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Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft

©2015 0 Seiten

Zusammenfassung

Fromms Kritik am Konsumismus des gegenwärtigen Menschen kommt nirgends so deutlich zum Ausdruck wie in dieser „Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft“ genannten Serie von sechs Vorträgen, die er 1971 im Süddeutschen Rundfunk gehalten hat. Die Vorträge thematisieren bereits deutlich die Existenzweise des Habens, von der Fromm fünf Jahre später in „Haben oder Sein“ spricht. Dass das Vorgetragene kaum etwas von seiner Aktualität eingebüßt hat, verraten bereits die Titel der Vorträge: Der passive Mensch – Die moderne Langeweile – Die produzierten Bedürfnisse – Die Krise der patriarchalen Ordnung – Das Fiasko der Religion – Wider die Grenzen des menschlichen Wachstums.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft

Erich Fromm
(1983b [1971])

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk

Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft lauteten sechs Rundfunkbeiträge im Süddeutschen Rundfunk, die Erich Fromm im Jahr 1971 hielt. Erstveröffentlichung der Printversion 1983 in dem Sammelband Über die Liebe zum Leben. Rundfunksendungen, hg. von Hans Jürgen Schultz, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt), S. 11-53. Mit textlichen Verbesserungen durch Rainer Funk wiederabdruckt in Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 305-337.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band XI, S. 305-337.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1971 by Erich Fromm; Copyright © 1983 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

1. Der passive Mensch

Wenn ich über das Thema „Überfluss und Überdruss“ sprechen soll, dann ist zunächst eine Bemerkung über den Sinn dieser beiden Worte angebracht.[1] Das ist nicht nur in diesem Fall, sondern überhaupt so. Wenn man die Bedeutung, den eigentlichen Sinn eines Wortes versteht, dann versteht man häufig schon gewisse Probleme besser, die mit diesem Wort beim Namen genannt werden – eben aus dem Wortsinn und seiner Geschichte heraus.

Sehen wir uns die beiden Worte an. Das eine hat eine doppelte Bedeutung. Eine positive – dann bezeichnet „Überfluss“ das, was über das unbedingt Notwendige hinausgeht: das Über-Fließende. Sie denken vielleicht an die biblische Vorstellung von dem „Land, darin Milch und Honig fließt“. Oder Sie denken daran, wenn Sie ein schönes Zusammensein beschreiben wollen, ein Fest, bei dem es Wein und was Sie sonst mögen im Überfluss gab. Sie meinen dann etwas sehr Erfreuliches, nämlich keine Kargheit, keinen Mangel, kein Vorsichtigsein, dass man ja nicht etwas zuviel nimmt. Das ist der angenehme Überfluss, also das Über-Fließende.

Aber „Überfluss“ kann auch eine negative Bedeutung haben, und die drückt sich aus in dem Wort „überflüssig“, im Sinn von zwecklos und verschwendet. Wenn Sie einem Menschen sagen: „Du bist hier ganz überflüssig“, dann meinen Sie: „Du verschwindest besser“, Sie meinen nicht: „Wie schön, dass du hier bist“ – wie Sie es etwa meinen, wenn sie vom Wein im Überfluss reden. Also Überfluss kann überfließend und Überfluss kann überflüssig sein, und man muss sich fragen, in welchem Sinn hier von Überfluss die Rede ist.

Nun ein Wort zum „Überdruss“ bzw. „Verdruss“. „Verdruss“ kommt von „verdrießen“ und heißt im Mittelhochdeutschen: „Langeweile erregen“, im Gotischen zum Beispiel heißt es sogar: „Ekel erregen“. Verdruss ist also das, was Langeweile, Ekel und Ärger erzeugt. Im Französischen haben Sie noch eine andere Bedeutung von Langeweile: Das Wort ennui stammt vom lateinischen innodiare und bedeutet „Im-Hass-Sein, Hass erregen“.

