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Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 18.9.2015
ISBN: eBook 9783959120845
Format: ePUB
Erich Fromm war Anfang der Sechziger Jahre in den USA wohl der bekannteste Psychoanalytiker der Gesellschaft. Bereits in den Dreißiger Jahren hatte Fromm in verschiedenen deutschsprachigen Beiträgen eine eigene sozialpsychologische Theorie und Methode entwickelt. Diese Beiträge und einige aktuelle Artikel machte er in zwei Sammelbänden 1963 und 1970 der Englisch sprechenden Le-serschaft zugänglich.
Der hier vorliegende erste Sammelband beginnt mit der 1930 entstandenen sozialpsychologischen Studie „Die Entwicklung des Christusdogmas“. In ihr geht es vor allem um die Frage, wie die konkrete Lebenspraxis und die sozio-ökonomischen Bedingungen sich im psychischen Antriebsleben gesellschaftlicher Gruppierungen niederschlagen. Nur so lassen sich Religionsphänomene, gesellschaftliche Wertvorstellungen und Ideale, Genderfragen oder poli-tische Entwicklungen sozialpsychologisch adäquat verstehen. Der Sammelband spiegelt die Anwendungsmöglichkeiten der Frommschen Sozialpsychologie hervorragend wider.
(The Dogma of Christ
and Other Essays on Religion, Psychology and Culture)
Erich Fromm
(1963a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
aus dem Amerikanischen von Carola Dietlmeier, überarbeitet von Rainer Funk
Erstveröffentlichung als Aufsatzsammlung 1963 unter dem Titel The Dogma of Christ and Other Essays on Religion, Psychology and Culture beim Verlag Holt, Rinehart and Winston in New York. Deutsche Erstveröffentlichung 1965 unter dem Titel Das Christusdogma und andere Essays beim Szczesny Verlag in München. Mit überarbeiteter Übersetzung erschien das Buch 1981 bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart und als Taschenbuch 1984 beim Deutschen Taschenbuch Verlag.
Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1963 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
(1930a)[1]
Es ist eine der nicht unwesentlichen Leistungen der Psychoanalyse, dass sie die falsche prinzipielle Unterscheidung zwischen einer Sozialpsychologie und einer Psychologie des Individuums (Personalpsychologie) überwunden hat.[2] Freud hat einerseits betont, dass es eine Personalpsychologie, deren Objekt der isolierte, aus dem sozialen Zusammenhang gelöste Mensch ist, nicht gibt, weil es eben diesen isolierten Menschen in Wirklichkeit nirgends gibt. Er kennt keinen homo psychologicus, keinen psychologischen Robinson Crusoe, wie er etwa als ökonomischer der klassischen Nationalökonomie vorgeschwebt hat. Im Gegenteil ist ja eine der wesentlichsten Entdeckungen Freuds die, dass er die psychische Entwicklung des Individuums gerade aus seinen frühesten sozialen Beziehungen, denen zu Eltern und Geschwistern, verstehen gelernt hat.
Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Befriedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei nur selten, unter bestimmten Ausnahmebedingungen, in die Lage, von den Beziehungen dieses einzelnen zu anderen Individuen abzusehen. Im Seelenleben des einzelnen kommt ganz regelmäßig der andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht, und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne. (S. Freud, 1921c, S. 73.)
Anderseits aber hat Freud gründlich mit der Illusion einer Sozialpsychologie gebrochen, deren Objekt eine Gruppe als solche ist. Sowenig er einen isolierten Menschen als Objekt der Psychologie kennt, sowenig einen „sozialen Trieb“. Das, was man als solchen bezeichnet hat, ist für ihn „kein ursprünglicher und unzerlegbarer“ Trieb, sondern er sieht „die Anfänge seiner Bildung in einem engeren Kreis, wie etwa in der Familie“ (S. Freud, 1921c, S. 74) und er hat gezeigt, dass die in der Gruppe wirksamen psychischen Erscheinungen aus den im Einzelmenschen wirksamen psychischen Mechanismen heraus zu verstehen sind und nicht etwa aus einer „Gruppenseele“ als solcher.[3] [VI-014] Der Unterschied zwischen Personalpsychologie und Sozialpsychologie erweist sich als ein quantitativer, nicht als ein qualitativer. Die Personalpsychologie berücksichtigt alle Determinanten, die auf das Schicksal des Einzelnen eingewirkt haben und kommt so zu einem maximal vollständigen Bild von dessen individueller psychischer Struktur. Je mehr wir den Gegenstand der psychologischen Untersuchung verbreitern, d.h. je größer die Zahl der Menschen ist, deren Gemeinsamkeiten es rechtfertigen, sie als Gruppe zum Objekt einer psychologischen Untersuchung zu machen, desto mehr müssen wir an Umfang der Einsicht in das Ganze der seelischen Struktur des einzelnen Gruppenmitgliedes verzichten. In diesem Sinne etwa müssen wir „Psychologie des Kindes“ als Sozialpsychologie bezeichnen: Es wird hier eine Gruppe von Menschen untersucht, deren Schicksal in einer Reihe von Beziehungen, die psychologisch relevant sind, gemeinsam ist. Je mehr wir den Umfang des Objektes einschränken, also etwa durch Beschränkung auf die Psychologie des einzelnen oder mittleren Kindes, desto größer wird der Umfang unserer Einsicht in die Struktur des einzelnen Kindes dieser Gruppe. Dasselbe gilt für alle sozialpsychologischen Untersuchungen.
Je größer also die Zahl der Objekte einer psychologischen Untersuchung ist, desto geringer ist die Einsicht in die Ganzheit der psychischen Struktur des Einzelnen innerhalb der zu untersuchenden Gruppe. Wenn dies nicht erkannt wird, kommt es leicht bei der Beurteilung der Ergebnisse sozialpsychologischer Untersuchungen zu Missverständnissen. Man erwartet, etwas von der individuellen psychischen Struktur des einzelnen Gruppenmitgliedes zu hören, während die sozialpsychologische Untersuchung immer nur etwas über die allen Gruppenmitgliedern gemeinsamen psychischen Charaktere aussagen kann und die individuelle psychische Situation des Einzelnen diesseits jener Gemeinsamkeiten nicht berücksichtigt. Die Darstellung der besonderen psychischen Eigenart des Einzelnen kann niemals Aufgabe der Sozialpsychologie sein und ist immer nur möglich, wenn eine weitgehende Kenntnis des Lebensschicksals des Individuums vorhanden ist. Wenn also z.B. in einer sozialpsychologischen Untersuchung festgestellt wird, dass eine Gruppe eine Regression von einer vaterfeindlichen Einstellung zu einer passiv-gefügigen Haltung vornimmt, so bedeutet diese Aussage etwas anderes, als wenn in einer personalpsychologischen Untersuchung dies vom Einzelnen ausgesagt wird. Während es hier hieße, dass diese Regression für die gesamte Sohneseinstellung des Individuums gilt, heißt es dort, dass sie einen durchschnittlich allen Gruppenmitgliedern gemeinsamen Zug darstellt, der an bestimmter, näher anzugebender Stelle in Erscheinung tritt, aber im Leben des Einzelnen, neben anderen durch sein individuelles Schicksal bestimmten Tendenzen, gegebenenfalls eine untergeordnete Rolle spielen kann. Der Wert sozialpsychologischer Einsicht kann also nicht darin liegen, dass wir einen Einblick in die psychische Eigenart des einzelnen Gruppenmitgliedes bekommen, sondern nur darin, dass wir [VI-015] diese gemeinsamen psychischen Tendenzen feststellen, deren überragende Bedeutung darin liegt, dass sie als gemeinsame eine entscheidende Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung spielen.
Die Überwindung einer prinzipiellen Gegenüberstellung von Personal- und Sozialpsychologie, wie sie von der Psychoanalyse geleistet wurde, führt als Konsequenz zur Einsicht, dass die Methode einer sozialpsychologischen Untersuchung grundsätzlich und im wesentlichen keine andere sein kann als die, welche die Psychoanalyse bei der Erforschung der Psyche des Einzelnen anwendet. Es wird also gut sein, sich kurz auf das Wesentliche dieser Methode, insoweit es für unser Problem hier von Bedeutung ist, zu besinnen.
Freud geht davon aus, dass in der Verursachung der Neurosen – und dasselbe gilt für die Triebstruktur des Gesunden – mitgebrachte Sexualkonstitution und Erleben eine Ergänzungsreihe bilden.
An dem einen Ende der Reihe stehen die extremen Fälle, von denen Sie mit Überzeugung sagen können: Diese Menschen wären infolge ihrer absonderlichen Libidoentwicklung auf jeden Fall erkrankt, was immer sie erlebt hätten, wie sorgfältig sie das Leben auch geschont hätte. Am anderen Ende stehen die Fälle, bei denen Sie umgekehrt urteilen müssen, sie wären gewiss der Krankheit entgangen, wenn das Leben sie nicht in diese oder jene Lage gebracht hätte. Bei den Fällen innerhalb der Reihe trifft ein Mehr oder Minder von disponierender Sexualkonstitution mit einem Minder oder Mehr von schädigenden Lebensanforderungen zusammen. Ihre Sexualkonstitution hätte ihnen nicht die Neurose gebracht, wenn sie nicht solche Erlebnisse gehabt hätten, und diese Erlebnisse hätten nicht traumatisch auf sie gewirkt, wenn die Verhältnisse der Libido andere gewesen wären. (S. Freud, 1916-17, S. 360.)
Der konstitutionelle Anteil an der psychischen Struktur des gesunden oder kranken Menschen bleibt bei der psychischen Erforschung der Einzelnen für die Psychoanalyse – und beim heutigen Stande der Wissenschaft weitgehend für diese überhaupt – eine zu beachtende, aber unbekannte und nicht näher bestimmbare Größe. Das, worum sich die Psychoanalyse kümmert, ist das Erleben, und die Erforschung seines Einflusses auf die Triebentwicklung bei einer gegebenen psychischen Konstitution ist ihr Hauptziel. Sie weiß zwar, dass die Triebentwicklung des Einzelnen mehr oder weniger von seiner Konstitution bestimmt ist, diese Einsicht ist eine Voraussetzung der psychoanalytischen Arbeit, aber diese selbst gilt ausschließlich der Erforschung der Frage nach der Einwirkung des Lebensschicksals auf die Triebentwicklung. In der Praxis bedeutet das, dass für die psychoanalytische Methode eine maximale Kenntnis des Lebensschicksals des Einzelnen, vor allem seiner frühkindlichen Erlebnisse, aber durchaus nicht nur dieser, eine wesentliche Bedingung ist. Sie sucht den Zusammenhang zwischen der Spezifität der Schicksale und der Spezifität der Triebentwicklung. Da, wo man die Lebensschicksale des Einzelnen nicht weitgehend kennt, ist jede Analyse unmöglich. Man kann wohl bei bestimmten typischen Verhaltensweisen, denen bestimmte typische Schicksale erfahrungsgemäß zugeordnet sind, auf Grund eines Analogieschlusses die entsprechenden Schicksale vermuten, aber alle solche Analogieschlüsse enthalten doch einen mehr oder weniger großen Unsicherheitsfaktor, und es kommt ihnen nur eine sehr beschränkte wissenschaftliche Geltung zu. Die [VI-016] Methode der Psychoanalyse des Einzelnen ist also eine exquisit historische: Verständnis der Triebentwicklung aus der Kenntnis des Lebensschicksals.
Die Methode der Anwendung der Psychoanalyse auf Gruppen kann keine andere sein. Auch die gemeinsamen psychischen Haltungen der Angehörigen einer Gruppe sind nur zu verstehen aus den ihnen gemeinsamen Lebensschicksalen. Die psychoanalytische Sozialpsychologie kann nur eine ebenso historische Methode haben wie die psychoanalytische Personalpsychologie. So wie diese aus der Kenntnis der Lebensschicksale des Einzelnen seine Triebkonstellation zu verstehen sucht, kann auch die Sozialpsychologie nur durch die genaue Kenntnis des Lebensschicksals eine Einsicht in die Triebstruktur der zu untersuchenden Gruppe gewinnen. Dabei besteht für den notwendigen Umfang der Kenntnis der Lebensschicksale ihrer Objekte dieselbe quantitative Differenz, wie sie oben für den Umfang des sozialpsychologisch erforschbaren Sektors der Einzelseele dargelegt wurde. So wie die Sozialpsychologie nur Aussagen über die allen gemeinsamen psychischen Haltungen machen kann, bedarf sie auch nur der Kenntnis der allen gemeinsamen und für alle charakteristischen Lebensschicksale. Nicht mehr, aber bestimmt auch nicht weniger.
Wenn auch die Methode der Sozialpsychologie grundsätzlich keine andere ist als die der Personalpsychologie, so gibt es doch eine Differenz, auf die hinzuweisen notwendig ist.
Die psychoanalytische Forschung hat es vorwiegend mit neurotischen, d.h. kranken Individuen zu tun, die sozialpsychologische Forschung mit Massen, beziehungsweise gesellschaftlichen Gruppen von normalen, d.h. nicht neurotisch erkrankten Personen.
Der neurotische Mensch ist charakterisiert dadurch, dass es ihm nicht gelungen ist, sich psychisch der ihn umgebenden Realität anzupassen, sondern dass er durch Fixierung gewisser Triebregungen, bestimmter psychischer Mechanismen, die in einer frühen Periode seiner Kindheit einmal angepasst und entsprechend waren, in Konflikte mit der Realität kommt, die in der Neurose ihren Ausdruck finden. Die seelische Struktur des Neurotikers ist eben deshalb ohne die Kenntnis seiner frühkindlichen Erlebnisse fast ganz unverständlich, weil infolge seiner Neurose als Ausdruck seiner mangelnden Angepasstheit, beziehungsweise des besonderen Umfangs infantiler Fixierungen, auch seine Situation als Erwachsener im wesentlichen von jener Situation als Kind determiniert ist. Auch für den Normalen sind die frühkindlichen Erlebnisse von entscheidender Bedeutung. Sein Charakter (im weitesten Sinn) ist von ihnen bestimmt und in seiner Totalität ohne sie unverständlich. Aber weil er sich in viel höherem Maße seelisch an seine Realität angepasst hat als der Neurotiker, ist auch ein weit größerer Sektor seiner seelischen Struktur aus der realen Lebenssituation, in der er sich befindet, verständlich als bei diesem. Da die Sozialpsychologie nicht den Anspruch erhebt, die Totalität der psychischen Struktur des Gruppenmitgliedes zu verstehen, sondern nur die den Gruppenmitgliedern gemeinsamen psychischen Einstellungen, kann sie also, weil sie es mit Normalen, d.h. mit Menschen zu tun hat, auf deren seelische Situation die Realität einen ungleich höheren Einfluss hat als auf den Neurotiker, auch auf die Kenntnis der individuellen Kindheitserlebnisse der einzelnen Mitglieder der zu untersuchenden Gruppe verzichten und aus der Kenntnis der [VI-017] realen gesellschaftlich bedingten Lebenssituation, in die diese Menschen nach den ersten Kindheitsjahren gestellt sind, Verständnis für die ihnen gemeinsamen psychischen Haltungen gewinnen.
