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Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 18.9.2015
ISBN: eBook 9783959120784
Format: ePUB
Der Beitrag "Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie" ist eine für Marxisten und Nicht-Psychologen leicht verständliche Zusammenfassung von Fromms eigenen sozialpsychologischen Erkenntnissen. Fromm zeigt hier, wie wichtig Psychologie für eine marxistische Theoriebildung ist. Der Artikel entstammt dem von Fromm selbst herausgegebenen Band Socialist Humanism. Mit ihm versuchte Fromm, humanistisch gesinnte Marxisten und Sozialisten aus Ost und West ins Gespräch zu bringen. Dabei war Fromms Projekt eines „Sozialistischen Humanismus“ als Alternative zum real existierenden Sozialismus konzipiert.
Wer einen leicht verständlichen Zugang zu Fromms Sozialpsychologie sucht, findet hier eine prägnante Zusammenfassung dessen, wie Fromm den Zusammenhang von sozio-ökonomischen Erfordernissen und psychischen Strebungen der vielen Einzelnen begreift, diesen Zusammenhang im Begriff des Gesellschafts-Charakters operationalisiert und gleichzeitig der Macht dessen, was gesellschaftlich nicht bewusst werden soll und darf (das „Soziale Unbewusste“) gerecht zu werden versucht.
(The Application of Humanist Psychoanalysis to Marx’s Theory)
Erich Fromm
(1965c)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.
Erstveröffentlichung 1965 unter dem Titel The Application of Humanist Psychoanalysis to Marx’s Theory in dem von Erich Fromm herausgegebenen Band Socialist Humanism. An International Symposium, New York (Doubleday & Co., Inc.). Eine erste deutsche Übersetzung von Liselotte und Ernst Mickel erschien in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1981, Band V, S. 399-411. Ebenfalls 1981 wurde der Beitrag in den Sammelband Über den Ungehorsam und andere Essays aufgenommen, der bei der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart als Hardcover-Ausgabe und später beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München als Taschenbuch herauskam.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 399-411.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1965 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Marxismus ist Humanismus.[1] Sein Ziel ist die volle Entfaltung aller Möglichkeiten des Menschen: nicht des von seinen Ideen oder von seinem Bewusstsein her bestimmten Menschen, sondern des Menschen mit all seinen körperlichen und seelischen Eigenschaften, des wirklichen Menschen, der nicht in einem Vakuum, sondern im gesellschaftlichen Kontext lebt, des Menschen, der produzieren muss, um leben zu können. Eben die Tatsache, dass es Marx um den ganzen Menschen, und nicht nur um sein Bewusstsein geht, unterscheidet den Marxschen „Materialismus“ von Hegels „Idealismus“ ebenso wie von der ökonomisch-mechanistischen Reduktion des Marxismus. Die große Leistung von Marx bestand darin, dass er die ökonomischen und philosophischen Kategorien, die sich auf den Menschen beziehen, von ihren abstrakten und entfremdeten Ausdrucksformen befreit und so Philosophie und Ökonomie ad hominem bezogen hat. Marx ging es um den Menschen, und sein Ziel war die Befreiung des Menschen von der Vorherrschaft der materiellen Interessen, aus dem Gefängnis, das seine Form der Lebenspraxis um ihn herum errichtet hatte. Wenn man dieses Anliegen von Marx nicht versteht, wird man weder seine Theorie noch deren Verfälschung durch viele begreifen, die sie zu praktizieren behaupten. Auch wenn der Titel des Hauptwerks von Marx Das Kapital lautet, so ist dieses Werk doch nur ein Teil einer umfassenden Theorie, und es sollte dem Kapital eine Geschichte der Philosophie folgen. Marx diente die Analyse des Kapitals dazu, den verkrüppelten Zustand des Menschen in der Industriegesellschaft kritisch zu durchleuchten. Es war nur ein Schritt in dem großen Werk, dessen Titel – wenn er es hätte schreiben können – vielleicht „Mensch und Gesellschaft“ gelautet hätte.