Wir können uns schon jetzt fragen, ob hier nicht bereits die Sprache andeutet, dass der überflüssige Überfluss zur Langeweile führt, zum Ekel und zum Hass. Dann hätten wir zu prüfen: Leben wir im Überfluss? Wir – damit meine ich die moderne [XI-308] Industriegesellschaft, wie sie sich in den Vereinigten Staaten, in Kanada, in Westeuropa entwickelt hat. Leben wir im Überfluss? Wer lebt im Überfluss in unserer Gesellschaft, und was ist das für ein Überfluss: überflüssiger Überfluss oder überfließender Überfluss – sagen wir’s ganz einfach, guter Überfluss oder schlechter Überfluss? Führt unser Überfluss zum Überdruss? Muss Überfluss zum Überdruss führen? Und wie sieht denn der gute, überfließende, überschäumende Überfluss aus, der nicht zum Überdruss führt? Diese Frage zu erörtern, ist das Interesse dieser Vorträge.

Lassen Sie mich zunächst eine Vorbemerkung machen, die psychologischer Natur ist. Ich will, da ich Psychoanalytiker bin, in diesen Ausführungen immer wieder von psychologischen Fragen sprechen, und da möchte ich Sie darauf vorbereiten, dass ich von einem bestimmten Gesichtspunkt aus spreche, nämlich von dem der Tiefenpsychologie oder der analytischen Psychologie – was ungefähr dasselbe meint. Ich möchte kurz erwähnen, was vielen von Ihnen bekannt ist: Es gibt zwei Wege, zwei Möglichkeiten, das Problem des Menschen psychologisch zu studieren. Die akademische Psychologie studiert den Menschen zur Zeit meistens vom Standpunkt der Verhaltensforschung oder – wie man das auch nennt – des Behaviorismus aus. Das heißt, man studiert nur das, was man unmittelbar sehen und beobachten kann, was direkt sichtbar, also auch messbar und wiegbar ist. Denn was man nicht unmittelbar sehen und beobachten kann, das kann man natürlich auch nicht messen und nicht wiegen, jedenfalls nicht exakt genug.

Die tiefenpsychologische, psychoanalytische Methode geht anders vor. Sie hat ein anderes Ziel. Sie untersucht eine Handlung, ein Verhalten nicht einfach von dem Standpunkt her, was man sehen kann. Sie fragt vielmehr nach der Qualität dieses Verhaltens, nach der dem Verhalten zugrunde liegenden Motivation. Lassen Sie mich ein paar kleine Beispiele geben. Sie können beschreiben: Ein Mensch lächelt. Das ist eine Verhaltensweise, die man fotografieren, die man muskulär beschreiben kann usw. Aber Sie wissen doch, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Lächeln einer Verkäuferin im Laden, dem Lächeln eines Menschen, der Ihr Feind ist, der jedoch seine Feindseligkeit verbergen will, oder dem Lächeln eines Freundes, der sich freut, Sie anzusehen. Sie kennen den Unterschied von vielen hundert Arten von Lächeln, die aus verschiedenen seelischen Motiven kommen: Das ist zwar alles Lächeln, was es aber ausdrückt, kann etwas ganz Entgegengesetztes sein, das kein Apparat messen oder auch nur wahrnehmen kann, denn das kann nur einer, der kein Apparat ist, und das sind Sie selbst. Sie beobachten nicht nur mit dem Gehirn, sondern ebenso – wenn ich das so altmodisch ausdrücken darf – mit dem Herzen. Ihre ganze Person erfasst das, was da vorgeht, und hat ein Gespür dafür, was für ein Lächeln das ist. Und wenn Sie kein Gespür dafür haben, dann erleben Sie natürlich viele Enttäuschungen in Ihrem Leben.

Oder nehmen Sie eine ganz andere Beschreibung eines Verhaltens: Ein Mensch isst. Ja klar, er isst. Aber wie isst er? Einer schlingt. Ein anderer isst so, dass man erkennen kann, dass er sehr pedantisch ist und Wert darauf legt, dass alles ganz ordentlich zugeht und der Teller leer gegessen wird. Der nächste isst, ohne zu schlingen, ohne gierig zu sein; es schmeckt ihm; er isst einfach nur, und es tut ihm gut.