Die Problemstellung der sozialpsychologischen Untersuchung entspricht der Methodik. Sie will erforschen, in welcher Weise gewisse, den Mitgliedern einer Gruppe gemeinsame, psychische Haltungen ihren gemeinsamen Lebensschicksalen zugeordnet sind.[4] Sowenig es beim Einzelnen ein Produkt des Zufalls ist, ob diese oder jene Triebrichtung dominiert, ob der Ödipuskomplex diesen oder jenen Ausgang findet, ebenso wenig ist es ein Zufall, ob in der gesellschaftlichen Entwicklung, sei es im zeitlichen Ablauf bei der gleichen, sei es gleichzeitig bei verschiedenen Schichten, Veränderungen der psychischen Eigenart stattfinden. Das Problem der sozialpsychologischen Untersuchung ist es aufzuzeigen, warum solche Veränderungen stattfinden und wie sie sich aus dem gemeinsamen Lebensschicksal der Gruppenangehörigen verstehen lassen. Auch die sozialpsychologische Untersuchung rechnet dabei mit den Gegebenheiten der psychischen Konstitution ihrer Objekte und übersieht nicht, dass das Erleben nur die eine Seite der „Ergänzungsreihe“ darstellt. Aber in der Aufzeigung der Einwirkung des Lebensschicksals auf die psychische Struktur, beziehungsweise deren Rückwirkung auf das Lebensschicksal, besteht das eigentliche analytische Problem für die Sozialpsychologie ebenso gut wie für die Personalpsychologie.
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit einem eng umgrenzten Problem der Sozialpsychologie, mit der Frage nach den Motiven der Wandlung der Vorstellungen vom Verhältnis Gott-Vaters zu Jesus von der Zeit des Beginns des Christentums bis zur Formulierung des Nizänischen Dogmas im vierten Jahrhundert. Entsprechend den oben allgemein formulierten Prinzipien will diese Untersuchung aufzeigen, inwiefern die Veränderung gewisser Glaubensvorstellungen ein Ausdruck der psychischen Veränderung der dahinterstehenden Menschen ist und diese Veränderungen wiederum von den Lebensschicksalen dieser Menschen bedingt sind. Sie will die Ideen aus den Menschen und ihren Schicksalen, nicht die Menschen aus dem Schicksal ihrer Ideen verstehen und zeigen, dass das Vermächtnis der dogmatischen Entwicklung nur möglich ist bei genügender Kenntnis des Unbewussten, auf das die äußere Realität einwirkt und das seinerseits die Bewusstseinsinhalte determiniert.
Die Methode dieser Arbeit bringt es mit sich, dass der Darstellung der Lebensschicksale der zu untersuchenden Menschen, ihrer geistigen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Situation, kurz ihrer „psychischen Oberfläche“ ein verhältnismäßig großer Raum gewidmet sein muss. Wenn der Leser dies als ein Missverhältnis empfinden wird, so möge er daran denken, dass auch in einer psychoanalytischen Krankengeschichte der Darstellung des äußeren Schicksals, der Erlebnisse des Kranken, ein verhältnismäßig großer Raum zukommt. Wenn in dieser Arbeit die Darstellung der gesamten Kultursituation der zu analysierenden Massen und ihrer äußeren Schicksale noch entschiedener hervortritt als in der Schilderung der Realsituation in einer Krankengeschichte, so liegt es darin begründet, dass naturgemäß die historische Rekonstruktion, wenn sie nur einigermaßen ausführlich und plastisch sein soll, unvergleichlich komplizierter und umfangreicher ist als die Wiedergabe einfacher Tatsachen, wie sie sich im Leben eines Einzelnen zutragen. Wir glauben aber, dass [VI-018] dieser Nachteil in Kauf zu nehmen ist, weil nur so ein wirkliches analytisches Verständnis historischer Phänomene erzielt werden kann.
Diese Untersuchung behandelt einen Gegenstand, der von einem der prominentesten Vertreter der analytischen Religionsforschung, von Theodor Reik in seiner Studie Dogma und Zwangsidee (Th. Reik, 1927; vgl. 1919; 1923; ferner: E. Jones, 1931; A. J. Storfer, 1913) behandelt wurde. Die inhaltlichen Differenzen, die sich aus der verschiedenen Methodik mit Notwendigkeit ergeben, werden, wie die methodischen Differenzen selbst, erst am Schlusse dieser Arbeit kurz behandelt werden.
Es soll in dieser Arbeit die Veränderung bestimmter Bewusstseinsinhalte, der dogmatischen Vorstellungen, aus der Veränderung unbewusster seelischer Regungen erklärt und verstanden werden. Ganz entsprechend, wie wir das beim methodischen Problem getan haben, wollen wir uns auch hier in Kürze auf die für unsere Frage wichtigsten Ergebnisse der Psychoanalyse besinnen.
Die Psychoanalyse ist eine Triebpsychologie[5], d.h. sie sieht die Lebensäußerungen des Menschen bedingt und bestimmt von Triebregungen, die sie als Ausfluss gewisser physiologisch verankerter, aber selbst nicht unmittelbar zu beobachtender Triebe ansieht. Freud hat zunächst, ganz entsprechend der populären Einteilung der Triebe in Hunger und Liebe, zwei Gruppen von Trieben angenommen, die als Motoren des menschlichen Seelenlebens wirksam sind: die Ich- oder Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe. Unter dem Eindruck der Tatsache des libidinösen Charakters, der auch den Selbsterhaltungstrieben innewohnt, und der besonderen Bedeutung destruktiver Tendenzen im seelischen Apparat des Menschen, hat er eine andere Gruppierung der Grundtriebe vorgenommen, den lebenserhaltenden (erotischen) die Zerstörungstriebe gegenübergestellt, ein Zusammenhang, auf den wir hier nicht näher einzugehen brauchen.[6] Wichtig ist für uns die Feststellung einiger Qualitäten der Sexualtriebe, die sie von den Ichtrieben unterscheiden. Die Sexualtriebe sind nicht imperativischer Natur, es ist möglich, ihre Anforderungen unbefriedigt zu lassen, ohne dass eine Bedrohung des Lebens damit verbunden wäre, wie das bei dauernder Nichtbefriedigung von Hunger, Durst und Schlafbedürfnis der Fall ist. Die Sexualtriebe gestatten fernerhin bis zu einem gewissen, nicht unerheblichen Grade eine Befriedigung in Phantasien und mit den Mitteln der eigenen Leiblichkeit, sie sind infolgedessen weit unabhängiger von der Realität als die Ichtriebe. Eng damit hängt ein weiteres zusammen: die leichte Verschiebbarkeit und Vertauschbarkeit unter den einzelnen Sexualtrieben. Die Versagung der Befriedigung einer Triebregung kann verhältnismäßig leicht durch den Ersatz einer anderen befriedigbaren Triebregung wettgemacht werden; diese Geschmeidigkeit und Beweglichkeit innerhalb der Sexualtriebe ist die Grundlage der außerordentlichen Variabilität der psychischen Struktur, und in ihr ist die Möglichkeit dafür begründet, dass das Lebensschicksal so bestimmend und verändernd auf die Triebstruktur einwirken kann. Als den Regulator des seelischen Apparates sieht Freud das durch das Realitätsprinzip modifizierte Lustprinzip an. Er sagt:
Wir wenden uns darum der anspruchsloseren Frage zu, was die Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm erreichen wollen. Die Antwort darauf [VI-020] ist kaum zu verfehlen; sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben. Dies Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, anderseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird „Glück“ nur auf das Letztere bezogen. Entsprechend dieser Zweiteilung der Ziele entfaltet sich die Tätigkeit der Menschen nach zwei Richtungen, je nachdem sie das eine oder das andere dieser Ziele – vorwiegend oder selbst ausschließlich – zu verwirklichen sucht. (S. Freud, 1930a, S. 433.)
Das Streben des Individuums geht also dahin, bei gegebenen Verhältnissen ein Maximum von Triebbefriedigung und ein Minimum von Unlust zu erfahren, um der Unlustvermeidungen willen kann es Verschiebungen innerhalb der verschiedenen Triebregungen oder auch Verzichte vornehmen, während ein entsprechender Verzicht bei den Ichtrieben unmöglich ist.
Die Eigenart der Triebstruktur eines Individuums hängt ab von seiner psychischen Konstitution und in erster Linie von seinem frühinfantilen Erleben. Die äußere Realität, die ihm die Befriedigung gewisser Triebregungen garantiert, ihn andererseits zum Verzicht auf gewisse andere zwingt, ist bestimmt durch die jeweilige gesellschaftliche Situation, in der der Betreffende lebt. Diese gesellschaftliche Realität ist eine doppelte: die weitere, für alle Mitglieder der Gesellschaft geltende, und die engere Klassenrealität innerhalb der Gesellschaft, die nur für die Angehörigen der betreffenden Klasse Geltung hat.
Die Gesellschaft hat für die seelische Situation des Einzelnen eine doppelte Funktion: eine versagende und eine befriedigende. Die Triebverzichte, die der Mensch vornimmt, entstammen nur zum kleinsten Teil seiner eigenen Einsicht in die Gefährlichkeit und Schädlichkeit der entsprechenden Befriedigung. Zum größten Teil sind es Verzichte, die ihm die Gesellschaft auferlegt, und zwar erstens solche, bei denen die gesellschaftliche Einsicht von einer dem Einzelnen nicht übersehbaren wirklichen Gefahr, die für ihn selber mit der Triebbefriedigung verbunden wäre, zum Verbot führt, zweitens solche Triebverzichte, mit deren Befriedigung zwar keine Gefahr für den Einzelnen, aber eine Schädigung der Gesamtheit verbunden wäre, und endlich solche, bei denen der Triebverzicht nicht im Interesse der Gesamtheit, sondern nur in dem einer anderen Klasse, welcher der, dem verboten wird, nicht angehört, liegt.
Nicht minder deutlich als diese verbietende Funktion der Gesellschaft ist ihre befriedigende. Das Individuum findet sich überhaupt nur mit ihr ab, weil es durch ihre Hilfe auf ein gewisses Maß an Lustgewinn und Unlustvermeidung rechnen kann. Vor allem und zunächst mit Bezug auf die Befriedigung seiner elementaren Selbsterhaltungsbedürfnisse, dann aber weiter auch mit Bezug auf die der libidinösen Bedürfnisse.
Das bisher Gesagte berücksichtigt nicht die eigenartige Strukturiertheit aller bisherigen Gesellschaft. Es ist ja nicht so, dass die Mitglieder der Gesellschaft sich gemeinsam beraten und feststellen, was die Gesellschaft erlauben kann und was sie verbieten muss. Es ist vielmehr so, dass, solange die Produktivkräfte, beziehungsweise die Ergebnisse der menschlichen Arbeit (sei es durch Mängel der Technik oder solche der gesellschaftlichen Organisation) nicht ausreichen, allen außer dem Schutz vor äußeren Gefahren und der Befriedigung der elementaren Ichbedürfnisse auch noch ein ausreichendes Maß an Befriedigung kultureller Bedürfnisse zu gewähren, sich die [VI-021] Stärksten zusammentun, für eine maximale Befriedigung ihrer Bedürfnisse zunächst sorgen, und dass das Maß an Befriedigung, das sie den Beherrschten gewähren, einerseits abhängt vom Stande der allgemein zur Verfügung stehenden Befriedigungsmöglichkeiten oder, anders ausgedrückt, von dem Maß dessen, was sich die Herrschenden zugunsten der Beherrschten entziehen müssen, anderseits davon, dass den Beherrschten das Minimum an Befriedigung gewährt werden muss, bei dem sie noch als mitarbeitende Glieder der Gesellschaft zu fungieren bereit und imstande sind. Die gesellschaftliche Stabilität beruht nur zum kleineren Teil auf Mitteln der äußeren Gewalt, zum größeren Teil beruht sie darauf, dass die Menschen sich in einer solchen seelischen Verfassung befinden, die sie innerlich in einer bestehenden gesellschaftlichen Situation verwurzelt. Dazu ist, wie wir oben sahen, ein Minimum an Befriedigung der natürlichen und kulturellen Triebbedürfnisse nötig. Aber für die psychische Fügsamkeit der Masse ist noch etwas anderes übrig, was mit der eigenartigen Strukturiertheit der Gesellschaft in Klassen zusammenhängt.
Freud hat darauf hingewiesen, dass die Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit des Menschen der Natur gegenüber eine Wiederholung der Situation ist, in der sich der Erwachsene einst als Kind befand, wo er Schutz und Hilfe gegen fremde Übermächte nicht entbehren konnte und wo seine Liebesregungen, den Wegen der narzisstischen Regungen folgend, sich zunächst an die Objekte heften, die ihm ersten Schutz und Befriedigung gewähren, an die Mutter und an den Vater. In dem Maße, als die Gesellschaft der Natur hilflos gegenübersteht, muss sich für das einzelne Mitglied der Gesellschaft auch als Erwachsener die psychische Situation der Kindheit wiederholen. Es überträgt einen Teil der kindlichen Liebe und Angst, aber auch der Abneigung auf eine Phantasiegestalt, auf Gott. Daneben aber auch auf Gestalten der Realität, nämlich auf die Repräsentanten der herrschenden Klasse. In der Strukturiertheit der Gesellschaft in Klassen wiederholt sich für den Einzelnen die infantile Situation. Er sieht in den Herrschenden die Mächtigen, Starken, Weisen, Ehrfurchtgebietenden, glaubt daran, dass sie es gut mit ihm meinen und nur sein Bestes wollen, weiß, dass jede Auflehnung gegen sie bestraft wird, und ist befriedigt, wenn er durch Gefügigkeit ihr Lob erringen kann. Es sind ganz die gleichen Gefühle, die er als Kind dem Vater gegenüber hatte, und es versteht sich, dass er ebenso geneigt ist, kritiklos an das zu glauben, was ihm von den Herrschenden als richtig und wahr dargestellt wird, wie er als Kind gewohnt war, dem Vater für jede Behauptung kritiklos Glauben zu schenken. Die Figur Gottes bildet die Ergänzung dieser Situation. Gott ist immer der Verbündete der Herrschenden. Wenn diese, da sie immerhin reale Persönlichkeiten sind, der Kritik eine Angriffsfläche bieten, so können sie sich auf Gott stützen, der infolge seiner Irrealität nur der Kritik spottet und durch seine Autorität die der herrschenden Klasse festigt.
