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Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie

The Crisis of Psychoanalysis. Essays on Freud, Marx, and Social Psychology

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Die in diesem Sammelband enthaltenen Schriften wollen zum einen mit wichtigen frühen Arbeiten von Erich Fromm zum sozialpsychologischen Ansatz und zur Matriarchatsforschung (wieder) bekannt machen. Besonders hervorzuheben sind hier die beiden ersten Veröffentlichungen Fromms in der Zeitschrift für Sozialforschung aus dem Jahr 1932, die von der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft handeln und für das Verständnis des Werkes von Fromm programmatisch sind.

Zum anderen sind in diesem Sammelband eine Reihe von Beiträgen versammelt, die Ende der Sechziger Jahre entstanden sind. Unter den sehr lesenswerten Artikeln befindet sich auch eine kritische Streitschrift zur Entwicklung der Psychoanalyse in den Fünfziger und Sechziger Jahren. Sie trägt den Titel „Die Krise der Psychoanalyse“. Der damals populären ich-psychologischen Psychoanalyse wirft Fromm vor, den radikalen Ansatz Freuds zu verraten und das Augenmerk nicht mehr auf die meist unbewussten irrationalen Antriebskräfte des Menschen zu lenken.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie.
Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus

(1932a)[3]

Die Psychoanalyse ist eine naturwissenschaftliche, materialistische Psychologie.[4] Sie hat als Motor menschlichen Verhaltens Triebregungen und Bedürfnisse nachgewiesen, die von den physiologisch verankerten, selbst nicht unmittelbar beobachtbaren „Trieben“ gespeist werden. Sie hat aufgezeigt, dass die bewusste Seelentätigkeit nur einen relativ kleinen Sektor des Seelenlebens ausmacht, dass viele entscheidende Antriebe seelischen Verhaltens dem Menschen nicht bewusst sind. Sie hat insbesondere private und kollektive Ideologien als Ausdruck bestimmter, trieblich verankerter Wünsche und Bedürfnisse entlarvt und auch in den „moralischen“ und ideellen Motiven verhüllte und rationalisierte Äußerungen von Trieben entdeckt.[5]

Freud hat zunächst, ganz entsprechend der populären Einteilung der Triebe in Hunger und Liebe, zwei Gruppen von Trieben angenommen, die als Motoren des menschlichen Seelenlebens wirksam sind: die Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe.[6] Die den Sexualtrieben innewohnende Energie hat er als Libido bezeichnet, [I-038] seelische Vorgänge, die von dieser Energie gespeist sind, als libidinöse.[7] Unter Sexualtrieben hat Freud in berechtigter Erweiterung der üblichen Verwendung dieses Begriffes alle, analog den genitalen Impulsen, körperlich bedingten und an Körperstellen („erogenen Zonen“) haftenden Spannungen, die nach lustbringender Abfuhr verlangen, verstanden.

Als Hauptprinzip der Seelentätigkeit nimmt Freud das „Lustprinzip“ an, die Tendenz zu maximaler, lustbringender Abfuhr der Triebspannungen. Dieses Lustprinzip wird durch das „Realitätsprinzip“ modifiziert, das unter dem Einfluss der Beobachtung der Realität Verzicht oder Aufschub von Lust zugunsten der Vermeidung größerer Unlust oder der Gewinnung künftiger größerer Lust fordert.

Die Eigenart der spezifischen Triebstruktur eines Menschen sieht Freud durch zwei Faktoren bedingt: die mitgebrachte Konstitution und das Lebensschicksal, vor allem das Schicksal seiner frühen Kindheit. Er geht davon aus, dass mitgebrachte Konstitution und Erleben eine „Ergänzungsreihe“ bilden und dass die spezifisch analytische Aufgabe die Erforschung des Einflusses des Erlebens auf die gegebene Triebkonstitution ist. Die analytische Methode ist also eine exquisit historische: Sie fordert Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal. Diese Methode hat ihre Gültigkeit sowohl für das Seelenleben des Gesunden wie das des Kranken, der neurotischen Persönlichkeit. Das, was den neurotischen Menschen vom „normalen“ unterscheidet, ist die Tatsache, dass bei diesem sich die Triebstruktur optimal seinen realen Lebensnotwendigkeiten angepasst hat, während bei jenem die Triebentwicklung auf gewisse Hindernisse gestoßen ist, die eine genügende Anpassung der Triebe an die Realität verhinderten.

Um die Tatsache der Anpassung und Modifizierbarkeit der Sexualtriebe an die Realität ganz verständlich machen zu können, ist es notwendig, auf gewisse Eigenschaften der Sexualtriebe hinzuweisen, Eigenschaften, die sie gerade von den Selbsterhaltungstrieben unterscheiden.

Die Sexualtriebe sind im Gegensatz zu den Selbsterhaltungstrieben aufschiebbar, während jene imperativischer Natur sind, d.h. eine längere Nichtbefriedigung den Tod herbeiführt, bzw. seelisch absolut unerträglich ist. Diese Tatsache bewirkt, dass die Selbsterhaltungstriebe ein Primat vor den Sexualtrieben haben; nicht in dem Sinn, dass sie an sich eine größere Rolle spielen, aber so, dass im Falle des Konflikts sie die eindringlicheren sind, dass sie sich, solange sie noch unbefriedigt sind, als die stärkeren erweisen.

Damit ist eng verknüpft, dass die Regungen der Sexualtriebe verdrängbar sind, während die sich aus den Selbsterhaltungstrieben ergebenden Wünsche nicht aus dem Bewusstsein entfernt werden und im Unbewussten deponiert bleiben können. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen beiden Triebgruppen ist die Tatsache, dass die Sexualtriebe sublimierbar sind, d.h. dass an die Stelle der direkten Befriedigung eines sexuellen Wunsches eine vom ursprünglichen Sexualziel entfernte, mit Leistungen des Ich amalgamierte Befriedigung treten kann. Die Selbsterhaltungstriebe sind solcher Sublimierung nicht fähig.

Von besonderer Wichtigkeit ist ferner die Tatsache, dass die Befriedigung der Selbsterhaltungsimpulse immer wirklicher Mittel bedarf, dass aber die Befriedigung der [I-039] Sexualtriebe oft in Phantasien, ohne Aufwendung realer Mittel, vor sich gehen kann. Konkret gesprochen heißt das: Den Hunger der Menschen kann man nur mit Brot befriedigen, aber etwa ihre Wünsche, geliebt zu werden, mit einer Phantasie von einem gütigen, liebenden Gott oder ihre sadistischen Tendenzen mit blutigen Volksschauspielen.

Wesentlich ist endlich, dass die verschiedenen Äußerungsformen der Sexualtriebe – wiederum im Gegensatz zu den Selbsterhaltungstrieben – in hohem Grade untereinander vertauschbar und verschiebbar sind. Bei Nichtbefriedigung einer Triebregung kann diese durch eine andere ersetzt werden, deren Befriedigung – aus inneren oder äußeren Gründen – möglich ist. Diese Verwandelbarkeit und Vertauschbarkeit innerhalb der Sexualtriebe ist einer der Schlüssel zum Verständnis des neurotischen wie des gesunden Seelenlebens und ein Kernstück der psychoanalytischen Theorie. Sie ist aber auch eine gesellschaftliche Tatsache von höchster Bedeutung. Sie erlaubt es, dass gerade diejenigen Befriedigungen den Massen geboten und von ihnen akzeptiert werden, die aus sozialen Gründen zur Verfügung stehen bzw. von der herrschenden Klasse erwünscht sind.[8]

Zusammenfassend ergibt sich also, dass die Sexualtriebe infolge ihrer Aufschiebbarkeit, Verdrängbarkeit, Sublimierbarkeit und Verwandelbarkeit einen viel elastischeren und geschmeidigeren Charakter haben als die Selbsterhaltungstriebe. Sie lehnen sich diesen an, folgen ihren Spuren (Vgl. S. Freud, 1905d). Die Tatsache der größeren Geschmeidigkeit und Wandlungsfähigkeit der Sexualtriebe bedeutet aber nicht, dass sie auf die Dauer unbefriedigt bleiben können. Es gibt nicht nur ein physisches, sondern auch ein psychisches Existenzminimum, d.h. ein notwendiges Mindestmaß der Befriedigung der Sexualtriebe. Die hier charakterisierten Unterschiede zwischen Selbsterhaltungs- und Sexualtrieben bedeuten vielmehr nur, dass sich die Sexualtriebe in hohem Maße den Befriedigungsmöglichkeiten, d.h. den realen Lebensumständen anpassen können. Sie entwickeln sich schon im Sinne dieser Anpassung, und nur bei neurotischen Individuen liegen Störungen der Anpassungsfähigkeit vor. Die Psychoanalyse hat gerade diese Modifizierbarkeit der Sexualtriebe aufgezeigt, sie hat gelehrt, die individuelle Triebstruktur aus dem Lebensschicksal bzw. aus der Beeinflussung der mitgebrachten Triebanlage durch das Lebensschicksal zu verstehen. Die aktive und passive Anpassung biologischer Tatbestände, der Triebe, an soziale ist die Kernauffassung der Psychoanalyse, und jede personalpsychologische Untersuchung geht von dieser Grundauffassung aus.

Freud hat sich ursprünglich – und auch späterhin vorwiegend – mit der Psychologie des Individuums beschäftigt. Nachdem aber einmal in den Trieben die Motive menschlichen Verhaltens, im Unbewussten die geheime Quelle der Ideologien und Verhaltungsweisen entdeckt waren, konnte es nicht ausbleiben, dass die analytischen Autoren den Versuch machten, vom Problem des Individuums zu dem der [I-040] Gesellschaft, von der Personalpsychologie zur Sozialpsychologie vorzustoßen. Es musste der Versuch unternommen werden, mit den Mitteln der Psychoanalyse den geheimen Sinn und Grund der im gesellschaftlichen Leben so augenfälligen irrationalen Verhaltungsweisen, wie sie sich in der Religion und in Volksbräuchen, aber auch in der Politik und Erziehung äußern, zu finden. Gewiss mussten damit Schwierigkeiten entstehen, die vermieden wurden, solange man sich auf das Gebiet der Personalpsychologie beschränkte.

Aber diese Schwierigkeiten ändern nichts daran, dass die Fragestellung eine völlig korrekte, legitime wissenschaftliche Konsequenz aus der Ausgangsposition der Psychoanalyse darstellt. Wenn sie im Triebleben, im Unbewussten, den Schlüssel zum Verständnis menschlichen Verhaltens gefunden hat, so muss sie auch berechtigt und imstande sein, Wesentliches über die Hintergründe gesellschaftlichen Verhaltens auszusagen. Denn auch die „Gesellschaft“ besteht aus einzelnen lebendigen Individuen, die keinen anderen psychologischen Gesetzen unterliegen können als denen, die die Psychoanalyse im Individuum entdeckt hat.

Es scheint uns deshalb auch unrichtig zu sein, wenn man, wie W. Reich das tut, der Psychoanalyse das Gebiet der Personalpsychologie reserviert und ihre Verwendbarkeit für gesellschaftliche Erscheinungen wie Politik, Klassenbewusstsein etc. grundsätzlich bestreitet.[9] Die Tatsache, dass eine Erscheinung in der Gesellschaftslehre behandelt wird, heißt keineswegs, dass sie nicht Objekt der Psychoanalyse sein kann (sowenig wie es richtig ist, dass ein Gegenstand, den man unter physikalischen Gesichtspunkten untersucht, nicht auch unter chemischen untersucht werden dürfe). Es bedeutet nur, dass sie nur insoweit – aber auch ganz insoweit – bei der Erscheinung psychische Tatsachen eine Rolle spielen, Objekt der Psychologie ist und speziell der Sozialpsychologie, die die gesellschaftlichen Hintergründe und Funktionen der psychischen Erscheinung festzustellen hat. Die These, die Psychologie habe es nur mit dem Einzelnen, die Soziologie mit der Gesellschaft zu tun, ist falsch. Denn sosehr es die Psychologie immer mit dem vergesellschafteten Individuum zu tun hat, sosehr hat es die Soziologie mit einer Vielfalt von einzelnen zu tun, deren seelische Struktur und Mechanismen von der Soziologie berücksichtigt werden müssen. Es wird später davon die Rede sein, welche Rolle psychische Tatbestände gerade bei gesellschaftlichen Erscheinungen spielen und dass gerade hier der methodische Ort einer analytischen Sozialpsychologie ist. [I-041]

Die Soziologie, mit der die Psychoanalyse die meisten Berührungspunkte, aber auch die meisten Gegensätze zu haben scheint, ist der historische Materialismus.

Die meisten Berührungspunkte – denn sie sind beide materialistische Wissenschaften. Sie gehen nicht von „Ideen“, sondern vom irdischen Leben, von Bedürfnissen aus. Sie berühren sich im Besonderen in ihrer gemeinsamen Einschätzung des Bewusstseins, das ihnen weniger Motor menschlichen Verhaltens als Spiegelbild anderer geheimer Kräfte zu sein scheint. Aber hier, bei der Frage nach dem Wesen dieser eigentlichen, das Bewusstsein bestimmenden Faktoren scheint ein unversöhnlicher Gegensatz zu bestehen. Der historische Materialismus sieht im Bewusstsein einen Ausdruck des gesellschaftlichen Seins, die Psychoanalyse einen des Unbewussten, der Triebe. Es entsteht die unabweisbare Frage, ob diese beiden Thesen in einem Widerspruch zueinander stehen und, wenn nicht, in welcher Weise sie sich zueinander verhalten und endlich, ob und warum eine Benutzung psychoanalytischer Methoden für den historischen Materialismus eine Bereicherung darstellt.

Bevor wir uns der Diskussion dieser Fragen selbst zuwenden, erscheint es nötig zu erörtern, welche Voraussetzungen denn die Psychoanalyse zu einer Verwendung für gesellschaftliche Probleme mitbringt. (Zum Methodologischen vgl. E. Fromm, Die Entwicklung des Christusdogmas, 1930a; S. Bernfeld, 1926; W. Reich, 1929.)

Freud hat niemals den isolierten, aus dem sozialen Zusammenhang gelösten Menschen als Objekt der Psychologie angenommen.

Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne. (S. Freud, 1921c, S. 73).

Freud hat aber auch gründlich mit der Illusion einer Sozialpsychologie aufgeräumt, deren Objekt eine Gruppe als solche, die Gesellschaft oder sonst ein soziales Gebilde mit einer entsprechenden „Massenseele“ oder „Gesellschaftsseele“ ist. Er geht vielmehr immer von der Tatsache aus, dass jede Gruppe nur aus Individuen besteht und nur Individuen als solche Subjekt psychischer Eigenschaften sind. (Zu dieser Frage vgl. die klärenden Bemerkungen von G. Simmel, 1908, S. 287°f.) Ebenso wenig hat Freud einen „sozialen Trieb“ angenommen. Das, was man als solchen bezeichnet, ist für ihn „kein ursprünglicher und unzerlegbarer“ Trieb; er sieht „die Anfänge seiner Bildung in einem engeren Kreis, wie etwa in der Familie“. Es ergibt sich als Konsequenz seiner Anschauungen, dass die sozialen Eigenschaften dem Einfluss bestimmter Umweltverhältnisse, gewisser Lebensbedingungen auf die Triebstruktur ihre Entstehung, ihre Verstärkung wie ihre Abschwächung verdanken.

Ist so für Freud immer nur der vergesellschaftete Mensch, der Mensch in seiner sozialen Verflochtenheit, Objekt der Psychologie, so spielen auch für ihn, worauf wir schon oben hingewiesen haben, Umwelt und Lebensbedingungen des Menschen die entscheidende Rolle für seine seelische Entwicklung wie für deren theoretisches [I-042] Verständnis. Freud hat wohl die biologisch-physiologische Bedingtheit der Triebe erkannt, er hat aber gerade nachgewiesen, in welchem Maße diese Triebe modifizierbar sind und dass der modifizierende Faktor die Umwelt, die gesellschaftliche Realität ist.

Die Psychoanalyse scheint so alle Voraussetzungen mitzubringen, die ihre Methoden auch brauchbar für sozialpsychologische Untersuchungen machen und alle Konflikte mit der Soziologie ausschalten. Sie fragt nach den den Mitgliedern einer Gruppe gemeinsamen seelischen Zügen, und sie versucht, diese gemeinsamen seelischen Haltungen aus gemeinsamen Lebensschicksalen zu erklären. Diese Lebensschicksale liegen aber nicht – je größer die Gruppe ist, umso weniger – im Bereich des Zufälligen und Persönlichen, sondern sie sind identisch mit der sozial-ökonomischen Situation eben dieser Gruppe. Analytische Sozialpsychologie heißt also: die Triebstruktur, die libidinöse, zum großen Teil unbewusste Haltung einer Gruppe aus ihrer sozialökonomischen Struktur heraus zu verstehen.