Oder nehmen Sie ein weiteres Beispiel: Ein Mensch schreit und bekommt einen roten [XI-309] Kopf. Da sagen Sie: Er ist wütend. Sicher ist er wütend. Dann sehen Sie ihn sich etwas genauer an und fragen sich, was in diesem Menschen (vielleicht kennen Sie ihn) vorgeht, und plötzlich merken Sie: Er ist ja ängstlich, er ist erschreckt und fürchtet sich, und die Wut ist nur eine Reaktion auf seine Angst. Und dann schauen Sie vielleicht noch etwas tiefer und stellen fest: Das ist ein Mensch, der sich eigentlich hilflos und impotent vorkommt, der vor allem, vor dem ganzen Leben, Angst hat. Nun haben Sie drei Beobachtungen gemacht: dass er wütend ist, dass er Angst hat und dass er ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit verspürt. Alle drei Beobachtungen sind richtig. Aber sie beziehen sich auf verschiedene Schichten seiner Struktur. Die Beobachtung, die sich auf das Gefühl der Ohnmacht bezieht, ist diejenige, die am tiefsten beschreibt, was in dem Menschen vorgeht, und diejenige, die nur die Wut registriert, ist die oberflächlichste. Das heißt, wenn Sie nun auch wütend werden und in Ihrem Gegenüber nichts anderes als einen wütenden Menschen sehen, dann treffen Sie vorbei. Wenn Sie aber hinter der Fassade des wütenden den ängstlichen Menschen sehen, den sich ohnmächtig fühlenden, dann werden Sie sich ihm anders nähern, und es kann passieren, dass seine Wut sich legt, weil er sich nicht mehr bedroht fühlt.

Vom Standpunkt der Psychoanalyse aus sind wir in alledem, was wir hier besprechen, nicht in erster Linie und schon gar nicht ausschließlich daran interessiert zu erfahren, wie sich ein Mensch, ganz von außen betrachtet, verhält, sondern welche Motive, welche Intentionen er hat, ob sie nun unbewusst sind oder bewusst. Wir fragen nach der Qualität seines Verhaltens. Ein Kollege von mir – Theodor Reik – hat einmal das Wort geprägt: „Der Analytiker hört mit dem dritten Ohr.“ Das ist ganz richtig. Man kann auch sagen – und das ist eine ältere Redewendung: Er liest zwischen den Zeilen. Er sieht nicht nur das, was ihm direkt dargeboten wird, sondern er sieht in dem Dargebotenen und Beobachtbaren etwas mehr, nämlich etwas vom Kern der Persönlichkeit, die da handelt und von der jede Handlung nur ein Ausdruck ist, eine Manifestation, die jedoch stets eingefärbt wird von der gesamten Persönlichkeit. Es gibt keinen Akt des Verhaltens, der nicht eine Geste des ganz spezifischen Menschen wäre, und deshalb gibt es auch letztlich nie zwei Verhaltensakte, die identisch sind, sowenig es zwei Menschen gibt, die identisch sind. Sie mögen sich ähnlich, sie mögen einander verwandt sein – dieselben sind sie nie. Es gibt keine zwei Menschen, die die Hand in genau derselben Weise heben, die in derselben Weise gehen, die in derselben Weise ihren Kopf neigen. Aus diesem Grunde können Sie manchmal einen Menschen schon an seinem Gang erkennen, obwohl Sie sein Gesicht nicht sehen. Der Gang ist für einen Menschen so charakteristisch wie sein Gesicht, gelegentlich sogar mehr: denn das Gesicht kann er verstellen, den Gang viel schwerer. Mit dem Gesicht kann man lügen, das ist die Eigenart des Menschen, die er dem Tier voraus hat. Mit dem Gang zu lügen ist schon schwieriger, obwohl man auch dies lernen kann.

