Lade Inhalt...

Propheten und Priester

Prophets and Priests

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Zu den Menschen, die Fromm wegen der Radikalität ihres Lebensvollzugs bewunderte, gehörte Bertrand Russell, dem der Beitrag "Propheten und Priester" gewidmet ist. In der von Russell gelebten Einheit von Denken, Fühlen und Handeln erkennt Fromm das Typische für einen Propheten. Das Streitbare prophetischer Persönlichkeiten ergibt sich dabei aus ihrer Fähigkeit, allem Vernunftwidrigen zu trotzen und dem Vernunftwidrigen den Gehorsam zu verweigern.

Etwas ganz Entscheidendes muss aber hinzukommen, das den Unterschied zwischen einem Rebellen und einem Revolutionär ausmacht: der Ungehorsam des Propheten und des Revolutionärs wurzelt in dessen Liebe zum Lebendigen. – Im Bereich der Religion sind Propheten deshalb das genaue Gegenteil der Priester: Diese predigen den Gehorsam zum Erhalt der Religion, während die Propheten den Ungehorsam als Ausdruck ihrer Religiosität leben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Propheten und Priester

(Prophets and Priests)

Erich Fromm
(1967b)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Prophets and Priests in: R. Schoenman (Hg.), Bertrand Russell. Philosopher of the Century: Essays in His Honor, London 1967, S. 67-79 (George Allen & Unwin). Eine erste deutsche Übersetzung von Liselotte und Ernst Mickel erschien in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1981, Band V, S. 295-307. Ebenfalls 1981 wurde der Beitrag in den Sammelband Über den Ungehorsam und andere Essays aufgenommen, der bei der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart als Hardcover-Ausgabe und später beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München als Taschenbuch herauskam.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 295-307.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1965 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Zweifellos war die Kenntnis der großen Ideen der Menschheit noch nie so weit auf der Welt verbreitet wie heute.[1] Noch nie war aber auch ihre Wirkung so gering. Die Gedanken Platos und Aristoteles’, die der Propheten und Christi, die Spinozas und Kants sind heute Millionen von Gebildeten in Europa und Amerika bekannt. Sie werden an unzähligen Hochschulen gelehrt, über einige wird weltweit in den Kirchen aller Konfessionen gepredigt. Dies alles geschieht zugleich in einer Welt, in der die Grundsätze eines uneingeschränkten Egoismus befolgt werden, die einen hysterischen Nationalismus kultiviert und einen wahnsinnigen Massenmord vorbereitet. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?

Solange Ideen nur als rationale Vorstellungen und Gedanken gelehrt werden, üben sie keinen tiefen Einfluss auf die Menschen aus. Werden sie vermittelt, so verändern sie im allgemeinen nur andere Ideen: Es treten neue Gedanken an die Stelle von alten, neue Worte ersetzen bisher gebrauchte. Geändert haben sich dann in Wirklichkeit nur Worte und Begriffe. Wie sollte es auch anders sein? Der Mensch wird nur sehr schwer von Ideen wirklich ergriffen. Um eine Wahrheit zu erfassen, muss er erst tief eingewurzelte Widerstände überwinden: Trägheit, Angst vor Irrtümern, Angst vor einem Abweichen von der Herde. Selbst wenn die Ideen an sich richtig und aussagekräftig sind, genügt es doch nicht, nur mit ihnen bekannt zu werden. Sie üben erst dann eine Wirkung auf den Menschen aus, wenn sie von dem, der sie lehrt, auch gelebt werden – wenn also ihr Lehrer sie verkörpert und so die Idee Fleisch wird. Wenn jemand über Demut spricht und selbst demütig ist, werden seine Zuhörer verstehen, was Demut ist. Sie verstehen es nicht nur, sondern glauben ihm auch, dass er über etwas Wirkliches spricht und nicht nur leere Worte macht. Das Gleiche gilt für alle Ideen, die ein Mensch, ein Philosoph oder ein religiöser Lehrer anderen Menschen zu vermitteln sucht.

Menschen, die Ideen verkündigen – es müssen nicht unbedingt neue Ideen sein – und die diese Ideen gleichzeitig leben, kann man als Propheten bezeichnen. Die Propheten des Alten Testaments taten eben dies: Sie haben die Idee verkündigt, dass der Mensch eine Antwort auf die Probleme seiner Existenz finden müsse und dass die Antwort in der Entwicklung seiner Vernunft und seiner Liebe bestehe; und sie haben [V-296] gelehrt, dass Demut und Gerechtigkeit nicht von Liebe und Vernunft zu trennen sind. Sie lebten, was sie verkündeten. Sie strebten nicht nach Macht, sondern gingen ihr aus dem Weg. Sie begehrten nicht einmal die Macht eines Propheten. Macht beeindruckte sie nicht, und sie verkündeten die Wahrheit auch dann, wenn diese ihnen Gefangenschaft, Verbannung und Tod eintrug. Sie waren keine Menschen, die sich zurückzogen und warteten, was kommen würde. Sie waren empfänglich für ihre Mitmenschen, weil sie sich verantwortlich fühlten. Was anderen geschah, geschah auch ihnen. Die Menschheit war nichts Äußerliches, sondern in ihnen. Eben weil sie die Wahrheit erkannten, fühlten sie sich verpflichtet, sie auch anderen mitzuteilen; sie drohten nicht, sie zeigten nur die Alternativen, mit denen der Mensch konfrontiert war. Ein Prophet will nicht aus sich heraus Prophet sein. Nur die falschen Propheten wollen dies. Prophet zu werden, ist einfach, weil die Alternativen, um die es geht, einfach sind. Amos drückt es so aus (3,8): „Der Löwe brüllt – wer fürchtet sich nicht? Gott der Herr spricht – wer wird da nicht zum Propheten?“ Die Wendung „Gott der Herr spricht“ bedeutet hier nur, dass ihm keine andere Wahl bleibt. Es kann keinen Zweifel und kein Entrinnen mehr geben. Dem, der sich verantwortlich fühlt, bleibt keine andere Wahl, als Prophet zu werden, ob er nun Schafe gehütet, Weinberge bestellt oder Ideen entwickelt und gelehrt hat. Der Prophet hat die Aufgabe, die Wirklichkeit zu offenbaren, Alternativen aufzuzeigen und zu protestieren. Er muss die Stimme erheben und die Menschen aus ihrem gewohnten Dämmerzustand aufwecken. Nicht der eigene Wunsch, sondern die historische Situation macht den Prophet zum Propheten.

Viele Völker hatten Propheten: Buddha verwirklichte seine Lehre, in Christus ist sie Fleisch geworden, Sokrates starb für seine Ideen und auch Spinoza hat sie gelebt. Sie alle haben einen so tiefen Einfluss auf die Menschheit gehabt, weil sie selbst ihre Ideen verkörperten. Propheten gibt es nur zu bestimmten Zeiten in der Geschichte der Menschheit. Sie sterben und hinterlassen ihre Botschaft. Diese wird von Millionen von Menschen angenommen, denen sie sehr wichtig wird. Dies ist der Grund, warum andere sie ausbeuten. Sie nutzen die Bindung der Menschen an diese Ideen für ihre eigenen Zwecke aus, indem sie diese Menschen beherrschen und unter ihre Kontrolle bekommen. Jene aber, die die Ideen der Propheten in dieser Weise ausnützen, sind die Priester.

Die Propheten leben ihre Ideen. Die Priester verwalten sie für diejenigen, die sich mit diesen Ideen identifizieren. Dabei verlieren die Ideen ihre Lebendigkeit und werden zu Formeln. Den Priestern ist die Formel wichtig – dies ist immer so, wenn das Erlebnis selbst tot ist. Nur wenn es eine „korrekte“ Formulierung gibt, lassen sich die Menschen beherrschen und ihre Gedanken kontrollieren. Für die Priester dient die Idee dazu, die Menschen zu organisieren und sie dadurch zu beherrschen, dass sie die richtige Formulierung der Idee kontrollieren. Wenn sie dann die Menschen tief genug betäubt haben, erklären sie, der Mensch sei unfähig, ganz wach zu sein und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Darum erfüllten sie – die Priester – aus Mitgefühl oder Mitleid die Aufgabe, den Menschen zu leiten. Dieser hätte, sich selbst überlassen, zu sehr Angst vor der Freiheit. Freilich verhalten sich nicht alle Priester so, doch gilt es für die meisten, vor allem wenn sie über Macht verfügen. [V-297]

Priester gibt es nicht nur in der Religion. Es gibt auch Priester in der Philosophie und in der Politik. Jede philosophische Schule hat ihre Priester. Oft sind sie sehr gelehrt; sie haben die Aufgabe, die Idee des ursprünglichen Denkers zu verwalten, sie weiterzugeben, sie auszulegen, sie zu einem musealen Gegenstand zu machen und auf diese Weise zu bewahren. Die politischen Priester sind uns in den letzten hundertfünfzig Jahren häufig begegnet. Sie haben die Idee der Freiheit verwaltet, um die wirtschaftlichen Interessen ihrer sozialen Klasse zu wahren. Im Zwanzigsten Jahrhundert haben die Priester die Verwaltung der Ideen des Sozialismus übernommen. Während dieser die Befreiung und Unabhängigkeit des Menschen zum Ziel hatte, erklärten die Priester mit wechselnden Worten, der Mensch sei nicht fähig, frei zu sein – oder er sei doch wenigstens in absehbarer Zeit nicht dazu in der Lage. Bis dahin müssten sie die Aufgabe übernehmen und darüber entscheiden, wie die Idee zu formulieren sei und wer ein frommer Gläubiger sei und wer nicht. Meist verwirren die Priester die Menschen, weil sie behaupten, die Nachfolger eines Propheten zu sein und zu leben, was diese predigten. Während selbst ein Kind merken könnte, dass sie genau das Gegenteil ihrer Lehre leben, unterzieht man die große Masse des Volkes einer so gründlichen Gehirnwäsche, dass sie schließlich glaubt, die Priester brächten ein Opfer, wenn sie im Luxus lebten, weil sie eine große Idee zu repräsentieren hätten, ja selbst ihr unbarmherziges Töten geschähe aus ihrem revolutionären Glauben heraus.

Kaum eine historische Situation könnte für das Auftauchen von Propheten günstiger sein als unsere. Die Existenz der gesamten Menschheit ist durch den Wahnsinn eines möglichen Atomkrieges bedroht. Blindheit und „steinzeitliches“ Bewusstsein haben uns an einen Punkt geführt, von dem aus die Menschheit sich in raschem Tempo auf das tragische Ende ihrer Geschichte zuzubewegen scheint – und dies auf dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten. In dieser Situation braucht die Menschheit Propheten, auch wenn es zweifelhaft ist, ob deren Stimme sich gegen die der Priester wird durchsetzen können.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120814
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Propheten Priester Sozialpsychologie
Zurück

Titel: Propheten und Priester