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Zur Theorie und Strategie des Friedens

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Der Beitrag "Zur Theorie und Strategie des Friedens" entstand auf Grund eines Vortrags bei den Salzburger Humanismusgesprächen. Er ist in mehrerer Hinsicht bedeutsam: In ihm verweist Erich Fromm mit Nachdruck auf die Alternative, in die der gegenwärtige Mensch angesichts der Atomwaffen und der politischen und militärischen Weltkonstellation hineingestellt ist. Dabei greift Fromm auf seine damaligen Forschungen zur menschlichen Aggression zurück. Wer die Thesen seines 1973 erschienenen Werkes Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973a) in Kurzfassung kennen lernen will, findet hier eine gute Zusammenfassung.

Der Beitrag ist aber auch deshalb interessant, weil Teile aus der Diskussion mitveröffentlicht werden und dabei Erich Fromm und Herbert Marcuse nach vielen Jahren des Kontaktabbruchs noch einmal ins Gespräch kommen. Darüber hinaus wird ein längeres Statement von Fromm wiedergegeben zur Frage, wie man angesichts der bedrohlichen Hochrüstung überhaupt konkrete Veränderungen erreichen könne.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zur Theorie und Strategie des Friedens

Erich Fromm
(1970h)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk

Vortrag bei den Salzburger Humanismusgesprächen 1969. Erstsendung im Studio Salzburg des ORF. – Erstveröffentlichung unter dem Titel Zur Theorie und Strategie des Friedens in: O. Schatz (Hg.), Der Friede im nuklearen Zeitalter. Eine Kontroverse zwischen Realisten und Utopisten. 4. Salzburger Humanismusgespräch, München (Manz Verlag) 1970, S. 19-33, 200, 227°f., 241-245; wiederabgedruckt in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1981, Band V, S. 243-257. Ebenfalls 1981 wurde der Beitrag in den Sammelband Über den Ungehorsam und andere Essays aufgenommen, der bei der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart als Hardcover-Ausgabe und später beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München als Taschenbuch herauskam.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 243-257.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1969 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Es gibt wenige Dinge in der Welt, über die so viel geredet, so viel geschwindelt und auch so viel verhandelt wird, wie über den Frieden.[1] Von dieser Feststellung sollte jede Diskussion des theoretischen Problems ausgehen. Es ist deshalb umso mehr zu begrüßen, dass die Veranstalter dieses Gesprächs eine Möglichkeit gegeben haben, „den Frieden“ frei von Klischees und der Angst vor Tabus zu beleuchten.

Wenn ich nun zunächst über die Theorie des Friedens spreche, so lautet die erste Frage: Was ist Friede? Das Wort „Friede“ wird ja in einem doppelten Sinne gebraucht: einmal im Sinne von Nicht-Krieg oder Nicht-Anwendung von Gewalt zur Erreichung gewisser Ziele; das wäre die negative Definition. Seiner positiven Definition nach ist Friede dagegen ein Zustand der brüderlichen Harmonie aller Menschen.

Zunächst ein Wort zur zweiten Definition. Sie hat ihren ersten und wohl auch großartigsten Ausdruck in dem prophetischen Konzept der „Messianischen Zeit“ gefunden, der Zeit, in der die Menschen miteinander und – das ist wichtig – auch mit der Natur in Harmonie leben, und zwar nicht nur in einem Zustand des Nicht-Angreifens, der Nicht-Gewalt, sondern auch sehr ausdrücklich in einem Zustande der Nicht-Angst, also einem Zustand, den man nur als den der höchsten Entwicklung des Menschen bezeichnen kann: den der vollen Entfaltung seiner Vernunft und seiner Liebesfähigkeit. Sogar das hebräische Wort, das im Alten Testament für Friede gebraucht wird, schalom, drückt das aus: Es heißt Ganzheit, Harmonie, Vollheit.

Es gibt immer noch viele Menschen, die an die reale Möglichkeit dieses Friedens glauben, und es gibt viele andere, die diese Menschen Utopisten nennen. Es kommt darauf an, was man unter „Utopist“ versteht. Wer trifft hier eigentlich die Entscheidung? Es ist ja leicht, einen anderen einen Utopisten zu nennen. So gibt es auch viele Menschen, die sich Realisten nennen, nur weil sie das Motto haben: „Es kann nicht sein, was noch nicht war.“ Dieses Motto ist in seiner Falschheit in der Geschichte schon zur Genüge bewiesen worden. Vielleicht kann man es auch so sagen: Es gibt viele Menschen – wenn ich mich bildhaft ausdrücken darf –, die an eine Geburt erst im neunten, aber noch nicht im ersten Monat der Schwangerschaft glauben. Ich möchte diese Realisten die „Neun-Monate-Realisten“ nennen. In Wirklichkeit ist [V-244] über das, was eine „rationale“ oder eine „irrationale“ Utopie ist, nur durch die Analyse dessen, was Hegel die realen Möglichkeiten genannt hat, zu entscheiden. Und diese Analyse ist in der Tat sehr viel schwieriger als das Sich-Verlassen auf den Status quo und auf die Vergangenheit.