Nach diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich mich nun dem Konsumieren als einem psychologischen oder richtiger, einem psychopathologischen Problem zuwenden. Sie werden fragen: Was soll das? Konsumieren – das muss doch jeder. Jeder Mensch muss essen und trinken, er hat Kleider, eine Wohnung, kurz, er braucht und verbraucht vieles, und das nennt man „konsumieren“. Was gibt es da also für ein psychologisches Problem? Das ist einfach die Natur – um zu leben, muss man konsumieren. [XI-310] Aber hier bin ich schon beim springenden Punkt: Konsumieren und konsumieren ist nicht dasselbe. Es gibt ein Konsumieren, das zwanghaft ist und auf Gier zurückgeht. Es ist ein Drang, immer mehr zu essen, immer mehr zu kaufen, immer mehr zu besitzen, immer mehr zu benutzen.

Nun werden Sie vielleicht sagen: Ist das nicht normal? Schließlich wollen wir das, was wir haben, alle gern erweitern und vermehren. Das Problem ist höchstens, dass man nicht genug Geld hat, aber nicht, dass an dem Wunsch nach Erweiterung und Vermehrung etwas falsch sei. (...) Ich verstehe sehr wohl, dass viele von Ihnen so denken. Doch ich möchte Ihnen mit einem Beispiel zeigen, dass die Sache nicht so einfach ist. Ich meine ein Beispiel, von dem Sie gewiss schon gehört haben, und ich hoffe, nur wenige sind davon selbst betroffen. Nehmen Sie einen Menschen, der an Fettsucht leidet, der ganz einfach zu viel wiegt. Das kann endokrine Gründe haben – davon wollen wir hier nicht reden. Oft hat es aber nur den einen Grund, dass jemand einfach zuviel isst. Er nascht mal hier, mal da, am liebsten Süßigkeiten, immerzu wendet er sich etwas zu. Und wenn Sie aufmerksamer hinschauen, dann stellen Sie fest, dass er nicht einfach nur ununterbrochen isst, sondern dass eine Gier ihn dazu treibt. Er muss essen, er kann’s nicht lassen, so wie viele Leute es nicht lassen können zu rauchen. Und Sie wissen ja, dass Menschen, die zu rauchen aufhören, plötzlich anfangen, mehr zu essen. Sie entschuldigen sich dann mit der Erklärung, dass man eben dicker wird, wenn man das Rauchen einstellt. Und das ist eine der schönen Rationalisierungen, um das Rauchen nicht aufgeben zu müssen. Warum? Weil dieselbe Gier, etwas in den Mund zu nehmen, etwas zu verschlingen, im Essen oder im Rauchen oder im Trinken oder auch im Kaufen zum Ausdruck kommt.

Folgt ein Mensch, der gierig und zwanghaft isst, trinkt und raucht, der Warnung seines Arztes, nicht so weiterzumachen, weil er sonst an einem Herzschlag sterben wird, so kann man immer wieder beobachten, dass ein solcher Mensch plötzlich ängstlich wird, unsicher, nervös, deprimiert. Hier zeigt sich dann ein merkwürdiger Zusammenhang: Das Nichtessen, das Nichttrinken, das Nichtrauchen kann Angst machen. Es gibt Menschen, die essen oder kaufen, nicht um zu essen oder zu kaufen, sondern um ihre ängstliche oder deprimierte Stimmung zu unterdrücken. Sie konsumieren gesteigert, um aus ihrer Verstimmung herauszufinden. Der Konsum verspricht ihnen Heilung, und tatsächlich lässt die depressive oder ängstliche Grundgestimmtheit ein wenig nach, wenn die Gier befriedigt worden ist. Die meisten von uns werden bestätigen können, dass sie, wenn sie sich ängstlich oder deprimiert fühlen, leichter an den Eisschrank gehen, auch ohne sonderlichen Appetit etwas essen oder trinken und sich damit scheinbar beschwichtigen. Mit anderen Worten: Essen und Trinken kann in Wirklichkeit häufig die Funktion einer Droge übernehmen, einer Beruhigungspille. Diese ist sogar angenehmer, denn sie schmeckt auch noch gut.

