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Erscheinungsform: Deutsche E-Book Ausgabe
Erscheinungsdatum: 18.9.2015
ISBN: eBook 9783959120753
Format: ePUB
Der Beitrag "Den Vorrang hat der Mensch. Ein sozialistisches Manifest und Programm" ist ein einzigartiges Zeugnis für Erich Fromms parteipolitisches Engagement. Bald nach der Veröffentlichung von "Wege aus einer kranken Gesellschaft", engagierte sich Fromm in der „Socialist Party – Social Democratic Federation“ (SP-SDF) der USA – einer Partei, die „zur Stimme des wissenschaftlichen und moralischen Gewissens in den Vereinigten Staaten“ werden sollte, wie Fromm in einer Werbeschrift für diese Partei formulierte. Fromm erhielt 1958 den Auftrag, für die Partei ein neues Programm auszuformulieren. "Den Vorrang hat der Mensch. Ein sozialistisches Manifest und Programm" war das Resultat. In ihm versuchte Fromm, die überbrachten sozialistischen Vorstellungen zu revidieren und der sozialistischen Partei eine fundamentaldemokratische und humanistische Ausrichtung zu geben.
Auch wenn sich die Parteimehrheit nicht mit Fromms Entwurf anfreunden konnte (und sich Fromm deshalb aus der Parteipolitik der US-Sozialisten wieder zurückzog), so ist dieses Manifest doch ein einzigartiges Dokument. Es enthält ganz konkrete Schlussfolgerungen, wie in einer hochkapitalistischen Wirtschaft und einer von Renditeinteressen bestimmten Gesellschaft Wirtschaft, Arbeit und politische Entscheidungsfindung organisiert sein müssen, damit der Mensch und seine menschlichen Bedürfnisse wieder vorrangig werden.
(Let Man Prevail – A Socialist Manifesto and Program)
Erich Fromm
(1960b)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel.
Erstveröffentlichung unter dem Titel Let Man Prevail – A Socialist Manifesto and Program, New York 1960 (The Call Association). Eine erste deutsche Übersetzung von Liselotte und Ernst Mickel erschien in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1981, Band V, S. 19-41. Ebenfalls 1981 wurde der Beitrag in den Sammelband Über den Ungehorsam und andere Essays aufgenommen, der bei der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart als Hardcover-Ausgabe und später beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München als Taschenbuch herauskam. Dabei wurde der theoretische Teil des Beitrags unter dem Titel Den Vorrang hat der Mensch! veröffentlicht, während die Programmatik im zweiten Teil des Beitrags unter dem Titel Humanistischer Sozialismus abgedruckt wurde.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 19-41.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1961 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Als die mittelalterliche Welt zerbrach, glaubte der westliche Mensch, auf dem Weg zur endgültigen Erfüllung seiner kühnsten Träume und Visionen zu sein. Er befreite sich von der Autorität einer totalitären Kirche, von der Last traditionellen Denkens und von den geographischen Schranken unserer erst zur Hälfte entdeckten Erde. Er entdeckte die Natur und das Individuum. Er wurde sich seiner eigenen Kraft und seiner Fähigkeit bewusst, sich zum Herrscher über die Natur und die Tradition zu machen. Er glaubte an eine Synthese zwischen seinem neugeborenen Gefühl der Kraft und Rationalität und den spirituellen Werten seiner humanistisch-geistigen Tradition, zwischen der prophetischen Idee einer messianischen Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit, wie sie die Menschheit im historischen Prozess erreichen könnte, und der griechischen Tradition theoretischen Denkens. In den auf die Renaissance und die Reformation folgenden Jahrhunderten baute er eine neue Naturwissenschaft auf, die schließlich zur Freisetzung bis dahin unbekannter produktiver Kräfte und zur völligen Umwandlung der materiellen Welt führte. Er schuf politische Systeme, welche die freie und produktive Entwicklung des Individuums zu garantieren scheinen; er verkürzte die Arbeitszeit so sehr, dass der Mensch im Westen heute soviel Freizeit genießen kann, wie es sich seine Vorväter kaum hätten träumen lassen. Und dennoch – wo stehen wir heute?
Die Welt ist in zwei Lager geteilt, in das kapitalistische und das kommunistische. Beide Lager glauben sich im Besitz des Schlüssels zur Erfüllung der Hoffnungen vergangener Generationen; beide behaupten, sie müssten zwar nebeneinander existieren, doch seien ihre Systeme miteinander unvereinbar.
Haben sie damit recht? Befinden sie sich nicht beide in einem Prozess, der auf einen industriellen Neo-Feudalismus, auf Industriegesellschaften zustrebt, die von großen, mächtigen Bürokratien gelenkt und manipuliert werden, Gesellschaften, in denen der Einzelne zu einem gut genährten und gut gepflegten Automaten wird, der seine Individualität, seine Unabhängigkeit und seine Humanität verliert? Müssen wir uns mit der Tatsache abfinden, dass wir zwar die Natur beherrschen und Güter in einem ständig wachsenden Umfang herstellen können, dass wir aber die Hoffnung auf eine neue [V-020] Welt der Solidarität und Gerechtigkeit aufgeben müssen und dass dieses Ideal in dem leeren technologischen Begriff des „Fortschritts“ verlorengeht?
Wir fragen uns, ob es keine andere Alternative als die zwischen einem kapitalistischen und einem kommunistischen Industrie-Managertum gibt. Können wir nicht eine Industriegesellschaft aufbauen, in der das Individuum seine Rolle als aktives, verantwortliches Glied behält, das die Umstände beherrscht, anstatt von ihnen beherrscht zu werden? Sind wirtschaftlicher Wohlstand und ein erfülltes menschliches Dasein wirklich nicht miteinander vereinbar?
Hinzu kommt, dass diese beiden Lager nicht nur wirtschaftlich und politisch miteinander im Konkurrenzkampf stehen, sie stehen sich auch beide in der tödlichen Angst vor einem Atomangriff gegenüber, der sie beide – und vielleicht die gesamte Zivilisation – auslöschen würde. Der Mensch hat die Atombombe geschaffen. Sie ist eine seiner größten intellektuellen Leistungen. Aber er hat die Herrschaft über seine eigene Schöpfung verloren. Die Bombe ist ihm zum Herrn, die Macht seiner eigenen Schöpfung zu seinem gefährlichsten Feind geworden.
Bleibt uns noch Zeit, diesen Kurs zu verändern? Wird es uns gelingen, ihn zu wenden und selbst wieder zum Herrn der Umstände zu werden, anstatt uns von ihnen beherrschen zu lassen? Können wir die tief eingewurzelte Barbarei überwinden, die uns veranlasst, den Versuch zu machen, Probleme auf die einzige Weise zu lösen, auf die sie niemals gelöst werden können – nämlich mit Gewalt und Mord? Können wir die Kluft zwischen unseren großen intellektuellen Leistungen und unserer emotionalen und moralischen Rückständigkeit schließen?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir die gegenwärtige Situation des Menschen in der westlichen Welt genauer untersuchen. Für die meisten Amerikaner scheint der Erfolg der industriellen Organisationsmethode klar und überzeugend zu sein. Neue Produktivkräfte (Dampf, Elektrizität, Öl und Atomenergie) und neue Formen der Arbeitsorganisation (zentrale Planung, Bürokratisierung, verstärkte Arbeitsteilung, Automation usw.) haben in den fortschrittlichsten Industrieländern einen materiellen Wohlstand geschaffen, der die extreme Armut, in der die Mehrheit der Bevölkerung noch vor hundert Jahren lebte, beseitigt hat.
In den letzten hundert Jahren hat man die Arbeitszeit von siebzig auf vierzig Stunden pro Woche verkürzt, und mit zunehmender Automation kann eine ständig weiter verkürzte Arbeitszeit dem Menschen eine Freizeit bescheren, von der er sich nie hätte träumen lassen. Jedes Kind erhält heute eine elementare Schulbildung; ein großer Teil der Bevölkerung besucht höhere Schulen. Film, Rundfunk, Fernsehen, Sport und Hobbys füllen die vielen Stunden aus, die dem Menschen heute als Freizeit zur Verfügung stehen.
Es sieht in der Tat so aus, als ob erstmals in der Geschichte das Hauptanliegen der großen Mehrheit – und bald aller Menschen – in der westlichen Welt es sein würde, ihr Leben wirklich zu leben statt um ihren materiellen Lebensunterhalt kämpfen zu müssen. Die kühnsten Träume unserer Vorfahren scheinen kurz vor ihrer Verwirklichung zu stehen, und die westliche Welt scheint die Antwort auf die Frage gefunden zu haben, was es heißt, „gut zu leben“.
Während viele in Nordamerika und Westeuropa noch auf diesem Standpunkt stehen, [V-021] wächst die Zahl nachdenklicher und sensibler Menschen, welche Risse in diesem verlockenden Bild sehen. Sie bemerken vor allem, dass selbst in dem reichsten Land der Welt, in den Vereinigten Staaten, etwa ein Fünftel der Bevölkerung an dem „guten Leben“ der Mehrzahl keinen Anteil hat, dass eine große Zahl unserer Mitbürger den materiellen Lebensstandard nicht erreicht hat, der die Grundlage für eine menschenwürdige Existenz ist. Sie sind sich außerdem bewusst, dass bei mehr als zwei Dritteln der Menschheit, die jahrhundertelang Opfer des westlichen Kolonialismus waren, der Lebensstandard zehn bis zwanzig Mal niedriger ist als bei uns, und dass ihre Lebenserwartung nur halb so groß ist wie die der Durchschnittsamerikaner.
Diese Menschen sind betroffen von den irrationalen Widersprüchen, die unserem System anhaften. Während es unter uns Millionen und außerhalb Amerikas Hunderte von Millionen gibt, die nicht satt werden können, schränken wir unsere landwirtschaftliche Produktion ein und geben überdies jedes Jahr Hunderte von Millionen Dollar aus, um unsere Überschüsse zu lagern. Wir besitzen alles im Überfluss, und doch ist unser Leben nicht sehr anregend. Wir sind wohlhabender geworden, haben aber weniger Freiheit. Wir konsumieren mehr, sind jedoch innerlich leerer. Wir verfügen über mehr Atomwaffen, sind aber dadurch nur wehrloser. Wir sind gebildeter, gleichzeitig wurden unser kritisches Urteilsvermögen und unsere Überzeugungen schwächer. Wir sind religiöser und werden dabei immer materialistischer. Wir reden von der amerikanischen Tradition, welche tatsächlich die geistige Tradition eines radikalen Humanismus ist, und wir nennen jene „unamerikanisch“, die diese Tradition auf die heutige Gesellschaft anwenden möchten.