In dieser psychologischen Situation, der der infantilen Gebundenheit der Beherrschten an die Herrschenden, liegt eine der wesentlichsten Garantien der gesellschaftlichen Stabilität. Die Beherrschten sind bereit, zugunsten der Herrschenden auf die Befriedigung gewisser Triebregungen zu verzichten, sie sind bereit, deren Strafandrohungen zu respektieren und an die Weisheit ihrer Anordnungen zu glauben, weil sie sich ihnen gegenüber in der gleichen Situation befinden, in der sie als hilflose [VI-022] Kinder einst dem Vater gegenüberstanden und weil die gleichen Mechanismen hier wie dort stattgaben. Diese psychische Situation bekommt ihre Festigkeit durch eine große Reihe schwerwiegender und komplizierter Maßnahmen seitens der Herrschenden, die alle die Funktion haben, die Masse in ihrer infantilen psychischen Abhängigkeit zu erhalten und zu bestärken, die herrschende Klasse dem Unbewussten der Masse als Vaterfigur suggestiv aufzunötigen. Eines der wesentlichsten Mittel zu diesem Zweck ist die Religion.[7] Sie hat die Aufgabe, die psychische Selbständigkeit der Masse zu verhindern, sie intellektuell einzuschüchtern, sie in die gesellschaftlich notwendige infantile Gefügigkeit den Herrschenden gegenüber zu bringen. Sie hat aber gleichzeitig noch eine wesentliche andere Funktion, sie soll nämlich den Massen ein gewisses Maß an Befriedigung bieten, das ihnen das Leben soweit erträglich macht, dass sie nicht den Umschlag von der Position des gehorsamen in die des aufrührerischen Sohnes vornehmen.
Welcher Art sind diese Befriedigungen? Gewiss nicht solche der Selbsterhaltungstriebe, kein Mehr an Essen, Trinken und realen Genüssen. Insoweit es sich um solche handelt, sind sie nur in der Realität zu gewähren, dazu braucht man keine Religion, und gerade diese soll ja dazu dienen, der Masse den Verzicht auf so viele Versagungen, die die Realität ihnen bietet, leichter zu machen. Die Befriedigungen, die die Religion zu bieten hat, sind libidinöser Natur, es sind Befriedigungen, die sich im wesentlichen in der Phantasie des zu Befriedigenden abspielen, und sie können es sein, weil die libidinösen Impulse im Gegensatz zu den Ichtrieben eine Befriedigung in Phantasien gestatten.
Wir sind hier bei der Frage nach einer der psychischen Funktionen der Religion angelangt und wir wollen uns kurz auf die wichtigsten Ergebnisse der Forschungen Freuds besinnen. Freud hat in Totem und Tabu (S. Freud, 1912-13) gezeigt, dass der Tiergott des Totemismus der erhöhte Vater ist, dass sich im Verbot, das Totemtier zu töten und zu verzehren und der dazu im Gegensatz stehenden feierlichen Sitte, das Verbotene einmal im Jahr doch zu begehen, die ambivalente Einstellung wiederholt, die der Mensch als Kind seinem Vater gegenüber erworben hat, der gleichzeitig helfender Beschützer und unterdrückender Rivale ist. Es ist besonders von Reik gezeigt worden, dass diese Übertragung der dem Vater geltenden infantilen Einstellung auf Gott auch in den großen Kulturreligionen stattfindet, dass die Gefühlseinstellung des gläubigen Christen oder Juden zu seinem Gotte dieselben Züge der Ambivalenz aufzeigt, wie sie beim Kind dem Vater gegenüber geherrscht haben. Die eben dargelegte erste Fragestellung Freuds und seiner Schüler war die nach der psychischen Beschaffenheit der religiösen Einstellung zu Gott, und die Antwort lautete, dass in der Einstellung des Erwachsenen zu Gott sich die infantile Einstellung des Kindes zum Vater wiederholt. Diese infantile psychische Situation stellt Vorbild und Möglichkeit der religiösen Situation dar. In Die Zukunft einer Illusion ist Freud über diese Fragestellung hinaus zu einer weiteren übergegangen. Er fragt nicht mehr nur, wie ist Religion psychologisch möglich, sondern er fragt weiter, warum ist Religion oder war sie bisher nötig. Er gibt auf diese Frage eine Antwort, die gleichzeitig psychische und soziale Tatsachen berücksichtigt. Er spricht der Religion die Wirkung eines Narkotikums zu, das geeignet ist, den Menschen in seiner Ohnmacht und Hilflosigkeit den Naturkräften [VI-023] gegenüber einigen Trost zu gewähren.
Denn diese Situation ist nichts Neues, sie hat ein infantiles Vorbild, ist eigentlich nur die Fortsetzung des früheren, denn in solcher Hilflosigkeit hatte man sich schon einmal befunden, als kleines Kind einem Elternpaar gegenüber, das man Grund hatte zu fürchten, zumal den Vater, dessen Schutzes man aber auch sicher war gegen die Gefahren, die man damals kannte. So lag es nahe, die beiden Situationen einander anzugleichen. Auch kam wie im Traumleben der Wunsch dabei auf seine Rechnung. Eine Todesahnung befällt den Schlafenden, will ihn in das Grab versetzen, aber die Traumarbeit weiß die Bedingung auszuwählen, unter der auch dies gefürchtete Ereignis zur Wunscherfüllung wird; der Träumer sieht sich in einem alten Etruskergrab, in das er selig über die Befriedigung seiner archäologischen Interessen hinabgestiegen war. Ähnlich macht der Mensch die Naturkräfte nicht einfach zu Menschen, mit denen er wie mit seinesgleichen verfahren kann, das würde auch dem überwältigenden Eindruck nicht gerecht werden, den er von ihnen hat, sondern er gibt ihnen Vatercharakter, macht sie zu Göttern, folgt dabei nicht nur einem infantilen, sondern auch, wie ich versucht habe zu zeigen, einem phylogenetischen Vorbild. Mit der Zeit werden die ersten Beobachtungen von Regel- und Gesetzmäßigkeit an den Naturerscheinungen gemacht, die Naturkräfte verlieren damit ihre menschlichen Züge. Aber die Hilflosigkeit der Menschen bleibt und damit ihre Vatersehnsucht und die Götter. Die Götter behalten ihre dreifache Aufgabe, die Schrecken der Natur zu bannen, mit der Grausamkeit des Schicksals, besonders wie es sich im Tode zeigt, zu versöhnen und für die Leiden und Entbehrungen zu entschädigen, die dem Menschen durch das kulturelle Zusammenleben auferlegt werden. (S. Freud, 1927c, S. 338°f.)
Freud beantwortet auch die Frage danach, worin die innere Kraft der religiösen Lehren besteht, welchem Umstand sie ihre von der vernünftigen Anerkennung unabhängige Wirksamkeit verdanken. „Die religiösen Vorstellungen“, sagt er,
sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche. Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz – Schutz durch Liebe – erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit fürs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines – aber nun mächtigeren – Vaters verursacht. Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen. Antworten auf Rätselfragen der menschlichen Wissbegierde, wie nach der Entstehung der Welt und der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem, werden unter den Voraussetzungen dieses Systems entwickelt; es bedeutet eine großartige Erleichterung für die Einzelpsyche, wenn die nie[8] ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden. (S. Freud, 1927c, S. 352°f.) [VI-024]
Freud sieht also die Möglichkeit der religiösen Einstellung in der infantilen Situation, ihre (relative) Notwendigkeit in der Tatsache der Ohnmacht und Hilflosigkeit des Menschen gegenüber der Natur, und er zieht die Konsequenz, bei wachsender Beherrschung der Natur durch die Menschen die Religion als eine überflüssig werdende Illusion anzusehen.
Fassen wir das bisher Gesagte kurz zusammen: Der Mensch strebt nach einem Maximum an Lustgewinn, die gesellschaftliche Realität zwingt ihn zu vielen Triebverzichten und die Gesellschaft versucht, den Einzelnen für diese Triebverzichte durch andere, für die Gesellschaft, beziehungsweise die herrschende Klasse, unschädliche Befriedigungen zu entschädigen.
Diese Befriedigungen sind solche, die sich im wesentlichen in Phantasien vollziehen, und zwar in kollektiven, allen gemeinsamen; wir können sie als gemeinsame Phantasiebefriedigungen bezeichnen. Sie erfüllen eine wichtige Funktion in der gesellschaftlichen Realität. Insoweit diese Realbefriedigungen nicht gestattet sind, treten die Phantasiebefriedigungen als Ersatz ein und werden zu einer mächtigen Stütze der gesellschaftlichen Stabilität. Je größer die Versagungen sind, die die Menschen in der Realität erleiden, desto stärker muss dafür Sorge getragen werden, dass sie sich durch Phantasiebefriedigung für die realen Versagungen entschädigen können. Die Phantasiebefriedigungen haben die doppelte Funktion jedes Narkotikums, sie sind schmerzlindernd, aber gleichzeitig auch ein Hindernis der aktiven Einwirkung auf die Realität. Die gemeinsamen Phantasiebefriedigungen haben gegenüber den individuellen Tagträumen einen wesentlichen Vorzug darin, dass sie infolge ihrer Gemeinsamkeit für das Bewusstsein wirken wie eine Einsicht von realen Tatsachen. Eine Illusion, die von allen phantasiert wird, wird zur Realität. Die älteste dieser kollektiven Phantasiebefriedigungen ist die Religion. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft werden die Phantasien komplizierter und in höherem Maße rational bearbeitet. Die Religion selbst wird differenzierter, neben sie treten Dichtung, bildende Kunst, Philosophie und Moral als Inhalte der kollektiven Phantasien.
Inhalt und Umfang der Phantasiebefriedigungen werden bestimmt einerseits von der psychischen Konstitution, anderseits von der sozialen Realität. Die soziale Realität ist dadurch charakterisiert, dass sie in der bisherigen Geschichte der Menschheit immer eine Klassenrealität war, d.h., dass sich immer eine herrschende, psychisch die Vaterrolle einnehmende, und eine beherrschte, die Kindesrolle einnehmende Klasse gegenüberstanden. Das bedeutet, dass die Richtung der Triebbedürfnisse und Befriedigungen der Masse nicht nur bestimmt wird von der allgemeinen gesellschaftlichen Situation, d.h. vom jeweiligen Grad der Beherrschung der Natur durch die Menschen, sondern speziell von der Klassensituation, die erfordert, dass der Angehörige der beherrschten Klasse sich in einem für die gesellschaftliche Stabilität zweckmäßigen psychischen Abhängigkeitsverhältnis zur herrschenden Klasse befindet. Die Religion hat also eine dreifache Funktion: für alle Menschen die des Trostes für die allen vom Leben aufgezwungenen Versagungen, für die große Masse die der suggestiven Beeinflussung im Sinne ihres psychischen Abfindens mit ihrer Klassensituation und für die herrschende Klasse die der Entlastung vom Schuldgefühl gegenüber der Not der von ihr Unterdrückten. [VI-025] Die folgende Untersuchung soll an einem ganz kleinen Ausschnitt der religiösen Entwicklung das allgemein Gesagte im einzelnen nachweisen. Es wird versucht zu zeigen, welchen Einfluss die äußere Realität in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Gruppe Menschen hatte, wie sich deren psychische Situation in bestimmten Glaubensvorstellungen, d.h. in gewissen kollektiven Phantasien ausdrückte, weiterhin welche psychische Veränderung durch die Veränderung der äußeren Situation herbeigeführt wurde, und wie diese psychische Veränderung auf dem Wege über das Unbewusste in neuen, bestimmte Triebregungen befriedigenden, religiösen Phantasien Ausdruck findet, und es wird dabei deutlich werden, wie eng der Wandel in den religiösen Vorstellungen verknüpft ist, einerseits mit der Wiederbelebung verschiedener infantiler Beziehungsmöglichkeiten zum Vater beziehungsweise zur Mutter, anderseits mit der Veränderung der Einstellung zur herrschenden Klasse und ihren Vertretern, beziehungsweise der sozialen und ökonomischen Situation.
Der Gang der Untersuchung ist durch die methodischen Voraussetzungen, von denen bisher gesprochen wurde, bestimmt. Es soll das Dogma aus den Menschen, nicht die Menschen aus dem Dogma verstanden werden. Wir werden also zunächst versuchen, eine Darstellung der Gesamtsituation jener Schicht zu geben, aus der der urchristliche Glaube entstanden ist, und den psychologischen Sinn dieses Glaubens aus der psychischen Gesamtsituation dieser Menschen zu verstehen suchen. Es wird dann weiter dargestellt werden, welche ganz anderen Menschen in einer anderen psychischen Situation die Träger des Christentums dreihundert Jahre später waren, um dann wiederum den unbewussten Sinn des Christusdogmas, wie es sich als Endprodukt einer dreihundertjährigen Entwicklung herauskristallisierte, aus der Situation jener Menschen heraus zu verstehen. Es werden in dieser Arbeit im wesentlichen nur das Anfangs- und Endprodukt der dogmatischen Entwicklung, der urchristliche Glaube, und das Nizänische Dogma behandelt werden. Die Untersuchung der verschiedenen Stufen der dogmatischen Entwicklung wird auf einige wenige Andeutungen beschränkt sein und soll einer besonderen Arbeit vorbehalten bleiben.[9]
Jeder Versuch, die Entstehung des Christentums zu verstehen, muss mit der Untersuchung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, geistigen und psychischen Situation seiner ersten Träger beginnen. (Zur wirtschaftlichen Entwicklung vgl. bes.: M. Rostovtzeff, 1926; M. Weber, 1924; E. Meyer, 1924; K. Kautsky, 1923.)
Palästina war ein Teil des römischen Imperiums und unterlag den Bedingungen von dessen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Das Augusteische Prinzipat hatte das Ende der Herrschaft einer feudalen Oligarchie bedeutet und dem städtischen Bürgertum zum Siege verholfen. Der wachsende internationale Verkehr bedeutete keine Verbesserung für die großen Massen, keine stärkere Befriedigung der Alltagsbedürfnisse, sondern interessiert war an ihm nur die dünne Schicht der besitzenden Klasse. Ein erwerbsloses Hungerproletariat von vorher nie gekanntem Umfange füllte die Städte. Jerusalem war wohl nächst Rom die Stadt, die relativ am meisten Proletariat dieser Art enthielt. Die Handwerker, die in der Regel nur Heimarbeiter waren, gehörten zum großen Teil zum Proletariat und kamen leicht dazu, mit den Bettlern, Lastträgern und Bauern gemeinsame Sache zu machen. Dabei war die Lage des jerusalemitischen Proletariats noch schlimmer als die des römischen. Besaß es doch nicht das römische Bürgerrecht und wurde nicht von den Kaisern durch die großen Getreideverteilungen und die prunkvollen Spiele und Schaustellungen mit den notwendigsten Bedürfnissen für Magen und Herz versorgt.
Die Landbevölkerung wurde durch den außerordentlichen Steuerdruck ausgesogen, kam in Schuldknechtschaft, oder dem kleinen Bauern wurden seine Produktionsmittel oder sein Stückchen Land völlig genommen. Ein Teil dieser Bauern verstärkte das großstädtische Proletariat Jerusalems, ein anderer griff zum letzten Verzweiflungsmittel, zu gewaltsamen politischen Erhebungen oder zu Räubereien. Über diesem verarmten und verzweifelten Proletariat und Lumpenproletariat erhob sich in Jerusalem wie im ganzen Römischen Reich eine Schicht mittleren und wirtschaftlich, wenn auch unter dem römischen Druck leidenden, so doch eingeordneten und einigermaßen existenzfähigen Bürgertums und darüber die dünne, aber mächtige und einflussreiche Schicht der feudalen, priesterlichen und Geldaristokratie.