Das Werk von Karl Marx – das des „jungen Marx“ genau wie das des Verfassers von Das Kapital – enthält zahlreiche psychologische Begriffe. Es enthält Begriffe wie „das Wesen des Menschen“ und „der verkrüppelte Mensch“, „Entfremdung“, „Bewusstsein“, „leidenschaftliche Strebungen“ und „Unabhängigkeit“, um nur einige der wichtigsten aufzuzählen. Aber im Gegensatz zu Aristoteles und Spinoza, die ihre Ethik auf eine systematische Psychologie gründeten, enthält das Werk von Marx keine psychologische Theorie. Neben fragmentarischen Bemerkungen zum Beispiel über den Unterschied zwischen „fixen“ Trieben (wie Hunger und Sexualität) und [V-400] solchen, die von der Gesellschaft erzeugt werden, ist in seinen Schriften kaum eine relevante Psychologie zu finden – wie im übrigen auch nicht bei seinen Nachfolgern. Der Grund hierfür ist nicht in einem Mangel an Interesse oder Begabung für die Analyse psychologischer Phänomene zu suchen. (Jene Bände, die den vollständigen Briefwechsel zwischen Marx und Engels enthalten, zeigen sein Talent für eine scharfsinnige Analyse unbewusster Motivationen, die einem jeden begabten Psychoanalytiker Ehre machen würden.) Es liegt vielmehr daran, dass es zu Lebzeiten von Marx noch keine dynamische Psychologie gab, die er auf die Probleme des Menschen hätte anwenden können. Marx ist 1883 gestorben. Freud begann mit der Veröffentlichung seiner Werke erst zehn Jahre nach Marx’ Tod.
Die Psychologie, die Marx zur Ergänzung seiner Analyse gebraucht hätte, hat Freud geschaffen, auch wenn dessen Psychologie noch vieler Revisionen bedurfte. Psychoanalyse ist vor allem eine dynamische Psychologie. Sie befasst sich mit psychischen Kräften, die das Verhalten, das Tun, die Gefühle und Ideen der Menschen motivieren. Diese Kräfte kann man nicht immer als solche erkennen, man muss aus beobachtbaren Phänomenen auf sie schließen und sie in ihren Widersprüchen und Umbildungen analysieren. Um für das marxistische Denken brauchbar zu sein, muss eine Psychologie auch die Evolution dieser psychischen Kräfte als ständigen Interaktionsprozess zwischen den Bedürfnissen des Menschen und der gesellschaftlichen und historischen Realität, an der er teilhat, sehen. Es muss eine Psychologie sein, die bereits vom Ansatz her Sozialpsychologie ist. Schließlich muss es sich noch um eine kritische Psychologie handeln, die besonders dem Bewusstsein des Menschen kritisch gegenübersteht.
Freuds Psychoanalyse erfüllt diese Hauptbedingungen, obgleich weder der größte Teil der Freudianer noch die meisten Marxisten ihre Relevanz für das marxistische Denken erfasst haben. Die Gründe dafür, dass keine Verbindung zustande kam, sind auf beiden Seiten zu suchen. Die Marxisten blieben bei ihrer Tradition, die Psychologie zu ignorieren. Freud und seine Schüler entwickelten ihre Ideen im Rahmen des mechanistischen Materialismus, der sich für die Entwicklung der großen Entdeckungen Freuds als hinderlich und als unvereinbar mit dem „historischen Materialismus“ erwies.