Natürlich ist der Begriff des positiven Friedens in diesem Sinne nicht bei den Propheten stehengeblieben. Er ist weitergeführt worden, zum Teil in der christlichen Geschichte, zum Teil in den revolutionären christlichen Sekten und Bewegungen. In säkularer Form hat er seinen Ausdruck in der Theorie von Karl Marx gefunden. Damit meine ich die Theorie von Marx und nicht das, was als „Marxismus“ von denen dargestellt worden ist, die das Gegenteil im Auge haben.

Zur negativen Theorie des Friedens ist zu sagen, dass diese wohl die übliche ist. Wenn heute von Frieden gesprochen wird, denkt man im allgemeinen nicht an den Zustand der harmonischen Solidarität der Menschen, nicht an die Vollentwicklung des Menschen in seelischer Hinsicht, sondern an Nicht-Krieg. Und da sind schon immer verschiedene Wege gezeigt worden, die zu dieser Art Frieden führen. Es gibt den politischen einer überstaatlichen Autorität, die durch ihre Gewalt dafür sorgen wird, dass keine Nation einen Krieg beginnen kann: das geht von Dantes Universalstaat bis zu den Vereinten Nationen oder der Idee einer Weltregierung; es gibt den ökonomischen Weg: das geht von der Idee des Freihandels als Basis des Friedens bis zur Fichteschen Idee des geschlossenen Handelsstaates als Basis des Friedens; oder rein politische: von Wilsons Idee, dass der Krieg die Demokratie sichern würde bis zum Sowjetanspruch, dass der Sowjetsozialismus den Frieden garantieren könne. Militärisch gesehen ist das „Gleichgewicht des Schreckens“ heute nur die Fortsetzung der älteren Idee des „Gleichgewichts der Macht“, die davon ausgeht – und das ist ein ganz wesentliches Moment –, dass der Mensch rational handelt und dass er, solange es gegen sein wohlverstandenes Interesse ist, Gewalt zu gebrauchen, aus seiner Rationalität heraus diese Gewalt auch nicht gebrauchen wird. Das finden wir schon im Achtzehnten Jahrhundert, wir finden es auch heute bei denen, die Kriegsspiele veranstalten, um herauszufinden, wie die Sowjetunion und Amerika sich im Falle eines atomaren Krieges verhalten werden, und die in einer merkwürdigen Weise mit der Rationalität beider Seiten als Grundlage ihrer Friedenskalkulation rechnen. Haben diese Garantien des Friedens oder diese Bedingungen für den negativen Frieden bis jetzt Erfolg gehabt? Offensichtlich nicht.

Mit der Möglichkeit eines atomaren Krieges ist ein ganz neues Moment hinzugekommen.

Zum ersten Mal hat die Gewalt ihre Rationalität verloren. Unter „Rationalität“ verstehe ich die Anwendung von Mitteln, die zur Erreichung bestimmter Zwecke geeignet sind. Zum ersten Mal in der Geschichte kann selbst der siegreiche Krieg jene Ziele, zu deren Erreichung man Kriegsmittel benützt, nicht mehr sichern, weil er in der Selbstzerstörung endet. Auch hier sagen uns viele Spezialisten: „Das ist ja gar nicht so: In Amerika werden nur 100 Millionen Menschen in den ersten paar Tagen umkommen, und nach ein paar Jahren wird die Wirtschaft wieder wie neu sein. Das heißt, dass die Gewalt ihre Rationalität nicht verloren hat.“ Ich glaube, die so denken, sind auch „Neun-Monate-Realisten“. Sie vergessen, dass es sich hier nicht nur um die [V-245] Zerstörung von 80 oder 120 Millionen Menschen handelt, sondern um die Zerstörung der gesamten sozialen, moralischen und menschlichen Struktur einer Gesellschaft; und es lässt sich überhaupt nicht voraussehen, welche weiteren Konsequenzen an Barbarei, an Verrücktheit sie „im besten Falle“ mit sich bringt.[2] Immerhin: So viel Wirkung hat das Gleichgewicht des Schreckens in den letzten zwanzig Jahren scheinbar gehabt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120838
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Frieden Atomwaffen Militär Sozialpsychologie
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