Der starken wirtschaftlichen Spannung innerhalb der palästinensischen Bevölkerung [VI-027] entsprach die gesellschaftliche Differenzierung. Pharisäer, Sadduzäer und Zeloten waren die diese Differenzen repräsentierenden politischen und religiösen Gruppen. Die Sadduzäer waren die Vertreter der reichen Oberschicht. „Ihrer Anhänger sind nur wenige, doch gehören sie den besten Ständen an“ (Flavius Josephus, JA, XVIII,1,4). Josephus berichtet an anderer Stelle von ihrem aristokratischen Gehaben, dass „sie mit ihren Gesinnungsgenossen so abstoßend wie mit Fremden verkehren“ (Flavius Josephus, JK, II,8,14).
Neben dieser zahlenmäßig geringen feudalen Oberschicht standen die Pharisäer, die Vertreter des mittleren und kleineren städtischen Bürgertums, die sich „eng aneinander anschließen und zum Wohle der Gesamtheit die Eintracht hochhalten“ (Flavius Josephus, JK, II,8,14). Sie
kennen keine Annehmlichkeiten. Was vernünftige Überlegung als gut erscheinen lässt, dem folgen sie und halten es überhaupt für ihre Pflicht, den Vorschriften der Vernunft nachzukommen. Die Alten ehren sie und maßen sich nicht an, den Anordnungen derselben zu widersprechen. Wenn sie behaupten, alles geschehe nach einem bestimmten Schicksal, so wollen sie damit dem menschlichen Willen nicht das Vermögen absprechen, sich selbst zu bestimmen, sondern lehren, es habe Gott gefallen, die Macht des Schicksals und die menschliche Vernunft zusammenwirken zu lassen, so dass jeder es nach seinem Willen mit dem Laster oder der Tugend halten könne. Sie glauben auch, dass die Seelen unsterblich sind und dass dieselben, je nachdem, ob der Mensch tugendhaft oder lasterhaft gewesen, unter der Erde Lohn oder Strafe erhalten, so dass die Lasterhaften in ewiger Kerkerhaft schmachten müssen, während die Tugendhaften die Macht erhalten, ins Leben zurückzukehren. Infolge dieser Lehren besitzen sie beim Volke solchen Einfluss, dass sämtliche gottesdienstlichen Verrichtungen, Gebete wie Opfer, nur nach ihrer Anleitung dargebracht werden. (Flavius Josephus, JA, XVIII,1,3)
Das Bild des mittelständischen Bürgertums, das Josephus von den Pharisäern gibt, ist zweifellos einheitlicher, als es der Wirklichkeit entsprach. Zu den Pharisäern beziehungsweise ihrem Anhang gehörten Elemente, die aus den untersten proletarischen Schichten des Volkes stammten und nach ihrer ganzen Lebensweise mit ihnen in Verbindung blieben (z.B. Rabbi Akiba), zugleich aber Angehörige des wohlhabenden städtischen Bürgertums. Diese soziale Differenz fand auch in verschiedener Weise ihren Ausdruck; am deutlichsten in den politischen Gegensätzen innerhalb des Pharisäertums, wie sie bei der Frage der Haltung zum römischen Staat und zu den revolutionären Bewegungen entbrannten. Aber trotz dieser Differenzierung bildeten die Pharisäer zunächst eine relativ einheitliche Gruppe des mittleren Bürgertums unter Führung einer intellektuellen Schicht, die das Volk geistig beherrschte und eine Autorität für die Masse darstellte.
Allerdings nicht für die allerunterste Schicht des städtischen Lumpenproletariats und der unterdrückten Bauern. Sie, der sogenannte am-haarez (eigentlich „Landvolk“[10]), standen in einem schroffen Gegensatz zu den Pharisäern und ihrem weiteren Anhang. Sie waren ja eine Schicht, die durch die wirtschaftliche Entwicklung ganz entwurzelt worden war, die nichts zu verlieren und vielleicht etwas zu gewinnen hatte. Sie standen wirtschaftlich und gesellschaftlich außerhalb der gefügten und in das Ganze des römischen Imperiums eingeordneten jüdischen Gesellschaft. Sie folgten nicht den Pharisäern und verehrten sie nicht, sondern hassten sie und wurden von ihnen [VI-028] verachtet. Recht charakteristisch für diese Einstellung ist die Äußerung Akibas, eines der bedeutendsten Pharisäer, der selber aus dem Proletariat stammte: „Als ich noch ein Mensch aus dem gemeinen Volk (am-haarez) war, sprach ich: Wer gibt mir einen Schriftgelehrten her, ich würde ihn wie einen Esel beißen“ (Talmud, Pesachim 49b). Wir erfahren an der gleichen Stelle des Talmud noch eine Reihe von Äußerungen, die von dem Verhältnis von Pharisäern zum am-haarez ein deutliches Bild geben: Es wird gelehrt:
Stets verkaufe man alles, was man besitzt, und heirate die Tochter eines Schriftgelehrten. (...) Findet man nicht eine Tochter eines Schriftgelehrten, so heirate man die Tochter eines bedeutenden Mannes; findet man nicht eine Tochter eines bedeutenden Mannes, so heirate man die Tochter eines Synagogenvorstehers; findet man nicht eine Tochter eines Synagogenvorstehers, so heirate man die Tochter eines Almosenverwalters; findet man nicht eine Tochter eines Almosenverwalters, so heirate man die Tochter eines Kinderlehrers. Nur heirate man nicht die Tochter eines Menschen aus dem gemeinen Volk, denn sie sind ein Gräuel und ihre Frauen sind ein Gräuel und über ihre Töchter heißt es: „Verflucht sei, wer einem Tier beiwohnt“. (Dtn 27,31)
Rabbi Jochanan sagt:
Einen Menschen aus dem gemeinen Volk darf man wie einen Fisch zerreißen. (...) Rabbi Meir sagte: Wenn jemand seine Tochter an einen Menschen aus dem gemeinen Volk verheiratet, so ist er ebenso, als würde er sie binden, und vor einen Löwen hinlegen; wie der Löwe auf sein Opfer trifft und frisst, ohne Scham zu besitzen, ebenso verfährt ein Mensch aus dem gemeinen Volk: Er schlägt sie und vollzieht den Beischlaf, ohne Scham zu besitzen. Rabbi Eliezer sagte: Wenn sie uns geschäftlich nicht nötig hätten, so würden sie uns erschlagen haben. Rabbi Chija lehrt: Größer ist der Hass der Leute aus dem gemeinen Volk gegen einen Schriftgelehrten, als der Hass der weltlichen Völker gegen Israel. (...) Es wird gelehrt: Sechs Dinge sagten sie von den Leuten aus dem gemeinen Volk: man vertraue ihm kein Zeugnis an, man nehme von ihm kein Zeugnis entgegen, man vertraue ihm kein Geheimnis an, man wähle ihn nicht als Vormund für Waisen, man wähle ihn nicht als Vorsteher einer Almosenkasse und man geselle sich ihm nicht auf der Reise; manche sagen, man mache auch den ihm gehörenden Fund nicht bekannt. (Talmud, Pesachim 49b)
Die hier angeführten Äußerungen, die sich noch um eine ganze Reihe vermehren ließen, stammen aus pharisäischen Kreisen und zeigen, mit welchem Hass und mit welcher Verachtung man in diesen Kreisen dem am-haarez gegenüberstand, aber auch mit welchem Hass und mit welcher Erbitterung der gemeine Mann die Gelehrten und ihren Anhang gehasst haben mag (vgl. M. Friedländer, 1905).
Es war nötig, den Gegensatz innerhalb der palästinensischen Judenheit zwischen Aristokratie, mittlerem und kleinem Bürgertum beziehungsweise deren intellektuellen Führern und dem besitzlosen Proletariat der Stadt und seinen bäuerlichen Verbündeten zu schildern, um ein Verständnis für die Voraussetzungen der politischen und religiösen Befreiungsbewegungen, deren eine das Urchristentum war, zu gewinnen. Eine noch weitergehende Darstellung der Differenzierung innerhalb der Pharisäer, die eine außerordentlich schillernde Schicht waren, ist für die Zwecke dieser Untersuchung nicht nötig und würde zu weit abführen. Die Gegensätze innerhalb der pharisäischen Gruppe wie zwischen den bürgerlichen und proletarischen Schichten nahmen zu, je härter der römische Druck wurde und je mehr die unterste Schicht [VI-029] wirtschaftlich vernichtet und entwurzelt wurde. In demselben Maße wurden auch die untersten Klassen der Gesellschaft zum Träger nationaler, sozialer und religiöser Befreiungsbewegungen.
Diese revolutionären Bestrebungen der Masse fanden ihren Ausdruck in zwei Richtungen: In politischen Aufstands- und Befreiungsversuchen, die gegen die eigene Aristokratie und die Römer gerichtet waren, und in religiös-messianischen Bewegungen aller Art, wobei allerdings zwischen diesen beiden Strömen des Freiheits- und Erlösungswunsches eine strenge Scheidung nicht zu machen ist und sie oft ineinander fließen. Die messianischen Bewegungen selbst fanden teils praktische, teils nur literarische Ausdrucksformen.
Die wichtigsten Bewegungen dieser Art seien hier kurz erwähnt.
Kurz vor dem Tode des Königs Herodes, also zu einer Zeit, wo neben der römischen Oberherrschaft noch der Druck von deren jüdischen Beauftragten auf dem Volke lastete, kam es unter Führung zweier pharisäischer Gelehrter zu einem Volksaufstand in Jerusalem, bei dem der römische Adler am Eingang zum Jerusalemer Tempel zerstört wurde. Die Aufrührer wurden getötet, die Hauptanstifter bei lebendigem Leibe verbrannt. Nach dem Tode des Herodes demonstrierte die Masse vor seinem Nachfolger Archelaus. Man verlangte die Freilassung der politischen Gefangenen, Abschaffung der Marktsteuern und Herabsetzung der jährlichen Abgaben. Diese Forderungen fanden keine befriedigende Erfüllung. Eine große Volkskundgebung, die im Zusammenhang mit diesen Ereignissen im Jahre 4 v. Chr. stattfand, wurde blutig zerstreut, Tausende der Demonstranten von den Soldaten getötet. Aber die Bewegung wurde immer stärker. Die Volkserhebung rückte immer näher. Sieben Wochen später schon kommt es in der Hauptstadt zu neuen blutigen revolutionären Aufständen gegen die Römer. Aber auch die Landbevölkerung rührte sich. In dem alten revolutionären Zentrum Galiläa kam es zu Kämpfen mit den Römern, in Transjordanien zu einer Meuterei. Ein ehemaliger Hirt bildete Freischärlertruppen und führte einen Bandenkrieg gegen die Römer.
Das war die Situation des Jahres 4 v. Chr. Nicht ganz leicht wurden die Römer mit den revoltierenden Massen fertig. Sie krönten ihren Sieg dadurch, dass sie zweitausend gefangene Aufständische ans Kreuz schlugen.
Einige Jahre blieb das Land ruhig. Aber schon kurz nach der Einsetzung einer direkten römischen Verwaltung für das Land im Jahre 6 n. Chr., die ihre Tätigkeit mit einer zu Steuerzwecken dienenden Volkszählung begann, kam es zu einer neuen Aufstandsbewegung. Es beginnt aber hier schon die deutliche Scheidung zwischen der unteren und mittleren Klasse. Wenn noch zehn Jahre zuvor die Pharisäer mit den Aufständischen gegangen waren, so kam es jetzt zu einer Spaltung zwischen den städtischen und bäuerlichen revolutionären Massen einerseits und den Pharisäern anderseits. Das städtische und bäuerliche Proletariat sammelte sich in einer neuen Partei, der der Zeloten, während das mittlere Bürgertum unter Führung der Pharisäer zur Versöhnung mit den Römern bereit war. Die Verzweiflung der Volksmassen wuchs umso mehr, je drückender das römische und jüdisch-aristokratische Joch wurde, und der Zelotismus gewann neue Anhänger. Bis zum Ausbruch des großen Aufstands gegen die Römer kommt es dauernd zu Zusammenstößen der Masse mit der Regierung. [VI-030] Den Anlass zum Ausbruch von revolutionären Erhebungen bildete hierbei des Öfteren der Versuch der Römer, ein Kaiserstandbild oder den römischen Adler in Jerusalem beziehungsweise im Tempel anzubringen. Die Empörung gegen diese Maßnahmen, die mit religiösen Gründen rationalisiert wurde, entstammte in Wirklichkeit dem Hass der Masse gegen den Kaiser als Führer und Oberhaupt der sie unterdrückenden herrschenden Schicht. Das Besondere dieses Kaiserhasses wird umso deutlicher, wenn man daran denkt, dass wir uns in einer Epoche befinden, in der die Verehrung des römischen Kaisers immer größere Verbreitung innerhalb des römischen Imperiums fand und der Kaiserkult im Begriff war, zur herrschenden Religion zu werden.
Je aussichtsloser der Kampf gegen Rom in der Ebene politischer Realität wird, je mehr das mittlere Bürgertum sich vom Kampf zurückzieht und zum Kompromiss mit Rom bereit ist, desto radikaler wird die proletarische Masse, desto mehr aber verlieren ihre revolutionären Tendenzen den politisch-realen Charakter und vollziehen sich in der Ebene von religiösen Phantasien und messianischen Schwärmereien. So versprach ein Pseudo-Messias, Theudas, den Massen, er wolle sie zum Jordan führen und das Wunder Moses’ wiederholen. Die Juden sollten trockenen Fußes durch den Fluss gehen, die verfolgenden Römer würden im Jordan ertrinken. Die Römer sahen in diesen Phantasien den Ausdruck einer gefährlichen revolutionären Gärung, töteten die Anhänger des Messias und hieben ihm selbst den Kopf ab. Theudas fand seine Nachfolger. Unter dem Landpfleger Felix (52 bis 59 n. Chr.) kamen Leute auf,
die unter dem Vorwand göttlicher Sendung auf Umwälzung und Aufruhr hinarbeiteten und das Volk zu religiöser Schwärmerei hinzureißen suchten, indem sie es in die Wüste lockten, als ob Gott ihnen dort durch Wunderzeichen ihre Befreiung ankündigen würde. Felix, der in diesen Vorgängen den Keim der Empörung erkannte, ließ Reiterei und Fußvolk gegen die Menge ausrücken und viele niedermetzeln. Eine noch schlimmere Plage für die Juden war der falsche Prophet aus Ägypten. Es war nämlich ein Betrüger ins Land gekommen, der sich das Ansehen eines Propheten verschafft und gegen dreißigtausend Betrogene um sich gesammelt hatte. Mit diesen zog er aus der Wüste auf den sogenannten Ölberg, von wo er mit Gewalt in Jerusalem einzudringen gedachte. (Flavius Josephus, JK, II,13,4°f.)
Das römische Militär machte mit den revolutionären Schwärmern kurzen Prozess. Die meisten wurden getötet oder gerieten in Gefangenschaft, der Rest zerstreute sich und jeder versuchte sich in seiner Heimat zu verbergen.