Hier scheint aber ein Einwand am Platze zu sein. Die Psychoanalyse erklärt die Triebentwicklung gerade aus dem Lebensschicksal der ersten Kindheitsjahre, also einer Periode, wo der Mensch noch kaum mit „der Gesellschaft“ zu tun hat, sondern fast ausschließlich im Kreis der Familie lebt. Wie sollen also, nach psychoanalytischer Auffassung, die sozial-ökonomischen Verhältnisse eine solche Bedeutung gewinnen können? Es handelt sich um ein Scheinproblem. Allerdings gehen die ersten entscheidenden Einflüsse auf das heranwachsende Kind von der Familie aus, aber die gesamte Struktur der Familie, alle typischen Gefühlsbeziehungen innerhalb ihrer, alle durch sie vertretenen Erziehungsideale sind ihrerseits selbst bedingt vom gesellschaftlichen und klassenmäßigen Hintergrund der Familie, von der sozialen Struktur, aus der sie erwächst. (Die Gefühlsbeziehungen etwa zwischen Vater und Sohn sind völlig andere in einer Familie der bürgerlichen, vaterrechtlichen Gesellschaft als in der „Familie“ einer mutterrechtlichen Gesellschaft.) Die Familie ist das Medium, durch das die Gesellschaft bzw. die Klasse die ihr entsprechende, für sie spezifische Struktur dem Kind und damit dem Erwachsenen aufprägt; die Familie ist die psychologische Agentur der Gesellschaft.

Die bisherigen psychoanalytischen Arbeiten, die eine Anwendung der Psychoanalyse auf gesellschaftliche Probleme versuchen, entsprechen nun den Anforderungen, die an eine analytische Sozialpsychologie zu stellen sind, zum überwiegenden Teil nicht. Auch wenn man von wissenschaftlich wertlosen Versuchen absieht (wie etwa dem oberflächlichen Schriftchen des einmal als Psychoanalytiker aufgetretenen A. Kolnai (1920) über Psychoanalyse und Soziologie oder dem nur mit den allerdürftigsten Kenntnissen ausgestatteten Verginschen Buch über Psychoanalyse der europäischen Politik, 1931[10]), gilt diese Kritik jenen Autoren wie Reik[11], Roheim u.a.m., die sozialpsychologische Themen behandelt haben. Eine Ausnahme macht neben Siegfried Bernfeld, der besonders auf die soziale Bedingtheit aller pädagogischen Bemühungen hingewiesen hat (Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, 1928), vor allem Wilhelm Reich, dessen Einschätzung der Rolle der Familie weitgehend mit der hier entwickelten Ansicht übereinstimmt. Reich hat insbesondere das wichtige Problem der gesellschaftlichen Bedingtheit und der gesellschaftlichen Funktionen der Sexualmoral ausführlich untersucht. Vgl. sein Buch Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral (1930) und die soeben erschienene Schrift Der Einbruch der Sexualmoral (1932)[12]. [I-043]

Der Fehler beginnt bei der Einschätzung der Funktion der Familie. Man sah zwar, dass der Einzelne nur als vergesellschaftetes Wesen zu verstehen ist, man entdeckte, dass es die Beziehungen des Kindes zu den verschiedenen Mitgliedern der Familie sind, die seine Triebentwicklung so entscheidend bestimmen, aber man übersah fast vollkommen, dass die Familie ihrerseits in ihrer ganzen psychologischen und sozialen Struktur, mit den für sie spezifischen Erziehungszielen und affektiven Einstellungen, das Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen und, im engeren Sinn, einer bestimmten Klassenstruktur ist, dass sie tatsächlich nur die psychologische Agentur der Gesellschaft und Klasse ist, aus der sie erwächst. Man hatte den Ansatzpunkt gefunden, aus dem die psychologische Einwirkung der Gesellschaft auf das Kind zu verstehen war, aber man merkte es nicht. Wie war das möglich? Die psychoanalytischen Forscher hatten hier nur ein Vorurteil, das sie mit allen andern bürgerlichen – auch den fortschrittlichen – Forschern teilen: die Verabsolutierung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und den mehr oder weniger deutlich bewussten Glauben, dass sie die „normale“ Gesellschaft und ihre und die in ihr vorzufindenden psychischen Tatbestände die für „die“ Gesellschaft überhaupt typischen seien.

Es gab aber noch einen besonderen Grund, der den analytischen Autoren diesen Fehler besonders nahelegte. Das Objekt ihrer Untersuchungen waren ja in erster Linie kranke und gesunde Angehörige der modernen bürgerlichen Gesellschaft, vorwiegend sogar der bürgerlichen Klasse[13], bei denen also der die Familienstruktur bedingende Hintergrund gleich bzw. konstant war. Was das Lebensschicksal entschied und unterschied, waren also die auf dieser allgemeinen Grundlage basierenden individuellen, persönlichen und, vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen, zufälligen Ereignisse. Die sich aus der Tatsache einer autoritären, auf Klassenherrschaft und Klassenunterordnung, auf Erwerb nach zweckrationalen Methoden usw. organisierten Gesellschaft ergebenden psychischen Züge, waren allen Untersuchungsobjekten gemeinsam; was sie unterschied, war die Tatsache, ob einer einen überstrengen Vater, den er als Kind übermäßig fürchtete, ein anderer eine etwas ältere Schwester, der seine ganze Liebe galt, oder ein dritter eine Mutter hatte, die ihn so stark an sich band, dass er diese libidinöse Bindung nie mehr aufgeben konnte. Gewiss waren diese persönlichen Schicksale für die individuelle, persönliche Entwicklung von höchster Wichtigkeit, und mit der Beseitigung der aus diesen Schicksalen erwachsenden seelischen Schwierigkeiten hatte die Analyse als Therapie vollauf ihre Schuldigkeit getan, d.h. sie hatte den Patienten zu einem an die bestehende gesellschaftliche Realität [I-044] angepassten Menschen gemacht. Weiter ging ihr therapeutisches Ziel nicht – und brauchte es nicht zu gehen; weiter ging aber auch das theoretische Verständnis nicht. Mehr war für das wesentliche Arbeitsgebiet der Analyse, die Personalpsychologie, nicht nötig, denn die Vernachlässigung der die Familienstruktur bedingenden gesellschaftlichen Struktur für die Personalpsychologie machte eine praktisch irrelevante Fehlerquelle aus.[14]

Ganz anders lagen die Dinge, wenn man von personalpsychologischen zu sozialpsychologischen Untersuchungen überging. Was dort eine praktisch irrelevante Vernachlässigung war, musste hier zu einer für die gesamte Arbeit von vornherein verhängnisvollen Fehlerquelle werden.

Nachdem man einmal die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer vaterrechtlichen Familie als die „normale“ empfand, nachdem man in der personalpsychologischen Arbeit gelernt hatte, die individuellen Differenzen gerade aus den an sich zufälligen Traumen zu verstehen, begann man in entsprechender Weise auch die verschiedenen sozialpsychologischen Erscheinungen unter dem gleichen Gesichtspunkt des Traumas, also des sozial Zufälligen, zu betrachten. Man kam auf diesem Wege notwendigerweise dazu, die eigentliche analytische Methode aufzugeben. Da man sich um die Verschiedenheit des „Lebensschicksals“, d.h. also der ökonomisch-sozialen Situation anderer Gesellschaftsformationen nicht bekümmerte, infolgedessen auch nicht versuchte, ihre psychische Struktur aus ihrer sozialen zu verstehen, musste man, anstatt zu analysieren, analogisieren, d.h. man behandelte die Menschheit oder eine bestimmte Gesellschaft wie ein Individuum, übertrug die spezifischen Mechanismen, die man beim heutigen Menschen vorgefunden hatte, auf alle möglichen Gesellschaftsformationen und „erklärte“ dann deren psychische Struktur aus der Analogie mit gewissen Erscheinungen vor allem krankhafter Art, die sich typischerweise beim Menschen der eigenen Gesellschaft vorfanden.

Man übersah bei diesem Analogisieren einen Gesichtspunkt, der geradezu zu den Fundamenten der analytischen Personalpsychologie gehört: die Tatsache, dass die Neurose, sei es das neurotische Symptom, sei es der neurotische Charakterzug, das Resultat einer mangelnden Angepasstheit der Triebstruktur eines „anormalen“ Individuums an die ihm gegebene Realität ist, dass aber bei Massen, also „Gesunden“, gerade die Fähigkeit zur Anpassung vorliegt, d.h. also schon aus diesem Grunde massenpsychologische Erscheinungen grundsätzlich nicht in Analogie an neurotische verstanden werden können, sondern nur als Resultat der Anpassung der Triebstruktur an die gesellschaftliche Realität, nur häufig an eine von der bestehenden mehr oder weniger stark abweichende.

Das markanteste Beispiel dieses Vorgehens ist wohl die Verabsolutierung des „Ödipuskomplexes“ (des aus der Rivalität um die Mutter entspringenden Hasses gegen den Vater) zu einem allgemein-menschlichen Mechanismus, obwohl vergleichende soziologische und völkerpsychologische Untersuchungen mit Wahrscheinlichkeit zeigen, dass diese spezifische Gefühlseinstellung eben nur ganz für die Familie der vaterrechtlichen Gesellschaft typisch ist und keinen so allgemein-menschlichen Charakter trägt.[15] Die Verabsolutierung des Ödipuskomplexes führte Freud dazu, die Entwicklung der gesamten Menschheit auf diesen Mechanismus des Vaterhasses und der [I-045] daraus resultierenden Reaktionen zu basieren (vgl. S. Freud, 1912-13), ohne dass dem materiellen Lebensprozess der untersuchten Gruppe Beachtung geschenkt wurde.

Wenn der geniale Blick Freuds auch bei einem soziologisch falschen Ausgangspunkt immer noch Fruchtbares und Bedeutsames entdeckte[16], so musste bei den andern analytischen Autoren diese Fehlerquelle zu einem die Analyse in den Augen der Soziologie und speziell der marxistischen Gesellschaftswissenschaft geradezu kompromittierenden Ergebnis führen.

Es war aber falsch, die Psychoanalyse als solche dafür zu belasten. Im Gegenteil, gerade die klassische Methode der psychoanalytischen Personalpsychologie brauchte nur konsequent auf die Sozialpsychologie angewandt zu werden, um zu völlig einwandfreien Resultaten zu führen. Der Fehler lag nicht an der psychoanalytischen Methode, sondern daran, dass die psychoanalytischen Autoren aufhörten, sie in konsequenter und korrekter Weise anzuwenden, wenn sie statt über Individuen über Gesellschaften, Gruppen, Klassen, kurz über soziale Phänomene Untersuchungen anstellten.

Eine ergänzende Bemerkung ist hier am Platze.

Wir haben in den Mittelpunkt unserer Darstellung die Modifizierbarkeit des Triebapparates durch die Einwirkung äußerer, d.h. also letzten Endes sozialer Faktoren gerückt. Es darf aber nicht übersehen werden, dass der Triebapparat, quantitativ wie qualitativ, gewisse physiologisch und biologisch bedingte Grenzen seiner Modifizierbarkeit besitzt und dass er nur innerhalb dieser Grenzen der Beeinflussung durch die [I-046] sozialen Faktoren unterliegt. Infolge der Stärke der in ihm aufgespeicherten Energiemengen stellt aber der Triebapparat selbst eine höchst aktive Kraft dar, der ihrerseits die Tendenz innewohnt, die Lebensbedingungen im Sinne der Triebziele zu verändern.[17] Im Wechselspiel des Aufeinanderwirkens der psychischen Antriebe und der ökonomischen Bedingungen kommt letzteren ein Primat zu. Nicht in dem Sinn, dass sie das „stärkere“ Motiv darstellten – diese Fragestellung beträfe ein Scheinproblem, weil es sich gar nicht um quantitativ vergleichbare „Motive“ gleicher Ebene handelt –, ein Primat aber in dem Sinne, dass die Befriedigung eines großen Teils der Bedürfnisse, speziell aber der dringlichsten, der Selbsterhaltungsbedürfnisse, an die materielle Produktion gebunden ist und dass die Modifizierbarkeit der ökonomischen außermenschlichen Realität weit geringer ist als die des menschlichen Triebapparates, speziell als die der Sexualtriebe.

Die konsequente Anwendung der Methode der analytischen Personalpsychologie auf soziale Phänomene ergibt folgende sozialpsychologische Methode: Die sozialpsychologischen Erscheinungen sind aufzufassen als Prozesse der aktiven und passiven Anpassung des Triebapparates an die sozial-ökonomische Situation. Der Triebapparat selbst ist – in gewissen Grundlagen – biologisch gegeben, aber weitgehend modifizierbar; den ökonomischen Bedingungen kommt die Rolle als primär formende Faktoren zu. Die Familie ist das wesentlichste Medium, durch das die ökonomische Situation ihren formenden Einfluss auf die Psyche des Einzelnen ausübt. Die Sozialpsychologie hat die gemeinsamen – sozial relevanten – seelischen Haltungen und Ideologien – und insbesondere deren unbewusste Wurzeln – aus der Einwirkung der ökonomischen Bedingungen auf die libidinösen Strebungen zu erklären.

Scheint soweit die Methode der Sozialpsychologie in einem guten Einklang sowohl mit der Methode der Freudschen Personalpsychologie wie auch mit den Anforderungen der materialistischen Geschichtsauffassung zu stehen, so ergeben sich neue Schwierigkeiten, wenn diese analytische Methode mit einer falschen, sehr verbreiteten Interpretation der marxistischen Theorie konfrontiert wird: der Auffassung des historischen Materialismus als psychologischer Theorie und speziell als ökonomistischer Psychologie.

Wenn es wirklich so ist, wie Bertrand Russell[18] meint, dass Marx im „Geldmachen“, Freud in der Liebe das entscheidende Motiv menschlichen Handelns sähe, dann [I-047] wären beide Wissenschaften allerdings so unvereinbar, wie Russell es glaubt. Aber wenn die von Russell zitierte Eintagsfliege wirklich theoretisch denken könnte, würde sie statt der ihr in den Mund gelegten Antwort erklären, dass Russell sowohl die Psychoanalyse als auch den Marxismus ganz und gar falsch versteht, dass die Psychoanalyse gerade die Anpassung biologischer Faktoren, der Triebe, an soziale untersucht und der Marxismus wiederum überhaupt keine psychologische Theorie ist.

Russell ist nicht der einzige, der beide Theorien so missversteht, er befindet sich dabei in Gesellschaft einer Reihe von Theoretikern und verbreiteter Anschauungen.

Besonders deutlich und drastisch wird diese Auffassung der materialistischen Geschichtsauffassung als einer ökonomistischen Psychologie von Hendrik de Man vertreten. Er sagt:

Marx selber hat bekanntlich seine Motivlehre niemals formuliert. Er hat sogar niemals umschrieben, was unter Klasse zu verstehen sei; der Tod hat sein letztes Werk unterbrochen, als er dabei war, sich diesem Gegenstand zuzuwenden. Über die Grundanschauungen, von denen er ausging, besteht jedoch kein Zweifel; diese bestätigen sich auch ohne Definition als stillschweigende Voraussetzung durch die stete Anwendung sowohl bei seiner wissenschaftlichen wie bei seiner politischen Tätigkeit. Jeder ökonomische Lehrsatz und jede politisch-strategische Meinung Marxens beruht auf der Voraussetzung, dass die menschlichen Willensmotive, wodurch sich der gesellschaftliche Fortschritt vollzieht, in erster Linie vom wirtschaftlichen Interesse diktiert seien. Denselben Gedanken würde die Sprache der heutigen Sozialpsychologie als Bestimmung des gesellschaftlichen Verhaltens durch den Erwerbstrieb, d.h. den Trieb zur Aneignung von sachlichen Werten ausdrücken. Wenn Marx selber diese oder ähnliche Formeln für überflüssig gehalten hat, so erklärt sich das einfach daraus, dass ihr Inhalt der gesamten Nationalökonomie seiner Zeit als selbstverständlich galt. (H. de Man, 1927, S. 281.)

Was Hendrik de Man für eine „stillschweigende Voraussetzung des Marxismus“ hält, stillschweigend, weil es allen zeitgenössischen (lies bürgerlichen) Nationalökonomen eine selbstverständliche Vorstellung war, ist ganz und gar nicht die Auffassung von Marx, der ja auch in manchen anderen Punkten die Auffassung der Theoretiker „seiner Zeit“ nicht geteilt hat.