In der Zwischenzeit ist es zu neuen Entwicklungen gekommen. Die wichtigste ist die Erneuerung des marxistischen Humanismus, wovon der vorliegende Band Zeugnis ablegt. Viele marxistische Sozialisten, besonders in den kleineren sozialistischen Ländern, aber auch im Westen, sind sich heute der Tatsache bewusst, dass die marxistische Theorie eine psychologische Theorie des Menschen braucht; außerdem haben sie bemerkt, dass der Sozialismus das Bedürfnis des Menschen nach einem Orientierungssystem und nach einem Objekt seiner Hingabe befriedigen muss; dass er sich mit den Fragen beschäftigen muss, wer der Mensch ist und welchen Sinn und welches Ziel sein Leben hat. Er muss eine Grundlage für ethische Normen und die geistige Entwicklung bieten, die über die leeren Phrasen hinausgehen, welche feststellen, dass „gut ist, was der Revolution dient“ (oder dem Arbeiterstaat, der historischen Entwicklung usw.).
Andererseits hat die Kritik, die sich im psychoanalytischen Lager gegen den [V-401] mechanistischen Materialismus erhob, welcher Freuds Denken zugrunde liegt, zu einer kritischen Neubewertung der Psychoanalyse, besonders hinsichtlich der Libidotheorie, geführt. Durch die Weiterentwicklung sowohl des marxistischen wie auch des psychoanalytischen Denkens scheint für die humanistischen Marxisten der Zeitpunkt für die Erkenntnis gekommen, dass die Anwendung einer dynamischen, kritischen, gesellschaftlich orientierten Psychologie für die Weiterentwicklung der marxistischen Theorie und der sozialistischen Praxis von ausschlaggebender Bedeutung ist, und dass eine Theorie, in deren Mittelpunkt der Mensch steht, nicht länger eine Theorie ohne Psychologie bleiben kann, wenn sie nicht den Kontakt mit der menschlichen Realität verlieren will.
Im Folgenden möchte ich auf einige der Hauptprobleme hinweisen, mit denen sich die humanistische Psychoanalyse bereits befasst hat oder noch befassen sollte. Da es leider nur wenige Autoren gibt, die ebenso versucht haben, die revidierte Psychoanalyse auf das Problem des Marxismus und des Sozialismus anzuwenden, muss ich mich vor allem auf meine eigenen Schriften beziehen.[2] Besonders Jenseits der Illusionen – Die Bedeutung von Marx und Freud (1962a) befasst sich mit der Beziehung zwischen den Theorien von Marx und Freud. – Unter den anderen Autoren, die in ihren Schriften von einem psychoanalytisch-marxistischen Standpunkt ausgehen, ist Wilhelm Reich der bedeutendste, auch wenn seine Theorien und meine eigenen wenig Gemeinsames haben. Sartres Versuche, eine marxistisch orientierte humanistische Analyse zu entwickeln, leiden darunter, dass er zu wenig klinische Erfahrung besitzt und deshalb trotz seiner glänzenden Formulierungen mit der Psychologie nur sehr oberflächlich umgeht.
Das erste Problem, das hier erörtert werden soll, ist das des Gesellschafts-Charakters, also jener gemeinsamen Charakter-Matrix einer Gruppe (etwa einer Nation oder einer Klasse), die konkret das Tun und Denken ihrer Mitglieder beeinflusst. Dieser Begriff ist eine Weiterentwicklung des Freudschen Charakterbegriffs und ebenso wie dieser dynamisch zu verstehen. Freud sah im Charakter die relativ stabile Manifestation verschiedener Arten libidinöser Strebungen, das heißt auf verschiedene Ziele ausgerichteter und aus verschiedenen Quellen stammender psychischer Energie. In seinen Begriffen des oralen, analen und genitalen Charakters lieferte Freud ein neues Modell des menschlichen Charakters, welches das Verhalten des Menschen als Ergebnis bestimmter leidenschaftlicher Strebungen erklärt. Freud nahm an, dass Richtung und Intensität dieser Strebungen aus frühen Kindheitserfahrungen entsprechend den „erogenen Zonen“ (Mund, Anus und Genitalien) stammen und dass – von konstitutionellen Elementen abgesehen – für die Entwicklung der Libido hauptsächlich das Verhalten der Eltern verantwortlich sei.