Kaum war dieser Schaden beseitigt, so brach wie an einem kranken Körper die Entzündung anderswo wieder hervor. Die Betrüger und Räuber nämlich (d.h. die mehr messianistisch-schwärmenden und die mehr politisch eingestellten Revolutionäre) taten sich jetzt zusammen, verleiteten viele Juden zum Abfall und reizten sie zum Befreiungskampf auf. Wer die römische Oberhoheit anerkannte, den bedrohten sie mit dem Tode; und offen sprachen sie es aus, dass die, welche freiwillig die Knechtschaft auf sich nähmen, mit Gewalt zur Freiheit geführt werden müssten (d.h. die mittleren und oberen Volksschichten). Truppweise verteilten sie sich dem gemäß ins Land, plünderten die Besitzungen der Großen, mordeten die Eigentümer und äscherten die Dörfer ein, so dass ganz Judäa unter ihren Freveltaten zu leiden hatte und der Krieg von Tag zu Tag heftiger entbrannte. (Flavius Josephus, JK, II,13,6.)
Der wachsende Druck auf die unteren Volksmassen brachte eine Verschärfung der [VI-031] Gegensätze zwischen diesen und der weniger unterdrückten mittleren Bürgerschicht und eine wachsende Radikalisierung der Masse mit sich. Der linke Flügel der Zeloten bildete eine geheime Fraktion der „Sikarier“ (Dolchträger), und diese begannen durch Attentate einen terroristischen Druck auf das wohlhabende Bürgertum auszuüben. Sie verfolgten ohne Nachsicht die Gemäßigten und Friedfertigen aus den höheren und mittleren Schichten der Jerusalemer Gesellschaft, zuweilen überfielen sie auch die Dörfer, deren Einwohnerschaft sich weigerte, sich den revolutionären Scharen anzuschließen, plünderten sie und legten sie in Asche. Die Propheten und die Pseudo-Messiasse ließen ebenfalls von ihrer Agitation unter dem gemeinen Volk nicht ab.
Endlich bricht im Jahre 66 der große Volksaufstand gegen die Römer los. Er wurde zunächst von den mittleren und unteren Volksschichten getragen, die in heftigen Kämpfen die römischen Truppen und die Truppen der römischen Aristokratie besiegten. Die Führung des Krieges lag am Anfang in den Händen der Besitzenden und Gebildeten, die aber von vornherein nur mit geringer Energie und mit Kompromissabsichten die Volkssache führten. Dementsprechend war das erste Jahr trotz einzelner Siege ein Misserfolg, und die Masse schob den unglücklichen Verlauf der Dinge der Energielosigkeit und Schlappheit der bisherigen Kriegsleitung zu. Die Führer der Masse versuchten mit allen Mitteln sich selbst der Lage zu bemächtigen und sich an die Stelle der bürgerlichen Führer zu setzen. Da diese nicht freiwillig ihre Position räumten, kam es im Winter 67/68 „zum blutigen Bürgerkrieg und zu Gräuelszenen, wie sie außerdem nur die erste Französische Revolution aufzuweisen hat“ (E. Schürer, 1901, S. 617). Je aussichtsloser der Krieg wurde, desto mehr suchte das mittlere Bürgertum sein Heil in einem Kompromiss mit den Römern und desto heftiger ging neben dem Kampf mit dem äußeren Feind der Bürgerkrieg vor sich. (Vgl. Th. Mommsen, 1888, S. 527.) Während Rabbi Jochanan Ben Sakkai, einer der führenden Pharisäer, zum Feind überging und seinen Frieden mit ihm schloss, verteidigten die kleinen Handwerker, Krämer und Bauern mit großem Heldenmut die Stadt fünf Monate gegen die Römer. Sie hatten nichts zu verlieren, aber auch nichts mehr zu gewinnen, denn der Kampf gegen die römische Macht war aussichtslos und musste mit dem Untergang enden. Es gelang vielen Wohlhabenden, sich aus der Stadt zu den Römern zu retten, und „wiewohl Titus gegen alle noch übrigen Juden aufs Äußerste erbittert war, konnte er doch seinen Charakter nicht verleugnen und nahm die Flehenden auf“.[11] Die kämpfenden Massen Jerusalems erstürmten zu gleicher Zeit den Königspalast, in den viele wohlhabende Juden ihre Schätze gebracht hatten, nahmen das Geld und töteten seine Eigentümer. Der Krieg und Bürgerkrieg endete mit dem Sieg der Römer und damit der herrschenden jüdischen Schicht und dem Untergang von Hunderttausenden jüdischer Bauern und Proletarier.
Neben den politischen und sozialen Kämpfen und den messianisch gefärbten Aufstandsversuchen steht in einer Reihe das in jener Zeit entstehende, von den gleichen Tendenzen erfüllte volkstümliche Schrifttum, die apokalyptische Literatur. Das [VI-032] Zukunftsbild der Apokalyptik ist trotz seiner Buntheit doch verhältnismäßig einförmig. Voran stehen die „Wehen des Messias“ (Mk 13,7°f.), das sind Ereignisse, die den „Erwählten“ sich nicht nahen werden: Hungersnöte, Erdbeben, Seuchen und Kriege. Auf diese folgt die von Daniel geweissagte „große Drangsal“ (Dan 12,1), wie sie seit der Schöpfung der Welt sich nicht ereignet hat, eine entsetzliche Zeit der Not. Es besteht in der Apokalyptik im allgemeinen der Glaube, dass auch von dieser Drangsal die „Erwählten“ bewahrt bleiben werden. Als letztes Endsignal gilt der von Daniel geweissagte Gräuel der Verwüstung (vgl. Dan 9,27; 11,31; 12,11). Das Gemälde des Endes trägt altprophetische Züge. Den Höhepunkt bildet die Erscheinung des Menschensohnes auf den Wolken mit großer Pracht und Herrlichkeit. (Vgl. J. Weiß, 1917.).
Ebenso wie im Kampf gegen die Römer die verschiedenen Volksschichten in verschiedener Weise beteiligt waren, entstammt auch die apokalyptische Literatur verschiedenen Klassen, und dies drückt sich trotz einer gewissen Einheitlichkeit doch in der verschiedenen Akzentuierung der einzelnen Elemente innerhalb der verschiedenen apokalyptischen Schriften deutlich aus. Zu einer näheren Analyse ist hier nicht der Ort. Als Ausdruck derselben revolutionären Tendenzen, wie sie den linken Flügel der Verteidiger Jerusalems erfüllten, sei hier die Schlussermahnung des Buches Henoch zitiert:
Wehe denen, die ihre Häuser mit Sünde bauen, denn sie werden von ihrer ganzen Gründung losgerissen werden und durchs Schwert fallen. Die aber, die Gold und Silber erwarben, werden plötzlich im Gericht umkommen. Wehe euch Reichen, denn ihr habt euch auf euren Reichtum verlassen, ihr werdet aus euren Schätzen herausgerissen, denn ihr habt in den Tagen des Gerichts nicht an den Höchsten gedacht. (...) Wehe euch, die ihr euren Nächsten Böses zugefügt, denn nach eurem Tun soll euch vergolten werden. Wehe euch lügnerischen Zungen. (...) Ihr Leidenden aber fürchtet euch nicht, denn Heilung wird euch zuteil werden: Helles Licht wird scheinen und ihr werdet die Stimme der Ruhe vom Himmel her hören. (Henoch, 94,7°f.; 95,5,6a; 96,3)
Neben diesen für die Zeit der Entstehung des Christentums charakteristischen, religiös-messianischen, politisch-sozialen und literarischen Bewegungen muss noch eine erwähnt werden, der gar keine politischen Ziele mehr vorschweben und die unmittelbar zum Christentum hinführt: die Bewegung Johannes des Täufers. Er entfachte eine Volksbewegung. Die Oberschicht, gleichviel welcher Richtung, wollte nichts von ihm wissen. Aus den Kreisen der verachteten Masse kamen seine aufmerksamsten Zuhörer (vgl. M. Dibelius, 1911). Er verkündigte, dass das Himmelreich und das Jüngste Gericht vor der Tür ständen, Erlösung für die Guten, Verderbnis für die Schlechten. „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe“ (vgl. Mk 1,15), war das Zentrum seiner Predigt.
Zum Verständnis des psychologischen Sinnes des Christusglaubens der ersten Christen, das das erste Ziel dieser Arbeit ist, war es nötig, sich ein Bild von jenen Menschen zu machen, die die Träger des Urchristentums waren. Es war die Masse des ungebildeten, armen Volkes, des Proletariats von Jerusalem und der Kleinbauern des Landes, die durch die wachsende politische und wirtschaftliche Unterdrückung, durch die gesellschaftliche Verfemung und Verachtung, in ebenso wachsendem Maße [VI-033] erfüllt waren von dem Drang und der Sehnsucht nach Änderung der bestehenden Verhältnisse, nach Anbruch einer für sie selbst glücklichen Zeit, und von Hass- und Rachewünschen gegen die Herrschenden des eigenen und fremden Volkes. Wir sahen, wie verschieden die Äußerungsformen dieser Tendenzen waren, vom politischen Kampf gegen die Römer, über den Klassenkampf in Jerusalem, die irrealen Aufstandsversuche eines Theudas bis zur Bewegung Johannes des Täufers und der apokalyptischen Literatur. Von den realen politischen Handlungen bis zur phantastischen Schwärmerei waren alle Formen und Möglichkeiten vorhanden, hinter denen doch aber eine gleiche verursachende Kraft stand, der Hass und die Hoffnung der leidenden Masse, beziehungsweise die Not und Ausweglosigkeit ihrer wirtschaftlichen Situation. Ob die eschatologische Erwartung mehr sozialen oder mehr politischen oder mehr religiösen Inhalt hatte, sie wird stärker mit dem wachsenden Druck und lebhafter,
je tiefer wir in die unliterarische Masse hinabsteigen, in den sogenannten am-haarez, in den Kreis derer, von denen die Gegenwart als Druck empfunden wurde, die darum alles, was sie wünschten, von der Zukunft erhoffen mussten (M. Dibelius, 1911, S. 130).
Je aussichtsloser die Hoffnung auf eine reale Besserung wurde, desto mehr musste die Hoffnung in den Phantasien Ausdruck finden. Der verzweifelte Endkampf der Zeloten gegen die Römer und die Bewegung Johannes des Täufers sind die beiden Extreme, die sich aber auf der gleichen Basis erheben, der Verzweiflung der untersten Schichten des Volkes. Psychologisch charakterisiert ist diese Schicht durch das Nebeneinander der Hoffnung auf eine Änderung ihrer Lage, analytisch gesprochen, auf einen guten Vater, der ihnen helfen werde, und wilden Hass gegen die Unterdrücker, der im Hass gegen den Kaiser, gegen die Pharisäer, gegen die Reichen und in den Phantasien vom strafenden Jüngsten Gericht ihren Ausdruck fand. Es handelt sich um eine ambivalente Einstellung: Diese Menschen liebten einen phantasierten guten Vater, der ihnen helfen und sie erlösen sollte, und sie hassten den bösen Vater, der sie unterdrückte, quälte und verachtete.
Dieser Schicht der armen, ungebildeten revolutionären Masse entstammt das Christentum als die historisch bedeutungsvollste, messianisch-revolutionäre Bewegung, neben den schon bisher geschilderten. So wie schon Johannes der Täufer wandte sich auch die urchristliche Lehre nicht an die Gebildeten und Besitzenden, sondern an die Armen, Gedrückten und Leidenden. Die kleinen Handwerker und Proletarier waren die Träger der neuen Verkündigung. (Vgl. R. Knopf, 1905; A. v. Harnack, 1908; 1923; 1923a; K. Kautsky,1923.) Ein plastisches Bild von der sozialen Zusammensetzung der christlichen Gemeinde gibt der Christenfeind Celsus. Wenn er auch für eine etwas spätere Zeit in Anspruch zu nehmen ist, so gilt seine Schilderung umso mehr für die ersten christlichen Gemeinden:
Wie wir sehen, wagen in den Privathäusern die Wollarbeiter, die Schuster und Walker, völlig ungebildete und ungeschliffene Leute, in Gegenwart ihrer durch Alter und Weisheit hervorragenden Herren den Mund nicht aufzutun, sobald sie sich aber ohne Zeugen mit jungen Leuten und solchen Weibspersonen allein wissen, die ebenso unverständig sind wie sie selbst, dann sind sie wunderbar beredt und weisen nach, dass man verpflichtet sei, ihnen zu folgen, nicht aber dem eigenen Vater und den Lehrern. Diese seien verrückte und aberwitzige [VI-034] Leute; in eigenen Vorurteilen befangen, seien sie nicht imstande, einen wahrhaft hohen und guten Gedanken zu fassen und zu verwirklichen. Sie allein wüssten, wie man leben müsste. Würden ihnen die jungen Leute folgen, so würden sie selig werden und das ganze Haus glücklich machen. Sehen sie dann, während sie so reden, einen Lehrer oder einen verständigen Mann oder den Vater selbst kommen, so geraten die Furchtsamen unter ihnen in die größte Angst, die Unverschämten aber reizen die jungen Leute auf, das Joch abzustreifen, indem sie ihnen zuflüstern, dass sie sie, solange sie bei ihrem Vater oder ihren Lehrern seien, etwas Gutes weder lehren könnten noch wollten, denn sie hätten keine Lust, sich der Torheit und Grausamkeit dieser ganz verdorbenen und in die Sünde tief verstrickten und gesunkenen Menschen auszusetzen, deren Verfolgung und Rache sie zu fürchten hätten. Wollten sie etwas Gutes lernen, so müssten sie Eltern und Lehrer verlassen und mit den Weibern und Spielkameraden in das Frauengemach oder in die Schusterei oder in die Walke kommen, um dort das Vollkommene zu vernehmen. Und mit solchen Worten setzten sie es wirklich durch. (Zit. nach A. v. Harnack, 1923, S. 407.)
Das Bild, das hier Celsus von den Trägern des Christentums entwirft, ist nicht nur charakteristisch für die soziale Position der ersten Christen, sondern auch für ihre psychische Situation, ihren Kampf und Hass gegen die väterliche Autorität.
Welches war der Inhalt der urchristlichen Verkündigung?[12]
Im Vordergrund steht die eschatologische Erwartung, Jesus predigt die Nähe des Gottesreiches. Er lehrt die Menschen, in seinen Handlungen schon den Beginn des neuen Reiches zu erblicken. Er sammelt die Menschen für dieses Reich und erblickt in der sich vermehrenden Gemeinde schon die Vorausnahme desselben.