Auch E. Bernstein ist, wenn auch weniger ausdrücklich, nicht weit von dieser psychologistischen Interpretation entfernt, wenn er eine Art Ehrenrettung des historischen Materialismus durch folgende Bemerkung vornehmen will:

Ökonomische Geschichtsauffassung braucht nicht zu heißen, dass bloß ökonomische Kräfte, bloß ökonomische Motive anerkannt werden, sondern nur, dass die Ökonomie die immer wieder entscheidende Kraft, den Angelpunkt der großen Bewegungen in der Geschichte bildet. (E. Bernstein, 1899, S. 13; Hervorhebung E. F.). [I-048]

Hinter diesen verschwommenen Formulierungen verbirgt sich die Auffassung des Marxismus als ökonomistischer Psychologie, die von Bernstein im idealistischen Sinn gereinigt und verbessert wird.[19]

Der Gedanke, dass der „Erwerbstrieb“ das wesentliche oder einzige Motiv des menschlichen Handelns sei, ist ein Gedanke des Liberalismus. Er wurde von bürgerlicher Seite einerseits als psychologisches Argument gegen die Verwirklichungsmöglichkeit des Sozialismus verwendet[20], andererseits aber wurde der Marxismus von seinen kleinbürgerlichen Anhängern im Sinne dieser ökonomistischen Psychologie interpretiert. In Wirklichkeit ist der historische Materialismus weit davon entfernt, eine psychologische Theorie zu sein. Er hat nur einige ganz wenige psychologische Voraussetzungen.

Zunächst die, dass es die Menschen sind, die ihre Geschichte machen, weiterhin die, dass es die Bedürfnisse sind, die das Handeln und Fühlen der Menschen motivieren (Hunger und Liebe) und weiterhin, dass diese Bedürfnisse im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung steigen und dieses Steigen der Bedürfnisse eine Bedingung für die steigende wirtschaftliche Tätigkeit darstellt.[21]

Der ökonomische Faktor spielt im Zusammenhang mit der Psychologie im historischen Materialismus nur insofern eine Rolle, als die menschlichen Bedürfnisse – und zunächst die nach Selbsterhaltung – zum großen Teil ihre Befriedigung durch Produktion von Gütern finden, also in den Bedürfnissen der Hebel und Anreiz zur Produktion zu suchen ist. Marx und Engels haben wohl betont, dass unter den Bedürfnissen die nach Selbsterhaltung allen anderen voranstehen, sie haben sich im einzelnen aber über die Qualität der verschiedenen Triebe und Bedürfnisse nicht geäußert. Ganz gewiss aber haben sie nie den „Erwerbstrieb“, also das Bedürfnis, das auf den Erwerb an sich, den Erwerb als Selbstzweck geht, für das einzige oder auch nur wesentlichste Bedürfnis gehalten. Es ist nur eine naive Verabsolutierung eines psychischen Zuges, der in der kapitalistischen Gesellschaft eine unerhörte Stärke erlangt hat, wenn man ihn in dieser Stärke und Ausprägung für einen allgemeinmenschlichen deklariert. Marx und Engels ist am allerwenigsten eine solche Verklärung bürgerlich-kapitalistischer Züge zu allgemein-menschlichen zuzumuten. Sie wussten sehr wohl, welche Stelle der Psychologie innerhalb der Soziologie zukommt, sie waren aber keine Psychologen und wollten auch keine sein, indem sie über diese [I-049] allgemeinen Hinweise hinaus nähere Aussagen über Inhalt und Mechanismen der menschlichen Triebwelt machten.[22] Es stand ihnen auch abgesehen von gewissen und sicherlich nicht zu unterschätzenden Ansätzen in der Literatur der französischen Aufklärung (vor allem Helvetius) keine wissenschaftliche materialistische Psychologie zur Verfügung. Erst die Psychoanalyse hat diese Psychologie geliefert und gezeigt, dass der „Erwerbstrieb“ zwar eine wichtige, aber neben anderen (genitalen, sadistischen, narzisstischen u.a.m.) Bedürfnissen keineswegs eine überragende Rolle im Seelenhaushalt des Menschen spielt. Insbesondere kann sie aufzeigen, dass zu einem großen Teil der „Erwerbstrieb“ gar nicht als tiefste Ursache das Bedürfnis zu erwerben oder zu besitzen hat, sondern dass er selbst nur ein Ausdruck narzisstischer Bedürfnisse ist, des Wunsches, bei sich selbst und bei anderen Anerkennung zu finden. Es ist klar, dass in einer Gesellschaft, die dem Besitzenden, Reichen das Höchstmaß an Anerkennung und Bewunderung zollt, die narzisstischen Bedürfnisse der Mitglieder dieser Gesellschaft zu einer außerordentlichen Intensivierung des Besitzwunsches führen müssen, während in einer Gesellschaft, in der Besitz nicht die Basis des gesellschaftlichen Ansehens ist, sondern etwa für die Gesamtheit wichtige Leistungen, die gleichen narzisstischen Impulse sich nicht als „Erwerbstrieb“ äußern, sondern als „Trieb“ zur sozial wichtigen Leistung. Da die narzisstischen Bedürfnisse zu den elementarsten und mächtigsten seelischen Strebungen gehören, ist es besonders wichtig zu erkennen, dass die Ziele und damit die konkreten Inhalte der narzisstischen Strebungen von der bestimmten Struktur einer Gesellschaft abhängen und dass deshalb der „Erwerbstrieb“ zu einem großen Teil nur der besonderen Hochschätzung des Besitzes in der bürgerlichen Gesellschaft seine imponierende Rolle verdankt.

Wenn also in der materialistischen Geschichtsauffassung von ökonomischen Ursachen gesprochen wird, so ist – abgesehen von der eben angeführten Bedeutung – nicht Ökonomie als subjektives psychologisches Motiv, sondern als objektive Bedingung der menschlichen Lebenstätigkeit gemeint. Alles menschliche Agieren, die Befriedigung aller Bedürfnisse hängt ab von der Eigenart der vorgefundenen natürlichen ökonomischen Bedingungen, und diese Bedingungen sind es, die das Wie des Lebens der Menschen vorschreiben. Das Bewusstsein der Menschen ist für Marx nur zu verstehen aus ihrem gesellschaftlichen Sein, aus ihrem irdischen, realen, eben durch den Stand der Produktivkräfte bedingten Leben:

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluss ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen usw., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer camera obscura auf den [I-050] Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso sehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. (K. Marx, 1971, S. 348°f.)

Der historische Materialismus fasst den geschichtlichen Prozess als Prozess der aktiven und passiven Anpassung des Menschen an die ihn umgebenden natürlichen Bedingungen auf.

Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. (K. Marx, 1971a, Band 1, S.192.)

Der Mensch und die Natur sind die beiden aufeinander einwirkenden, sich wechselseitig verändernden und bedingenden Pole. Immer bleibt der historische Prozess an die Gegebenheiten der natürlichen Bedingungen außerhalb des Menschen wie seiner eigenen Beschaffenheit gebunden. Obwohl Marx gerade davon ausging, in welchem ungeheuren Ausmaß der Mensch die Natur und sich selbst im gesellschaftlichen Prozess verändert, hat er immer wieder betont, dass alle Veränderungen an die natürlichen Bedingungen gebunden sind. Dies unterscheidet gerade seinen Standpunkt von gewissen idealistischen, dem menschlichen Willen unbeschränkte Macht zutrauenden Positionen.[23]

Marx und Engels sagen in Die Deutsche Ideologie (K. Marx, 1971, S. 346°f.):

Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.

Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. Wir können hier natürlich weder auf die physische Beschaffenheit der Menschen selbst noch auf die von den Menschen vorgefundenen Naturbedingungen, die geologischen, oro-hydrographischen, klimatischen und anderen Verhältnisse eingehen. Alle Geschichtsschreibung muss von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Laufe der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.

Wie stellt sich nun, nach Beseitigung der gröbsten Missverständnisse, das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und historischem Materialismus dar?

Die Psychoanalyse kann die Gesamtauffassung des historischen Materialismus an einer ganz bestimmten Stelle bereichern, nämlich in der umfassenderen Kenntnis eines der im gesellschaftlichen Prozess wirksamen Faktoren, der Beschaffenheit des Menschen selbst, seiner „Natur“. Sie reiht den Triebapparat des Menschen in die Reihe der natürlichen Bedingungen ein, die selber modifizieren, aber in deren Natur auch die Grenzen der Modifizierbarkeit liegen. Der Triebapparat des Menschen ist eine [I-051] der „natürlichen“ Bedingungen, die zum Unterbau des gesellschaftlichen Prozesses gehören. Aber nicht der Triebapparat „im Allgemeinen“, in seiner biologischen „Urform“. Als solcher erscheint er in Wirklichkeit niemals, sondern immer schon in einer bestimmten, eben durch den gesellschaftlichen Prozess veränderten Form. Die menschliche Psyche bzw. deren Wurzeln, die libidinösen Kräfte, gehören mit zum Unterbau, sie sind aber nicht etwa der Unterbau, wie eine psychologistische Interpretation meint, und die menschliche Psyche ist auch immer nur die durch den gesellschaftlichen Prozess modifizierte Psyche. Der historische Materialismus verlangt eine Psychologie, d.h. eine Wissenschaft von den seelischen Eigenschaften des Menschen. Erst die Psychoanalyse hat eine Psychologie geliefert, die für den historischen Materialismus brauchbar ist.

Diese Ergänzung ist besonders aus folgendem Grunde wichtig. Marx und Engels konstatierten die Abhängigkeit allen ideologischen Geschehens vom ökonomischen Unterbau, sahen im Geistigen „das in den Menschenkopf umgesetzte Materielle“. Gewiss konnte in vielen Fällen der historische Materialismus auch ohne alle psychologischen Voraussetzungen richtige Antworten geben. Aber doch nur entweder da, wo die Ideologie einen mehr oder weniger zweckrationalen Charakter mit Bezug auf gewisse Klassenziele trägt oder da, wo es sich darum handelt, richtige Zuordnungen zwischen ökonomischem Unterbau und ideologischem Überbau vorzunehmen, ohne doch zu erklären, wie der Weg von der Ökonomie zum menschlichen Kopf oder Herz geht.[24] Aber über das Wie der Umsetzung des Materiellen in den Menschenkopf konnten und wollten – mangels einer brauchbaren Psychologie – Marx und Engels keine Antwort geben.[25] Die Psychoanalyse kann zeigen, dass die Ideologien die Produkte von bestimmten Wünschen, Triebregungen, Interessen, Bedürfnissen sind, die, selber zum großen Teil nicht bewusst, als „Rationalisierung“ in Form der Ideologie auftreten; dass aber diese Triebregungen selbst zwar einerseits auf der Basis biologisch bedingter Triebe erwachsen, aber weitgehend ihrer Quantität und ihrem Inhalt nach von der sozial-ökonomischen Situation des Individuums bzw. seiner Klasse geprägt sind. Wenn, wie Marx sagt, die Menschen die Produzenten ihrer Ideologie sind, so kann eben gerade die analytische Sozialpsychologie die Eigenart dieses Produktionsprozesses der Ideologien, die Art des Zusammenwirkens „natürlicher“ und gesellschaftlicher Faktoren in ihm beschreiben und erklären. Die Psychoanalyse kann also zeigen, wie sich auf dem Wege über das Triebleben die ökonomische Situation in Ideologie umsetzt. Dabei ist ganz besonders zu betonen, dass dieser „Stoffwechsel“ zwischen Triebwelt und Umwelt dazu führt, dass sich der Mensch als solcher verändert, genauso wie die „Arbeit“ die außermenschliche Natur verändert. Die Richtung dieser Veränderung des Menschen kann hier nur angedeutet werden. Sie liegt vor allem in dem von Freud verschiedentlich betonten Wachstum der Ich-Organisation [I-052] und dem damit verbundenen Wachstum der Sublimierungsfähigkeit.[26] Die Psychoanalyse erlaubt uns also, die Ideologiebildung als eine Art „Arbeitsprozess“, als eine der Situationen des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur anzusehen, wobei die Besonderheit darin liegt, dass die „Natur“ in diesem Fall innerhalb und nicht außerhalb des Menschen liegt.

Die Psychoanalyse kann gleichzeitig über die Wirkungsweise der Ideologien oder Ideen auf die Gesellschaft Aufschluss geben. Sie kann aufzeigen, dass die Wirkung einer „Idee“ wesentlich auf ihrem unbewussten und an bestimmte Triebtendenzen appellierenden Gehalt beruht, d.h. dass es Art und Stärke des libidinösen Resonanzbodens der Gesellschaft oder einer Klasse ist, die über die soziale Wirkung der Ideologien mitbestimmen.

Wenn so klar zu sein scheint, dass die psychoanalytische Sozialpsychologie in einem ganz bestimmten Punkt ihren Platz innerhalb des historischen Materialismus hat, so ist noch auf einige Punkte hinzuweisen, in denen sie ganz unmittelbar gewisse Schwierigkeiten zu beseitigen imstande ist.

Zunächst einmal kann der historische Materialismus gewissen Einwänden klarer entgegnen. Wenn darauf hingewiesen wurde, welche Rolle in der Geschichte ideelle Momente wie Freiheitswille, Liebe zur Gruppe, der man angehört, usw. spielen, so konnte man vom Standpunkt des historischen Materialismus aus wohl diese Fragestellung als eine psychologische ablehnen und sich darauf beschränken, die objektive ökonomische Bedingtheit der historischen Ereignisse nachzuweisen. Man war aber nicht imstande, eine klare Antwort darauf zu geben, welcher Art und Herkunft denn nun wirklich diese – als psychische Antriebe doch offenbar sehr wirksamen – menschlichen Kräfte sind und wie man sie im gesellschaftlichen Prozess einzuordnen hat. Die Psychoanalyse kann aufzeigen, dass diese scheinbar ideellen Motive in Wirklichkeit nichts anderes als der rationalisierte Ausdruck von triebhaften, libidinösen Bedürfnissen sind und dass Inhalt und Umfang der jeweils herrschenden Bedürfnisse wiederum nur aus dem Einfluss der sozial-ökonomischen Situation auf die gegebene Triebstruktur der die Ideologie bzw. das dahinterstehende Bedürfnis produzierenden Gruppe zu verstehen sind. Es ist also der Psychoanalyse möglich, auch die sublimsten ideellen Beweggründe auf ihren irdischen libidinösen Kern zu reduzieren, ohne dabei gezwungen zu sein, die ökonomischen Bedürfnisse als die allein wichtigen anzusehen.

Der Mangel an einer dem historischen Materialismus adäquaten Psychologie führte dazu, dass gewisse Vertreter des historischen Materialismus an dieser Stelle eine private, rein idealistische Psychologie aufstellten. Ein typisches Beispiel – typischer noch als offen idealistische Autoren wie E. Bernstein – ist K. Kautsky. Er nimmt an, dass es einen dem Menschen eingeborenen „sozialen Trieb“ gibt. Das Verhältnis zwischen diesem sozialen Trieb und den sozialen Verhältnissen beschreibt er folgendermaßen:

Je nach der Stärke und Schwäche seiner sozialen Triebe wird der Mensch mehr zum [I-053] Bösen oder Guten neigen. Doch hängt dies nicht minder von seinen Lebensbedingungen in der Gesellschaft ab. (K. Kautsky, 1927, Band 1, S. 262.)

Es ist klar, dass dieser eingeborene soziale Trieb nichts anderes ist als das dem Menschen eingeborene moralische Prinzip und dass sich der Kautskysche Standpunkt nur in der Ausdrucksweise von einer idealistischen Ethik unterscheidet.[27]

Diejenigen marxistischen Autoren aber, die nicht die Wendung zu einer idealistischen Psychologie und Ethik gemacht haben, schenken der Psychologie überhaupt wenig Beachtung.[28] Nun ist es gewiss richtig, worauf oben schon hingewiesen wurde, dass der gesellschaftliche Prozess auch ohne Psychologie aus der Kenntnis der ökonomischen und von ihnen abhängenden sozialen Kräfte verstanden werden kann. Da ja aber nicht die gesellschaftlichen Gesetze es sind, welche handeln, sondern lebendige Menschen, d.h. da die ökonomischen und sozialen Notwendigkeiten sich durch das Medium nicht nur des menschlichen rationalen Denkens, sondern vor allem des menschlichen Triebapparates, seiner libidinösen Kräfte, durchsetzen, ergibt sich folgendes: Einmal ist die menschliche Triebwelt eine Naturkraft, die gleich anderen (also etwa Bodenfruchtbarkeit, Bewässerung usw.) unmittelbar zum Unterbau des gesellschaftlichen Prozesses gehört und einen wichtigen naturalen, sich unter dem Einfluss [I-054] des gesellschaftlichen Prozesses verändernden Faktor darstellt, dessen Kenntnis also zum vollständigen Verständnis des gesellschaftlichen Prozesses notwendig ist; weiterhin, dass die Produktion und Wirkungsweise der Ideologien nur aus der Kenntnis des Funktionierens des Triebapparates richtig verstanden werden kann; endlich, dass beim Auftreffen der ökonomisch bedingenden Faktoren auf dieses Medium, die Triebwelt, gleichsam gewisse Brechungen entstehen, d.h. dass durch die Eigenart der Triebstruktur sich faktisch der soziale Prozess, vor allem im Tempo, anders – rascher oder langsamer – vollzieht, als dies bei theoretischer Vernachlässigung des psychischen Faktors zu erwarten ist. Es ergibt sich also aus der Verwendung der Psychoanalyse innerhalb des historischen Materialismus eine Verfeinerung der Methode, eine Erweiterung der Kenntnis der im gesellschaftlichen Prozess wirksamen Kräfte, eine noch größere Sicherheit sowohl im Verständnis historischer Abläufe als auch in der Prognose künftigen gesellschaftlichen Geschehens, und speziell das vollkommene Verständnis der Produktion der Ideologien.

Der Grad der Fruchtbarkeit einer psychoanalytischen Sozialpsychologie hängt natürlich ab von dem Grad der Bedeutung, den die libidinösen Kräfte im gesellschaftlichen Prozess haben. Eine auch nur einigermaßen vollständige Untersuchung müsste weit über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausführen. Wir begnügen uns deshalb an dieser Stelle mit einigen andeutenden grundsätzlichen Bemerkungen.

Wenn man fragt, durch welche Kräfte eine bestimmte Gesellschaft in ihrer Stabilität gehalten, durch welche andererseits diese Stabilität erschüttert wird, so sieht man, dass es zwar die ökonomischen Bedingungen, die gesellschaftlichen Widersprüche sind, die über Stabilität oder Zerfall einer Gesellschaft entscheiden, dass aber der Faktor, der auf der Basis dieser Bedingungen ein überaus wichtiges Element in der gesellschaftlichen Struktur darstellt, die in den Menschen wirksamen libidinösen Tendenzen sind. Gehen wir zunächst von einer relativ stabilen gesellschaftlichen Konstellation aus. Was hält die Menschen zusammen, was macht gewisse Solidaritätsgefühle, was gewisse Einstellungen der Unter- und Überordnung möglich? Gewiss, es ist der äußere Machtapparat (also Polizei, Justiz, Militär usw.), der die Gesellschaft nicht aus den Fugen gehen lässt. Gewiss, es sind die zweckrationalen, egoistischen Interessen, die zur Formierung und Stabilität beitragen: Aber weder der äußere Machtapparat noch die rationalen Interessen würden ausreichen, um das Funktionieren der Gesellschaft zu garantieren, wenn nicht die libidinösen Strebungen der Menschen hinzukämen. Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen.

Verdeutlichen wir dies an einer besonders wichtigen gesellschaftlichen Konstellation, am Verhältnis der Klassen zueinander. In der uns bekannten Geschichte herrscht eine Minorität über die Majorität der Gesellschaft. Diese Klassenherrschaft war nicht der Erfolg von List und Betrug, wie es etwa die Aufklärung darstellt, sondern sie war notwendig und bedingt von der ökonomischen Gesamtsituation der Gesellschaft, vom Stand der Produktivkräfte. So erscheint etwa Necker „das Volk durch Eigentumsgesetze verdammt, immer nur das Allernotwendigste für seine Arbeit zu bekommen“. [I-055] Die Gesetze werden als Schutzmaßregeln der Besitzenden gegen die Besitzlosen angesehen. Sie seien, so schreibt Linguet, gewissermaßen „eine Verschwörung gegen den zahlreichsten Teil des Menschengeschlechts, gegen den dieser nirgends und auf keine Art Hilfe finden könne“ (zit. nach K. Grünberg, 1924, S. 31).

Die Aufklärung hat das Abhängigkeitsverhältnis beschrieben und kritisiert, wenn sie auch seine ökonomische Bedingtheit nicht erkannte. In der Tat entspricht die Feststellung der Herrschaft einer Minorität dem geschichtlichen Verlauf. Welches sind aber die Faktoren, die diesem Abhängigkeitsverhältnis Bestand verleihen?

Es sind wohl in erster Reihe die Mittel physischen Zwangs, und es sind bestimmte Gruppen, die mit der Handhabung dieser Mittel beauftragt sind, aber daneben gibt es noch einen anderen wichtigen Faktor: die libidinösen Bindungen, Angst, Liebe, Vertrauen, die die Seelen der Majorität in ihrem Verhältnis zur herrschenden Klasse erfüllen. Diese seelische Einstellung ist aber keine willkürliche, zufällige, sie ist der Ausdruck der libidinösen Anpassung der Menschen an die ökonomisch notwendigen Lebensbedingungen. Da und solange diese die Herrschaft einer Minorität über eine Majorität notwendig machen, passt sich auch die Libido dieser ökonomischen Struktur an und wird damit selbst zu einem das Klassenverhältnis stabilisierenden Moment.

Über der Anerkennung der ökonomischen Bedingtheit der libidinösen Struktur darf aber die Sozialpsychologie nicht vergessen, die psychologische Basis dieser Struktur zu untersuchen; d.h. es ist nicht nur zu erforschen, warum diese libidinöse Struktur notwendig ist, sondern auch wie sie psychologisch möglich ist, durch welche Mechanismen sie funktioniert. Bei der Untersuchung dieser Wurzeln der libidinösen Bindung der Majorität an die herrschende Minorität wird etwa die Sozialpsychologie feststellen, dass diese Bindung eine Wiederholung bzw. eine Fortsetzung der seelischen Haltung ist, die diese erwachsenen Menschen als Kinder zu ihren Eltern, speziell zu ihrem Vater gehabt haben (innerhalb der bürgerlichen Familie).[29] Es handelt sich um eine Mischung von Bewunderung, Angst, Glauben an die Kraft, Klugheit und guten Absichten des Vaters, d.h. affektiv bedingte Überschätzung seiner intellektuellen und moralischen Qualitäten, wie wir sie beim Kind im Verhältnis zum Vater wie beim Erwachsenen innerhalb der patriarchalischen Klassengesellschaft im Verhältnis zum Angehörigen der herrschenden Klasse finden. Hiermit eng verknüpft sind gewisse moralische Prinzipien, die es den Armen vorziehen lassen zu leiden, als „Unrecht“ zu tun, die ihn glauben lassen, der Sinn seines Lebens sei Gehorsam und Pflichterfüllung im Dienste der Mächtigen usf. Auch diese für die soziale Stabilität so überaus wichtigen ethischen Vorstellungen sind das Produkt bestimmter affektiver, emotionaler Beziehungen zu denjenigen, die diese Vorstellungen inaugurieren und vertreten.

Selbstverständlich wird es nicht dem Zufall überlassen, ob solche Vorstellungen entstehen oder nicht. Vielmehr dient ein ganz wesentlicher Teil des Kulturapparates dazu, die sozial geforderte Haltung systematisch und planmäßig zu schaffen. Die [I-056] Darstellung der Rolle, die das gesamte Erziehungswesen oder auch z.B. die Strafjustiz hierbei spielen, ist eine wichtige Aufgabe der Sozialpsychologie.[30]

Wir haben die libidinösen Beziehungen zwischen der herrschenden Minorität und der beherrschten Majorität herausgegriffen, weil dieses Verhältnis der soziale wie psychische Kern jeder Klassengesellschaft ist. Aber auch alle anderen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft tragen ihr besonderes libidinöses Gepräge. Die Beziehungen der Angehörigen der gleichen Klasse etwa weisen eine andere psychische Färbung innerhalb des Kleinbürgertums auf als innerhalb des Proletariats; die libidinöse Beziehung zum politischen Führer ist psychologisch anders strukturiert beim seine Klasse zwar führenden, aber sich mit ihr identifizierenden und ihren Wünschen dienenden, proletarischen, und anders, bei dem der Masse als starker Mann, als mächtiger, vergrößerter pater familias gegenüberstehenden, kommandierenden Führer.[31]

Entsprechend der Mannigfaltigkeit der möglichen libidinösen Beziehungen herrschen auch tatsächlich die allerverschiedensten Arten gefühlsmäßiger Bindungen innerhalb der Gesellschaft. Ihre Beschreibung und Erklärung ist an dieser Stelle auch nur andeutungsweise ganz unmöglich. Es ist dies eine Hauptaufgabe einer analytischen Sozialpsychologie. Nur so viel muss gesagt werden, dass jede Gesellschaft, so wie sie eine bestimmte ökonomische und eine soziale, politische und geistige Struktur hat, auch eine ihr ganz spezifische libidinöse Struktur[32] hat. Die libidinöse Struktur ist das Produkt der Einwirkung der sozial-ökonomischen Bedingungen auf die Triebtendenzen, und sie ist ihrerseits ein wichtiges bestimmendes Moment für die Gefühlsbindung innerhalb der verschiedenen Schichten der Gesellschaft wie auch für die Beschaffenheit des „ideologischen Überbaus“. Die libidinöse Struktur einer Gesellschaft ist das Medium, in dem sich die Einwirkung der Ökonomie auf die eigentlich menschlichen, seelisch-geistigen Erscheinungen vollzieht.

Selbstverständlich bleibt die libidinöse Struktur einer Gesellschaft sowenig konstant wie ihre ökonomische und soziale. Sie hat aber eine relative Konstanz, solange die Gesellschaftsstruktur in einem gewissen Gleichgewicht ist, d.h. also in den relativ konsolidierten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung. Mit dem Wachsen der objektiven Widersprüche innerhalb der Gesellschaft, mit der beginnenden stärkeren [I-057] Zersetzung einer bestimmten Gesellschaftsform treten auch gewisse Veränderungen in der Iibidinösen Struktur der Gesellschaft ein; traditionelle, die Stabilität der Gesellschaft erhaltende Bindungen verschwinden, traditionelle Gefühlshaltungen ändern sich. Libidinöse Kräfte werden zu neuen Verwendungen frei und verändern damit ihre soziale Funktion. Sie tragen nun nicht mehr dazu bei, die Gesellschaft zu erhalten, sondern sie führen zum Aufbau neuer Gesellschaftsformationen, sie hören gleichsam auf, Kitt zu sein und werden Sprengstoff.

Kehren wir noch einmal zu der am Eingang diskutierten Fragestellung zurück, dem Verhältnis der Triebe zu den Lebensschicksalen, also den äußeren Lebensbedingungen des Menschen! Wir hatten gesehen, dass die analytische Personalpsychologie die Triebentwicklung als Produkt der aktiven und passiven Anpassung der Triebstruktur an die Lebensbedingungen ansieht. Das Verhältnis zwischen der libidinösen Struktur der Gesellschaft und ihren ökonomischen Bedingungen ist prinzipiell genau das gleiche. Es handelt sich um einen Prozess der aktiven und passiven Anpassung der libidinösen Struktur der Gesellschaft an die ökonomischen Bedingungen. Die Menschen, eben getrieben von ihren libidinösen Impulsen, verändern ihrerseits die ökonomischen Bedingungen, die veränderten ökonomischen Bedingungen bewirken, dass neue libidinöse Strebungen und Befriedigungen entstehen usf. Entscheidend ist, dass alle diese Veränderungen in letzter Instanz auf die ökonomischen Bedingungen zurückgehen, dass sich die Triebregungen und Bedürfnisse im Sinne der ökonomischen Bedingungen, d.h. des jeweils Möglichen bzw. Notwendigen verändern und anpassen.

Innerhalb der Auffassung des historischen Materialismus findet die analytische Psychologie eindeutig ihren Platz. Sie untersucht einen der im Verhältnis Gesellschaft – Natur wirksamen natürlichen Faktoren, die menschliche Triebwelt, die aktive und passive Rolle, die sie innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses spielt. Sie untersucht damit zugleich einen entscheidenden zwischen der ökonomischen Basis und der Ideologiebildung vermittelnden Faktor. Die analytische Sozialpsychologie ermöglicht dadurch das volle Verständnis des ideologischen Überbaus aus dem zwischen Gesellschaft und Natur sich abspielenden Prozess.

Kurz zusammengefasst ist das Ergebnis dieser Untersuchung über Methode und Aufgabe einer psychoanalytischen Sozialpsychologie:

Die Methode ist die der klassischen Freudschen Psychoanalyse, d.h. auf soziale Phänomene übertragen: Verständnis der gemeinsamen, sozial relevanten seelischen Haltungen aus dem Prozess der aktiven und passiven Anpassung des Triebapparates an die sozial-ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft.

Die Aufgabe einer psychoanalytischen Sozialpsychologie liegt zunächst in der Herausarbeitung der sozial wichtigen libidinösen Strebungen, mit anderen Worten in der Darstellung der libidinösen Struktur der Gesellschaft. Ferner hat die Sozialpsychologie die Entstehung dieser libidinösen Struktur und ihre Funktion im gesellschaftlichen Prozess zu erklären. Die Theorie, wie die Ideologien aus dem Zusammenwirken von seelischem Triebapparat und sozial-ökonomischen Bedingungen entstehen, wird dabei ein besonders wichtiges Stück sein.

Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie

(1932b)[33]

Der Ausgangspunkt der Psychoanalyse war ein therapeutischer: Seelische Störungen wurden erklärt aus der Stauung und der dadurch hervorgerufenen pathologischen Verwendung der Sexualenergie im Symptom, bzw. aus der Abwehr von im Bewusstsein nicht zugelassenen, mit libidinösen Impulsen verknüpften Vorstellungen. Die Reihe: Libido → Abwehr durch verdrängende Instanz → Symptom war der rote Faden der frühen analytischen Untersuchungen. Damit verbunden war die Tatsache, dass Gegenstand der analytischen Untersuchung fast ausschließlich Kranke und in der Mehrzahl solche mit körperlichen Symptomen waren. Im Verlauf der Entwicklung der Psychoanalyse trat neben diese Fragestellung die nach der Genese und Bedeutung bestimmter psychischer Eigenarten, die sich sowohl bei Kranken als auch bei Gesunden finden. Hier handelt es sich zwar, genau wie bei der ursprünglichen Fragestellung, um die Aufdeckung der triebhaften, libidinösen Wurzeln der psychischen Einstellung, aber die Reihe wird nicht in der Richtung: Verdrängung → Symptom, sondern in der Richtung: Sublimierung bzw. Reaktionsbildung → Charakterzug fortgesetzt. Diese Fragestellung musste sich gleich fruchtbar für das Verständnis des kranken wie des gesunden Charakters erweisen und damit in besonderem Maß für die Probleme der Sozialpsychologie wichtig werden.[34]

Die allgemeine Grundlage der psychoanalytischen Charakterologie ist, bestimmte Charakterzüge aufzufassen als Sublimierung bzw. Reaktionsbildung bestimmter sexueller (im erweiterten, von Freud so gebrauchten Sinn) Triebregungen bzw. als Fortsetzung bestimmter in der Kindheit diesen Triebregungen koordinierter Objektbeziehungen. Diese genetische Ableitung der psychischen Erscheinung aus libidinösen Quellen und frühkindlichen Erlebnissen ist das spezifisch analytische Prinzip, das die analytische Charakterologie mit der Neurosenlehre teilt; während aber das neurotische Symptom (wie auch der neurotische Charakter) das Ergebnis einer nicht geglückten Anpassung der Triebe an die gesellschaftliche Realität darstellt, handelt es sich bei dem nichtneurotischen Charakterzug um eine Verarbeitung libidinöser Regungen auf dem Wege der Reaktionsbildung oder Sublimierung in einer relativ stabilen und gesellschaftlich angepassten Weise. Der Unterschied zwischen dem normalen und dem neurotischen Charakter ist allerdings ein ganz fließender und in erster Linie vom Grad der gesellschaftlichen Unangepasstheit her zu bestimmen. [I-060]

Es kann an dieser Stelle das komplizierte Problem der Reaktionsbildung und Sublimierung nur angedeutet werden. Unter Reaktionsbildung ist zu verstehen die Aufrichtung einer dem ursprünglichen Triebziel entgegengesetzten, dieses abwehrenden und niederhaltenden Haltung, die selbst mehr oder weniger den Charakter der Sublimierung tragen kann.[35] Zur Sublimierung sei nur gesagt, dass Freud darunter die Ablenkung sexueller Impulse von ihren ursprünglichen sexuellen Zielen und ihre Hinwendung auf bzw. ihre Ersetzung durch andere, nicht-sexuelle, kulturelle Ziele begreift. Dies ist nicht so zu verstehen, dass aus Sexualität auf eine geheimnisvolle, „alchimistische“ Weise Charakter oder Intellekt entsteht, sondern dass sexuelle Energien auf andere Stellen des seelischen Apparats gelenkt und dort als Triebkraft in einer eigenartigen, noch kaum geklärten Verbindung mit Fähigkeiten des Ichs, psychische und geistige Qualitäten aufbauen helfen. Besonders wichtig ist es, nicht zu vergessen, dass Freud das Problem der Sublimierung am allerwenigsten mit der Sexualität im üblichen Sprachgebrauch, d.h. der genitalen Sexualität in Zusammenhang bringt, sondern vorwiegend mit den „prägenitalen“ Sexualstrebungen, d.h. der oralen und analen Sexualität und dem Sadismus.[36] Der Unterschied zwischen Reaktionsbildung und Sublimierung liegt im wesentlichen darin, dass die Reaktionsbildung immer die Funktion der Abwehr und Niederhaltung eines verdrängten Triebimpulses hat, aus dem sie auch ihre Energie bezieht, während die Sublimierung eine direkte Verarbeitung, eine „Kanalisierung“ der Triebregung darstellt.

Die Theorie der prägenitalen Sexualität, von Freud zum ersten Mal ausführlich in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (S. Freud, 1905d) dargestellt, geht von der Beobachtung aus, dass, noch bevor beim Kind die Genitalien eine entscheidende Rolle spielen, die Mundzone und die Afterzone als „erogene Zonen“ Träger von lustvollen, den genitalen Sensationen analogen Sensationen sind, dass sie im Laufe der Entwicklung teilweise ihre sexuelle Energie an die Genitalien abgeben, zum geringeren Teil diese Energien behalten, teils in ihrer ursprünglichen Form, teils in der Form von Sublimierungen und Reaktionsbildungen im Ich. Aufbauend auf diesen Beobachtungen der prägenitalen Sexualität veröffentlichte Freud 1908 einen kurzen Aufsatz über Charakter und Analerotik (S. Freud, 1908b), der die Grundlage der analytischen Charakterforschung bildet. Freud ging von der Beobachtung aus, dass man häufig in der Analyse einem Typus begegnet, der „durch das Zusammentreffen bestimmter Charaktereigenschaften ausgezeichnet ist, während das Verhalten einer gewissen Körperfunktion und der an ihr beteiligten Organe in der Kindheit dieser Personen die Aufmerksamkeit auf sich zieht“ (S. Freud, 1908b, S. 203). Er findet drei Charakterzüge – Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Eigensinn – bei solchen Individuen, in deren Kindheit die Lust an der Darmentleerung und ihren Produkten eine besonders große Rolle spielt. Besonders betonte er die in der Neurose wie im Mythos, Aberglauben, Traum, Märchen [I-061] anzutreffende Gleichsetzung von Kot und Geld (Geschenk). Auf dieser grundlegenden Arbeit Freuds bauten sich eine Reihe Arbeiten anderer psychoanalytischer Autoren auf, die die Grundzüge einer, freilich noch in vielen Punkten unfertigen und hypothetischen, psychoanalytischen Charakterologie lieferten. (Vgl. O. Fenichel, 1931.)

Bevor wir zur Darstellung der für den Soziologen wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeiten kommen, soll auf einen Gesichtspunkt hingewiesen werden, der in manchen dieser Arbeiten nicht oder zu wenig deutlich hervortritt und dessen Betonung ein besseres Verständnis dieser Untersuchungen ermöglicht: die Unterscheidung zwischen Sexualziel und Sexualobjekt, bzw. zwischen der Organlust und den Objektbeziehungen. Freud bringt die Sexualtriebe in einen engen Zusammenhang mit den „erogenen Zonen“[37] und nimmt an, dass die Sexualtriebe durch Reizung an diesen erogenen Zonen hervorgerufen werden. In der ersten Lebensperiode steht die Mundzone und die mit ihr verknüpften Funktionen – Saugen und Beißen –, dann, nach der Säuglingsperiode, die Afterzone mit ihren Funktionen – Stuhlentleerung bzw. Stuhlzurückhaltung – und vom 3. bis 5. Jahr die Genitalzone im Zentrum der Sexualität. (Diese erste Blüte der genitalen Sexualität hat Freud als „phallische Phase“ bezeichnet, weil er annimmt, dass in dieser Zeit für beide Geschlechter allein der Phallus bzw. die phallisch erlebte Klitoris eine Rolle spielt, mit der Tendenz zum Eindringen und Zerstören. Nach einer „Latenzzeit“, die etwa bis zur Pubertät dauert, kommt es dann im Zusammenhang mit der körperlichen Reifung zur Entwicklung der eigentlichen genitalen Sexualität, der die prägenitalen Sexualstrebungen unter-, bzw. eingeordnet werden, d.h. zur endgültigen Herstellung des „Primats“ der Genitalität). Von dieser Organerotik, d.h. also von der an eine bestimmte Körperzone bzw. eine bestimmte mit dieser Zone verknüpfte Funktion gebundenen Organlust, sind die Objektbeziehungen zu unterscheiden, d.h. die (liebenden oder hassenden) Einstellungen zu den dem Menschen gegenübertretenden Mitmenschen, bzw. der eigenen Person, mit anderen Worten die Gefühlseinstellung und -haltung zur Umwelt überhaupt. Auch die Objektbeziehungen haben einen typischen Verlauf: Nach Freud ist der Säugling vorwiegend narzisstisch eingestellt, nur auf sich und die Befriedigung seiner Bedürfnisse bedacht; in einer zweiten Periode, nach dem Ende der Säuglingszeit etwa, mehren sich sadistische, objektfeindliche Züge, die auch noch in der phallischen Phase eine wichtige Rolle spielen. Erst mit dem Primat der Genitalität in der Pubertät treten objektfreundliche, liebende Züge eindeutig in den Mittelpunkt. Die Objektbeziehungen werden in einen engen Zusammenhang mit den erogenen Zonen gebracht. Dieser Zusammenhang ist verständlich, wenn man bedenkt, dass sich spezifische Objektbeziehungen zuerst in Verbindung mit bestimmten erogenen Zonen entwickeln und dass diese Verbindung durchaus keine zufällige ist. Ohne aber an [I-062] dieser Stelle das Problem diskutieren zu wollen, ob der Zusammenhang ein so enger ist, wie es vielfach in der psychoanalytischen Literatur dargestellt wird, oder ob und inwieweit nicht die für eine erogene Zone typische Objektbeziehung auch unabhängig von den besonderen Schicksalen dieser erogenen Zone sich entwickeln kann, soll Wert darauf gelegt werden, prinzipiell zwischen der Organlust und den Objektbeziehungen zu unterscheiden; in der nun folgenden Darstellung sollen, bevor die analytischen Befunde über die oralen, analen und genitalen Charakterzüge dargestellt werden, die komponierenden Elemente, nämlich die Sublimierungen und Reaktionsbildungen der Organlust und die koordinierten typischen Objektbeziehungen eine getrennte Darstellung finden.[38]

Der in der ersten Lebensperiode zentrale Sexualtrieb ist die Oralerotik. Beim Kind findet sich ein starkes Lust- und Befriedigungsgefühl, das ursprünglich mit dem Saugen („Wonnesaugen“), später mit dem Beißen und Kauen, mit dem In-den-Mund-Nehmen und Verschlingenwollen von Gegenständen verknüpft ist. Die nähere Beobachtung zeigt, dass es sich hier keineswegs nur um eine Äußerung des Hungers handelt, sondern dass das Saugen, Beißen, Verschlingenwollen darüber hinaus eine an sich lustvolle Betätigung darstellt. Freud nahm schon in seinen Drei Abhandlungen (S. Freud, 1905d) an, dass die Mundzone eine der sog. „erogenen Zonen“ sei, die, im Anschluss an die Vorgänge der Nahrungsaufnahme, am frühesten die Basis intensiver libidinöser Bedürfnisspannungen und Befriedigungen darstellt. Wenn auch die direkten oralerotischen Bedürfnisse und Befriedigungen nach der „Säuglings“-zeit abnehmen, so bleiben doch mehr oder weniger große Reste auch in der späteren Kindheit und beim Erwachsenen erhalten. Es sei hier nur an das oft weit über die Säuglingszeit auftretende Daumenlutschen oder an das Nägelkauen erinnert, ferner aber, um von etwas ganz „Normalem“ zu sprechen, an das Küssen oder an die starken libidinösen, oralerotischen Wurzeln des Rauchens.

Insoweit die Oralerotik nicht in ursprünglicher Form erhalten bleibt und andererseits doch nicht von anderen sexuellen Impulsen abgelöst wird, tritt sie uns in Reaktionsbildungen oder Sublimierungen entgegen. Von den Sublimierungen sei nur eines der wichtigsten Beispiele hier genannt: die Verschiebung der kindlichen Saugelust auf das geistige Gebiet. An Stelle der Milch tritt das Wissen. Die Sprache drückt diesen Zusammenhang aus, wenn sie davon spricht, dass man „an den Brüsten der Weisheit schlürft“ oder „von der Milch der frommen Denkungsart“ trinkt. Diese symbolische Gleichsetzung von Trinken und geistigem Aufnehmen finden wir in Sprachen und Märchen verschiedener Kulturen ebenso wie in den Träumen und Einfällen der Patienten in der Analyse. Die Reaktionsbildungen können ebenso wohl in dem ursprünglichen Gebiet bleiben, also etwa die Form einer Esshemmung annehmen, wie auch sich auf die Sublimierungen erstrecken und dann etwa als Lern-, Arbeits- oder Wisshemmung auftreten.

Die in der ersten Lebensperiode des Kindes auftretenden Objektbeziehungen tragen einen recht komplizierten Charakter (vgl. S. Bernfeld, 1925). Der Säugling ist zunächst – und in ganz extremer Weise in den ersten drei Lebensmonaten – narzisstisch eingestellt; ein Unterschied zwischen Ich und Außenwelt besteht noch kaum. Allmählich entwickeln sich neben der narzisstischen Einstellung objektfreundliche, [I-063] liebende Züge.[39] Die Einstellung des Säuglings zur Mutter (oder entsprechenden Pflegepersonen) wird freundlich, liebevoll, Schutz und Liebe erwartend. Die Mutter ist der Garant für sein Leben, ihre Liebe gibt ihm ein Gefühl von Lebenssicherheit und Geborgenheit. Gewiss ist sie weitgehend Mittel zum Zweck der Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes, und gewiss trägt die Liebe des Kindes weitgehend einen verlangenden, nehmenden und nicht einen spendenden, fürsorgenden Charakter, aber wichtig sind doch objektfreundliche, objektzugewandte Züge in dieser ersten Phase.

Die Objektbeziehungen des Kindes ändern sich allmählich.[40] Mit dem körperlichen Wachstum des Kindes wachsen seine Ansprüche, dadurch – wie wohl auch noch durch andere in der Umwelt liegende Faktoren – entstehen und wachsen Versagungen seitens der Umwelt, auf die das Kind mit Zorn und Wut reagiert, für deren Bildung inzwischen auch die organische Entwicklung bessere Bedingungen geschaffen hat. Neben die objektfreundlichen Tendenzen und an ihre Stelle treten in wachsendem Maße objektfeindliche. Das Kind, sowohl durch Enttäuschungen wütend als auch sich stärker fühlend, wartet nicht mehr vertrauensvoll auf liebende Befriedigung seiner vor allem ja noch oralen Wünsche, es beginnt, sich mit Gewalt nehmen zu wollen, was man ihm vorenthält. Der Mund mit den Zähnen wird zu seiner Waffe, er erwirbt eine aggressive, den Objekten feindselige, sie angreifen und aussaugen oder verschlingen wollende Haltung. An Stelle einer ursprünglichen relativen Harmonie mit der Umwelt treten Konflikte und aggressiv-sadistische Impulse.[41]

Das Saugen und Beißen oder Verschlingenwollen, bzw. ihre Reaktionsbildungen und Sublimierungen einerseits, die vertrauensvolle, beschenkt oder geliebt werden wollende, objektfreundliche Haltung und ihre Fortsetzung in aggressiven, räuberischen, objektfeindlichen Tendenzen andererseits, sind die Elemente, die die „oralen“ Charakterzüge der Erwachsenen zusammensetzen.

Karl Abraham macht eine Unterscheidung zwischen den charakterologischen Konsequenzen einer besonders ungestörten, glücklichen oralen Befriedigung in der Kindheit und einer gestörten, mit viel Unlust vermischten (wie etwa plötzlichem Absetzen von der Brust, unzureichender Milchmenge oder, was die koordinierten Objektbeziehungen anbelangt, mangelnder Liebe seitens der Pflegepersonen). Im ersten Falle haben oft Menschen

aus dieser glücklichen Lebenszeit eine tief in ihnen wurzelnde Überzeugung mitgebracht, es müsse ihnen immer gut gehen. So stehen sie dem Leben mit unerschütterlichem Optimismus gegenüber, der ihnen oftmals zur tatsächlichen Erreichung [I-064] praktischer Ziele behilflich ist. Auch hier gibt es weniger günstige Spielarten der Entwicklung. Manche Personen sind von der Erwartung beherrscht, dass stets eine gütige, fürsorgende Person, also eine Vertreterin der Mutter, vorhanden sein müsse, von der sie alles zum Leben Notwendige empfangen würden. Dieser optimistische Schicksalsglaube verurteilt sie zur Untätigkeit. Wir erkennen in ihnen diejenigen wieder, die in der Saugperiode verwöhnt wurden. Ihr gesamtes Verhalten zum Leben lässt die Erwartung erkennen, dass ihnen sozusagen ewig die Mutterbrust fließen werde. Derartige Personen muten sich keinerlei Anstrengung zu; in manchen Fällen verschmähen sie geradezu jeden eigenen Erwerb. (K. Abraham, 1925, S. 42).

An diesen Menschen ist häufig eine besonders ausgeprägte Freigebigkeit, eine gewisse seigneurale Haltung zu bemerken. Sie haben die uneingeschränkt spendende Mutter als Ideal und bemühen sich, sich diesem Ideal entsprechend zu verhalten.

Der zweite Typ, der mit starken oralen Versagungen in der frühen Kindheit, entwickelt später häufig Züge, die in der Richtung des Aussaugens oder Beraubens anderer Personen liegen. Diese Menschen tragen gleichsam einen Rüssel, mit dem sie sich überall ansaugen wollen, oder wenn entsprechend starke sadistische Beimengungen enthalten sind, sind sie wie Raubtiere, die davon leben, Opfer zu suchen, die sie ausweiden können.

Im sozialen Verhalten dieser Menschen tritt etwas ständig Verlangendes hervor, das sich bald mehr in der Form des Bittens, bald mehr in derjenigen des Forderns äußert. Die Art, in welcher sie Wünsche vorbringen, hat etwas beharrlich Saugendes an sich; sie lassen sich ebenso wenig durch die Sprache der Tatsachen, wie durch sachliche Einwände abweisen, sondern fahren fort zu drängen und zu insistieren. Sie neigen dazu, sich an andere Personen förmlich festzusaugen. Besonders empfindlich sind sie gegen jedes Alleinsein, auch wenn es nur kurze Zeit währt. In ganz besonderem Maße tritt die Ungeduld bei ihnen hervor. Bei gewissen Personen (...) findet sich dem geschilderten Verhalten ein grausamer Zug beigemischt, der ihrer Einstellung zu den anderen Menschen etwas Vampyrhaftes verleiht. (K. Abraham, 1925, S. 44).

Zeigen die Personen des ersten Typs eine gewisse Noblesse und Großzügigkeit, zeigen sie sich heiter und umgänglich, so sind die des zweiten Typus feindselig und bissig, reagieren auf eine Verweigerung dessen, was sie haben wollen, mit Wut und sind auf alle, die es besser haben, von intensivem Neid erfüllt. Für den Soziologen wichtig ist noch die von Abraham vermerkte Tatsache, dass Personen mit oraler Charakterbildung leicht dem Neuen zugänglich sind, „während zum analen Charakter ein konservatives, allen Neuerungen feindliches Verhalten gehört (...)“ (K. Abraham, 1925, S. 47).

Die Analerotik fängt keineswegs erst nach der Oralerotik an eine Rolle zu spielen. Wohl schon von vornherein ist der ungehemmte Austritt der Körperprodukte für das Kind mit einer lustvollen Reizung der Afterschleimhaut verbunden. Ebenso sind die Produkte der Entleerung selbst, ihr Anblick, ihr Geruch, die Berührung mit der Oberfläche des Rumpfes und endlich das Berühren mit den Händen eine Quelle intensiver Lustempfindungen. Das Kind ist stolz auf den Kot, welcher sein erster „Besitz“, der Ausdruck seiner ersten Produktivität ist. Eine wesentliche Veränderung bringt die etwa gleichzeitig mit der Entwöhnung des Kindes von saugender Nahrungsaufnahme vor sich gehende Erziehung zur körperlichen Reinlichkeit, für deren [I-065] Gelingen die sich allmählich ausbildende Funktion der Schließmuskeln der Blase und des Darms die Voraussetzung bildet. Indem sich das Kind den Forderungen der Erziehung anpasst und lernt, seinen Stuhl zurückzuhalten bzw. ihn zur rechten Zeit herzugeben, wird die Retention des Stuhles und werden die damit verbundenen physiologischen Vorgänge zu einer neuen Lustquelle. Gleichzeitig wird die ursprüngliche Liebe zum Kot teilweise durch Ekelgefühle abgewehrt bzw. ersetzt; teilweise wird allerdings durch das Verhalten der Umwelt der primitive Stolz auf den Kot bzw. seine pünktliche Entleerung nur noch vermehrt.

Ganz ebenso wie ein Teil der ursprünglichen oralen, bleiben auch die analen Impulse in einem gewissen Grade bis ins Leben des Erwachsenen hinein erhalten. Diese Tatsache erkennt man leicht an der relativ starken affektiven Reaktion vieler Menschen der analen Beschimpfung oder der analen Zote gegenüber. Auch das besonders unter allerhand Rationalisierungen auftretende liebevolle Interesse für den eigenen Kot lässt die Reste der ursprünglichen Analerotik deutlich erkennen. Normalerweise aber geht ein wesentlicher Teil der analerotischen Strebungen in Sublimierungen und Reaktionsbildungen auf. Diese Fortbildungen der ursprünglichen Analerotik liegen in einer doppelten Richtung: einerseits in der charakterologischen Fortsetzung der ursprünglichen Funktion, deren Ergebnis die Lust bzw. Unfähigkeit am Behalten, Sammeln und Produzieren, ferner Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Reinlichkeit, Geiz sind; andererseits in der Fortsetzung der ursprünglichen Liebe zum Kot, die sich vor allem in der Liebe zum „Besitz“ äußert. Eine ganz besondere Bedeutung kommt dem in dieser Periode sich ausbildenden Pflichtgefühl zu. Die anale Entwöhnung ist eng geknüpft an das Problem des Müssens und Sollens bzw. Nichtdürfens, und die klinische Erfahrung zeigt, dass häufig besonders intensive Ausprägungen des Pflichtgefühls auf diese frühe Periode zurückgehen.

Die der analen Periode zugeordneten Objektbeziehungen stehen unter dem Zeichen wachsender Konflikte mit der Umwelt. Sie tritt zum ersten Mal mit Forderungen an das Kind heran, deren Erfüllung sie mit Liebesprämien oder Strafen erzwingt. Nicht mehr die Lust gewährende, gütige, spendende Mutter ist es, die dem Kind gegenübertritt, sondern die Verzichte fordernde, strafende. Das Kind reagiert entsprechend. Es verharrt einerseits in seiner narzisstischen, objektgleichgültigen Einstellung, die durch seine geringer werdende körperliche Hilflosigkeit wie durch den wachsenden Stolz auf seine eigenen Leistungen in gewisser Weise noch gesteigert wird, andererseits wird seine objektfeindliche, trotzige, sadistische, die Eingriffe in seine Privatsphäre böse abwehrende Einstellung erheblich verstärkt.

Die Sublimierungen und Reaktionsbildungen der Analerotik und die Fortsetzung der dieser Stufe typischerweise zugeordneten Objektbeziehungen setzen die analen Charakterzüge zusammen, wie sie in ihrem normalen oder pathologischen Vorkommen in der psychoanalytischen Literatur geschildert werden. Es seien hier nur einige für die Sozialpsychologie besonders wichtige erwähnt.

Die ersten charakterologischen Befunde Freuds haben wir schon wiedergegeben: eine oft in Pedanterie übergehende Ordentlichkeit, eine an Geiz grenzende Sparsamkeit und einen in Trotz übergehenden Eigensinn. Diesen allgemeinen Zügen sind von einer Reihe psychoanalytischer Autoren, vor allem von E. Jones und K. Abraham, [I-066] viele mehr ins Detail gehende hinzugefügt worden. Abraham weist darauf hin, dass es Überkompensierungen des ursprünglichen Trotzes gibt,

unter welchen das trotzige Festhalten am primitiven Selbstbestimmungsrecht verborgen liegt, bis es gelegentlich gewaltsam hervorbricht. Ich habe hier solche Kinder (und natürlich auch Erwachsene) im Auge, die sich durch besondere Bravheit, Korrektheit, Folgsamkeit hervortun, ihre in der Tiefe liegenden rebellischen Antriebe aber damit begründen, dass man sie von früh auf unterdrückt habe. (K. Abraham, 1925, S. 9.)

Mit diesem Stolz eng verbunden ist die zuerst von Isidor Sadger hervorgehobene Vorstellung der Einzigartigkeit. („Alles, was nicht Ich ist, ist Dreck.“) Solche Menschen empfinden nur Freude an einem Besitz, wenn niemand anderes etwas Ähnliches hat. Sie haben die Neigung, alles im Leben als Eigentum anzusehen und alles „Private“ vor fremden Eingriffen zu schützen. Es handelt sich dabei keineswegs nur um Geld und Besitz, sondern ebenso um Menschen wie um Gefühle, Erinnerungen, Erlebnisse. Wie stark die dieses Besitzverhältnis zur Privatsphäre verankernden libidinösen Regungen sind, erkennt man leicht an der Wut, mit der solche Menschen auf jeden Eingriff in ihre Privatsphäre, ihre „Freiheit“ reagieren. Zu dieser Betonung der Privatsphäre gehört die von Abraham erwähnte Empfindlichkeit des analen Charakters gegen jeden äußeren Eingriff. Niemand hat sich in „seine Angelegenheiten“ zu mischen. Verwandt damit ist auch ein weiterer Zug, auf den E. Jones aufmerksam gemacht hat: das eigensinnige Festhalten an einer selbsterdachten Ordnung, bzw. die Neigung, anderen eine solche Ordnung aufzuzwingen.[42] Solche Menschen zeigen dann auch häufig eine überstarke Lust am Rubrizieren, am Aufstellen von Tabellen und Plänen. Von besonderer Wichtigkeit ist die von Abraham betonte Tatsache, dass beim analen Charakter die unbewusste Tendenz vorliegt, die Analfunktion als wichtigste produktive Tätigkeit und als der genitalen überlegen anzusehen. Geldverdienen, Sammeln, das Aufhäufen von Kenntnissen (ohne ihre produktive Verarbeitung) sind Ausdruck dieser Einstellung.[43] Zu dieser Hochschätzung der analen, sammelnden Produktivität tritt als Charakteristikum die Hochschätzung des Gesammelten, des Besitzes. Abraham sagt darüber:

In ausgeprägten Fällen von analer Charakterbildung werden nahezu alle Lebensbeziehungen unter den Gesichtspunkt des Habens (Festhaltens) und Gebens, also des Besitzes, gestellt. Es ist, als wäre der Wahlspruch mancher solcher Menschen: wer mir [I-067] gibt, ist mein Freund; wer etwas von mir verlangt, ist mein Feind. (K. Abraham, 1925, S. 20°f.)

Nicht anders ist es mit den Liebesbeziehungen. Gewöhnlich sind beim analen Charakter das genitale Bedürfnis und die genitale Befriedigung mehr oder weniger eingeschränkt; häufig ist diese Einschränkung mit moralischen Rationalisierungen oder auch Ängsten verknüpft. Soweit die Liebe eine Rolle spielt, hat sie typische Züge. Eine Frau wird nicht geliebt, sondern „besessen“, und es herrscht dem „Liebes“-objekt gegenüber dieselbe Gefühlseinstellung wie anderen Gegenständen des Besitzes gegenüber, also die Tendenz, entweder möglichst viel oder möglichst ausschließlich zu besitzen. Die erste Einstellung führt zum Typ scheinbar sehr liebesfähiger Menschen, deren Liebe im Grunde doch nur eine Art Sammeltrieb ist, und die zweite zum Typ des extrem Eifersüchtigen und auf „Treue“ Bedachten. Ein besonders schönes Beispiel des ersten Typs bot mir ein Analysand, der ein Buch hatte, in dem er die Andenken an jede Begegnung mit einer Frau sammelte, also gebrauchte Theaterbillette, Programme, aber auch Korrespondenz einklebte. Eng verknüpft mit dieser Einstellung ist der intensive Neid, den man bei vielen Menschen mit analem Charakter findet. Sie erschöpfen oft ihre Kraft nicht in eigenen produktiven Leistungen, sondern im Neid auf die Leistung und vor allem den Besitz anderer. Dies führt zur Erwähnung eines der klinisch wie soziologisch wichtigsten analen Charakterzüge: des besonderen Verhältnisses zum Geld, d.h. vor allem der Sparsamkeit und des Geizes. Gerade dies hat eine besonders ausgiebige Bestätigung durch die analytischen Erfahrungen erhalten und ist ausführlich in der psychoanalytischen Literatur erörtert.[44] [I-068]

Sparsamkeit und Geiz beziehen sich durchaus nicht nur auf Geld oder Geldeswert. Auch Zeit und Kraft werden ganz analog behandelt und jede Zeit- und Kraftverschwendung wird verabscheut.[45] Bemerkenswert ist, dass diese analen Tendenzen reichlich rationalisiert zu werden pflegen, vor allem natürlich mit ökonomischen Erwägungen, fernerhin, dass man häufig neben besonderer Reinlichkeit, Sparsamkeit, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit, Durchbrüche gerade der entgegengesetzten, durch diese Reaktionsbildungen abgewehrten Züge findet. Wegen seiner sozialpsychologischen Bedeutung sei endlich noch das von Abraham hervorgehobene, für den analen Charakter typische Bedürfnis nach Symmetrie und „gerechtem Ausgleich“ erwähnt.

Die genitale Sexualität hat eine für die Charakterbildung prinzipiell andere Bedeutung als die orale und anale. Während diese nur in relativ geringem Ausmaß auch noch über die erste Kindheitsperiode hinaus in direkter Form weiterbestehen können und ihre Hauptverwendung im späteren Leben gerade in den Sublimierungen und Reaktionsbildungen finden, ist die genitale Sexualität in erster Linie dazu bestimmt, eine direkte körperliche Abfuhr zu erhalten. So einfach es ist, das Sexualziel der genitalen Sexualität zu beschreiben, so schwierig ist es, etwas über die spezifischen genitalen Charakterzüge auszusagen. Es ist wohl richtig, dass die der genitalen Sexualität zugeordnete Objektbeziehung eine objektfreundliche, relativ ambivalenzfreie ist[46]; es darf allerdings nicht vergessen werden, dass der physiologisch normale Sexualakt keineswegs notwendigerweise eine entsprechende, d.h. liebende psychische Haltung involviert. Er kann, psychologisch gesehen, vorwiegend narzisstisch oder sadistisch erlebt sein. Fragt man nach den charakterologisch wichtigen Reaktionsbildungen und Sublimierungen der genitalen Sexualität, so scheint uns als Reaktionsbildung in erster Linie die Willensbildung wichtig. Bei den Sublimierungen halten wir es aber für nötig, zwischen männlicher und weiblicher Sexualität zu unterscheiden. (Wobei nicht zu vergessen ist, dass in jedem Individuum männliche und weibliche Sexualstrebungen vorhanden sind. Vgl. Freuds Bemerkungen in Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie; 1905d, S. 43, Anmerkung.) Von ihren Sublimierungen ist noch sehr wenig bekannt. Vielleicht darf man vermuten, dass die Sublimierung der männlichen Sexualität vorwiegend in der Richtung des geistigen Eindringens, Zeugens, Ordnens, die der weiblichen Sexualität in der Richtung des Aufnehmens, Bergens, Produzierens und in der Richtung der bedingungslosen mütterlichen Liebe liegt.[47]

Die hier skizzenhaft wiedergegebene psychoanalytische Theorie der Entwicklung der [I-069] Sexualität und der Objektbeziehungen ist ein noch rohes und in vieler Beziehung hypothetisches Schema, an dem die analytische Forschung noch manche wichtige Punkte zu ändern und in das sie sehr viele neu einzutragen haben wird. Sie ist aber ein Ausgangspunkt, der das Verständnis der triebhaften Hintergründe der Charakterzüge ermöglicht und den Zugang zu einer Erklärung der Entwicklung des Charakters eröffnet.

Diese Entwicklung bedingen zwei Faktoren, die in verschiedener Richtung wirksam sind. Einmal ist es die körperliche Reifung des Individuums: vor allem das Wachstum der genitalen Sexualität und die physiologisch relativ geringer werdende Rolle der oralen und analen Zone, aber auch die Reifung der Gesamtpersönlichkeit und die damit verknüpfte geringere Hilflosigkeit, die eine objektfreundliche, liebende Haltung ermöglichen. Der zweite, die Entwicklung vorwärtstreibende Faktor wirkt von außen auf das Individuum ein; es sind die gesellschaftlichen, zunächst und am eindrucksvollsten durch die Erziehung vermittelten Regeln, die die Verdrängung der prägenitalen Sexualstrebungen bis zu einem hohen Grade verlangen und so gleichsam der genitalen Sexualität den Vormarsch erleichtern.

Dieser Vormarsch gelingt aber häufig nur unvollkommen, und die prägenitalen Positionen bleiben oft in direkter oder sublimierter Form überdurchschnittlich stark bestehen. Für ein überdurchschnittlich starkes Erhaltenbleiben prägenitaler Strebungen gibt es grundsätzlich zwei Ursachen: entweder eine Fixierung, d.h. durch besonders starke Befriedigungs- oder Versagungserlebnisse in der Kindheit blieben die prägenitalen Wünsche gegen die Entwicklung resistent und erhielten sich in besonderer Stärke; oder eine Regression, d.h. nachdem die normale Entwicklung beendet ist, führt eine besonders starke innere oder äußere Versagung zu einer Abwendung von der Liebe, einem Rückzug von der Genitalität zu jenen älteren prägenitalen Organisationsstufen der Libido. In der Wirklichkeit wirken gewöhnlich Fixierung und Regression zusammen, d.h. eine gewisse Fixierung stellt eine Disposition dar, die im Falle einer Versagung relativ leicht eine Regression auf die fixierte Triebstufe zur Folge hat.

Die psychoanalytische Charakterologie kann nicht nur durch den Nachweis der libidinösen Grundlagen der Charakterzüge deren dynamische Funktion als Produktivkraft in der Gesellschaft verstehen lassen, sie bildet andererseits auch den Ansatzpunkt für eine Sozialpsychologie, die aufzeigt, dass die für eine Gesellschaft typischen, durchschnittlichen Charakterzüge ihrerseits durch die Eigenart dieser Gesellschaft bedingt sind. Diese soziale Beeinflussung der Charakterentwicklung geht zunächst und vor allem durch das Hauptmedium, durch das sich die psychische Formung des Einzelnen im Sinne der Gesellschaft vollzieht, vor sich: durch die Familie. In welcher Weise und mit welcher Stärke bei einem Kind gewisse prägenitale Strebungen unterdrückt oder verstärkt werden, in welcher Weise es zu Sublimierungen oder Reaktionsbildungen angeregt wird, hängt wesentlich von der Erziehung ab, die ihrerseits der Ausdruck der psychischen Struktur der Gesellschaft ist. Aber über die Kindheit hinaus wirkt die Gesellschaft auf die Ausbildung des Charakters ein. Für diejenigen Charakterzüge, die innerhalb einer bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur bzw. innerhalb einer bestimmten Klasse am brauchbarsten sind, die ein [I-070] Individuum am meisten innerhalb dieser Gesellschaft fördern, besteht etwas, was wir als „soziale Prämie“ bezeichnen möchten und was bewirkt, dass sich der Charakter der „normalen“, d.h. in dieser Gesellschaft als „gesund“ geltenden Menschen im Sinne der Struktur dieser Gesellschaft anpasst.[48] Der Charakter entwickelt sich also im Sinne der Anpassung der libidinösen Struktur – zunächst durch das Medium der Familie, dann unmittelbar im gesellschaftlichen Leben – an die jeweilige gesellschaftliche Struktur. Eine ganz besondere Rolle spielt hierbei die Sexualmoral einer Gesellschaft. Es wurde gezeigt, dass die prägenitalen Strebungen zum entscheidenden Teil in der genitalen Sexualität aufgehen. In dem Maße, in dem innerhalb einer Gesellschaft die herrschende Sexualmoral die genitale Sexualbefriedigung hemmt, muss eine Verstärkung der prägenitalen Strebungen bzw. der aus ihnen formierten Charakterzüge eintreten. Durch die Verschärfung des Verbots genitaler Befriedigung wird das Zurückströmen der Libido zu den prägenitalen Positionen und damit das verstärkte Auftreten oraler und analer Charakterzüge im gesellschaftlichen Leben erreicht.

Da die Charakterzüge in der libidinösen Struktur verankert sind, zeigen sie auch eine relative Stabilität. Sie bilden sich zwar im Sinne der Anpassung an die gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse aus, aber sie verschwinden nicht ebenso rasch, wie sich diese Verhältnisse ändern. Die libidinöse Struktur, aus der sie erwachsen, hat eine gewisse Trägheit und Schwerkraft, und es bedarf erst wieder eines lang dauernden neuen Anpassungsprozesses an neue ökonomische Bedingungen, bis eine entsprechende Veränderung der libidinösen Struktur und der aus ihr erwachsenden Charakterzüge erfolgt. Hierin liegt ein Grund, warum der ideologische Überbau, der auf den für eine Gesellschaft typischen Charakterzügen basiert, sich langsamer verändert als der ökonomische Unterbau.

Die Anwendung der psychoanalytischen Charakterologie auf soziologische Probleme soll hier an einem konkreten Beispiel versucht werden. Jedoch handelt es sich dabei vor allem um einen Hinweis auf den zu beschreitenden Weg, nicht aber um die endgültige Beantwortung des als Beispiel gewählten Themas.

Hierfür scheint das Problem des „Geistes“ des Kapitalismus, der seelischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, aus zwei Gründen besonders geeignet zu sein: einmal, weil der Teil der psychoanalytischen Charakterologie, der am meisten zum Verständnis des bürgerlichen Geistes heranzuziehen sein wird, die Theorie von den analen Charakterzügen, der relativ ausführlichste und gesichertste ist; zum andern, weil über dieses Problem eine relativ große soziologische Literatur und Kontroverse besteht, die die Heranbringung eines neuen Gesichtspunktes, eben des psychoanalytischen, besonders empfiehlt.

Unter „Geist“ des Kapitalismus bzw. der bürgerlichen Gesellschaft verstehen wir die Summe der für die Menschen dieser Gesellschaft typischen Charakterzüge, wobei das [I-071] entscheidende Gewicht auf den durch diese Charakterzüge repräsentierten libidinösen Strebungen, d.h. also auf der dynamischen Funktion des Charakters liegt. Charakter wird hier von uns allerdings in einem sehr weiten Sinn gebraucht, und die Definition, wie sie W. Sombart (1923, S. 2) vom „Geist“ einer Wirtschaft gibt, würde im Großen und Ganzen auch von uns verwandt werden können. Er nennt den „Geist“ einer Wirtschaft „die Gesamtheit seelischer Eigenschaften, die beim Wirtschaften in Betracht kommen. Alle Äußerungen des Intellekts, alle Charakterzüge, die bei wirtschaftlichen Strebungen zutage treten, ebenso aber auch alle Zielsetzungen, alle Werturteile, alle Grundsätze, von denen das Verhalten des wirtschaftenden Menschen bestimmt und geregelt wird“. Insoweit es sich aber nicht nur um den Geist der Wirtschaft im engeren Sinn, sondern um den „Geist“ der Gesellschaft, bzw. einer Klasse handelt, werden wir nicht nur die Züge untersuchen, die „beim Wirtschaften“ in Frage kommen, sondern nach den typischen seelischen Eigenschaften des Individuums dieser Klasse oder Gesellschaft fragen, das ja dasselbe ist, ob es wirtschaftet oder nicht. Auch unterscheiden wir uns von Sombarts Begriff des „Geistes“ dadurch, dass es uns nicht auf die „Grundsätze, Werturteile“ usw. als solche ankommt, sondern auf die Charakterzüge, deren rationalisierter Ausdruck sie sind.

Ganz ausscheiden wollen wir den Zusammenhang des bürgerlichen Geistes mit dem Protestantismus und den protestantischen Sekten.[49] Dieses Problem ist so komplex, dass schon seine flüchtige Erörterung hier viel zu weit führen würde. Ebenso wenig kann die Frage nach den ökonomischen Ursachen der kapitalistischen Gesellschaft hier berührt werden. Einerseits würde dies ebenfalls den Rahmen dieser illustrierenden Ausführungen sprengen, andererseits ist die vorübergehende Vernachlässigung methodisch zulässig, wenn man nur die Eigenart des „Charakters“ einer Gesellschaft beschreiben und untersuchen will, wie der Charakter als Ausdruck einer bestimmten „libidinösen Struktur“ der Gesellschaft selbst als Produktivkraft an deren Entwicklung Anteil hat. Eine ausgeführte sozialpsychologische Untersuchung müsste von der Darstellung der ökonomischen Tatsachen ausgehen und zunächst aufzeigen, wie sich die libidinöse Struktur gerade diesen Tatsachen anpasst. Endlich dürfen wir uns auch nicht mit der sehr komplizierten und umstrittenen historischen Frage beschäftigen, von wann an man eigentlich von einem Kapitalismus und kapitalistisch-bürgerlichem Geist sprechen kann. Es soll vielmehr davon ausgegangen werden, dass es einen solchen Geist, der gewisse einheitliche Züge trägt, gibt, gleichgültig, ob wir ihn, wie Sombart meint, am frühesten schon um die Wende des Vierzehnten Jahrhunderts in Florenz treffen, oder im England des Siebzehnten Jahrhunderts, ob bei Defoe, Benjamin Franklin, Carnegie oder einem durchschnittlichen deutschen Kaufmann des Neunzehnten Jahrhunderts. (Vgl. bes. W. Sombart, 1923; M. Weber, 1920; R. H. Tawney, 1926; L. J. Brentano, 1916; E. Troeltsch, 1919; L. Kraus, 1930; – dort auch Literaturangaben.)

Die Eigenart des kapitalistisch-bürgerlichen Geistes lässt sich zunächst am leichtesten negativ beschreiben, durch das, was er im Vergleich mit dem vorkapitalistischen Geist, etwa dem des Mittelalters, nicht hat: Lebensglück und Lebensgenuss ist für die bürgerliche Psyche nicht mehr selbstverständlich bejahter Zweck, dem das Handeln und speziell das wirtschaftliche dient. Es ist dabei zunächst gleichgültig, ob es sich um den weltlichen Lebensgenuss, den die seigneurale Lebensführung der feudalen Klasse [I-072] gewährt, handelt oder um die „Seligkeit“, die die Kirche der Masse versprach, oder auch um den relativen Genuss, den die Masse durch prunkvolle Feste, herrliche Gebäude und Bilder und viele Feiertage erhielt. Immer ist Anspruch auf Glück, Seligkeit, Genuss oder wie man es sonst bezeichnet, das selbstverständliche Recht des Menschen und der selbstverständliche Zweck wirtschaftlichen wie außerwirtschaftlichen Verhaltens.

Der bürgerliche Geist bringt hierin eine entscheidende und gar nicht zu übersehende Änderung: Das Glück hört auf, selbstverständlicher Zweck des Lebens zu sein, und etwas anderes nimmt die oberste Stelle der Werte ein: die Pflicht. Kraus stellt diesen Punkt als einen der wichtigsten Unterschiede zwischen der scholastischen und calvinistischen Einstellung heraus.

Was Calvins Arbeitsethos vom scholastischen streng unterscheidet, ist die Ausschaltung der Zwecksetzung und die Betonung eines formalen Berufsgehorsams, dem das Material, an dem es sich betätigt, völlig indifferent ist, der mit eherner Disziplin nur eines befiehlt: aus Gesinnungsgehorsam zu handeln. (L. Kraus, 1930, S. 245.)

Bei aller sonstigen Polemik gegen Max Weber erklärt Kraus:

Hier hat Weber gewiss recht, wenn er sagt, „dass die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhalts, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen kann“ (M. Weber, 1920, S. 63°f.), der alten Kirche wie dem Mittelalter unbekannt waren. (L. Kraus, 1930, S. 245.)

Die Einschätzung der Pflicht (an Stelle von Glück oder Seligkeit) als obersten Wertes zieht sich vom Calvinismus durch das ganze bürgerliche Denken, ob nun theologisch oder wie auch immer rationalisiert.

Mit dem In-den-Mittelpunkt-Treten des Pflichtbegriffs geht eine andere Veränderung einher: Man wirtschaftet nicht mehr um des (standesgemäßen) Lebensunterhalts willen, sondern Besitzen und Sparen werden, unabhängig von dem Genuss des Erworbenen, zu ethischen Forderungen bzw. zu an sich lustvollem Verhalten. In der einschlägigen Literatur ist hierüber soviel Material beigebracht worden, dass wir uns hier mit ganz wenigen beispielhaften Andeutungen begnügen können.

Sombart zitiert als besonders eindrucksvoll für diese neue Bewertung des Sparens einige Stellen aus Albertis Familienbüchern:

„Wie vor jedem Todfeind hüte man sich vor überflüssigen Ausgaben.“ „Jede Ausgabe, die nicht unbedingt nötig ist (molto necessaria), kann nur aus Verrücktheit gemacht werden (da pazzia).“ „Ein so schlechtes Ding die Verschwendung ist, so gut, nützlich und lobenswert ist die Sparsamkeit.“ „Die Sparsamkeit schadet niemand, sie nützt der Familie.“ „Heilig ist die Sparsamkeit.“ „Weißt du, welche Leute mir am besten gefallen? Diejenigen, die für das Nötigste ihr Geld ausgeben und nicht mehr; den Überfluss heben sie auf; diese nenne ich sparsam, gute Wirte (massai).“ (L. B. Alberti, I libri della famiglia editi da Givolamo Mangini, Firenze 1908, zit. bei W. Sombart, 1923, S. 140.)

Alberti predigte aber auch die Ökonomie der Kräfte:

Die echte Masserizia soll sich auf das Haushalten mit drei Dingen, die unser sind, erstrecken: 1. unsere Seele, 2. unseren Körper, 3. – vor allem – unsere Zeit! (...) Um von dem so kostbaren Gute, der Zeit, nichts zu verlieren, stelle ich mir diese Regel auf: nie bin ich müßig, ich fliehe den Schlaf und lege mich erst nieder, wenn ich vor Ermattung umsinke. (...) Ich verfahre also so: ich fliehe den Schlaf und die Muße, indem [I-073] ich mir etwas vornehme. Um alles in guter Ordnung zu vollbringen, was vollbracht werden muss, mache ich mir morgens, wenn ich aufstehe, einen Zeitplan: was werde ich heute zu tun haben? Viele Dinge: ich werde sie aufzählen, denke ich, und jeder weise ich dann ihre Zeit zu: dieses tue ich heute Morgen, das nachmittags, das heute Abend; und auf diese Weise vollbringe ich meine Geschäfte in guter Ordnung fast ohne Mühe. (...) Abends überdenke ich mir alles, ehe ich mich zur Ruhe lege, was ich getan habe. (...) Lieber will ich den Schlaf verlieren als die Zeit. (Zit. bei W. Sombart, 1923, S. 142°f.)

Denselben Geist atmet die puritanische Ethik (vgl. L. Kraus, 1930, S. 259), denselben Geist die Lebensregeln sowohl Benjamin Franklins als auch des Bürgers des Neunzehnten Jahrhunderts.

Eng verwandt mit dieser Einstellung zum Eigentum ist ein weiterer für den bürgerlichen „Geist“ charakteristischer Zug: die Bedeutung der Privatsphäre. Ganz unabhängig vom Inhalt, der materieller wie seelischer Art sein kann, ist die Privatsphäre etwas Heiliges, ein Eingriff in sie ist eines der elementaren Verbrechen. (Die starken Affekte gegen den Sozialismus, deren Ursprung auch bei vielen Besitzlosen sonst nicht verständlich wäre, kommen zum Teil daher, dass er eine Bedrohung der Privatsphäre bedeutet.)

Welches sind die für den „Geist“ des bürgerlichen Kapitalismus charakteristischen Objektbeziehungen? Am auffälligsten ist die Einschränkung des sexuellen Genusses, den die bürgerliche Sexualmoral vornimmt. Gewiss ist auch die katholische Moral nicht genussbejahend, aber es ist gar kein Zweifel, dass die Lebenspraxis der bürgerlich-protestantischen Welt in diesem Punkte eine ganz andere war als die vorbürgerliche. Eine Gesinnung, wie sie klassisch bei Franklin in seiner Tugendaufstellung zum Ausdruck kommt, ist eben nicht nur eine ethische Norm, sondern eine Widerspiegelung der bürgerlichen Praxis. Franklin sagt dort unter Punkt 12 über Keuschheit:

Fleischeslust genieße selten, außer um der Gesundheit oder der Nachkommen halber, nie bis zur Ermattung oder Schwächung, noch auch zum Schaden deines eigenen oder fremden Friedens und Rufes. (B. Franklin, 1838, 1. Teil, S. 113°f.)

Der Entwertung des sexuellen Genusses als solchem entspricht die Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Die Beziehungen der Menschen werden wesentlich nicht mehr von der Liebe gestaltet, sondern von rationalen Erwägungen. Speziell die Liebesbeziehungen sind weitgehend wirtschaftlichen Gesichtspunkten untergeordnet. Zu der für die bürgerliche Epoche charakteristischen Verdinglichung kommt weiterhin die Gleichgültigkeit gegen das Schicksal der Nebenmenschen, die für die Beziehung der Menschen der bürgerlichen Welt charakteristisch ist. Nicht dass man in der vorbürgerlichen Epoche nicht oder auch nur weniger grausam gewesen wäre, aber die bürgerliche Indifferenz hat eine bestimmte, für sie spezifische Nuance: das Fehlen der Verantwortung eines jeden für das Los aller[50], einer verpflichtenden, dem Mitmenschen als solchem geltenden, nicht an Bedingungen geknüpften liebenden Einstellung. [I-074] Einen klassischen Ausdruck findet diese Gleichgültigkeit in der Definition, die Defoe von den Armen gibt (zit. bei L. Kraus, 1930, S. 283): „Unter Armen verstehe ich eine Menge jammernder, unbeschäftigter und unversorgter Leute, welche für die Nation eine belastende Unannehmlichkeit sind und eigener Gesetze bedürfen.“ Dass die Praxis des Kapitalismus, besonders im Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert, dieser Gesinnung entsprach, ist bekannt. Aber auch im Urteil über den Tabaktrust in den Vereinigten Staaten aus dem Jahre 1911 wird dieselbe Gesinnung festgestellt. „Im Felde der Konkurrenz wurde jedes menschliche Wesen (...) unbarmherzig beiseite geschoben“ (zit. bei W. Sombart, 1923, S. 234).

Die Lebensgeschichte der großen amerikanischen Wirtschaftsführer des Neunzehnten Jahrhunderts bietet eine einzige Illustration zu dieser Feststellung. Diese Mitleidslosigkeit erscheint im Bewusstsein des bürgerlichen Geistes keineswegs als etwas Unethisches. Im Gegenteil, sie ist verankert in bestimmten religiösen bzw. ethischen Vorstellungen. An Stelle der für den im Schoß der Kirche Geborgenen garantierten Seligkeit wird das Glück in der bürgerlichen Anschauung die Belohnung getaner Pflicht, eine Auffassung, die durch die Konstruktion unterstützt wird, dass im Kapitalismus der „Tüchtige“ unbeschränkte Erfolgsmöglichkeiten hat. Diese Mitleidslosigkeit des bürgerlichen „Charakters“ stellt eine notwendige Anpassung an die ökonomische Struktur des Kapitalismus dar. Das Prinzip der freien Konkurrenz und der durch sie vor sich gehenden Auslese verlangt Individuen, die nicht durch Mitleid im wirtschaftlichen Handeln gehemmt werden, und lässt die am wenigsten „Mitleidigen“ zu den Erfolgreichsten werden.

In unserer Aufzählung der spezifisch bürgerlichen Charakterzüge bedarf endlich noch einer der Erwähnung, auf dessen Wichtigkeit ausführlich von den verschiedensten Autoren hingewiesen worden ist: die Rationalität und Rechenhaftigkeit des bürgerlichen Geistes. Es scheint uns, dass diese spezifisch bürgerliche Rationalität, die ja nicht identisch ist mit einer hohen Stufe rationaler Aufhellung überhaupt, weitgehend mit dem zusammenfällt, was man, unter einer rein psychologischen Kategorie, als „Ordentlichkeit“ bezeichnen könnte. Die Lebensgeschichte Franklins ist ein typisches Beispiel dieser spezifisch bürgerlichen „Ordentlichkeit“ und Rationalität.

Einen schönen Ausdruck findet diese „Ordentlichkeit“ in dem Tagesplan, den sich Franklin selbst gemacht hat und den er in seinen Lebenserinnerungen beschreibt (B. Franklin, 1838, 1. Teil, S. 118°ff.):

Da das Gebot der Ordnung erforderte, dass jeder Teil meines Geschäftes seine angewiesene Zeit habe, so enthielt eine Kolumne meines Büchleins folgenden Entwurf zum Gebrauch der vierundzwanzig Stunden eines natürlichen Tages.

Auch die Tabelle, in die Franklin seine 13 Tugenden eingetragen hatte und täglich bei der Tugend, gegen die er verstoßen hatte, ein Kreuz machte, ist ein typischer Ausdruck derselben „Ordentlichkeit“, wie wir sie oben, plastisch von K. Abraham beschrieben, anführten.

Es kam uns darauf an, auf einige wichtige, für den bürgerlich-kapitalistischen Geist typische Charakterzüge hinzuweisen.

Als die Hauptcharakterzüge des bürgerlichen Geistes glaubten wir annehmen zu dürfen: einerseits die Einschränkung des Genusses als Selbstzweck (speziell der Sexualität), den Rückzug von der Liebe und die Ersetzung dieser Positionen durch die lustvolle Rolle des Sparens, Sammelns und Besitzens als Selbstzweck, der Pflichterfüllung als obersten Wertes, der rationalen „Ordentlichkeit“ und der mitleidslosen Beziehungslosigkeit zum Mitmenschen.

Vergleichen wir diese Charakterzüge mit den oben dargestellten typischen Zügen des analen Charakters, so fällt ohne weiteres auf, dass hier eine weitgehende [I-075] Übereinstimmung vorzuliegen scheint. Wenn diese Übereinstimmung tatsächlich zutrifft, so wäre die Annahme gerechtfertigt, dass die für den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft typische libidinöse Struktur durch eine Verstärkung der analen Libidoposition charakterisiert ist.[51] Eine ausgeführte Untersuchung hätte also eine unter psychoanalytischen Kategorien zureichende Beschreibung der bürgerlich-kapitalistischen Charakterzüge zu geben, dann aufzuzeigen, wie und inwiefern sich diese Charakterzüge im Sinne der Anpassung an die Erfordernisse der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur entwickelt haben und inwiefern andererseits die den Charakter formierende Analerotik selbst zu einer die kapitalistische Wirtschaft vorwärtstreibenden Produktivkraft wird.[52]

Obwohl wir uns ausdrücklich nicht um die Frage gekümmert haben, von wann an man von einem Kapitalismus und einem bürgerlich-kapitalistischen „Geist“ sprechen [I-076] kann, so lässt sich, sollen nicht schwere Missverständnisse entstehen, ein Hinweis auf die hochkapitalistische Entwicklung nicht vermeiden. Es ist deutlich, dass die für den Bürger des Sechzehnten bis Neunzehnten Jahrhunderts typischen Charakterzüge in demselben Maße schwinden, als auch der klassische Typ des selbständigen Unternehmers, der gleichzeitig Eigentümer und Leiter des Unternehmens ist, immer mehr zurücktritt. Die Charakterzüge, die den Kaufmann ehemals förderten, sind teilweise für den Großunternehmer des Hochkapitalismus eher hinderlich als fördernd. Eine Beschreibung und Erklärung der Psyche des Großunternehmers in der hochkapitalistischen Epoche wäre eine andere Aufgabe, die mit den Mitteln der psychoanalytischen Sozialpsychologie vorzunehmen wäre.

In einer Schicht haben sich jedoch die bürgerlichen Charakterzüge auch noch im Hochkapitalismus erhalten: im Kleinbürgertum, das zwar in kapitalistisch so fortgeschrittenen Ländern wie etwa Deutschland wirtschaftlich und politisch ohnmächtig ist, aber noch in den alten Formen der kapitalistischen Epoche des Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhunderts wirtschaftet. Im heutigen Kleinbürgertum sind dieselben für den analen Charakter typischen Züge anzutreffen, wie sie für den alten bürgerlich-kapitalistischen Geist angenommen wurden.[53]

Das Proletariat weist ebenfalls nicht annähernd in demselben Maße die analen Charakterzüge auf wie das Kleinbürgertum.[54] Da es eine Stellung im Produktionsprozess hat, die diese Charakterzüge überflüssig macht, ist die Frage nach der Ursache dieser Andersartigkeit leicht zu beantworten.[55] Viel schwieriger ist die Frage, warum so [I-077] viele Proletarier, ebenso wie viele Kleinbürger, die gar kein Kapital mehr zu verwalten, die gar nichts mehr zu sparen haben, dennoch mehr oder weniger bürgerlich-anale Züge bzw. entsprechende Ideologien haben. Der entscheidende Grund hierfür scheint uns darin zu liegen, dass die libidinöse Struktur, auf der diese Charakterzüge beruhen, durch die Familie, aber auch durch andere kulturelle Einflüsse im alten Sinn beeinflusst wird, dass sie ein gewisses Eigengewicht hat und sich langsamer ändert als die ökonomischen Tatsachen, denen sie einst angepasst war.

Die Bedeutung einer im Sinne der hier angedeuteten Illustration vorgehenden Sozialpsychologie für die Soziologie liegt vor allem darin, dass sie ermöglicht, die im Charakter zum Ausdruck kommenden libidinösen Kräfte in ihrer Rolle als die gesellschaftliche Entwicklung im Sinne der Entfaltung der Produktivkräfte vorwärtstreibenden bzw. sie hemmenden Faktor zu verstehen. Hiermit wird es erst möglich, dem Begriff des „Geistes“ einer Epoche einen konkreten, wissenschaftlich korrekten Sinn zu geben. Wenn der Begriff des „Geistes“ der Gesellschaft in dieser Weise verstanden wird, werden sich auch eine Reihe von Kontroversen in der soziologischen Literatur als hinfällig erweisen, weil sie daraus entspringen, dass der „Geist“ als Ideologie aufgefasst wird und nicht als libidinös bedingter Charakterzug, der sich in sehr verschiedenen und auch sich widersprechenden Ideologien ausdrücken kann. Die Anwendung der Psychoanalyse wird aber nicht nur dem Soziologen brauchbare Gesichtspunkte zur Untersuchung dieser Fragen in die Hand geben; sie wird ihn auch daran hindern, kritiklos falsche psychologische Kategorien zu verwenden.[56]

Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart

(The Significance of the Theory of Mother Right for Today)

(1970f)[57]

Die Tatsache, dass Bachofens Theorien[58] über das Mutterrecht und die matriarchalischen Gesellschaften im Neunzehnten und in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts verhältnismäßig geringe Beachtung fanden, erklärt sich hinreichend aus dem Umstand, dass bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das patriarchalische System in Europa und Amerika unerschüttert war, so dass der bloße Gedanke, Frauen könnten im Mittelpunkt einer gesellschaftlichen oder religiösen Struktur stehen, unvorstellbar und absurd erschien. Ebenso sollten die sozialen und psychologischen Veränderungen der letzten vier Jahrzehnte den Grund erkennen lassen, weshalb das Problem des Matriarchats ein neues und tiefes Interesse erwecken müsste. Erst jetzt, so scheint es, sind Veränderungen im Gange, welche eine Neueinschätzung von Ideen verlangen, die über hundert Jahre schlummerten. Bevor ich diese Veränderungen beschreibe, möchte ich dem Leser, der mit Bachofen und Morgan nicht vertraut ist, eine kurze Einführung in deren Vorstellungen von den Prinzipien und Werten einer matriarchalischen Gesellschaft geben.[59]

Nach Bachofen ist das mütterliche Prinzip das des Lebens, der Einheit und des Friedens. Die für das Kleinkind sorgende Frau wendet ihre Liebe über ihr eigenes Selbst hinaus anderen menschlichen Wesen zu und richtet alle ihre Gaben und ihre Einbildungskraft auf das Ziel der Bewahrung und Verschönerung eines anderen Menschen. Das Prinzip des Matriarchats ist allumfassend, während das patriarchalische System ein System der Beschränkungen ist. Die Vorstellung, dass alle Menschen Brüder seien, ist im Prinzip der Mutterschaft verwurzelt; sie verblasst mit der Entwicklung der patriarchalischen Gesellschaft. Das Matriarchat ist die Grundlage des Prinzips universaler Freiheit und Gleichheit, des Friedens und liebender Menschlichkeit. Es ist auch die Grundlage wohlüberlegter Sorge um materielles Wohlergehen und irdisches Glück. (Vgl. J. J. Bachofen, 1954.)

Ganz unabhängig davon kam L. H. Morgan (1870 und 1877) zu dem Schluss, dass das Verwandtschaftssystem der amerikanischen Indianer – ähnlich dem in Asien, Afrika und Australien – auf dem matriarchalischen Prinzip beruhte, und er behauptete, dass [I-112] höhere Kulturformen „eine Wiederholung, und zwar auf höherer Ebene, der Grundsätze von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bringen würden, die den alten Geschlechtern (gens) eigentümlich waren“. Selbst diese kurze Darstellung der Prinzipien des Matriarchats sollte erkennen lassen, weshalb ich den nachstehend genannten sozialpsychologischen Veränderungen für eine Neueinschätzung der Mutterrechtstheorie soviel Bedeutung beimesse:

  1. Das Versagen des patriarchalisch-autoritären Systems bei der Erfüllung seiner Aufgabe: seine Unfähigkeit, große, verheerende Kriege und terroristische Diktaturen zu verhindern; seine Unfähigkeit zu entschiedenem Handeln, um zukünftige Katastrophen – beispielsweise einen Krieg mit atomaren, biologischen und chemischen Waffen, Hungersnöte in weiten Teilen der Welt und die katastrophalen Resultate einer zunehmenden Verpestung von Luft, Wasser und Erdboden – zu verhüten.
  2. Die demokratische Revolution, die die überlieferten autoritären Strukturen besiegt und durch demokratische Strukturen ersetzt hat. Der Prozess der Demokratisierung ging einher mit der Entstehung einer technologischen Überflussgesellschaft, die nicht vorwiegend persönliche Unterordnung fordert, sondern eher auf der Basis des Teamworks und der manipulierten Übereinstimmung funktioniert.
  3. Die Emanzipation der Frau, die, obwohl nicht vollendet, viel dazu beigetragen hat, die radikalen Ideen der Aufklärung über die Gleichheit von Mann und Frau zu verwirklichen. Diese Revolution hat der patriarchalischen Autorität in den kapitalistischen Ländern ebenso wie in einem so konservativen Land wie der Sowjetunion einen schweren Schlag versetzt.
  4. Die Revolution der Kinder und Jugendlichen. In der Vergangenheit konnten Kinder nur in unangemessener Weise rebellieren – durch Nahrungsverweigerung, Weinen, Verstopfung, Bettnässen und allgemeines Störrischsein –, aber seit dem Neunzehnten Jahrhundert haben sie Anwälte gefunden (Pestalozzi, Freud u.a.), die darauf bestanden, dass Kinder einen eigenen Willen und eigene Leidenschaften haben und ernst genommen werden müssen. Dieser Trend setzte sich mit zunehmender Stärke und Einsicht im Zwanzigsten Jahrhundert fort. Dr. Benjamin Spock wurde sein einflussreichster Verfechter. Was Jugendliche und Heranwachsende angeht, so sprechen diese jetzt für sich selbst – und nicht mehr mit leiser Stimme. Sie fordern das Recht, angehört und ernst genommen zu werden, aktiv zu sein und nicht mehr passive Objekte, wo es um Angelegenheiten geht, die über ihr Leben entscheiden. Sie greifen die väterliche Autorität direkt, energisch und manchmal bösartig an.
  5. Die Vision des Verbraucherparadieses: Unsere Konsumentenstruktur schafft eine neue Vision: Wenn wir auf dem Pfad des technologischen Fortschritts weitergehen, werden wir schließlich einen Punkt erreichen, wo keine Wünsche, nicht einmal die ständig neugeschaffenen, unerfüllt bleiben; die Erfüllung wird augenblicklich erfolgen und ohne die Notwendigkeit besonderer Anstrengung. In dieser Vision erwirbt die Technik die Eigenschaften der Großen Mutter, einer technischen anstelle einer natürlichen, die ihre Kinder nährt und sie mit einem nie endenden Wiegenlied (in Form von Radio und Fernsehen) besänftigt. Im Verlaufe dieses Prozesses wird der Mensch in seiner Emotionalität zum Säugling, der sich sicher fühlt in der Hoffnung, dass Mutters Brüste jederzeit reichlich Milch geben werden und Entscheidungen nicht länger vom [I-113] Individuum zu treffen sind. Sie werden vielmehr vom technologischen Apparat selbst gefällt, von den Technokraten interpretiert und ausgeführt, den Priestern einer heraufkommenden matriarchalischen Religion[60], deren Göttin die Technik ist.
  6. Gewisse matriarchalische Neigungen kann man auch bei einigen Gruppen der radikalen Jugend beobachten, nicht nur weil sie strikt antiautoritär sind, sondern auch, weil sie die oben genannten Werte und Einstellungen der matriarchalischen Welt, wie sie von Bachofen und Morgan beschrieben worden sind, zu ihren eigenen machen. Die Idee des Gruppensex (ob bei bürgerlichen Vorortbewohnern oder bei radikalen Kommunen) hat große Ähnlichkeit mit Bachofens Schilderung der frühen, matriarchalischen Entwicklungsstufe der Menschheit. Ebenso kann man fragen, ob die Neigung, die Geschlechtsunterschiede im Aussehen, der Kleidung etc. zurücktreten zu lassen, nicht gleichfalls mit der Tendenz zusammenhängt, die traditionelle Wertschätzung des Männlichen aufzugeben und die Polarität der beiden Geschlechter zu verringern, was zur (emotionalen) Regression auf die prägenitale Stufe des Kleinkindes führt. – Es gibt noch andere Züge, die die Annahme unterstützen, dass sich eine wachsende matriarchalische Tendenz in diesem Teil der jungen Generation entwickelt. Die „Gruppe“ selbst scheint die Funktion der Mutter zu übernehmen. Auch könnte sich in dem Bedürfnis nach unmittelbarer Befriedigung aller Wünsche, in der passiv-rezeptiven Einstellung, die im Drogenmissbrauch am deutlichsten wird, und im Bedürfnis, sich mit den anderen in der Gruppe körperlich zu berühren und nie allein zu sein, eine Regression zur infantilen Gebundenheit an die Mutter ausdrücken. Es scheint auch, dass die junge Generation nicht so verschieden von der älteren Generation ist, wie sie selbst es glaubt, wenngleich sie andere Dinge konsumiert und ihre Verzweiflung einen offenen und aggressiven Ausdruck findet. Das beunruhigende Element in diesem Neomatriarchalismus ist, dass er eine reine Negation des Patriarchalismus und eine direkte Regression zu einer infantilen Einstellung statt eine dialektische Progression zu einer höheren Form des Matriarchalismus darstellt. Die Wirkung von Herbert Marcuse auf die junge Generation scheint zum großen Teil auf der Tatsache zu beruhen, dass er zur Regression auf den Matriarchalismus aufruft und dieses Ziel durch revolutionäre Rhetorik besonders anziehend macht – und gleichzeitig verschleiert.[61]
  7. Vielleicht hängt mit diesen sozialen Veränderungen auch jene Richtung in der Psychoanalyse zusammen, die Freuds ältere Vorstellung von der zentralen Rolle der [I-114] sexuellen Bindung des Sohnes an die Mutter und der daraus resultierenden Feindseligkeit gegenüber dem Vater zu korrigieren beginnt und die neue These vertritt, es gebe eine frühe und tiefe „prägenitale“ Bindung von Mutter und Säugling, die vom Geschlecht des Kindes unabhängig ist. Ich habe an anderer Stelle (vgl. Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie (1932a) GA I, S. 27-57, und Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie (1932b) GA I, S. 59-77), darauf hingewiesen, wie diese Entwicklung in Freuds späteren Schriften ihren Anfang nahm und dann von anderen aufgegriffen wurde, wenn auch sehr behutsam. Wenn Psychoanalytiker Bachofens Werk gründlich studieren, wird sich das als äußerst wertvoll für das Verständnis dieser nichtsexuellen Fixierung an die Mutter erweisen.

Ich möchte diese Bemerkungen mit einer theoretischen Betrachtung abschließen. Wie der Leser im vorhergehenden Aufsatz feststellen wird, ist das mütterliche Prinzip das der uneingeschränkten Liebe, natürlichen Gleichheit, der Betonung der Bindung an Blut und Boden, des Mitleids und der Barmherzigkeit. Das väterliche Prinzip ist das der bedingten Liebe, der hierarchischen Strukturen, des abstrakten Denkens, der von Menschen gemachten Gesetze, des Staates.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120852
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Gesellschaftstheorie Sozialpsychologie Individuum
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Titel: Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie