Analyse des Kapitals dazu, den verkrüppelten Zustand des Menschen in der Industriegesellschaft kritisch zu durchleuchten. Es war nur ein Schritt in dem großen Werk, dessen Titel – wenn er es hätte schreiben können – vielleicht „Mensch und Gesellschaft“ gelautet hätte.

Das Werk von Karl Marx – das des „jungen Marx“ genau wie das des Verfassers von Das Kapital – enthält zahlreiche psychologische Begriffe. Es enthält Begriffe wie „das Wesen des Menschen“ und „der verkrüppelte Mensch“, „Entfremdung“, „Bewusstsein“, „leidenschaftliche Strebungen“ und „Unabhängigkeit“, um nur einige der wichtigsten aufzuzählen. Aber im Gegensatz zu Aristoteles und Spinoza, die ihre Ethik auf eine systematische Psychologie gründeten, enthält das Werk von Marx keine psychologische Theorie. Neben fragmentarischen Bemerkungen zum Beispiel über den Unterschied zwischen „fixen“ Trieben (wie Hunger und Sexualität) und [V-400] solchen, die von der Gesellschaft erzeugt werden, ist in seinen Schriften kaum eine relevante Psychologie zu finden – wie im übrigen auch nicht bei seinen Nachfolgern. Der Grund hierfür ist nicht in einem Mangel an Interesse oder Begabung für die Analyse psychologischer Phänomene zu suchen. (Jene Bände, die den vollständigen Briefwechsel zwischen Marx und Engels enthalten, zeigen sein Talent für eine scharfsinnige Analyse unbewusster Motivationen, die einem jeden begabten Psychoanalytiker Ehre machen würden.) Es liegt vielmehr daran, dass es zu Lebzeiten von Marx noch keine dynamische Psychologie gab, die er auf die Probleme des Menschen hätte anwenden können. Marx ist 1883 gestorben. Freud begann mit der Veröffentlichung seiner Werke erst zehn Jahre nach Marx’ Tod.

Die Psychologie, die Marx zur Ergänzung seiner Analyse gebraucht hätte, hat Freud geschaffen, auch wenn dessen Psychologie noch vieler Revisionen bedurfte. Psychoanalyse ist vor allem eine dynamische Psychologie. Sie befasst sich mit psychischen Kräften, die das Verhalten, das Tun, die Gefühle und Ideen der Menschen motivieren. Diese Kräfte kann man nicht immer als solche erkennen, man muss aus beobachtbaren Phänomenen auf sie schließen und sie in ihren Widersprüchen und Umbildungen analysieren. Um für das marxistische Denken brauchbar zu sein, muss eine Psychologie auch die Evolution dieser psychischen Kräfte als ständigen Interaktionsprozess zwischen den Bedürfnissen des Menschen und der gesellschaftlichen und historischen Realität, an der er teilhat, sehen. Es muss eine Psychologie sein, die bereits vom Ansatz her Sozialpsychologie ist. Schließlich muss es sich noch um eine kritische Psychologie handeln, die besonders dem Bewusstsein des Menschen kritisch gegenübersteht.

Freuds Psychoanalyse erfüllt diese Hauptbedingungen, obgleich weder der größte Teil der Freudianer noch die meisten Marxisten ihre Relevanz für das marxistische Denken erfasst haben. Die Gründe dafür, dass keine Verbindung zustande kam, sind auf beiden Seiten zu suchen. Die Marxisten blieben bei ihrer Tradition, die Psychologie zu ignorieren. Freud und seine Schüler entwickelten ihre Ideen im Rahmen des mechanistischen Materialismus, der sich für die Entwicklung der großen Entdeckungen Freuds als hinderlich und als unvereinbar mit dem „historischen Materialismus“ erwies.

In der Zwischenzeit ist es zu neuen Entwicklungen gekommen. Die wichtigste ist die Erneuerung des marxistischen Humanismus, wovon der vorliegende Band Zeugnis ablegt. Viele marxistische Sozialisten, besonders in den kleineren sozialistischen Ländern, aber auch im Westen, sind sich heute der Tatsache bewusst, dass die marxistische Theorie eine psychologische Theorie des Menschen braucht; außerdem haben sie bemerkt, dass der Sozialismus das Bedürfnis des Menschen nach einem Orientierungssystem und nach einem Objekt seiner Hingabe befriedigen muss; dass er sich mit den Fragen beschäftigen muss, wer der Mensch ist und welchen Sinn und welches Ziel sein Leben hat. Er muss eine Grundlage für ethische Normen und die geistige Entwicklung bieten, die über die leeren Phrasen hinausgehen, welche feststellen, dass „gut ist, was der Revolution dient“ (oder dem Arbeiterstaat, der historischen Entwicklung usw.).

Andererseits hat die Kritik, die sich im psychoanalytischen Lager gegen den [V-401] mechanistischen Materialismus erhob, welcher Freuds Denken zugrunde liegt, zu einer kritischen Neubewertung der Psychoanalyse, besonders hinsichtlich der Libidotheorie, geführt. Durch die Weiterentwicklung sowohl des marxistischen wie auch des psychoanalytischen Denkens scheint für die humanistischen Marxisten der Zeitpunkt für die Erkenntnis gekommen, dass die Anwendung einer dynamischen, kritischen, gesellschaftlich orientierten Psychologie für die Weiterentwicklung der marxistischen Theorie und der sozialistischen Praxis von ausschlaggebender Bedeutung ist, und dass eine Theorie, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, nicht länger eine Theorie ohne Psychologie bleiben kann, wenn sie nicht den Kontakt mit der menschlichen Realität verlieren will.

Im Folgenden möchte ich auf einige der Hauptprobleme hinweisen, mit denen sich die humanistische Psychoanalyse bereits befasst hat oder noch befassen sollte. Da es leider nur wenige Autoren gibt, die ebenso versucht haben, die revidierte Psychoanalyse auf das Problem des Marxismus und des Sozialismus anzuwenden, muss ich mich vor allem auf meine eigenen Schriften beziehen.[6] Besonders Jenseits der Illusionen – Die Bedeutung von Marx und Freud (1962a) befasst sich mit der Beziehung zwischen den Theorien von Marx und Freud. – Unter den anderen Autoren, die in ihren Schriften von einem psychoanalytisch-marxistischen Standpunkt ausgehen, ist Wilhelm Reich der bedeutendste, auch wenn seine Theorien und meine eigenen wenig Gemeinsames haben. Sartres Versuche, eine marxistisch orientierte humanistische Analyse zu entwickeln, leiden darunter, dass er zu wenig klinische Erfahrung besitzt und deshalb trotz seiner glänzenden Formulierungen mit der Psychologie nur sehr oberflächlich umgeht.

Das erste Problem, das hier erörtert werden soll, ist das des Gesellschafts-Charakters, also jener gemeinsamen Charakter-Matrix einer Gruppe (etwa einer Nation oder einer Klasse), die konkret das Tun und Denken ihrer Mitglieder beeinflusst. Dieser Begriff ist eine Weiterentwicklung des Freudschen Charakterbegriffs und ebenso wie dieser dynamisch zu verstehen. Freud sah im Charakter die relativ stabile Manifestation verschiedener Arten libidinöser Strebungen, das heißt auf verschiedene Ziele ausgerichteter und aus verschiedenen Quellen stammender psychischer Energie. In seinen Begriffen des oralen, analen und genitalen Charakters lieferte Freud ein neues Modell des menschlichen Charakters, welches das Verhalten des Menschen als Ergebnis bestimmter leidenschaftlicher Strebungen erklärt. Freud nahm an, dass Richtung und Intensität dieser Strebungen aus frühen Kindheitserfahrungen entsprechend den „erogenen Zonen“ (Mund, Anus und Genitalien) stammen und dass – von konstitutionellen Elementen abgesehen – für die Entwicklung der Libido hauptsächlich das Verhalten der Eltern verantwortlich sei.

Der Begriff des Gesellschafts-Charakters bezieht sich auf die Matrix der einer Gruppe gemeinsamen Charakterstruktur. Dabei wird angenommen, dass der grundlegende Faktor bei der Bildung des „Gesellschafts-Charakters“ die Lebenspraxis ist, wie sie durch die Produktionsweise und die sich daraus ergebende gesellschaftliche Schichtung zustande kommt. Der Gesellschafts-Charakter ist jene besondere Struktur der [V-402] psychischen Energie, die durch die jeweilige Gesellschaft so geformt wird, dass sie deren reibungslosem Funktionieren dient. Der Durchschnittsmensch muss das tun wollen, was er tun muss, um so zu funktionieren, dass die Gesellschaft sich seiner Energien für ihre Zwecke bedienen kann. Die menschliche Energie erscheint im Gesellschaftsprozess nur teilweise als einfache physische Energie (zum Beispiel beim Pflügen eines Feldes oder beim Straßenbau); teilweise tritt sie auch in spezifischen Formen psychischer Energie in Erscheinung. Ein Angehöriger eines primitiven Volkes, das davon lebt, andere Stämme anzugreifen und zu berauben, muss den Charakter eines Kriegers mit einer Leidenschaft für den Krieg, das Töten und Rauben besitzen. Angehörige eines friedlichen, ackerbautreibenden Stammes müssen eine Neigung zur Zusammenarbeit und nicht zur Gewalttätigkeit haben. Eine Feudalgesellschaft gedeiht nur, wenn ihre Mitglieder danach streben, sich der Autorität zu unterwerfen und die über ihnen Stehenden zu ehren und zu bewundern. Der Kapitalismus funktioniert nur in einer Gesellschaft von arbeitsamen, disziplinierten, pünktlichen Menschen, die vor allem am finanziellen Gewinn interessiert sind und deren Hauptziel im Leben der Profit aus Produktion und Warenaustausch ist. Im Neunzehnten Jahrhundert brauchte der Kapitalismus Menschen, die sparsam waren, um die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts braucht er Menschen, die ein leidenschaftliches Interesse am Geldausgeben und am Konsum haben. Der Gesellschafts-Charakter ist die Form, in welche die menschliche Energie gebracht wird, um sie als Produktivkraft im Gesellschaftsprozess benutzen zu können. Der Gesellschafts-Charakter wird mit allen einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Mitteln verstärkt: durch ihr Bildungssystem, ihre Religion, Literatur, Lieder, Witze, Sitten und vor allem durch die Erziehungsmethoden der Eltern. Letztere sind deshalb so wichtig, weil die Charakterstruktur jedes Menschen in beträchtlichem Ausmaß in seinen ersten fünf oder sechs Lebensjahren geformt wird. Aber der Einfluss der Eltern ist im wesentlichen nicht individueller oder zufälliger Art, wie die klassischen Psychoanalytiker meinen. Die Eltern sind sowohl aufgrund ihres eigenen Charakters wie auch aufgrund ihrer Erziehungsmethoden primär die Agentur der Gesellschaft. Sie unterscheiden sich nur in geringem Ausmaß voneinander, und diese Unterschiede verringern im allgemeinen ihren Einfluss auf die Bildung der gesellschaftlich wünschenswerten Matrix des Gesellschafts-Charakters.

Um einen Begriff des Gesellschafts-Charakters formulieren zu können, der durch die Lebenspraxis in jeder beliebigen Gesellschaft geformt wird, war eine Revision von Freuds Libidotheorie, welche die Grundlage seines Charakterkonzepts darstellt, nötig. Die Libidotheorie wurzelt in der mechanistischen Vorstellung vom Menschen als einer Maschine, deren Energiequelle (neben dem Selbsterhaltungstrieb) die Libido ist. Diese wird vom „Lustprinzip“ gesteuert, welches die verstärkte libidinöse Spannung auf ihr normales Niveau reduziert. Im Gegensatz zu dieser Auffassung habe ich (in Psychoanalyse und Ethik, 1947a, GA II, S. 29-36) zu zeigen versucht[7], dass der Mensch primär als soziales Wesen zu verstehen ist und dass die verschiedenen Strebungen des Menschen sich als Resultat seiner Bedürfnisse nach Assimilierung (von Dingen) und Sozialisation (mit anderen Menschen) entwickeln, wobei die Formen der Assimilierung und Sozialisation, also seine Hauptleidenschaften, von der Struktur der Gesellschaft, in der er lebt, abhängen. Nach meiner Auffassung ist der Mensch durch leidenschaftliche [V-403] Strebungen gegenüber Objekten – Menschen und Natur – gekennzeichnet sowie durch sein Bedürfnis, selbst mit der Welt in Beziehung zu stehen.

Mit dem Begriff des Gesellschafts-Charakters lassen sich wichtige Fragen beantworten, mit denen sich marxistische Theorie nicht hinreichend befasst hat.

(1) Woher kommt es, dass es einer Gesellschaft gelingt, die Gefolgschaft der meisten ihrer Mitarbeiter zu gewinnen, auch wenn diese unter dem System leiden, ja selbst dann, wenn ihnen ihr Verstand sagt, dass sie sich mit ihrer Loyalität schaden? Warum dominiert nicht ihr reales Interesse als menschliches Wesen über ihre fiktiven Interessen, welche mit allen möglichen ideologischen Beeinflussungen und mit Hilfe von Gehirnwäsche produziert werden? Weshalb ist das Bewusstsein ihrer Klassensituation und der Vorteile des Sozialismus nicht so wirksam, wie Marx es erwartete? Die Antwort gibt das Phänomen des Gesellschafts-Charakters. Wenn es einer Gesellschaft erst einmal gelungen ist, die Charakterstruktur des Durchschnittsmenschen so zu formen, dass er das, was er tun muss, gern tut, ist er mit den Umständen zufrieden, die ihm die Gesellschaft auferlegt. Ibsen gestaltet seinen Peer Gynt entsprechend dieser Einsicht: Er kann alles tun, was er tun will, weil er nur das tun will, was er tun kann. Es erübrigt sich zu sagen, dass ein Gesellschafts-Charakter, der sich beispielsweise mit der Unterwerfung zufriedengibt, ein verkrüppelter Charakter ist. Aber verkrüppelt oder nicht, er dient den Zwecken einer Gesellschaft, die, um richtig zu funktionieren, unterwürfige Menschen braucht.

(2) Der Begriff des Gesellschafts-Charakters erklärt auch den Zusammenhang zwischen der materiellen Basis einer Gesellschaft und dem „ideologischen Überbau“. Marx ist oft so interpretiert worden, als habe er sagen wollen, der ideologische Überbau sei nichts anderes als das Spiegelbild der ökonomischen Basis. Diese Interpretation ist jedoch falsch. Tatsache ist, dass in der Theorie von Marx das Wesen der Beziehung zwischen Basis und Überbau nicht genügend geklärt ist. Eine dynamische psychologische Theorie kann zeigen, dass die Gesellschaft den Gesellschafts-Charakter erzeugt und dass dieser dazu tendiert, solche Ideen und Ideologien hervorzubringen und zu verfestigen, die zu ihm passen und die er aus diesem Grunde fördert. Es ist jedoch nicht so, dass nur die ökonomische Basis einen bestimmten Gesellschafts-Charakter schafft, der dann seinerseits bestimmte Ideen hervorbringt. Die einmal erzeugten Ideen beeinflussen ihrerseits den Gesellschafts-Charakter und – indirekt – auch die Wirtschaftsstruktur der betreffenden Gesellschaft. Ich möchte besonders betonen, dass der Gesellschafts-Charakter der Vermittler zwischen der sozio-ökonomischen Struktur und den in einer Gesellschaft vorherrschenden Ideen und Idealen ist. Er ist der Vermittler nach beiden Richtungen: von der ökonomischen Basis hin zu den Ideen und von den Ideen hin zur ökonomischen Basis. Nachfolgendes Schema soll dieses Konzept veranschaulichen:

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(3) Der Begriff des Gesellschafts-Charakters kann erklären, wieso die menschliche Energie von einer Gesellschaft genau wie jeder andere Rohstoff für die Bedürfnisse und Zwecke dieser Gesellschaft genutzt wird. Tatsächlich ist der Mensch eine der formbarsten Naturkräfte: Man kann ihn dazu bringen, so gut wie jedem Zweck zu dienen; man kann ihn veranlassen, zu hassen oder mit anderen zusammenzuarbeiten, sich zu unterwerfen oder aufzubegehren, zu leiden oder glücklich zu sein.

(4) Sosehr dies alles stimmt, so gilt doch zugleich, dass der Mensch das Problem seiner Existenz nur durch die volle Entfaltung der ihm eigenen Kräfte lösen kann. Je mehr eine Gesellschaft den Menschen verkrüppelt, umso kränker wird er, selbst wenn er auf einer bewussten Ebene mit seinem Schicksal zufrieden ist. Unbewusst jedoch ist er unzufrieden, und eben diese Unzufriedenheit macht ihn schließlich bereit, die ihn verkrüppelnde Gesellschaftsform zu ändern. Gelingt ihm dies nicht, dann stirbt diese spezifische Form von pathogener Gesellschaft aus. Gesellschaftliche Veränderungen und Revolutionen werden nicht nur durch neue Produktivkräfte hervorgerufen, die mit älteren Formen der gesellschaftlichen Organisation in Konflikt geraten, sondern auch durch den Konflikt zwischen unmenschlichen gesellschaftlichen Zuständen und unveränderlichen, fortbestehenden menschlichen Bedürfnissen. Man kann mit den Menschen fast alles machen, aber doch nur fast alles. Die Geschichte des Kampfes des Menschen um seine Freiheit ist die aufschlussreichste Manifestation dieses Grundsatzes.

(5) Der Begriff des Gesellschafts-Charakters ist nicht nur ein theoretischer Begriff, der sich für allgemeine Spekulationen eignet; er ist auch für empirische Untersuchungen brauchbar und wichtig, bei denen man verschiedene Arten des Gesellschafts-Charakters in einer bestimmten Gesellschaft oder in sozialen Klassen nachweisen will. Nehmen wir an, jemand definiere den „Bauerncharakter“ als individualistisch, hortend, eigensinnig, wenig geneigt zur Zusammenarbeit mit anderen und ohne viel Gefühl für Zeit und Pünktlichkeit – dann ist dieses Syndrom von Wesenszügen keineswegs eine Summierung verschiedener Wesenszüge, sondern eine mit Energie geladene Struktur; diese Struktur wird sich mit einem intensiven Widerstand entweder in Form von Gewalt oder von stummer Weigerung zur Wehr setzen, wenn man versuchen sollte, sie zu ändern; selbst wirtschaftliche Vorteile werden kaum wirksam sein. Das Syndrom ist durch die ihnen allen gemeinsame Produktionsmethode entstanden, die für das Leben der Bauern jahrtausendelang charakteristisch war. Das Gleiche gilt für das absinkende Kleinbürgertum, ob es sich nun um dasjenige handelt, das Hitler an die Macht brachte, oder um die verarmten Weißen im Süden der Vereinigten Staaten. Das Fehlen jeder Art von positivem kulturellem Anreiz, das Ressentiment gegen die hoffnungslose Situation, in der diese Menschen von den vorwärtsdrängenden Strömungen zurückgelassen wurden, der Hass auf die, welche ihre Leitbilder zerstörten, auf die sie einst stolz waren, haben ein Charaktersyndrom erzeugt, das aus der Liebe zum Toten (Nekrophilie), einer intensiven und bösartigen Bindung an Blut und Boden und einem intensiven Gruppennarzissmus besteht (wobei letzterer sich in einem intensiven Nationalismus und Rassismus äußert; vgl. Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen (1964a), GA II, S. 224-239). Noch ein letztes Beispiel sei erwähnt: Die Charakterstruktur des Industriearbeiters [V-405] ist gekennzeichnet durch Pünktlichkeit, Disziplin und Befähigung zur Teamarbeit. Dieses Syndrom ist die Minimalbedingung dafür, dass ein Industriearbeiter tüchtige Arbeit leisten kann. (Andere Unterschiede, etwa Abhängigkeit – Unabhängigkeit, Interesse – Gleichgültigkeit, Aktivität – Passivität, lasse ich hier beiseite, obwohl auch sie für die Charakterstruktur des Arbeiters heute und in Zukunft von größter Bedeutung sind.)

(6) Die wichtigste Anwendung findet der Begriff des Gesellschafts-Charakters darin, dass er unterscheiden hilft zwischen dem zukünftigen Gesellschafts-Charakter einer sozialistischen Gesellschaft, wie sie Marx im Auge hatte, und dem Gesellschafts-Charakter des Kapitalismus des Neunzehnten Jahrhunderts, dem es vor allem auf Besitz und Reichtum ankam, sowie dem Gesellschafts-Charakter des Zwanzigsten Jahrhunderts (dem kapitalistischen wie dem kommunistischen), der in den hochindustrialisierten Gesellschaften immer mehr vorherrscht: dem Charakter des homo consumens.

Der homo consumens ist der Mensch, dessen Hauptziel es nicht ist, Dinge zu besitzen, sondern immer mehr zu konsumieren, um auf diese Weise seine innere Leere, Passivität und Angst zu kompensieren. In einer Gesellschaft, die durch Großunternehmen und durch riesige Bürokratien in Industrie, Verwaltung und Gewerkschaften gekennzeichnet ist, fühlt sich der Einzelne, der seine Arbeitsbedingungen nicht mehr selbst unter Kontrolle hat, ohnmächtig, einsam, gelangweilt und von Angst erfüllt. Gleichzeitig verwandelt ihn das Profitstreben der großen Konsumindustrien durch das Medium der Werbung in ein unersättliches Wesen, in einen ewigen Säugling, der immer mehr konsumieren möchte und für den alles zu einem Konsumartikel wird: Zigaretten, Alkohol, Sex, Kino, Fernsehen, Reisen, ja sogar Bildung, Bücher und Vorträge. Neue künstliche Bedürfnisse werden erzeugt, und der Geschmack der Menschen wird manipuliert. (In seinen extremeren Formen ist der Charakter des homo consumens ein wohlbekanntes psycho-pathologisches Phänomen. Man findet es häufig bei depressiven oder angsterfüllten Menschen, die sich in übermäßiges Essen und Einkaufen oder in den Alkoholismus flüchten, um ihre heimliche Depression und Angst zu kompensieren.) Die Konsumgier (eine extreme Form dessen, was Freud als den „oral-rezeptiven Charakter“ bezeichnete), wird in der gegenwärtigen Industriegesellschaft zur dominierenden psychischen Kraft. Der homo consumens lebt in der Illusion, glücklich zu sein, während er unbewusst unter Langeweile und Passivität leidet. Je mehr Macht er über Maschinen besitzt, umso machtloser wird er als menschliches Wesen; je mehr er konsumiert, umso mehr wird er zum Sklaven der ständig wachsenden Bedürfnisse, die das Industriesystem erzeugt und manipuliert. Er verwechselt Sensationslust und aufregende Erlebnisse mit Freude und Glück und materiellen Komfort mit Lebendigkeit. Die Befriedigung seiner Gier wird zum Sinn seines Lebens, das Streben danach wird zu einer neuen Religion. Die Freiheit zu konsumieren wird zum Wesen der menschlichen Freiheit.

Der Konsumgeist ist das absolute Gegenteil des Geistes einer sozialistischen Gesellschaft, wie sie sich Marx vorgestellt hat. Er hat die dem Kapitalismus innewohnende Gefahr klar erkannt. Sein Ziel war eine Gesellschaft, in der der Mensch viel ist, und nicht eine Gesellschaft, in der er viel hat oder gebraucht. Er wollte den Menschen [V-406] von den Ketten seiner materiellen Gier befreien, so dass er ganz wach, lebendig und empfindungsfähig, und nicht der Sklave seiner Gier sein könnte. „Die Produktion von viel Nützlichem“, schrieb er (K. Marx, 1971, S. 259), produziere „zu viel unnütze Population“. Er wollte die extreme Armut abschaffen, weil sie den Menschen daran hindert, ganz menschlich zu werden, aber er wollte auch den extremen Reichtum verhindern, bei dem der Mensch zum Gefangenen seiner Gier wird. Sein Ziel war nicht der maximale, sondern der optimale Konsum, die Befriedigung jener echten menschlichen Bedürfnisse, die zu einem volleren und reicheren Leben führen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Geist des Kapitalismus, die Befriedigung der materiellen Gier, die kommunistischen und sozialistischen Länder erobert, die mit ihrer Planwirtschaft die Möglichkeit hätten, ihr Schranken zu setzen. Der Prozess besitzt seine eigene Logik: Der materielle Erfolg des Kapitalismus machte auf jene ärmeren Länder in Europa, in denen der Kommunismus den Sieg errungen hatte, einen ungeheuren Eindruck, und man identifizierte den Sieg des Sozialismus mit dem erfolgreichen Wettbewerb mit dem Kapitalismus, und dies im Geist des Kapitalismus. Der Sozialismus ist in Gefahr, zu einem System zu entarten, welches die Industrialisierung ärmerer Länder schneller erreicht, als es der Kapitalismus könnte, anstatt eine Gesellschaft zu bilden, in der die Entwicklung des Menschen, und nicht die der ökonomischen Produktion das Hauptziel ist. Diese Entwicklung wurde noch durch die Tatsache gefördert, dass der Sowjetkommunismus dadurch, dass er eine vergröberte Version des Marxschen „Materialismus“ übernahm, genauso wie die kapitalistischen Länder den Kontakt mit der humanistischen geistigen Tradition verlor, zu deren größten Repräsentanten Karl Marx gehörte.

Es stimmt zwar, dass die sozialistischen Länder das Problem noch nicht gelöst haben, die legitimen materiellen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen (und selbst in den Vereinigten Staaten leben vierzig Prozent der Bevölkerung „nicht im Überfluss“). Aber es ist äußerst wichtig, dass sich die sozialistischen Ökonomen, Philosophen und Psychologen der Gefahr bewusst sind, dass sich das Ziel eines optimalen Konsums leicht in das eines maximalen verwandeln kann. Die sozialistischen Theoretiker haben die Aufgabe, das Wesen der menschlichen Bedürfnisse zu untersuchen und die Kriterien zur Unterscheidung von unechten und echten menschlichen Bedürfnissen herauszufinden. Sie müssen jene Bedürfnisse namhaft machen, deren Befriedigung die Menschen lebendiger und empfindungsfähiger macht, im Gegensatz zu den synthetischen, vom Kapitalismus geschaffenen Bedürfnissen, welche die Menschen schwächen, sie passiver und gelangweilt und zu Sklaven ihrer Gier nach dem Besitz von Dingen machen.

Mir geht es nicht darum, die Produktion als solche einschränken zu wollen. Sobald aber die optimale Befriedigung des individuellen Konsums erreicht ist, sollte mehr für den gesellschaftlichen Konsum getan werden: für Schulen, Bibliotheken, Theater, Parks, Krankenhäuser, öffentliche Verkehrsmittel usw. Der stets wachsende individuelle Konsum in den hochindustrialisierten Ländern legt den Gedanken nahe, dass Konkurrenzkampf, Gier und Neid nicht nur durch Privatbesitz, sondern auch durch uneingeschränkten privaten Konsum entstehen. Die sozialistischen Theoretiker sollten die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass es Ziel des humanistischen [V-407] Sozialismus ist, eine Industriegesellschaft aufzubauen, deren Produktionsweise der Entwicklung des totalen Menschen, und nicht der Erzeugung des homo consumens dient, und dass die sozialistische Gesellschaft eine Industriegesellschaft sein sollte, in der menschliche Wesen leben und sich entwickeln können.

(7) Es gibt empirische Methoden, die uns erlauben, den Gesellschafts-Charakter zu studieren. Eine derartige Untersuchung hat zum Ziel, das Vorhandensein verschiedener Charaktersyndrome in der Bevölkerung als Ganzer und innerhalb der einzelnen Klassen aufzudecken, sowie die Intensität der verschiedenen Faktoren innerhalb des Syndroms, und neue oder widersprüchliche Faktoren festzustellen, die durch unterschiedliche sozio-ökonomische Bedingungen verursacht wurden. Alle derartigen Varianten erlauben einen Einblick in die Stärke der vorhandenen Charakterstruktur sowie in den Änderungsprozess, so dass man beurteilen kann, mit welchen Maßnahmen man derartige Veränderungen vereinfachen könnte. Es erübrigt sich zu sagen, dass derartige Erkenntnisse besonders wichtig in Ländern sind, die sich im Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat befinden. Wichtig sind solche Untersuchungen auch in Bezug auf das Problem, wie Arbeiter, die im Kapitalismus oder Staatskapitalismus – also unter entfremdeten Bedingungen – leben, den Übergang zu einem echten Sozialismus bewerkstelligen können. Außerdem können derartige Untersuchungen auch für politische Aktionen hilfreich sein. Wer die politischen „Meinungen“ mit Hilfe von Meinungsumfragen ermittelt, der weiß, wie sich die Menschen vermutlich in der nächsten Zukunft verhalten werden. Wer aber die Stärke der psychischen Kräfte – auch der momentan unbewussten – erkennen will, also etwa das Eintreten der Menschen für Rassismus oder für Krieg oder Frieden, den informieren nur Charakteruntersuchungen der eben besprochenen Art über die Stärke und Richtung der zugrunde liegenden Kräfte, die im Gesellschaftsprozess wirksam sind und die vielleicht erst in einiger Zeit manifest werden. (Die Destruktivität des deutschen Kleinbürgertums zum Beispiel manifestierte sich erst, als Hitler ihr Gelegenheit gab, sich offen auszudrücken.)

Es ist hier nicht der Ort, die einzelnen Methoden zu erörtern, die man anwenden könnte, um die oben erwähnten Charakterdaten zu bekommen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie den Fehlschluss vermeiden, Ideologien (Rationalisierungen) als Ausdruck der inneren und gewöhnlich unbewussten Realität zu akzeptieren. Als sehr nützlich hat sich hierbei der offene Fragebogen erwiesen, bei dem die Antworten auf ihre nicht beabsichtigte oder unbewusste Bedeutung hin interpretiert werden. Wenn zum Beispiel die Antwort auf die Frage: „Welche historischen Persönlichkeiten bewundern Sie am meisten?“ lautet: „Alexander den Großen, Nero, Marx und Lenin“, während eine andere Antwort lautet: „Sokrates, Pasteur, Marx und Lenin“, dann ist daraus zu schließen, dass der erste Beantworter Macht und strenge Autorität bewundert, während der zweite Beantworter Menschen bewundert, die im Dienst des Lebens arbeiten und Wohltäter der Menschheit sind. Verwendet man einen erweiterten projektiven Fragebogen, so besteht die Möglichkeit, ein zuverlässiges Bild von der Charakterstruktur eines Menschen zu erhalten.[8] Andere projektive Tests, die Analyse von bevorzugten Witzen, Liedern und Geschichten sowie von benachbarten Verhaltensweisen (besonders die psychoanalytisch so aufschlussreichen unkontrollierten [V-408] „Nebenbeschäftigungen“) helfen mit, korrekte Resultate zu erhalten. Methodologisch liegt das Hauptgewicht bei allen diesen Untersuchungen auf der Produktionsweise und der sich daraus ergebenden Klassendifferenzierung, auch auf den wichtigsten Charakterzügen und den von ihnen gebildeten Syndromen sowie auf der Beziehung zwischen diesen beiden Gruppen von Daten. Mit Hilfe von schichtspezifischen Stichproben (samples) kann man ganze Nationen oder größere Gesellschaftsklassen untersuchen, ohne mehr als 1°000 Personen in die Untersuchung einbeziehen zu müssen.

Ein anderer wichtiger Aspekt der analytischen Sozialpsychologie ergibt sich aus dem Freudschen Begriff des Unbewussten. Während es aber Freud hauptsächlich um die individuelle Verdrängung ging, konzentrierte sich die marxistische Sozialpsychologie vor allem auf das „gesellschaftliche Unbewusste“. Dieser Begriff bezieht sich auf die Verdrängung der inneren Realität, die ganze Gruppen miteinander gemeinsam haben. Jede Gesellschaft wird nach Möglichkeit ihren Mitgliedern (oder den Angehörigen einer bestimmten Klasse) verbieten, sich solcher Impulse bewusst zu werden, die – falls sie ihnen bewusst wären – zu Gedanken und Aktionen führen könnten, welche der Gesellschaft möglicherweise gefährlich würden. Es kommt zu einer wirksamen Zensur, und zwar nicht auf der Ebene des gedruckten oder gesprochenen Wortes, sondern indem man verhindert, dass bestimmte Gedanken auch nur ins Bewusstsein dringen, indem man also ihr gefährliches Bewusstwerden unterdrückt. Natürlich variieren die Inhalte des gesellschaftlichen Unbewussten entsprechend den vielen unterschiedlichen Formen der Gesellschaftsstruktur: Es handelt sich je nachdem um Aggressivität, Aufbegehren, Abhängigkeit, Einsamkeit, Kummer und Langeweile, um nur einige Impulse zu erwähnen. Der verdrängte Impuls muss unterdrückt bleiben und durch Ideologien ersetzt werden, die ihn verleugnen oder sein Gegenteil behaupten. Dem gelangweilten, angsterfüllten, unglücklichen Menschen der heutigen Industriegesellschaft wird suggeriert, dass er glücklich und äußerst vergnügt sei. In anderen Gesellschaften lehrt man den seiner Gedankenfreiheit und der freien Meinungsäußerung beraubten Menschen, er habe die vollkommenste Form der Freiheit fast erreicht, wenn im Augenblick auch nur seine Führer im Namen der Freiheit redeten. In manchen Systemen wird auch die Liebe zum Leben unterdrückt und statt dessen die Liebe zum Besitz kultiviert; in anderen wird das Bewusstsein der Entfremdung verdrängt und statt dessen das Schlagwort propagiert: „In einem sozialistischen Land kann es keine Entfremdung geben.“

Hegel und Marx haben das Phänomen des Unbewussten auf andere Weise zum Ausdruck gebracht, indem sie darunter die Gesamtheit aller Kräfte verstanden, die gleichsam hinter dem Rücken des Menschen wirksam sind, während dieser in der Illusion lebt, in seinen Entschlüssen frei zu sein. Adam Smith hat das so formuliert: „Der ökonomische Mensch wird von einer unsichtbaren Hand geführt, ein Ziel zu unterstützen, das er selbst nicht beabsichtigte.“ Während diese unsichtbare Hand für Smith eine wohlwollende war, sahen sie Marx und Freud als gefährlich an. Man musste sie aufdecken, um ihr ihre Wirksamkeit zu nehmen. Das Bewusstsein ist ein gesellschaftliches Phänomen; für Marx handelte es sich meist um das falsche Bewusstsein, [V-409] um das Wirken verdrängter Kräfte. (Es ist interessant, dass bereits Marx in Die Deutsche Ideologie von „Verdrängung“ spricht, und für Rosa Luxemburg (1904) liegt das Unbewusste [die Logik des geschichtlichen Prozesses] noch vor dem Bewusstsein [der subjektiven Logik der menschlichen Wesen].) Das Unbewusste ist ebenso wie das Bewusstsein ein gesellschaftliches Phänomen, das durch den „gesellschaftlichen Filter“ bestimmt wird, der nicht erlaubt, dass die realsten menschlichen Erfahrungen aus dem Unbewussten ins Bewusstsein aufsteigen. Der gesellschaftliche Filter besteht im wesentlichen a) aus der Sprache, b) aus der Logik des Denkens und c) aus den gesellschaftlichen Tabus. Es wird verdeckt durch Ideologien (Rationalisierungen), die subjektiv als wahr empfunden werden, während es sich dabei in Wirklichkeit um nichts anderes als um von der Gesellschaft erzeugte und geteilte Fiktionen handelt. Wenn man mit dieser Methode an das Bewusstsein und die Verdrängung herangeht, kann man empirisch die Validität der Behauptung von Marx demonstrieren, dass es der Menschen „gesellschaftliches Sein (ist), das ihr Bewusstsein bestimmt“ (K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 9).

Aus diesen Erwägungen ergibt sich ein anderer theoretischer Unterschied zwischen der Psychoanalyse der dogmatischen Freudianer und der marxistisch orientierten. Freud glaubte, dass die tatsächliche Ursache der Verdrängung (deren wichtigster Inhalt inzestuöse Wünsche sind) die Kastrationsangst sei. Ich dagegen bin davon überzeugt, dass im individuellen wie auch im gesellschaftlichen Bereich der Mensch am meisten Angst vor der völligen Isolierung von seinen Mitmenschen, vor der vollkommenen Verstoßung hat. Selbst die Angst vor dem Tod ist leichter zu ertragen. Die Gesellschaft erzwingt ihre Forderung, gewisse Dinge zu verdrängen, mit der Drohung der Ächtung: Wenn du das Vorhandensein gewisser Erfahrungen nicht leugnest, gehörst du nicht zu uns, gehörst du nirgends dazu, bist du in Gefahr, wahnsinnig zu werden. (Tatsächlich ist ja der Wahnsinn eine durch das völlige Fehlen einer Beziehung zur Außenwelt charakterisierte Erkrankung.)

Die Marxisten nehmen im allgemeinen an, das, was hinter dem Rücken des Menschen diesen lenke, seien ökonomische Kräfte und deren politische Repräsentanten. Psychoanalytische Untersuchungen zeigen jedoch, dass diese Auffassung viel zu eng ist. Die Gesellschaft besteht aus Menschen, und jeder Mensch ist mit einem Potenzial leidenschaftlicher Strebungen – archaische und progressive – ausgestattet. Dieses menschliche Potenzial als Ganzes wird von der Gesamtheit der ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte geformt, welche für die jeweilige Gesellschaft kennzeichnend ist. Diese Kräfte des gesellschaftlichen Ganzen erzeugen ein bestimmtes gesellschaftliches Unbewusstes und bestimmte Konflikte zwischen den verdrängenden Faktoren und den vorhandenen menschlichen Bedürfnissen, die für ein gesundes Funktionieren des Menschen wesentlich sind (etwa ein bestimmter Grad von Freiheit, Anregung, Interesse am Leben und Glück). Tatsächlich kommen – wie bereits erwähnt – in Revolutionen nicht nur neue Produktivkräfte zum Ausdruck, sondern auch der verdrängte Teil der menschlichen Natur. Revolutionen verlaufen darum nur dann erfolgreich, wenn beide Voraussetzungen gegeben sind. Die Verdrängung, ob sie nun individuell oder gesellschaftlich bedingt ist, entstellt den Menschen, sie fragmentiert ihn, beraubt ihn seiner vollen Menschlichkeit. Das Bewusstsein repräsentiert [V-410] den „gesellschaftlichen Menschen“, wie er von der jeweiligen Gesellschaft geprägt ist; das Unbewusste repräsentiert den universalen Menschen in uns, den guten und den schlechten Menschen, eben den ganzen Menschen, zu dem sich Terenz bekennt, wenn er sagt: „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“ – was übrigens auch die bevorzugte Devise von Marx war.

Die Tiefenpsychologie hat noch zu einem anderen Problem einen Beitrag zu leisten, das in der Theorie von Marx eine zentrale Rolle spielt, wenn auch Marx nie eine befriedigende Lösung dafür gefunden hat: zum Problem des Wesens und der Natur des Menschen. Einerseits wollte Marx – besonders nach 1844 – sich nicht eines metaphysischen, unhistorischen Begriffs wie dem vom „Wesen des Menschen“ bedienen, jenes Begriffs, den viele Herrscher jahrtausendelang dazu benutzten, zu beweisen, dass ihre Verordnungen und Gesetze einer unveränderlichen „Natur des Menschen“ entsprächen. Andererseits war Marx ein Gegner der relativistischen Ansicht, dass der Mensch ein unbeschriebenes Blatt wäre, auf das jede Kultur ihren Text schreibt. Wie könnte der Mensch gegen die Existenzformen aufbegehren, die eine beliebige Gesellschaft ihren Mitgliedern aufzwingt, wenn dies richtig wäre? Wie hätte Marx (in Das Kapital) den Begriff des „verkrüppelten Menschen“ benutzen können, wenn er keine Vorstellung von einem „Modell der menschlichen Natur“ gehabt hätte, das verkrüppelt werden kann? Eine psychologische Analyse legt die Vermutung nahe, dass es kein „Wesen des Menschen“ im Sinn einer Substanz gibt, die im gesamten Verlauf der Geschichte die gleiche bleibt.

Meiner Ansicht nach besteht die Antwort darin, dass das Wesen des Menschen eben in dem Widerspruch liegt, dass er einerseits der Natur angehört und gegen seinen Willen zu irgendeinem zufälligen Zeitpunkt an einem zufälligen Ort in die Welt geworfen und wieder aus ihr herausgenommen wird, und dass er gleichzeitig die Natur transzendiert, weil seine Instinktausrüstung mangelhaft ist und weil er sich seiner selbst und der anderen Menschen sowie der Vergangenheit und der Gegenwart bewusst ist. Der Mensch, eine „Laune der Natur“, würde sich auf unerträgliche Weise allein fühlen, wenn er den Widerspruch nicht dadurch auflösen könnte, dass er eine neue Form der Einheit findet. Der wesensmäßige Widerspruch in seiner Existenz zwingt den Menschen, nach einer Lösung für diesen Widerspruch zu suchen, um eine Antwort auf die Frage zu finden, die ihm das Leben vom Augenblick seiner Geburt an stellt. Es gibt eine ganze Anzahl von unmittelbaren, aber nur beschränkt gültigen Antworten darauf, wie man zur Einheit finden kann.

Der Mensch kann zur Einheit finden, indem er versucht, auf die Stufe des Tieres zu regredieren, indem er alles von sich weist, was spezifisch menschlich ist (Vernunft und Liebe), indem er ein Sklave oder ein Sklaventreiber wird, indem er sich in ein Ding verwandelt – oder aber, indem er seine spezifisch menschlichen Kräfte soweit entwickelt, dass er zu einer neuen Einheit mit seinen Mitmenschen und mit der Natur findet (wobei letzteres für Marx besonders wichtig war), indem er zu einem freien Menschen wird – frei nicht nur von den Fesseln, sondern auch frei für die Entwicklung all seiner Fähigkeiten, um sie zu seinem eigentlichen Lebenszweck zu machen, indem er zu einem Menschen wird, der seine Existenz seinem eigenen produktiven Bemühen verdankt. Der Mensch besitzt keinen angeborenen „Trieb zum Fortschritt“, aber er wird [V-411] angetrieben vom Bedürfnis, den in seiner Existenz begründeten Widerspruch zu lösen, welcher sich auf jeder Entwicklungsstufe immer wieder neu herstellt. Dieser Widerspruch oder – anders gesagt – die unterschiedlichen und widersprüchlichen Möglichkeiten des Menschen, machen sein Wesen aus.

Es gibt noch andere Grundvorstellungen von Marx, zu denen die Tiefenpsychologie signifikante Beiträge zu bieten hat. Sie kann zeigen, dass Marx – wie Spinoza und Freud – weder ein Determinist noch ein Nicht-Determinist war. Er war ein Alternativist. Bei jedem Schritt in seinem eigenen, historischen Leben sieht sich der Mensch vor eine Anzahl „realer Möglichkeiten“ gestellt. Diese Möglichkeiten sind als solche determiniert, da sie das Resultat der Gesamtheit der Umstände sind, unter denen er lebt. Aber dem Menschen steht die Wahl zwischen Alternativen offen, wenn er sie und die Konsequenzen seiner Entscheidung so frühzeitig erkennt, dass seine Persönlichkeit noch nicht völlig dem zuneigt, was gegen sein menschliches Interesse verstößt. Ist es erst einmal dazu gekommen, so ist die Zeit der Wahl unwiderruflich vorbei. Freiheit in diesem Sinn heißt nicht „in Erkenntnis der Notwendigkeit handeln“, sondern die realen Möglichkeiten und ihre Konsequenzen im Gegensatz zum Glauben an eingebildete, unrealistische Möglichkeiten wahrnehmen, die ein Opiat sind und die Möglichkeit zur wahren Freiheit zerstören.

Ein weiteres Thema von grundsätzlicher Bedeutung im marxistischen Denken, zu dem die Psychologen ebenfalls einen bedeutsamen Beitrag leisten können, ist das Phänomen der Entfremdung. Leider fehlt hier der Raum, das Thema ausführlich zu erörtern. Soviel sei jedoch angemerkt: Der Begriff der Entfremdung wird in der marxistischen Literatur häufig als ein rein intellektueller Begriff gebraucht, unabhängig von der Diskussion der psychologischen Daten, die mit dem Erleben der Entfremdung zusammenhängen. Meines Erachtens kann man von Entfremdung nicht auf sinnvolle Weise sprechen, wenn man sie nicht in sich selbst und bei anderen erfahren hat. Außerdem muss man das Phänomen der Entfremdung in seiner Beziehung zum Narzissmus, zur Depression, zum Fanatismus und zum Götzendienst untersuchen, um es ganz zu verstehen, um den Grad der Entfremdung in den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen zu erkennen und um herausfinden zu können, unter welchen sozialen Bedingungen sie verstärkt oder verringert wird. Die Psychoanalyse verfügt über alle hierzu erforderlichen Mittel.

Mir ging es bei dieser Abhandlung darum, eine dialektisch und humanistisch orientierte Psychoanalyse als wichtigen Gesichtspunkt in das marxistische Gedankengut einzuführen. Meines Erachtens braucht der Marxismus eine solche psychologische Theorie und sollte sich die Psychoanalyse mit der marxistischen Theorie verbinden. Eine Synthese wird für beide Gebiete fruchtbar sein, während ein betont positivistischer Pawlowismus – selbst wenn er viele interessante Daten bietet – nur zur Entartung von Psychologie und Marxismus führt.

Propheten und Priester

(Prophets and Priests)

(1967b)[9]

Zweifellos war die Kenntnis der großen Ideen der Menschheit noch nie so weit auf der Welt verbreitet wie heute.[10] Noch nie war aber auch ihre Wirkung so gering. Die Gedanken Platos und Aristoteles’, die der Propheten und Christi, die Spinozas und Kants sind heute Millionen von Gebildeten in Europa und Amerika bekannt. Sie werden an unzähligen Hochschulen gelehrt, über einige wird weltweit in den Kirchen aller Konfessionen gepredigt. Dies alles geschieht zugleich in einer Welt, in der die Grundsätze eines uneingeschränkten Egoismus befolgt werden, die einen hysterischen Nationalismus kultiviert und einen wahnsinnigen Massenmord vorbereitet. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?

Solange Ideen nur als rationale Vorstellungen und Gedanken gelehrt werden, üben sie keinen tiefen Einfluss auf die Menschen aus. Werden sie vermittelt, so verändern sie im allgemeinen nur andere Ideen: Es treten neue Gedanken an die Stelle von alten, neue Worte ersetzen bisher gebrauchte. Geändert haben sich dann in Wirklichkeit nur Worte und Begriffe. Wie sollte es auch anders sein? Der Mensch wird nur sehr schwer von Ideen wirklich ergriffen. Um eine Wahrheit zu erfassen, muss er erst tief eingewurzelte Widerstände überwinden: Trägheit, Angst vor Irrtümern, Angst vor einem Abweichen von der Herde. Selbst wenn die Ideen an sich richtig und aussagekräftig sind, genügt es doch nicht, nur mit ihnen bekannt zu werden. Sie üben erst dann eine Wirkung auf den Menschen aus, wenn sie von dem, der sie lehrt, auch gelebt werden – wenn also ihr Lehrer sie verkörpert und so die Idee Fleisch wird. Wenn jemand über Demut spricht und selbst demütig ist, werden seine Zuhörer verstehen, was Demut ist. Sie verstehen es nicht nur, sondern glauben ihm auch, dass er über etwas Wirkliches spricht und nicht nur leere Worte macht. Das Gleiche gilt für alle Ideen, die ein Mensch, ein Philosoph oder ein religiöser Lehrer anderen Menschen zu vermitteln sucht.

Menschen, die Ideen verkündigen – es müssen nicht unbedingt neue Ideen sein – und die diese Ideen gleichzeitig leben, kann man als Propheten bezeichnen. Die Propheten des Alten Testaments taten eben dies: Sie haben die Idee verkündigt, dass der Mensch eine Antwort auf die Probleme seiner Existenz finden müsse und dass die Antwort in der Entwicklung seiner Vernunft und seiner Liebe bestehe; und sie haben [V-296] gelehrt, dass Demut und Gerechtigkeit nicht von Liebe und Vernunft zu trennen sind. Sie lebten, was sie verkündeten. Sie strebten nicht nach Macht, sondern gingen ihr aus dem Weg. Sie begehrten nicht einmal die Macht eines Propheten. Macht beeindruckte sie nicht, und sie verkündeten die Wahrheit auch dann, wenn diese ihnen Gefangenschaft, Verbannung und Tod eintrug. Sie waren keine Menschen, die sich zurückzogen und warteten, was kommen würde. Sie waren empfänglich für ihre Mitmenschen, weil sie sich verantwortlich fühlten. Was anderen geschah, geschah auch ihnen. Die Menschheit war nichts Äußerliches, sondern in ihnen. Eben weil sie die Wahrheit erkannten, fühlten sie sich verpflichtet, sie auch anderen mitzuteilen; sie drohten nicht, sie zeigten nur die Alternativen, mit denen der Mensch konfrontiert war. Ein Prophet will nicht aus sich heraus Prophet sein. Nur die falschen Propheten wollen dies. Prophet zu werden, ist einfach, weil die Alternativen, um die es geht, einfach sind. Amos drückt es so aus (3,8): „Der Löwe brüllt – wer fürchtet sich nicht? Gott der Herr spricht – wer wird da nicht zum Propheten?“ Die Wendung „Gott der Herr spricht“ bedeutet hier nur, dass ihm keine andere Wahl bleibt. Es kann keinen Zweifel und kein Entrinnen mehr geben. Dem, der sich verantwortlich fühlt, bleibt keine andere Wahl, als Prophet zu werden, ob er nun Schafe gehütet, Weinberge bestellt oder Ideen entwickelt und gelehrt hat. Der Prophet hat die Aufgabe, die Wirklichkeit zu offenbaren, Alternativen aufzuzeigen und zu protestieren. Er muss die Stimme erheben und die Menschen aus ihrem gewohnten Dämmerzustand aufwecken. Nicht der eigene Wunsch, sondern die historische Situation macht den Prophet zum Propheten.

Viele Völker hatten Propheten: Buddha verwirklichte seine Lehre, in Christus ist sie Fleisch geworden, Sokrates starb für seine Ideen und auch Spinoza hat sie gelebt. Sie alle haben einen so tiefen Einfluss auf die Menschheit gehabt, weil sie selbst ihre Ideen verkörperten. Propheten gibt es nur zu bestimmten Zeiten in der Geschichte der Menschheit. Sie sterben und hinterlassen ihre Botschaft. Diese wird von Millionen von Menschen angenommen, denen sie sehr wichtig wird. Dies ist der Grund, warum andere sie ausbeuten. Sie nutzen die Bindung der Menschen an diese Ideen für ihre eigenen Zwecke aus, indem sie diese Menschen beherrschen und unter ihre Kontrolle bekommen. Jene aber, die die Ideen der Propheten in dieser Weise ausnützen, sind die Priester.

Die Propheten leben ihre Ideen. Die Priester verwalten sie für diejenigen, die sich mit diesen Ideen identifizieren. Dabei verlieren die Ideen ihre Lebendigkeit und werden zu Formeln. Den Priestern ist die Formel wichtig – dies ist immer so, wenn das Erlebnis selbst tot ist. Nur wenn es eine „korrekte“ Formulierung gibt, lassen sich die Menschen beherrschen und ihre Gedanken kontrollieren. Für die Priester dient die Idee dazu, die Menschen zu organisieren und sie dadurch zu beherrschen, dass sie die richtige Formulierung der Idee kontrollieren. Wenn sie dann die Menschen tief genug betäubt haben, erklären sie, der Mensch sei unfähig, ganz wach zu sein und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Darum erfüllten sie – die Priester – aus Mitgefühl oder Mitleid die Aufgabe, den Menschen zu leiten. Dieser hätte, sich selbst überlassen, zu sehr Angst vor der Freiheit. Freilich verhalten sich nicht alle Priester so, doch gilt es für die meisten, vor allem wenn sie über Macht verfügen. [V-297]

Priester gibt es nicht nur in der Religion. Es gibt auch Priester in der Philosophie und in der Politik. Jede philosophische Schule hat ihre Priester. Oft sind sie sehr gelehrt; sie haben die Aufgabe, die Idee des ursprünglichen Denkers zu verwalten, sie weiterzugeben, sie auszulegen, sie zu einem musealen Gegenstand zu machen und auf diese Weise zu bewahren. Die politischen Priester sind uns in den letzten hundertfünfzig Jahren häufig begegnet. Sie haben die Idee der Freiheit verwaltet, um die wirtschaftlichen Interessen ihrer sozialen Klasse zu wahren. Im Zwanzigsten Jahrhundert haben die Priester die Verwaltung der Ideen des Sozialismus übernommen. Während dieser die Befreiung und Unabhängigkeit des Menschen zum Ziel hatte, erklärten die Priester mit wechselnden Worten, der Mensch sei nicht fähig, frei zu sein – oder er sei doch wenigstens in absehbarer Zeit nicht dazu in der Lage. Bis dahin müssten sie die Aufgabe übernehmen und darüber entscheiden, wie die Idee zu formulieren sei und wer ein frommer Gläubiger sei und wer nicht. Meist verwirren die Priester die Menschen, weil sie behaupten, die Nachfolger eines Propheten zu sein und zu leben, was diese predigten. Während selbst ein Kind merken könnte, dass sie genau das Gegenteil ihrer Lehre leben, unterzieht man die große Masse des Volkes einer so gründlichen Gehirnwäsche, dass sie schließlich glaubt, die Priester brächten ein Opfer, wenn sie im Luxus lebten, weil sie eine große Idee zu repräsentieren hätten, ja selbst ihr unbarmherziges Töten geschähe aus ihrem revolutionären Glauben heraus.

Kaum eine historische Situation könnte für das Auftauchen von Propheten günstiger sein als unsere. Die Existenz der gesamten Menschheit ist durch den Wahnsinn eines möglichen Atomkrieges bedroht. Blindheit und „steinzeitliches“ Bewusstsein haben uns an einen Punkt geführt, von dem aus die Menschheit sich in raschem Tempo auf das tragische Ende ihrer Geschichte zuzubewegen scheint – und dies auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten. In dieser Situation braucht die Menschheit Propheten, auch wenn es zweifelhaft ist, ob deren Stimme sich gegen die der Priester wird durchsetzen können.

Zu den wenigen, die die geschichtliche Situation der Menschheit vom Lehrer zum Propheten hat werden lassen und die ihre Gedanken selbst lebten, gehört Bertrand Russell. Er ist ein großer Denker, doch dies ist nicht der eigentliche Grund dafür, dass er ein Prophet ist. Zusammen mit Albert Einstein und Albert Schweitzer ist er ein Repräsentant des westlichen Humanismus, und zwar gerade in einer Zeit, in der dessen Existenz bedroht ist. Alle drei haben warnend ihre Stimme erhoben und auf Alternativen hingewiesen. Schweitzer lebte die Idee des Christentums durch seine Arbeit in Lambarene. Einstein lebte die Idee der Vernunft und des Humanismus, indem er sich weigerte, in das hysterische Geschrei des Nationalismus der deutschen Intelligenz 1914 und später einzustimmen. Bertrand Russell hat seit vielen Jahrzehnten durch Bücher seine Gedanken über Vernunft und Humanismus verkündet. In den letzten Jahren ist er jedoch in die Öffentlichkeit gegangen, um allen Menschen klarzumachen, dass ein wahrer Mensch dann, wenn die Gesetze seines Landes den Gesetzen der Humanität widersprechen, sich für die Gesetze der Humanität entscheiden muss.

Russell erkannte, dass die Gedanken eines überzeugten Menschen nur dann gesellschaftliche Bedeutung gewinnen, wenn sie durch eine Gruppe verkörpert werden. Als [V-298] Abraham mit Gott über das Schicksal Sodoms haderte und an Gottes Gerechtigkeit appellierte, verlangte er, dass Sodom verschont werde, sofern es dort wenigstens zehn Gerechte gäbe – womit die kleinstmögliche Gruppe gemeint ist, die die Idee der Gerechtigkeit verkörpern kann. Sollten es weniger als zehn sein, dann konnte selbst Abraham nicht erwarten, dass die Stadt gerettet würde. Bertrand Russell versucht zu beweisen, dass die Zehn vorhanden sind, welche die Stadt retten könnten. Deshalb hat er die Menschen organisiert, deshalb ist er mit ihnen marschiert und hat sich mit ihnen auf die Straße gesetzt und von der Polizei abtransportieren lassen. Seine Stimme ist zwar eine Stimme in der Wüste, aber es ist trotzdem keine isolierte Stimme. Sie führt einen Chor an; ob es sich dabei um den Chor einer griechischen Tragödie oder aus Beethovens Neunter Sinfonie handelt, wird die Geschichte der nächsten Jahre erweisen.

Unter den Ideen, denen Bertrand Russell Leben gab, ist vielleicht an erster Stelle das Recht und die Pflicht des Menschen zum Ungehorsam zu erwähnen.

Unter Ungehorsam ist dabei nicht der Ungehorsam des puren Rebellen zu verstehen, der deshalb nicht gehorcht, weil er dem Leben gegenüber keine andere Verpflichtung fühlt, als „nein“ zu sagen. Diese Art von rebellischem Ungehorsam ist ebenso blind und unwirksam wie ihr Gegenteil, der konformistische Gehorsam, der unfähig ist, „nein“ zu sagen. Es geht vielmehr um den Menschen, der „nein“ sagen kann, weil er auch bejahen kann, der ungehorsam sein kann, eben weil er seinem Gewissen und den von ihm erwählten Grundsätzen gehorchen kann. Ich spreche vom Revolutionär und nicht vom Rebellen.

In den meisten Gesellschaftssystemen ist Gehorsam die höchste Tugend und Ungehorsam die schlimmste Sünde. In unserer Kultur ist es tatsächlich so, dass die meisten Menschen, wenn sie sich schuldig fühlen, in Wirklichkeit Angst haben, weil sie ungehorsam waren. Sie fühlen sich nicht aus moralischen Gründen beunruhigt – wie sie selbst glauben –, sondern weil sie irgendeinem Befehl nicht gehorcht haben. Das ist nicht weiter erstaunlich. Schließlich hat die christliche Lehre Adams Ungehorsam als eine Tat hingestellt, die ihn und alle seine Nachkommen so von Grund auf verdorben hat, dass nur ein besonderer göttlicher Gnadenakt den Menschen aus der Sündhaftigkeit erretten kann. Natürlich passte dieser Gedanke zu der gesellschaftlichen Funktion der Kirche, welche die Macht der Herrschenden dadurch unterstützte, dass sie die Sündhaftigkeit des Ungehorsams predigte. Nur Menschen, welche die biblischen Lehren von Demut, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit ernst nahmen, begehrten gegen die weltliche Autorität auf, was zur Folge hatte, dass die Kirche sie in den meisten Fällen als Rebellen brandmarkte, die sich gegen Gott versündigten. Auch der Protestantismus war darin nicht anders, im Gegenteil. Während die katholische Kirche das Bewusstsein lebendig hielt, dass zwischen der weltlichen und der geistlichen Autorität ein Unterschied besteht, hat sich der Protestantismus seinerseits zum Verbündeten der weltlichen Macht gemacht. Luther hat dieser Tendenz zum ersten Mal und auf besonders drastische Weise Ausdruck verliehen, als er eine Streitschrift gegen die aufbegehrenden Bauern des Sechszehnten Jahrhunderts verfasste, in der es heißt (M. Luther, 1967a, S. 192):

Drum soll hier erschlagen, würgen und stechen, heimlich [V-299] oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch.

Wenn auch der religiöse Terror mehr und mehr verschwand, so bauten doch weiterhin autoritäre politische Systeme auf den Gehorsam. Die großen Revolutionen des Siebzehnten und Achtzehnten Jahrhunderts kämpften gegen die monarchische Autorität. Doch schon bald machte man wieder aus dem Gehorsam gegenüber den Nachfolgern der Monarchie – gleich welchen Namens – eine Tugend. Und was ist Autorität heute? In den totalitären Ländern gibt es offene Autorität des Staates, welche durch den Respekt vor der Autorität in Familie und Schule noch verstärkt wird. Die westlichen Demokratien dagegen sind stolz darauf, den Autoritarismus des Neunzehnten Jahrhunderts überwunden zu haben. Aber haben sie das wirklich – oder hat sich nur die Eigenart der Autorität geändert?

Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der hierarchisch organisierten Bürokratien in Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften. Diese Bürokratien verwalten Dinge und Menschen auf die gleiche Weise. Sie befolgen dabei bestimmte Grundsätze, besonders die ökonomischen Prinzipien der Bilanzierung, der Quantifizierung, der maximalen Leistung und des Profits, und sie funktionieren im wesentlichen wie ein elektronischer Computer funktionieren würde, wenn man ihn mit diesen Prinzipien programmierte. Der individuelle Mensch wird dabei zur Nummer und verwandelt sich in ein Ding. Aber eben weil es bei uns keine offene Autorität gibt, weil der Einzelne nicht zum Gehorsam „gezwungen“ wird, lebt er in der Illusion, freiwillig zu handeln, nur seinem eigenen Willen und seiner eigenen Entscheidung oder auch einer „rationalen“ Autorität zu folgen. Wer könnte auch der „Vernunft“, wer könnte der Computer-Bürokratie den Gehorsam verweigern, wer könnte ungehorsam sein, wenn er nicht einmal merkt, dass er gehorcht? In der Familie und im Erziehungswesen geschieht genau dasselbe. Die progressiven Erziehungstheorien haben zu Methoden geführt, bei denen dem Kind nicht mehr gesagt wird, was es tun soll. Man gibt ihm keine Anweisungen mehr und bestraft es auch nicht, wenn es nicht folgt. Das Kind soll „sich selbst ausdrücken“. Aber vom ersten Tag seines Lebens an hat es einen tiefen Respekt vor der Konformität; es hat Angst, „anders“ zu sein und nicht zur Herde zu gehören. Der auf diese Weise in Familie und Schule aufgewachsene „Organisationsmensch“, dessen Erziehung in den großen Organisationen vollendet wird, hat Meinungen, aber keine Überzeugungen. Er amüsiert sich, aber er ist trotzdem unglücklich; er ist sogar bereit, sein Leben und das seiner Kinder im freiwilligen Gehorsam gegenüber unpersönlichen und anonymen Mächten zu opfern. Er akzeptiert die Schätzungen über die voraussichtlichen Todesopfer, die in unseren Diskussionen über den Atomkrieg Mode geworden sind. Wird die Hälfte der Bevölkerung eines Landes getötet, gilt dies als „noch tragbar“, sind es zwei Drittel, dann vielleicht nicht mehr.

Die Frage des Ungehorsams ist heute von lebenswichtiger Bedeutung. Während die Menschheitsgeschichte der Bibel zufolge mit dem Akt des Ungehorsams von Adam und Eva begann und die Zivilisation nach der griechischen Mythologie mit dem Ungehorsam des Prometheus ihren Anfang nahm, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheitsgeschichte mit einem Akt des Gehorsams ihr Ende finden wird: mit [V-300] dem Gehorsam gegenüber Autoritäten, die selbst archaischen Fetischen wie der „Staatssouveränität“, der „nationalen Ehre“ und „militärischen Siegen“ gehorchen und die denen, welche ihnen und ihren Fetischen gehorsam sind, den Befehl erteilen werden, auf den todbringenden Knopf zu drücken.

Ungehorsam in dem Sinn, wie wir ihn hier verstehen, ist die Bejahung von Vernunft und eigenem Willen. Es handelt sich dabei nicht in erster Linie um eine gegen etwas gerichtete Einstellung, sondern um eine Haltung, die sich für etwas einsetzt. Es geht dabei um des Menschen Fähigkeit, etwas einzusehen, zu sagen, was er einsieht, und sich zu weigern, etwas nachzureden, was er nicht einsieht. Dazu braucht er weder aggressiv noch rebellisch zu sein; er muss nur die Augen aufmachen, hellwach und bereit sein, es auf sich zu nehmen, auch denen die Augen zu öffnen, die Gefahr laufen umzukommen, weil sie noch nicht aufgewacht sind.

Für Karl Marx war Prometheus, der lieber mit Ketten an einen Felsen geschmiedet werden wollte, als dass er der gehorsame Diener der Götter war, der Schutzheilige aller Philosophen. Bertrand Russell – selbst ein Philosoph – hat mit seinem Leben die Funktion des Prometheus übernommen. Die Aussage von Marx weist sehr deutlich auf den Zusammenhang zwischen Philosoph und Ungehorsam hin. Die meisten Philosophen verweigerten sich den Autoritäten ihrer Zeit gegenüber nicht. Sokrates gehorchte ihnen, indem er in den Tod ging; Spinoza verzichtete lieber auf eine Professur, als mit den Autoritäten in Konflikt zu geraten; Kant war ein loyaler Bürger; Hegel, der in seiner Jugend mit revolutionären Ideen sympathisierte, hat in seinen späteren Jahren den Staat verherrlicht. Aber trotzdem war Prometheus auch ihr Schutzheiliger. Sie blieben zwar in ihren Hörsälen und bei ihrer Arbeit und begaben sich nicht in die Öffentlichkeit – wofür sie vielerlei Gründe hatten, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Aber als Philosophen versagten sie der Autorität herkömmlicher Gedanken und Begriffe, den Klischeevorstellungen, die geglaubt und gelehrt wurden, den Gehorsam. Sie brachten Licht in die Finsternis. Sie weckten die auf, die halb schliefen, und „wagten zu wissen“.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120869
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Ungehorsam Freiheit Sozialpsychologie
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Titel: Über den Ungehorsam und andere Essays