Die Anweisungen Jesu an seine Jünger sind beherrscht von dem Gedanken, dass das Ende, dessen Tag und Stunde jedoch niemand wisse, nahe bevorstehe. Auch infolgedessen tritt die Mahnung, auf alle irdischen Güter zu verzichten, scharf hervor. (...) Die Vollendung des Gottesreiches werde erst eintreten, wenn er in Herrlichkeit auf des Himmels Wolken zum Gericht wiederkehren werde. Diese Wiederkunft in nächster Zeit hat Jesus kurz vor seinem Tode angekündigt und seine Jünger bei seinem Scheiden damit getröstet, dass er sofort in die überweltliche Stellung bei Gott eintreten werde. (...) Bedingung für den Eintritt in das Gottesreich ist erstlich die völlige Änderung des Sinnes, in welcher der Mensch die Lust dieser Welt, den Mammondienst und die Sorge um das irdische Leben wegwirft und bereit ist, alle Güter, die er besitzt, dahinzugeben, um seine Seele zu retten, sodann gläubiges Vertrauen auf die Gnade Gottes, die er dem Demütigen und Armen gewährt, und darum herzliche Zuversicht zu Jesus, als dem von Gott zur Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden Berufenen und Erwählten. Die Verkündigung richtet sich dem gemäß an die Armen, die [VI-035] Leidtragenden, die nach der Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden. (...) und findet sie für den Eintritt und den Empfang der Güter des Gottesreiches besser vorbereitet, während sie den selbstzufriedenen Reichen und auf ihre Gerechtigkeit Stolzen, das Gericht der Verstockung und die Verdammnis in der „Hölle“ prophezeit. (A. v. Harnack, 1909, S. 76°f. und 71°ff.)
Der Ruf, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen (Mt 10,7), war der Kern der ältesten Predigt. Er war es, der die Massen der Leidenden und Unterdrückten zu enthusiastischer Hoffnung erregte. Man war in Aufbruchstimmung. Man glaubte, dass die Zeit nicht mehr ausreichen werde, das Christentum bei allen Heiden vor Einbruch der neuen Zeit zu verbreiten. Waren die Hoffnungen anderer Gruppen derselben Schicht der unterdrückten Masse auf die mit eigener Kraft zu vollziehende politische und soziale Umwälzung gerichtet, so war in der frühen christlichen Gemeinde der Blick ganz auf das große Ereignis, den wunderbaren Anbruch eines wunderbaren Zeitalters gewendet. Der Inhalt der urchristlichen Verkündigung ist kein wirtschaftliches oder sozial-reformerisches Programm, sondern die beglückende Verheißung einer nahen Zukunft, in der die Armen reich, die Hungernden satt wären und die Unterdrückten zur Herrschaft gelangten. Diese Hoffnung wurde im ganz realen und materiellen Sinne verstanden. (Vgl. J. Weiß, 1917, S. 55.)
Die Stimmung dieser ersten enthusiastischen Christen tritt deutlich in Lk 6,20-25 (vgl. Mt 5,3-10) hervor:
Wohl euch, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.
Wohl euch, die ihr jetzt hungert; denn ihr werdet satt werden.
Wohl euch, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen.
Wohl euch, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euren Namen verächtlich machen um des Menschensohnes willen.
Freut euch und tanzt, wenn das geschieht; denn euer Lohn im Himmel wird groß sein. Ebenso haben ihre Väter die Propheten behandelt.
Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr seid bereits getröstet. Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern.
Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet jammern und weinen.
In diesen Äußerungen drückt sich nicht nur die ganze Sehnsucht und Erwartung der Unterdrückten und Armen auf eine neue und bessere, sie befriedigende Welt aus, sondern auch ihr ganzer Hass gegen die Autoritäten, die Reichen, Gelehrten und Mächtigen. Die gleiche Stimmung drückt die Geschichte vom armen Lazarus aus (Lk 16,19-31), oder der berühmte Ausspruch Jesu (Lk 18,24°f.):
Wie schwer ist es für Leute, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen! Denn eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.
Der Hass gegen die Pharisäer und Zöllner zieht sich wie ein roter Faden durch die Evangelien, so dass er das Bild des Pharisäers im Sinne dieses Hasses noch Jahrtausende bei allen christlichen Völkern gestaltet hat. Hören wir noch den Hass gegen die Reichen, wie er sich im Brief des Jakobus (Mitte des zweiten Jahrhunderts) darbietet (Jak 5,1-7a.9b):
Ihr aber, ihr Reichen, weint nur und klagt über das Elend, das euch treffen wird! Euer Reichtum verfault, und eure Kleider werden von Motten zerfressen. Euer Gold [VI-036] und Silber verrostet; ihr Rost wird als Zeuge gegen euch auftreten und euer Fleisch verzehren wie Feuer. Noch in den letzten Tagen sammelt ihr Schätze. Aber der Lohn der Arbeiter, die eure Felder gemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit, und ihre Rufe dringen zu den Ohren des Herrn der himmlischen Heere. Ihr habt auf Erden geschwelgt und geprasst, noch am Schlachttag habt ihr euer Herz gemästet. Ihr habt den Gerechten verurteilt und umgebracht, er aber leistete euch keinen Widerstand. Darum, Brüder, haltet geduldig aus bis zur Ankunft des Herrn! (...) Seht, der Richter steht schon vor der Tür.
Dieser Hass, von dem Kautsky mit Recht sagt: „Kaum je hat der Klassenhass des modernen Proletariats solche Formen erlangt, wie der des christlichen“ (K. Kautsky, 1923, S. 345), ist uns bekannt. Es ist der Hass des am-haarez gegen den Pharisäer, des Zeloten und Sikariers gegen das wohlhabende und mittlere Bürgertum, der leidenden und gequälten Stadt- und Landbevölkerung gegen die Herrschenden und Großen, wie er sich in den vorchristlichen Kämpfen und messianischen Schwärmereien ausgedrückt hatte.
Mit diesem Hass gegen die geistlichen und sozialen Autoritäten, dem Hass der Brüder gegen den Vater, hängt aufs Engste ein wesentlicher Zug der sozialen und psychischen Struktur des Urchristentums zusammen: ihr demokratischer, brüderlicher Charakter. War die jüdische Gesellschaft jener Zeit charakterisiert durch einen alle gesellschaftlichen Beziehungen erfüllenden extremen Kastengeist, so ist die urchristliche Gemeinde eine freie Brüderschaft des armen Volkes, sie ist gleichgültig gegen Institutionen und Formeln.
Man sieht sich vor eine unlösbare Aufgabe gestellt, wenn man für die ersten hundert Jahre ein Bild der Verfassung zeichnen soll. (...) Die Gesamtheit der Gemeinde ist verknüpft nur durch das gemeinsame Band des Glaubens und der Hoffnung und der Liebe. (Wir müssen hinzufügen: und des Hasses – E. F.) Nicht das Amt trägt die Person, sondern durchaus die Person das Amt. (...) Fühlten sich die ersten Christen als Fremdlinge und Gäste auf Erden – wozu Institutionen von fester Dauer? (H. v. Schubert, 1904.)
Eine besondere Rolle spielte in dieser urchristlichen Brüderschaft die gegenseitige wirtschaftliche Hilfe und Unterstützung, ein „Liebeskommunismus“, wie ihn Harnack nennt.
Wir sehen also: Träger des Christentums waren Menschen der armen, ungebildeten, unterdrückten Masse des jüdischen Volkes und später auch anderer Völker. An Stelle des immer unmöglicher werdenden Auswegs, ihre trostlose Lage mit realen Mitteln zu ändern, trat die phantasierte Erwartung, dass in nächster, kürzester Frist diese Änderungen eintreten werden, dass sie dann das bisher vermisste Glück, die bisher fehlende Befriedigung finden, die Reichen und Vornehmen aber das ihnen gebührende und gewünschte Unglück träfe. Die ersten Christen waren eine Brüderschaft gesellschaftlicher und wirtschaftlich gleich unterdrückter, von Hoffnung und Hass zusammengehaltener Enthusiasten.
Das, was die Urchristen von den gegen die Römer kämpfenden Bauern und Proletariern unterschied, war nicht ihre psychische Grundhaltung. Die ersten Christen waren ebenso wenig „demütig“ und gottergeben, ebenso wenig von der Notwendigkeit und Unveränderlichkeit ihres Schicksals überzeugt und ebenso wenig vom Wunsche beseelt von den Herrschenden geliebt zu werden, wie jene politischen und militärischen Kämpfer. Beide Gruppen hassten in gleicher Weise die herrschenden Väter, hofften [VI-037] in gleicher Stärke auf deren Sturz, den Anbruch ihrer eigenen Herrschaft und einer sie befriedigenden Zukunft. Der Unterschied liegt weder in den Voraussetzungen noch in Ziel und Richtung ihrer Wünsche, sondern nur in der Ebene, in der die Erfüllung der Wünsche versucht wird. Während die Zeloten und Sikarier in der Ebene der politischen Realität ihre Wünsche zu verwirklichen trachten, führt die völlige Aussichtslosigkeit einer Realisierung die Urchristen dazu, die gleichen Wünsche in der Phantasie zu gestalten. Der Ausdruck dieser Wunschphantasie war der urchristliche Glaube und speziell die urchristliche Phantasie von Jesus und seinem Verhältnis zum Vater-Gott.
Welches waren die Vorstellungen dieser ersten Christen von Jesus?
Der Inhalt des Glaubens der Jünger Jesu und die gemeinsame Verkündigung, welche sie untereinander verband, lässt sich in folgende Sätze zusammenfassen: Jesus von Nazareth ist der von den Propheten verheißene Messias. – Jesus, nach dem Tode durch göttliche Auferweckung zur Rechten Gottes erhöht, wird demnächst wiederkommen und das Reich sichtbar aufrichten. – Wer an Jesum als den Christ glaubt, in der Taufe die Sündenvergebung empfangen hat und in die Gemeinde aufgenommen ist, Gott als den Vater anruft, und in Kraft des Geistes Gottes nach den Geboten Jesu lebt, ist ein Heiliger Gottes und darf als solcher des ewigen Lebens und des Anteils am himmlischen Reich gewiss sein. (A. v. Harnack, 1909, S. 87°f.)
Jesus ist durch die Erhöhung Messias geworden. (Vgl. Apg 2,36.) Es ist dies die älteste Lehre über Christus, die wir haben, und daher von hohem Interesse, umso mehr als sie später von anderen, weitergehenden Lehren verdrängt worden ist. Man nennt sie die adoptianische, weil hier ein Akt der Adoption angenommen wird. Adoption ist hier gebraucht im Gegensatz zur natürlichen Sohnschaft, die von Geburt an vorhanden ist. Es liegt also hier der Gedanke vor, dass Jesus nicht von Anfang an Messias oder, wie dafür auch gesagt werden kann, Sohn Gottes war, sondern dass er es erst geworden ist in einem bestimmten, scharf abgegrenzten Willensakt Gottes. Das drückt sich besonders darin aus, dass das Psalmwort „Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“ (Ps 2,7) auf den Augenblick der Erhöhung bezogen wird (Apg 13,33). Nach uralter semitischer Auffassung ist der König ein Sohn Gottes, sei es durch Abstammung oder wie hier durch Adoption am Tage der Thronbesteigung. Es ist also ganz aus orientalischem Geist gesagt, dass Jesus, als der zur Rechten Gottes Erhöhte, Sohn Gottes geworden ist. Dieser Gedanke klingt noch bei Paulus nach, obwohl bei ihm der Begriff des Sohnes Gottes schon einen anderen Sinn bekommen hatte. In Röm 1,4 heißt es von dem Sohn Gottes, dass er „eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten“. Hier stoßen zwei verschiedene Formen der Vorstellung zusammen, der Sohn Gottes, der es von allem Anfang an war (Paulus) und Jesus, der nach der Auferstehung zum Sohne Gottes in Macht, d.h. zum königlichen Weltherrscher erhöht worden ist (Urgemeinde). Die harte Verbindung zwischen zwei Vorstellungen zeigt recht deutlich, dass hier zwei verschiedene Denkweisen aufeinandergetroffen sind; die ältere, aus der Urgemeinde stammende, ist nun auch ganz folgerichtig darin, dass sie Jesus vor der Erhöhung als einen Menschen bezeichnet: „Jesus, den Nazoräer, den Gott vor euch beglaubigt hat durch Machttaten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte gewirkt hat“ (Apg 2,22). Man beachte, dass nicht er, sondern [VI-038] Gott die Wunder durch ihn getan hat. Er war das Organ Gottes. Diese Vorstellung herrscht auch zum Teil noch in der evangelischen Überlieferung, wo zum Beispiel die Leute nach der Heilung des Gelähmten Gott preisen. (Vgl. Mk 2,12.) Insbesondere wird er als der Prophet gezeichnet, den Moses verheißen hat. „Einen Propheten wie mich wird der Herr, euer Gott, auch aus euren Brüdern erwecken.“ (Apg 3,22 nach Dtn 18,15.19; ebenso Apg 7,37; vgl. J. Weiß, 1917, S. 85.)
Wir sehen also, die Vorstellung, die die Urgemeinde von Jesus hatte, war die von einem Menschen, der von Gott auserwählt und von ihm zum Messias und zum Sohne Gottes erhoben worden ist. Dieser Christusglaube der Urgemeinde ähnelt in vielem den Vorstellungen des von Gott auserwählten Messias, der ein Reich der Gerechtigkeit und Liebe herbeiführt, wie sie in den jüdischen Volksmassen seit langem verbreitet waren. Nur in zwei Vorstellungen des neuen Glaubens liegen Momente, die etwas Spezifisches und Neues bedeuten: in der Tatsache seiner Erhöhung als Sohn Gottes, der zu seiner Rechten sitzt, und darin, dass dieser Messias nicht mehr der kraftvolle, siegreiche Held ist, sondern dass seine Bedeutung und Würde gerade in seinem Leiden, in seinem Kreuzestod liegt. Allerdings war der Gedanke eines sterbenden Messias oder auch Gottes nicht ganz ohne Vorläufer im Volksbewusstsein. Jesaja 53 spricht von diesem leidenden Knecht Gottes. Auch das 4. Buch Esra kennt einen sterbenden Messias, allerdings doch in einer wesentlich anderen Gestalt, denn er stirbt erst nach vierhundert Jahren und nach seinem Sieg. (Vgl. auch Ps 22 und Hos 6.) Eine ganz andere Quelle, durch die dem Volk die Vorstellung von einem sterbenden Gott geläufig gewesen sein mag, sind vorderorientalische Kulte und Mythen (Osiris, Attis und Adonis). „Das Schicksal des Menschen findet sein Urbild in der Passion eines Gottes, der auf Erden leidet, stirbt und wieder aufersteht. Dieser Gott wird an jener seligen Unsterblichkeit alle Teile nehmen lassen, welche in den Mysterien sich mit ihm vereinigen oder gar mit ihm identifizieren“ (F. Cumont, 1923, S. 1; vgl. J. Weiß, 1917, S. 70).
Vielleicht gab es auch jüdische Geheimtraditionen von einem sterbenden Gott oder sterbenden Messias, aber alle diese Vorläufer erklären doch nicht die ungeheure Wirkung, die plötzlich die Lehre vom gekreuzigten und leidenden Heiland auf die jüdische und bald auch heidnische Masse hatte.
In der Urgemeinde der Enthusiasmierten ist Jesus also ein Mensch, nach seinem Kreuzestod zu Gott erhoben, der in kurzer Zeit zurückkehren wird, um Gericht zu halten, die Leidenden glücklich zu machen und die Herrschenden zu bestrafen.
Wir haben jetzt soweit in die psychische Oberfläche der Träger des Urchristentums Einblick gewonnen, dass der Versuch des psychologischen Verständnisses dieser ersten christologischen Phantasien einsetzen kann. Die Menschen, die sich an dieser Phantasie berauschen, sind gequält, verzweifelt, voller Hass gegen jüdische und heidnische Unterdrücker, ohne Aussicht, eine bessere Zukunft real durchzusetzen. Da musste eine Botschaft, die ihnen erlaubte, all das zu phantasieren, was die Realität ihnen versagte, faszinierend wirken.
War den Zeloten nichts anderes übriggeblieben als im aussichtslosen Kampf zu sterben, so konnten sie von dem gleichen Ziel träumen, ohne dass die Realität ihnen im Augenblick die Aussichtslosigkeit ihrer Wünsche beweisen konnte. Der christlichen [VI-039] Botschaft kam die Bedeutung zu, dass sie die Tendenzen der Hoffnung und Rache in der Phantasie, die Wirklichkeit ersetzend, befriedigte und dass sie so zwar nicht den Hunger stillte, aber eine nicht gering einzuschätzende Phantasiebefriedigung für die Unterdrückten brachte.[13]
Die psychoanalytische Untersuchung des Christusglaubens der Urgemeinde muss fragen: Was bedeutete die Phantasie vom sterbenden und dann zu Gott erhöhten Menschen den ersten Christen? Warum gewann diese Phantasie das Herz so vieler Tausender in kurzer Zeit? Welches waren ihre unbewussten Quellen, und welche Gefühlsbedürfnisse wurden durch sie befriedigt?
Zunächst das Wichtigste: Ein Mensch wird zu Gott erhoben, von ihm adoptiert. Hier liegt, wie Reik mit Recht bemerkt, der alte Mythos vom Sohnesputsch vor, also ein Ausdruck der Vater-Gott-feindlichen Regungen. Wir verstehen jetzt, welche Bedeutung dieser Mythos für den Träger des Urchristentums haben musste. Diese Menschen hassten ja glühend die Autoritäten, die ihnen im Leben mit „väterlicher“ Macht entgegentraten. Die Priester, Gelehrten, Aristokraten, kurz alle Herrschenden, die sie vom Lebensgenuss ausschlossen und in ihrer Gefühlswelt die Rolle des strengen, verbietenden, drohenden und quälenden Vaters fortgesetzt haben, sie mussten auch diesen Gott hassen, der ein Verbündeter ihrer Unterdrücker war, der zuließ, dass sie litten und unterdrückt wurden. Sie wollen selbst herrschen, wollen selbst die Herren sein und es erscheint ihnen doch aussichtslos, es in der Realität durchzusetzen und ihre jetzigen Herren mit Gewalt zu stürzen und zu vernichten. So befriedigen sie ihre Wünsche in einer Phantasie. Im Bewusstsein wagen sie es nicht, den väterlichen Gott zu schmähen. Der bewusste Hass gilt nur der herrschenden Schicht, nicht aber der [VI-040] erhöhten Vaterfigur, der göttlichen Person selber. Aber die unbewusste Feindseligkeit gegen den göttlichen Vater setzt sich in der Christusphantasie durch, indem sie einen Menschen an Gottes Seite setzen und zum Mitregenten Gott-Vaters machen. Dieser Mensch, der zu Gott wird und mit dem sie als Menschen sich identifizieren können, repräsentiert ihre eigenen Ödipuswünsche, ist Ausdruck ihrer unbewussten Feindseligkeit gegen Gott-Vater, denn wenn ein Mensch zu Gott werden kann, so ist Gottvater seiner väterlichen Vorzugsstellung des Einzigen und Unerreichbaren beraubt. Der Glaube an die Erhebung eines Menschen zu Gott ist also der Ausdruck der unbewusst in der Phantasie vollzogenen Beseitigung des göttlichen Vaters.
Hier liegt die Bedeutung der Tatsache, dass der Glaube der Urgemeinde die adoptianische Lehre war, die Lehre von der Erhebung des Menschen zu Gott, denn gerade in dieser Lehre findet ja die Feindseligkeit gegen Gott ihren Ausdruck, während in der sich später immer mehr ausbreitenden und zur Herrschaft gelangenden Lehre von dem Jesus, der immer ein Gott war, sich die Eliminierung dieser feindseligen Wünsche gegen Gott ausdrückt, wovon später noch ausführlicher zu reden sein wird. Die Gläubigen identifizieren sich mit diesem Sohn und werden so in der Phantasie selbst Gott-Vater und sie können sich mit ihm identifizieren, weil er ein leidender Mensch ist wie sie. Hier liegt der Grund für die faszinierende Wirkung des leidenden und zu Gott erhobenen Menschen auf die Masse, weil nur mit einem Leidenden sie sich selbst identifizieren konnten. So wie er waren ja Tausende vor ihnen selbst ans Kreuz geschlagen, gequält und gedemütigt worden. Wenn sie an den zu Gott erhobenen Gekreuzigten dachten, so war für ihr Unbewusstes dieser gekreuzigte Gott sie selbst. Die vorchristliche Apokalypse kannte einen siegreichen, starken Messias. Er war der Repräsentant der Wünsche und Phantasien einer zwar unterdrückten, aber bei weitem weniger leidenden und noch Siegeshoffnung tragenden Volksschicht. Die Schicht, aus der die Urgemeinde entstand und bei der das Christentum der ersten hundert bis hundertfünfzig Jahre große Erfolge hatte, konnte sich mit einem solchen starken, mächtigen Messias nicht identifizieren, ihr Messias konnte nur ein leidender, gekreuzigter sein. Es kommt aber noch ein anderes Moment hinzu. Die Gestalt des leidenden Heilands ist dreifach determiniert, einmal im eben besprochenen Sinn, zum andern aber dadurch, dass ein Stück der Todeswünsche gegen den Vater-Gott auf den Sohn verschoben wurde. In dem Mythos vom sterbenden Gott (Adonis, Attis, Osiris) war Gott selber der, dessen Tod man phantasierte. Im frühen Christusmythos wird der Vater im Sohn getroffen und getötet.
Endlich aber hat die Phantasie vom gekreuzigten Sohn noch eine dritte Funktion: Indem sich die gläubigen Enthusiasten, beseelt von Hass und Todeswünschen, bewusst gegen die herrschenden jüdischen und römischen Autoritäten, unbewusst gegen Gott-Vater, mit dem Gekreuzigten identifizieren, erleiden sie selber den Kreuzestod und büßen so für ihre Todeswünsche gegen den Vater. Jesus sühnt durch seinen Kreuzestod die Schuld aller und die ersten Christen bedurften einer solchen Sühne in besonders hohem Maße, weil ein Urmotiv der menschlichen Seele, die Aggression und die Todeswünsche gegen den Vater auf Grund ihres Lebensschicksals, in ihnen besonders lebendig war. (Vgl. S. Freud, 1912-13, S. 186-194.)
Der Schwerpunkt der urchristlichen Phantasie scheint uns aber – im Gegensatz zum [VI-041] späteren katholischen Glauben, wie noch zu zeigen sein wird – nicht in der masochistischen Sühne durch Selbstvernichtung, sondern in der Beseitigung des Vaters in Identifizierung mit dem leidenden Jesus zu liegen.
Wir müssen zum vollen Verständnis des psychischen Hintergrundes des Christusglaubens daran denken, dass in jener Zeit das römische Imperium im wachsenden Maße erfüllt war vom Kaiserkult, der sich über alle nationale Schranken hinweg durchsetzte. Er war psychologisch eng verwandt mit dem Monotheismus, der Glaube an einen gerechten, guten Vater, und wenn er von den herrschenden Schichten des Römischen Reiches propagiert wurde, so war das vom Standpunkt dieser Schicht verständlich und konsequent. Wenn man von heidnischer Seite das Christentum häufig als Atheismus bezeichnete, so hatte man darin in einem tieferen psychologischen Sinn recht, denn dieser Glaube an den leidenden, zum Gott erhobenen Menschen war die Phantasie einer leidenden, unterdrückten Klasse, die die Herrschenden, Gott, Kaiser, Vater, beseitigen und sich selbst an ihre Stelle setzen wollte. Wenn zu den Hauptbeschuldigungen der Heiden gegen die Christen auch die gehörte, sie begingen Ödipus-Verbrechen, so war diese Beschuldigung real eine sinnlose Verleumdung, aber das Unbewusste der Verleumder hatte den unbewussten Sinn des Christusmythos gut verstanden, seine Ödipuswünsche, seine versteckte Feindschaft gegen Gott-Vater, Kaiser, Autorität. (Auch die Beschuldigungen des Ritualmordes und der sexuellen Ausschweifungen finden die gleichen psychologischen Erklärungen.)
Es kommt zum Verständnis des Problems der späteren dogmatischen Entwicklung vor allem darauf an, das Charakteristische der urchristlichen Christologie zu verstehen, ihren adoptianischen Charakter. Dass ein Mensch zu Gott erhöht wird, das ist ein Ausdruck der unbewussten vaterfeindlichen Regung dieser Masse, das bot die Möglichkeit einer Identifizierung und dem entsprach die Erwartung, dass bald das neue Zeitalter beginnen und die jetzt Leidenden und Unterdrückten zu Glücklichen und Herrschenden machen werde. Indem man sich mit Jesus, weil er der leidende Mensch war, identifizieren konnte und identifizierte, war die Möglichkeit einer Gemeindebildung ohne Autoritäten, Statuten und Bürokratie gegeben, geeint durch die Gemeinsamkeit der Identifizierung mit dem leidenden und zu Gott erhobenen Jesus. Der urchristliche adoptianische Glaube war geboren aus der Masse, war Ausdruck ihrer revolutionären Tendenzen, bot eine Befriedigung für ihre stärkste Sehnsucht und hieraus erklärt sich, warum er mit so außerordentlicher Schnelligkeit zur Religion auch der heidnischen unterdrückten Massen (wenn auch bald nicht ihrer allein) wurde.
Die frühen Glaubensvorstellungen über Jesus wandeln sich. Aus dem zu Gott erhobenen Menschen wird der Sohn Gottes, der immer Gott war, vor aller Schöpfung existierte, eins mit Gott und doch von ihm zu unterscheiden. Hat diese Veränderung der Vorstellungen von Jesus ebenso ihren sozialpsychologischen Sinn, wie wir ihn für den frühen adoptianischen Glauben nachweisen konnten? Eine Antwort auf diese Frage wird uns hier wieder die Untersuchung der Menschen geben, die zweihundert bis dreihundert Jahre später dieses Dogma schufen und an es glaubten, das Verständnis ihrer realen Lebenssituation, die Kenntnis ihrer psychischen Oberfläche.
Die wichtigste Frage ist zunächst, wer sind die Christen im Laufe der ersten nachchristlichen Jahrhunderte? Bleibt das Christentum die Religion der leidenden jüdischen Enthusiasten Palästinas, oder wer tritt an ihre Stelle und neben sie?
Die erste große Veränderung in der Schar der Gläubigen trat ein, als die christliche Propagandatätigkeit sich an die Heiden wandte und in einem großen Siegeszug Anhänger unter ihnen fast im ganzen Römischen Reiche gewann. Diese nationale Veränderung unter den Anhängern des Christentums darf in ihrer Bedeutung gewiss nicht unterschätzt werden, aber sie spielte doch keine entscheidende Rolle, solange die soziale Zusammensetzung der christlichen Gemeinde sich nicht wesentlich veränderte, solange es weiter arme, gedrückte, ungebildete Menschen waren, erfüllt von gemeinsamem Leid, gemeinsamem Hass und gemeinsamer Hoffnung.
Das bekannte Urteil des Paulus über die korinthische Gemeinde gilt ohne Zweifel wie in der apostolischen Zeit so auch noch in der zweiten und dritten Generation für die weitaus meisten Gemeinden der Christenheit: „Seht doch auf eure Berufung, Brüder! Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme, sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten.“ (1. Kor 1,26-28) (R. Knopf, 1905, S. 64°f.)
Aber wenn auch die überwiegende Mehrzahl der Anhänger, die Paulus im ersten Jahrhundert für das Christentum gewann, noch Leute der untersten Volksschicht, [VI-043] kleine Handwerker, Sklaven, Freigelassene waren, so beginnt doch schon langsam ein anderes soziales Element, Gebildete und Wohlhabende, in die Gemeinden einzudringen. Paulus selbst war ja der erste christliche Führer, der nicht mehr der proletarischen Schicht entstammte. Er war Sohn eines wohlhabenden römischen Bürgers, war Pharisäer gewesen, also einer der Intellektuellen, die die Christen verachteten und von ihnen gehasst wurden.
Er war nicht ein der Staatsordnung fremd oder gehässig gegenüberstehender Proletarier, der kein Interesse an ihrem Bestand hat, der auf ihre Zertrümmerung hofft. Er stand den Mächtigen der Verwaltung und des Rechts von Hause aus zu nahe, hatte zu viel Erfahrung von dem Segen der heiligen Ordnung gemacht, um nicht von dem ethischen Wert des Staates ganz anders überzeugt zu sein, als etwa ein Mitglied der heimischen Zelotenpartei, oder auch als seine pharisäischen Parteigenossen, die in der Römerherrschaft höchstens das geringere Übel sahen gegenüber den halbjüdischen Herodianern. (J. Weiß, 1917, S. 132.)
Paulus hat mit seiner Propaganda zwar zweifellos in erster Linie die untersten Volksschichten ergriffen, aber sicherlich auch schon einzelne Wohlhabende und Gebildete, vor allem Kaufleute, die durch ihre Wanderungen und Reisen überhaupt für die Ausbreitung des Christentums von entscheidender Bedeutung geworden sind. (Vgl. R. Knopf, 1905, S. 70.) Aber bis weit ins zweite Jahrhundert hinein gehört ein wesentliches Element in den Gemeinden den niederen Schichten an und bildete dort die große Mehrheit. Das beweisen einzelne Stellen aus der Quellenliteratur, der Zuschnitt der altchristlichen Ethik, einzelne Erbauungsschriften, die – wie der Jakobusbrief oder die Johannes-Apokalypse – flammenden Hass gegen die Mächtigen und Reichen atmen, die kunstlose Form solcher Stücke jener Literatur, die Gesamtrichtung der Eschatologie, die alle zeigen, „dass die Gemeinden auch des nachapostolischen Zeitalters wesentlich aus Kreisen armer und oft auch unfreier Leute gebildet wurden“.[14] [VI-044]
Etwa von der Mitte des zweiten Jahrhunderts an beginnt das Christentum immer mehr Anhänger unter den mittleren und höheren Bevölkerungsschichten des römischen Imperiums zu gewinnen. Vor allem waren es die Frauen der vornehmen Stände und Kaufleute, die für die Propaganda sorgten, in deren Kreisen das Christentum sich ausbreitete und von wo es weiter in die Kreise der herrschenden Aristokratie allmählich eindrang. Am Ende des zweiten Jahrhunderts schon hatte das Christentum aufgehört nur die Religion von besitzlosen Handwerkern und Sklaven zu sein. Und als es unter Konstantin Staatsreligion wurde, da war es inzwischen die Religion weiter Kreise der im römischen Imperium herrschenden Klasse geworden.[15] [VI-045]
Zweihundertfünfzig bis dreihundert Jahre nach der Entstehung des Christentums sind die Menschen, die diesem Glauben angehören, von ganz anderer Art. Es sind nicht mehr Juden mit dem für dieses Volk wie bei keinem andern heftigen Glauben an eine bald einsetzende messianische Zeit, sondern Griechen, Römer, Syrier, Gallier, kurz Angehörige aller Nationen des römischen Kaiserreiches. Wichtiger als diese nationale Verschiebung ist die soziale. Zwar bilden Sklaven und Handwerker und Lumpenproletarier, also die Masse der niederen Bevölkerungsschicht, auch weiterhin die Basis der Gemeinde, aber der Christusglaube ist gleichzeitig auch die Religion der vornehmen und herrschenden Klasse des römischen Weltreichs geworden.
Im Zusammenhang mit dieser Veränderung der sozialen Struktur der christlichen Gemeinde muss noch ein Blick auf die allgemeine wirtschaftliche und politische Situation des römischen Imperiums, die sich im gleichen Zeitraum grundlegend gewandelt hatte, geworfen werden. Die nationalen Unterschiede innerhalb des Weltreichs schwanden immer mehr. Auch der Fremdnationale konnte römischer Bürger werden (Edikt Caracallas 212). Der Kaiserkult bildete gleichzeitig ein einigendes und die nationalen Differenzen nivellierendes Band. Die wirtschaftliche Entwicklung ist charakterisiert durch einen Prozess langsamer, aber fortschreitender Feudalisierung.
Die neuen Verhältnisse, wie sie sich seit dem Ende des dritten Jahrhunderts konsolidiert haben, kennen keine freie Arbeit mehr, sondern nur noch den Arbeitszwang in den erblich gewordenen Ständen, bei der Landbevölkerung, den Kolonien, wie bei den Handwerkern, den Zünften und ebenso bekanntlich bei den zu Hauptträgern der Steuerlast gewordenen Ratsherren. So ist der Kreislauf geschlossen. Die Entwicklung kommt auf den Punkt zurück, von dem sie ausgegangen war. Die mittelalterliche Weltordnung tritt zum zweiten Mal die Herrschaft an. (E. Meyer, 1924, S. 81.)
Der politische Ausdruck dieser ins Ständische, Naturalwirtschaftliche gehenden, beziehungsweise niedergehenden Wirtschaft war die absolute Monarchie, wie sie von Diokletian und Konstantin geformt wurde. Es wurde ein hierarchisches System geschaffen mit unendlichen Abhängigkeiten und der Person des göttlichen Kaisers an der Spitze, dem die Masse im Kaiserkult ihre Verehrung und Liebe zollen sollte. Das römische Imperium wurde in verhältnismäßig kurzer Zeit zu einem feudalen Klassenstaat mit festgefügter Ordnung, in dem die untersten Schichten keinen Aufstieg zu erwarten hatten, weil der Stillstand beziehungsweise Rückgang der Produktivkräfte eine fortschrittliche Entwicklung unmöglich machte. Das gesellschaftliche System war stabilisiert und wurde von oben geregelt und alles kam darauf an, dem Einzelnen, der unten stand, das Sichabfinden mit seiner Situation zu erleichtern.
Dies war also in großen Zügen die Lage der Gesellschaft des römischen Imperiums vom Anfang des dritten Jahrhunderts an, und die Wandlung, die das Christentum und speziell die Vorstellung von Christus und seinem Verhältnis zu Gott-Vater von seiner [VI-046] Frühzeit an bis zu dieser Epoche durchgemacht hat, ist in erster Linie aus dieser sozialen und der von ihr bedingten psychischen Veränderung und der neuen soziologischen Funktion, die das Christentum übernehmen musste, zu verstehen. Es heißt also den Kern der Dinge völlig übersehen, wenn man davon spricht, dass „das“ Christentum sich verbreitet und die große Mehrheit der Bevölkerung des Römischen Reichs für seine Gedanken gewonnen habe. Es war vielmehr aus einer Religion eine andere geworden, nur dass die neue (katholische) Religion gute Gründe hatte, gerade diese Veränderung zu verschleiern.
Es soll zunächst dargestellt werden, welche Wandlung das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten durchmachte und wie die neue Religion im Gegensatz zur alten aussah.
Beginnen wir mit dem Wichtigsten: Die eschatologischen Erwartungen, die das Zentrum des Glaubens und der Hoffnung der Urgemeinde dargestellt hatten, schwanden mehr und mehr. Der Kern der Missionspredigt der Urgemeinde war: „das Reich ist nahe“. Man hatte sich darauf vorbereitet, hatte erwartet, es selbst noch zu erleben, und bezweifelt, ob es in der Kürze der Zeit noch gelingen würde, der Mehrzahl der Heiden vor dem Anbruch des neuen Reiches die christliche Lehre zu verkünden. Noch Paulus’ Glaube ist von eschatologischen Hoffnungen erfüllt, aber der Termin beginnt sich bei ihm schon zu verschieben und in die Ferne zu rücken. Für ihn ist durch die Erhöhung des Messias die Endvollendung gesichert und der letzte Kampf, der noch erfolgen muss, verliert gegenüber dem schon Geschehenen an Bedeutung. Aber mehr und mehr schwindet in der weiteren Entwicklung der Glaube an die unmittelbare Aufrichtung des Reiches. Wir gewahren, ohne dass ein plötzlicher Sprung festzustellen wäre, das allmähliche „Ausströmen eines ursprünglichen Elementes, des enthusiastisch-apokalyptischen, d.h. des sicheren Bewusstseins von dem unmittelbaren Besitze des göttlichen Geistes und der die Gegenwart besiegenden Zukunftshoffnungen“.[16]
Waren beide Auffassungen, die eschatologische und die spirituelle, in der Anfangszeit des Christentums noch miteinander verbunden gewesen, wobei allerdings der Hauptakzent auf die eschatologische fiel, so fallen sie allmählich auseinander. Die eschatologische Hoffnung tritt mehr und mehr zurück, der Schwerpunkt des christlichen Glaubens rückte von der Hoffnung auf die zukünftige Ankunft Christi ab und „musste dann notwendigerweise auf die erste Ankunft fallen, kraft welcher das Heil für die Menschen und die Menschen für das Heil bereitet seien“ (A. v. Harnack, 1909, [VI-047] S.148).
Der Prozess des Ausströmens des urchristlichen Enthusiasmus und dessen Unterdrückung, durch welche das zweite Jahrhundert des Christentums charakterisiert ist, findet schon in diesem Jahrhundert seine Vollendung. Zwar hat es damals wie durch die ganze spätere Geschichte des Christentums (von den Montanisten bis zu den Wiedertäufern) stets Versuche gegeben, den alten christlichen Enthusiasmus, die eschatologische Erwartung, zu erneuern, Versuche, die von solchen Schichten ausgingen, die, in ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und psychischen Situation, als Unterdrückte und nach Freiheit Strebende, den ersten Christen glichen. Aber die Kirche wurde mit diesen revolutionären Versuchen fertig, seitdem sie im Laufe des zweiten Jahrhunderts den ersten entscheidenden Sieg davongetragen hatte. Von dieser Zeit an lag der Schwerpunkt nicht in dem Rufe: „das Reich ist nahe“, in der Erwartung, es werde binnen kurzem zum Anbruch des Gerichts und zur Wiederkehr Jesu kommen, der Blick der Christen war nicht mehr auf die Zukunft, nicht mehr auf die Geschichte, nicht mehr auf die Zeit, sondern er war rückwärts gewendet. Das Entscheidende war schon geschehen. Die Erscheinung Jesu hatte das Wunder schon bedeutet. Die wirkliche geschichtliche Welt brauchte sich nicht mehr zu ändern, äußerlich konnte alles bleiben, wie es war, Staat, Gesellschaft, Recht, Wirtschaft, denn das Heil war ein Innerliches, Geistiges, Unhistorisches, Individuelles geworden, garantiert durch den Glauben an Jesus. Die Hoffnung auf die reale historische Erlösung ist ersetzt durch den Glauben an die schon vollzogene geistige, individuelle. An die Stelle des historischen Interesses ist das kosmologische Interesse getreten.
Hand in Hand damit geht das Verblassen der ethischen Forderungen. Das erste Jahrhundert des Christentums war charakterisiert durch rigorose ethische Postulate, durch den Glauben, dass die christliche Gemeinde vor allem ein Bund zu einem heiligen Leben sei. An die Stelle dieses praktischen ethischen Rigorismus tritt das durch die Kirche gespendete Gnadenmittel. Im engsten Zusammenhang mit dem Verzicht auf die ursprüngliche strenge ethische Praxis, steht die wachsende Annäherung der Christen an den Staat. „Das zweite Jahrhundert des Bestehens christlicher Gemeinde zeigt bereits auf allen Linien eine Entwicklung, die sich dem Staate und der Gesellschaft entgegenbewegt.“ (A. v. Harnack, 1923a, S. 239.) Und auch die gelegentlichen Verfolgungen der Christen durch den Staat änderten an der wachsenden Annäherung der Christen an den Staat nicht das Geringste. Wohl gab es hier und da Versuche, die alte, dem Staat und bürgerlichen Leben feindselige rigoristische Ethik durchzusetzen.
Allein die große Mehrzahl der Christen und vor allem die leitenden Bischöfe entschieden sich anders. Es genügt, Gott im Herzen zu haben und ihn dann zu bekennen, wenn ein offenes Bekenntnis vor der Obrigkeit unvermeidlich ist. Es genügt, den wirklichen Götzendienst zu fliehen, im übrigen darf der Christ in jedem ehrlichen Beruf bleiben, darf in demselben sich auch äußerlich mit dem Götzendienst berühren und soll klug und vorsichtig handeln, so dass er weder sich selbst befleckt, noch eine Befleckung über sich und andere heraufbeschwört. Diese Haltung nahm die Kirche seit Anfang des dritten Jahrhunderts überall an. Der Staat gewann dadurch zahlreiche ruhige, pflichttreue und gewissenhafte Bürger, die, weit entfernt ihm Schwierigkeit zu machen, vielmehr die Ordnung und den Frieden in der Gesellschaft stützten. (...) Somit entwickelte sich die Kirche, indem sie ihre streng ablehnende Haltung gegenüber [VI-048] der „Welt“ aufgab, zu einer staatserhaltenden und staatsverbessernden Macht. Darf man eine moderne Erscheinung zum Vergleich herbeiziehen, die weltflüchtigen Fanatiker, die auf den himmlischen Zukunftsstaat warteten, wurden zu Revisionisten der bestehenden Lebensordnung. (A. v. Harnack, 1923a, S. 143.)
Diese ganz grundlegende Wandlung des Christentums von der Religion der Unterdrückten zur Religion der Herrschenden und der von ihnen gegängelten Masse, von der Erwartung auf den bevorstehenden Anbruch des Gerichts und des neuen Zeitalters zum Glauben an die schon vollzogene Erlösung, vom Postulat eines reinen sittlichen Lebens zur Gewissensbefriedigung durch die kirchlichen Gnadenmittel, von der Feindseligkeit gegen den verhassten Staat zum innigen Pakt mit ihm, steht im engsten Zusammenhang mit der nun noch zu nennenden letzten großen Veränderung: Das Christentum, das die Religion einer Gemeinschaft gleicher Brüder war, ohne Hierarchie und Bürokratie, wird zur Kirche, zum Spiegelbild der absolutistischen Monarchie des römischen Imperiums. Fehlte im ersten christlichen Jahrhundert noch ganz eine fest umgrenzte äußere Autorität in den Gemeinden, die dementsprechend auf Selbständigkeit und Freiheit des einzelnen Christen in Bezug auf Glaubensdinge aufgebaut waren, so ist das zweite Jahrhundert schon charakterisiert durch die allmähliche Ausbildung eines kirchlichen Verbandes mit autoritativen Führern und dementsprechend durch die Etablierung einer kirchlich-wissenschaftlichen Glaubenslehre, der sich der einzelne Christ zu unterwerfen hatte. Ursprünglich war es nicht die Kirche, sondern Gott allein, der Sünden vergeben konnte. Später: Extra ecclesiam nulla salus, die Kirche allein schützt vor der selbstsicheren Unseligkeit. Sie wird als Institution kraft ihrer Ausstattung heilig, die moralische Anstalt, die für das Heil erzieht. Diese Funktion ist an den Priester gebunden, speziell an den Episkopat,
der in seiner Einheit die Rechtmäßigkeit der Kirche garantiert und die Kompetenz der Sündenvergebung erhalten hat (Cypr. ep. 69,11). Erst durch den neuen Kirchenbegriff (...) hat die Scheidung von Klerikern und Laien grundlegende religiöse Bedeutung erhalten. Die Gewalt, welche die Priester und Bischöfe ausübten, ist durch ihn fixiert und geheiligt worden. (A. v. Harnack, 1909, S. 454°f.)
Diese Umwandlung der freien Brüdergemeinde in eine hierarchische Organisation zeigt deutlich, welche psychische Veränderung vor sich gegangen ist. Waren die ersten Christen erfüllt von Hass und Verachtung für die gebildeten Reichen und Herrschenden, kurz für alle Autoritäten, so waren die Christen vom dritten Jahrhundert an erfüllt von Verehrung, Liebe und Anhänglichkeit an die neuen Autoritäten, die Priester.
So wie sich das Christentum in jeder Hinsicht in den ersten drei Jahrhunderten seines Bestehens gewandelt und eine neue, der ursprünglichen entgegengesetzte Religion geworden war, so auch in Hinsicht auf den Glauben und die Vorstellung von Jesus. Im frühen Christentum herrschte die adoptianische Lehre, d.h. der Glaube, dass der Mensch Jesus zu Gott erhoben worden sei. Die Auffassung vom Wesen Jesu geht mit der fortschreitenden Entwicklung der Kirche immer mehr zum pneumatischen Standpunkt über. Nicht ein Mensch wird zu Gott erhoben, sondern ein Gott lässt sich zu den Menschen herab. Das ist die Grundlage der neuen Christusvorstellung, bis sie dann in der vom Nizänischen Konzil angenommenen Lehre des Athanasius ihren Höhepunkt findet: Jesus, der Sohn Gottes, aus dem Vater vor allen Weltzeiten geboren, [VI-049] eines Wesens mit dem Vater. Die arianische Ansicht, dass Jesus und Gott-Vater zwar wesensgleich aber nicht wesenseins (identisch)[17] seien, wird abgelehnt zugunsten der logisch widersinnigen These, dass zwei Wesen, Gott und sein Sohn, doch nur eines seien, also der These von einer Zweiheit, die gleichzeitig Einheit ist. Welches ist der Sinn dieser Veränderung in der Vorstellung von Jesus und seinem Verhältnis zu Gott-Vater, und in welchem Zusammenhang steht die Wandlung des Dogmas mit der Wandlung der ganzen Religion?