Der deprimierte Mensch fühlt in sich so etwas wie eine Leere, als ob er gelähmt sei, als ob ihm etwas fehle zur Aktivität, als ob er sich nicht recht bewegen könne in Ermangelung von etwas, das ihn bewegen würde. Wenn er dann etwas in sich aufnimmt, so mag das Gefühl der Leere, der Lähmung, der Schwächung für eine Weile von ihm weichen, und er spürt: Ich bin doch wer, ich habe ja etwas, ich bin nicht nichts. Man füllt sich mit Dingen, um innere Leere zu verdrängen. Das ist der passive Mensch, der ahnt, [XI-311] dass er wenig ist und der diese Ahnung vergessen macht, indem er konsumiert und zum homo consumens wird.

Jetzt habe ich den Begriff „passiver Mensch“ gebraucht, und Sie werden mich fragen, was ich darunter verstehe. Was ist denn Passivität, was Aktivität? Da muss ich zunächst einmal auf das moderne Verständnis von Passivität und Aktivität eingehen, das Ihnen ja allen recht gut bekannt ist. Die populäre Auffassung nimmt an, dass Aktivität jedes auf einen Zweck gerichtete, Energie erfordernde Tun ist, also sowohl körperliche als auch geistige Arbeit oder zum Beispiel Sport, der ja meistens auch so verstanden wird, dass er entweder der Gesundheit dient oder dem Ansehen des Vaterlandes zugutekommt oder einen berühmt macht und Geld einbringt. Es ist gewöhnlich nicht die Freude an der Übung selbst, sondern ein bestimmter Effekt, um dessentwillen man Sport treibt. Aktiv ist einer, der sich anstrengt. In Amerika sagt man dann, er ist busy. Und busy und business sind dasselbe Wort.

Und wann ist man nach dieser Auffassung passiv? Nun, wenn der sichtbare Nutzen ausbleibt, wenn keine Leistung zu entdecken ist. Lassen Sie mich ein absichtlich einfaches Beispiel geben: Da ist ein Mensch, der sieht in die Landschaft, nur so, fünf Minuten, eine halbe Stunde oder gar eine Stunde, er tut nichts, er schaut bloß. Da er nicht einmal fotografiert, sondern sich still versenkt in das, was seine Augen wahrnehmen, wird man ihn vielleicht für merkwürdig halten und jedenfalls seine „Beschaulichkeit“ nicht gerade als Aktivität bezeichnen. Oder nehmen Sie (obwohl es diesen Anblick in unserer westlichen Kultur nicht oft gibt) einen Menschen, der meditiert, der versucht, sich seiner selbst bewusst zu werden, seiner eigenen Gefühle, seiner Stimmungen, seiner inneren Verfassung. Wenn er systematisch meditiert, so kann das Stunden dauern. Die Umgebung, die davon nichts versteht, wird ihn für einen passiven Menschen halten. Er tut nichts. Vielleicht vertreibt er nur alle Gedanken aus seinem Kopf, konzentriert sich darauf, an nichts zu denken, sondern nur zu sein. Das klingt Ihnen vielleicht seltsam. Probieren Sie’s mal, zwei Minuten nur, und Sie werden merken, wie schwer das ist, wie Ihnen ständig etwas durch den Kopf geht, wie Sie an alles mögliche denken, meistens unwichtige Sachen, derer Sie sich aber nicht erwehren können, weil es kaum auszuhalten ist, nur dazusitzen und das Denken zu unterlassen.

Für große Kulturen in Indien und China ist diese Art der Meditation lebenswichtig. Bei uns ist das leider nicht so, weil wir ehrgeizig glauben, immer etwas tun zu müssen, was einen Zweck hat, womit man etwas erreicht, wobei etwas herauskommt. Aber lassen Sie einmal den Zweck außer acht, versuchen Sie sich zu konzentrieren und haben Sie Geduld mit dieser Übung, so werden Sie womöglich feststellen, dass dieses Nichtstun Sie sehr erfrischt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Deutsche E-Book Ausgabe
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783959120722
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Erich Fromm Psychoanalyse Sozialpsychologie Konsum patriarchale Ordnung Wachstum Bedürfnisse
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Titel: Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft